Ohne OSZE wird es nicht gehen

Ohne OSZE wird es nicht gehen

Zustand, Perzeptionen und Zukunft europäischer Sicherheit

von Simon Weiß

Der russische Angriff auf die Ukraine hat eine radikale Transformation europäischer Sicherheit eingeleitet. Dieser Krieg kam nicht plötzlich, sondern entsprang den akkumulierten sicherheitspolitischen Widersprüchen, vor allem zwischen den USA und Russland, die zu den verheerenden Ereignissen letztes Jahr geführt haben. Schon jetzt muss das kritische Nachdenken über die Zeit danach beginnen, auch wenn erwartet werden kann, dass die Feindseligkeiten zwischen Russland und der von der NATO unterstützten Ukraine eher zunehmen werden. Welche Rolle wird zukünftig kooperativen und inklusiven Institutionen zukommen?

In einem Punkt sind sich alle Verfahrensbeteiligten in Ost und West aktuell einig: das Ziel, einen Raum ungeteilter Sicherheit kooperativ zu organisieren, ist vorerst gescheitert. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) durchlebt dadurch gerade eine existenzielle Krise. Aufgeben sollte man diese Organisation jedoch auf keinen Fall. Jegliche Transformationszeit ist immer eine Hochzeit für alle möglichen Ordnungsvorschläge auf dem großen Politmarkt der Ideen. Unterm Strich lassen sich die meisten Beiträge des Polit- und Expert*innendiskurses auf die Varianten »Sicherheit mit Russland«, »ohne Russland« und »gegen Russland« herunterbrechen.

Wie auch immer Russlands Krieg gegen die Ukraine enden wird, schon jetzt zeichnen sich Konturen einer veränderten Sicherheitsordnung in Europa ab. Diese Ordnung wird auf Sicht nicht mehr mit oder ohne, sondern in erster Linie gegen Russland organisiert, zumindest solange das Putin-Regime an der Macht bleibt.“ (Schneckener 2022)

Sicherheitswahrnehmungen in Europa

Doch welche Schritte sollten nun für eine neue Sicherheitsordnung gegangen werden? Das Regionalbüro für Internationale Zusammenarbeit der Friedrich-Ebert-Stiftung erkundet mit seiner sicherheitspolitischen Umfragereihe »Security Radar« die Wahrnehmungen von europäischen Bürger*innen (FES 2022a, 2023).1 Solche Umfragen grenzen zumindest für demokratische Systeme den politischen Gestaltungskorridor ein, da ein Regieren ohne Rücksicht auf die Stimmungen in der Bevölkerung nicht lange gutgehen kann. Drei interessante Datenpunkte aus dem diesjährigen »Security Radar« lassen sich zum Thema »Transformation der Sicherheitsordnung« anführen.

1. Divergierende Interessen zwischen den Machtzentren

Wir haben die Menschen danach gefragt, wie sie die Interessen globaler staatlicher Akteure im Verhältnis zueinander einschätzen? Rund 50 % der Befragten in Deutschland und Frankreich sind der Meinung, dass die Interessen der EU und Chinas im Widerspruch zueinander stehen; in Lettland und Polen sind die Anteile mit rund 40 % geringer. Es besteht für die Bürger*innen eine starke Konvergenz zwischen den beiden Akteuren. Ähnlich werden auch chinesische und russische Interessen als weitgehend übereinstimmend betrachtet. Im Gegensatz dazu werden die Interessen der EU und Russlands sowie die Interessen der USA und Russlands weitgehend als gegensätzlich wahrgenommen. Der wahrgenommene Widerspruch zwischen den Interessen der USA und Russlands hat in allen Ländern zugenommen, am stärksten in Deutschland und Polen (um 8 % bzw. 9 % im Vergleich zum Vorjahr). In Bezug auf die Interessen der EU und Russlands ist die Desillusionierung in Deutschland am stärksten ausgeprägt: Während im Jahr 2021 nur 46 % der Befragten der Meinung waren, dass die Interessen Europas und Russlands im Widerspruch zueinander stünden, stieg dieser Anteil im Jahr 2022 auf 60 % an und erreichte damit fast das Niveau der Wahrnehmung in den osteuropäischen Nachbarländern (vgl. Graphik 1).

Grafik Wahrnehmung der Interessenwidersprüche

Graphik 1: Wahrnehmung der Interessenwidersprüche. Quelle: Security Radar 2023, FES.

Insgesamt deutet dies darauf hin, dass zwei Blöcke wahrgenommen werden: die EU und die USA auf der einen Seite und Russland und China auf der anderen. Diese Blockkonfrontation wird durch den nächsten Punkt, die systematische Entflechtung von Demokratien und Autokratien, ergänzt.

2. Sich von Autokratien abnabeln

Die Ablehnung der Zusammenarbeit mit Russland und die Skepsis gegenüber der Zusammenarbeit mit China spiegeln sich deutlich in den Antworten auf die Fragen zur wirtschaftlichen Abkopplung wider. Überwältigende Mehrheiten (rund 70 %) sind bereit, die Abhängigkeit von Russland zu verringern, auch wenn dies mit Einbußen beim Lebensstandard verbunden wäre. Die Bereitschaft, sich von Russland abzukoppeln, ist in Polen am höchsten (74 %), während die lettischen Befragten vorsichtiger sind (57 %).

Hinsichtlich der Abkopplung von China zeigt sich ein bekanntes Bild, das zwischen Ost und West geteilt ist. Eine überwältigende Mehrheit in Deutschland und Frankreich befürwortet eine Verringerung der Abhängigkeit von China, selbst wenn dies negative Auswirkungen auf den Lebensstandard in ihren Ländern hätte. Die Bereitschaft, sich von China abzukoppeln, ähnelt in Deutschland und Frankreich stark der Bereitschaft, sich von Russland abzukoppeln. In Polen und Lettland sind die Werte niedriger.

Diese Tendenz stimmt aus der Perspektive inklusiver internationaler Organisationen (UNO, OSZE) sehr nachdenklich. Das langjährige Framing der geopolitischen Konflikte zwischen dem Westen und Russland und zwischen den USA und China als »Systemkonflikte« zwischen Demokratien und Autokratien spielt hier sicherlich eine Rolle. Komplementär dazu wird auch dem Krieg in der Ukraine die gleiche systemische Ursache zugeschrieben, am häufigsten sichtbar an der Erklärung: Die demokratische Ukraine verteidigt (auch) den demokratischen Westen und die liberalen Werte.

Mittlerweile entsteht aus dieser Spaltung ein großes westlich-liberales Paradigma, das scheinbar eine Welt mit multiplen Krisen recht einfach zu erklären versucht. Zahlreiche Apologet*innen eines »Neuen Kalten Krieges« schreiben dieser systemischen Aufteilung eine positive Ordnungskraft für das internationale System zu, indem es die Welt in konstruktive und destruktive Akteure einteilt. Die Welt und die Hybridität vieler Regimeformen jenseits west- und nordeuropäischer Demokratien machen dieses Unterfangen für den diplomatisch-operativen Einsatz sogar schädlich.

3. Rolle von internationalen Organisationen

Der Blick aus dem »Security Radar« auf den wahrgenommenen Einfluss internationaler Organisationen zeigt, dass die NATO als Verteidigungsbündnis in Kriegszeiten deutlich an Einfluss in den Augen der Menschen zugelegt hat. Doch das Bild ist komplexer und lässt auch einen Hoffnungsschimmer für die inklusiven Organisationen, UN und OSZE, erkennen.

In allen befragten Ländern wünschten sich die Befragten eine stärkere Rolle der NATO, wenn auch auf unterschiedlichem Niveau. Besonders gut schneidet die NATO bei den polnischen Befragten ab, die sich mit 72 % eine Stärkung ihrer Rolle wünschen. Der Zuwachs zum Vorjahr beträgt 13 %. Dies ist ein bemerkenswert hoher Wert im Vergleich zu beispielsweise 45 % in Deutschland. Auffällig ist zudem, dass sich im polnischen Fall der Wunsch nach einer erweiterten Rolle auf alle befragten Organisationen ausdehnt. In geringerem Maße gilt dies auch für Deutschland und Lettland. Frankreich ist das einzige Land, in dem sich die Befragten – überraschenderweise – eine geringere Rolle für die OSZE und die EU wünschen.

Verunsicherung begegnen, Entspannung schaffen

Dieser kleine Einblick in die empirischen Daten aus dem »Security Radar 2023« liefert uns eine Bestätigung dafür, dass die kriegsbedingte Transformation europäischer Sicherheitspolitik bei den Menschen in der EU (in West und Ost) ankommt. Die in den Medien und im politischen Diskurs omnipräsente Konfliktlinie zwischen Demokratien und Autokratien ist ebenfalls in der Wahrnehmung präsent und entwickelt sich über den Zeitverlauf dynamisch. Bei aller Verschärfung dieses Systemgegensatzes spürt man auch die große Verunsicherung in der Bevölkerung und den Wunsch nach sicherheitspolitischer Entspannung, wobei letzteres ungleich verteilt ist in den befragten vier Staaten.2

Angesichts der sichtbaren Euphorie über die Wiederbelebung der NATO aufgrund des russischen Angriffskrieges sollte man nicht außer Acht lassen, dass auch die UN und die OSZE weiter gebraucht werden, weil sie in den Augen der Menschen und einiger Expert*innen etwas leisten, was die NATO und die EU nicht leisten können: Vermittlungen und Verhandlungen.

Sicherheitsstabilisierung in Europa

Vor dem Krieg hörte man häufig auf internationalen Sicherheitskonferenzen folgende Aussage: „Wenn es die OSZE nicht gäbe, müsste man sie jetzt erfinden.“ Das spielte natürlich auch damals auf den schlechten Zustand der Sicherheitsordnung, auf verschwundenes politisches Vertrauen und das im Zerfall befindliche System von Rüstungskontrollverträgen im OSZE-Raum an.

Nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine am 24.2.2022 ist der ehemals schlechte Zustand europäischer Sicherheit einem katastrophalen Zustand der Konfrontation zwischen Russland und dem Westen gewichen. Wie angespannt die Situation und wie schwierig der Balanceakt zwischen militärischer Unterstützung für die Ukraine und der Nichtbeteiligung an einem direkten Krieg mit Russland ist, verdeutlicht die Aussage der deutschen Außenministerin Baerbock erst am 24.01.2023 in einer Sitzung des Europarats: „Wir kämpfen einen Krieg gegen Russland, nicht gegeneinander. Dieser emotionale »Versprecher« der Außenministerin verdeutlicht, in welch einem Ausnahmezustand die deutsche und europäische Politik seit fast einem Jahr agiert.

Dies hat Auswirkungen auf die Prioritäten der Regierungen und befeuert einen massiven Militarisierungsschub. Das fatale dabei: Genauso wie der Krieg eine anspruchsvolle Logistik braucht, über die aktuell so viel in den politischen Entscheidungszentren und Medien gesprochen wird, so brauchen auch Verhandlungen, die zu Waffenstillständen oder Frieden führen sollen, einen organisierten Prozess und Logistik. Denn es ist klar, dass eine Stabilisierung und somit Verbesserung von Sicherheit mittel- bis langfristig nur in einem regionalen Setting erzielt werden kann. Dafür ist die größte Regionalorganisation der Welt, die OSZE, prädestiniert.

Wie aus den obigen Umfragedaten hervorgeht, haben wir ein gemischtes Bild zur Rolle internationaler Organisationen. Es gibt eine wahrgenommene Einflussverschiebung in Richtung exklusiver Organisationen (Bündnisse und Gemeinschaften), bei gleichzeitigem Wunsch, dass doch die inklusiven Organisationen wenigstens ihrem zweiten »Daseinszweck« entsprechen und zur Konfliktlösung beitragen mögen – wenn schon eine Konfliktverhütung in erster Linie nicht funktioniert hat. Die OSZE ist aber natürlich nur so wirkmächtig, wie es die Teilnehmerstaaten auch zulassen. Aktuell herrscht bei allen direkten und indirekten Kriegsbeteiligten wenig Interesse an konkreten Waffenstillstandsverhandlungen, geschweige denn darüber hinausgehenden Friedensverhandlungen inklusive multilateraler Sicherheitsgarantien, wie das noch kurz nach Ausbruch des Krieges in der Türkei verhandelt wurde.

Nach dem Abbruch dieser ambitionierten, »großen« Verhandlungen zwischen den ukrainischen und russischen Delegationen fanden und finden immerhin noch kleinere Verhandlungen über Gefangenenaustausche und ukrainische Getreideausfuhren statt. Diese werden bisher vor allem von der Türkei und der UN vermittelt durchgeführt. Momentan laufen viele Verhandlungsstränge über den türkischen Präsidenten Erdogan, doch er muss sich dieses Jahr einer Wahl stellen. Je länger der Krieg dauert, desto wichtiger wird es sein, solche Akteure zu ertüchtigen, die aufgrund ihres partnerschaftlichen Verhältnisses zu Moskau überhaupt in der Lage sind, Stabilisierungsinitiativen und Waffenstillstandsverhandlungen auf die bilaterale oder multilaterale Agenda zu setzten. Man sollte nicht nur hierzulande deshalb dringend über eine Erweiterung des bestehenden Vermittlungs- bzw. Verhandlungsrahmens nachdenken.

So könnte man versuchen die OSZE als einen Ort stiller Diplomatie wiederzubeleben oder ihr zumindest politisch mehr Aufmerksamkeit zu schenken, gerade weil sehr viele Ressourcen auf die NATO und in einen militärischen Sieg der Ukraine gesteckt werden. Die politische Stärkung inklusiver Organisationen wie der UN und OSZE (in denen Russland noch mit der Welt an einem Tisch sitzt) ist wichtig. Trotz aller internationaler Isolationsversuche, trotz des Schmiedens einer breiten Sanktionsfront gegen die russische Wirtschaft und trotz des weltweiten Einkaufs von Waffen für die Ukraine. Es braucht eine Parallelität von sanktionierenden Maßnahmen und Maßnahmen die zur Eingrenzung und späteren Überwindung des Krieges notwendig sind.

Die OSZE retten

„Dennoch gelte es an den Tag nach dem Krieg zu denken. Deshalb sollte man nicht mutwillig Dialogplattformen wie die OSZE, die wir dann brauchen werden, zerstören.“ (ORF 2023) Diese Äußerung des österreichischen Außenministers Schallenberg deutet auf ein vorsichtiges Umdenken hin. Zugleich reicht es nicht, die OSZE in einen Dämmerschlaf zu versetzen, bis man sie irgendwann später wieder braucht. Denn das wird die Organisation nicht überleben. Sie muss stattdessen ihrem Zweck nach politisch aktiviert werden.

Dafür muss die politisierte Blockbildung innerhalb der tagenden Gremien (Forum für Sicherheitskooperation, der Ständige Rat) abgebaut werden. Russland ist nun mal ein teilnehmender Staat und betrachtet diese Organisation, genauso wie die UNO, als ein eigenes, diplomatisches Produkt. Daher wird es trotz massiver Kritik an der eigenen Kriegsführung nicht einfach das Handtuch werfen und von sich aus die Teilnahme in Wien beenden. In diesem Jahr hat Nordmazedonien von Polen den OSZE-Vorsitz übernommen und braucht die Unterstützung aller anderen Teilnehmer der Organisation, um dem politischen Bedeutungsverlust entgegenzutreten.

Folgende Punkte sprechen zusätzlich für eine Aufwertung der OSZE:

  • Die OSZE ist eine Organisation, die in allen Phasen eines Konfliktzyklus nützlich sein kann, sofern die teilnehmenden Staaten es wollen.
  • Alle Kriegs- und Konfliktteilnehmer beschreiten sicherheitspolitisches Neuland ohne historische Präzedenzen. Auch dafür sind Organisationen, die Foren für den Austausch bieten, die richtigen Leitinstru­mente, um politische Entscheidungen aller Beteiligten besser vorzubereiten.
  • Unter den aktuell 57 teilnehmenden Staaten der OSZE finden sich einige Nachbarstaaten Russlands und Chinas, die faktisch dabei helfen können, die abgebrochenen direkten Kontakte nach Russland auszugleichen und generell einen besseren Einblick in die Region zu liefern.
  • Russland wird aufgrund seines vollumfänglichen Krieges in der Ukraine nur noch notdürftig Schadensbegrenzung im Berg-Karabach-Konflikt und an der Grenze zwischen Tadschikistan und Kirgisistan leisten. Trotz bekannter Stolpersteine, die eine Konsensorganisation mit sich bringt, können politische Akteure, die an Deeskalation und Konfliktlösung in dieser Region interessiert sind, die jahrzehntelange Expertise der OSZE anfordern.
  • Die OSZE kann Kapazitätenaufbau für Aussöhnungsprozesse in den Nachkriegsgesellschaften ermöglichen, die angesichts der Verbissenheit der Kriegsgegner und der Tiefe der Wunden, über einen längeren Zeitraum benötigt sein werden.
  • Ebenso liegt bei der OSZE der Kapazitätenaufbau für die Beseitigung kriegsbedingter Umweltverschmutzung und für die Minenräumung. Denn größere Teile des Staatsgebiets der Ukraine werden auf Jahre hinaus zu den am stärksten verminten und verwüsteten Regionen der Welt gehören.
  • Das »Conflict Prevention Centre« der OSZE ist seit Beginn des Krieges mit der Ausarbeitung von möglichen Einsatzszenarien in der Ukraine befasst. Mögliche Einsatzszenarien umfassen Missionen ähnlich der zwischen 2014 und 2022 eingesetzten »Special Monitoring Mission« (SMM), die nach Beendigung der Kampfhandlungen durchgeführt werden könnten oder Missionen, die beispielsweise in Assistenz zur IAEA zur Sicherung von Atomkraftwerken im Land arbeiten.
  • Instrumente für militärische Deeskalation müssen nicht neu erfunden werden, es gibt sie bereits schon, sie müssen nur der veränderten Geographie und dem veränderten Grad an Compliance angepasst werden (vgl. OSCE Network 2018; Graef und Thies 2022), angesichts der Tendenz die sogenannte Ostflanke in der NATO zu verstärken.

Empfehlungen

„Kooperative Sicherheit heißt Verhandlungsbereitschaft und in weiterer Konsequenz Interessenausgleich – auch mit Autokratien.“ (Weiß 2021, S. 12) Das war und bleibt, trotz aller verständlichen Betroffenheit mit dem Kriegsleid in der Ukraine, die basale Voraussetzung für eine langfristige und nachhaltige Stabilisierung und Weiterentwicklung der Sicherheit im OSZE-Raum. Erst danach kommen gemeinsame Werte und eine Vergemeinschaftung von Sicherheit, die so nicht einmal in den besten Jahren der KSZE/OSZE bestanden.

Die Stärkung der OSZE und der UNO wäre wichtig, auch aus der Sicht der Menschen. Gerade in Krisenzeiten müssen sich internationale Institutionen bewähren. Die OSZE hat in punkto ihrer Krisenreaktionsfähigkeit mit den Erfahrungen der speziellen Beobachtungsmission in der Ukraine einen großen Sprung gemacht und stünde bereit, um während oder nach Beendigung der Kampfhandlungen auf unterschiedliche Art in dem Konflikt vermittelnd tätig zu sein.

Angesichts der ihr von allen Konflikt- und Kriegsparteien zugeschriebenen Schicksalshaftigkeit der aktuellen Auseinandersetzung in der Ukraine, ist die politische Fallhöhe für alle Beteiligten sehr hoch. Gerade deswegen sollten populäre »Frames« eher vorsichtig verwendet werden: Bei all der guten Binnenwirkung in der Betonung der Vorzüge von demokratischen Systemen gegenüber autokratischen Systemen sollte man nicht vergessen, dass ein Großteil der internationalen Beziehungen im Verkehr von Staaten mit unterschiedlicher Regimequalität besteht. Die Akzentuierung des Systemgegensatzes war Gift für das Ideal kooperativer Sicherheit, ist Gift für die Schadensbegrenzung während des Krieges und wird Gift für eine Stabilisierung von Sicherheit sein.

Die Chancen dafür, nach dem Krieg ein pro-westliches Russland zu bekommen, das sich gar »dekolonisiert« und dadurch verkleinert und für seine Nachbarn ungefährlich(er) wird, sind sehr gering. Es wird ziemlich sicher weiterhin ein Staat mit Atomwaffen, nationalen Sicherheitsinteressen und höchstwahrscheinlich mit einem zentralisierten Entscheidungs- und Sicherheitsapparat bleiben.

Die kritischen Stimmen aus dem Globalen Süden, insbesondere aus Lateinamerika und Afrika, die die westliche Klassifikation des russischen Angriffskrieges in der Ukraine infrage stellen, fungieren im guten Sinne als ein Realitätscheck, welchen man nicht als Ergebnis russischer Propaganda abtun sollte. Die Regierungen der BRICS-Staaten teilen weder die Singularität des Verbrechens, die wir dem russischen Völkerrechtsbruch zuweisen, noch teilen sie unsere gängige Prozessanalyse, die für den Ausbruch des Krieges verantwortlich zeichnet (vgl. u.a. Cocks 2022).

Aktuell und auf absehbare Zeit werden wir in einem konfrontativen Modus der Aufrechterhaltung von Sicherheit leben. Damit diese Phase nicht allzu lange dauert, da mit ihr Gefahren unbeabsichtigter Eskalation verbunden sind, werden wir so dringend wie möglich eine sicherheitspolitische Stabilisierung in der NATO-Russland-Kontaktzone brauchen. Es wäre fatal, sich auf eine vermeintlich stabile, konfrontative Ordnung in Analogie zum Kalten Krieg zu verlassen. Die als »existentiell« markierte Form, die Intensität und die geographische Nähe des Konfliktaustrags bedürfen daher eines feinen Austarierens westlicher Politik vis-à-vis Russland: Zwischen politisch-militärischer Schadensbegrenzung und der Aufrechterhaltung diplomatischer Kommunikationskanäle (UN, OSZE, direkter »Draht« zwischen Washington und Moskau) auf der einen Seite und der Beibehaltung eines prinzipienbasierten Eintretens für die territoriale Integrität der Ukraine auf der anderen Seite.

Zusätzlich dazu ist die Notwendigkeit zur – zumindest themenbezogenen – Kooperation weiterhin erforderlich, um globale Herausforderungen wie Klimawandel und Terrorismus anzugehen. Erst nach einer solchen Stabilisierung der Sicherheit wird man, sofern der politische Wille vorhanden sein sollte, über Idealvorstellungen kooperativer Sicherheit reden können.

Dieser Beitrag gibt nur die persönliche Meinung des Autors wieder und ist keine offizielle Publikation der Friedrich-Ebert-Stiftung.

Anmerkungen

1) Für den »Security Radar 2023« wurden Bürger*innen aus vier EU-Staaten (Deutschland, Frankreich, Lettland und Polen) befragt und vergleichend ausgewertet.

2) Zur Kompromissbereitschaft zur Beendigung des Krieges in der Ukraine siehe FES 2022b, S. 9.

Literatur

Schneckener, U. (2022): Wie sieht künftig Europas Sicherheitsordnung aus? Frankfurter Rundschau, 18.07.2022.

FES (2023): Security Radar 2023. Zeitenwende for Europe. Public perceptions before and after Russia’s invasion of Ukraine. Wien, 18.2.2023.

FES (2022a): Security Radar 2022. Navigating the disarray of European security. Wien, 10.3.2022.

FES (2022b): Mind the red line. Limits of European engagement in Russia’s war against Ukraine. Security Radar Perspective. Wien, Dezember 2022.

ORF (2023): Schallenberg: Keine engen Beziehungen mehr mit Russland. Agenturmeldung, 28.1.2023.

OSCE Network of Think Tanks and Academic Institutions (2018): Reducing the risks of conventional deterrence. Arms Control in the NATO-Russia Contact Zones. Wien, Dezember 2018.

Graef, A., Thies, T. (2022): Lessons from the past: Arms control in uncooperative times. Global Security Policy Brief. European Leadership Network, Dezember 2022.

Cocks, T. (2022): South Africa’s Ramaphosa blames NATO for Russia’s war in Ukraine. Reuters, 18.3.2022.

Weiß, S. (2021): Aktuelle Chancen für Entspannung. Studienergebnisse der »Initiative für kooperative Sicherheit«. In: Dienes et al. (ebd.): Mehr »Gemeinsame Sicherheit« wagen. Neue Impulse zur Entspannung für eine hochgerüstete Welt. Dossier 92, W&F 2/2021, S. 12-14.

Simon Weiß ist wissenschaftlicher Mitarbeiter bei FES ROCPE in Wien und beschäftigt sich mit Sicherheitspolitik im OSZE-Raum, Konflikten im post-sowjetischen Raum und Fragen der Rüstungskontrolle in Europa.

Blockierte Weltorganisation


Blockierte Weltorganisation

Völkerrecht und Vereinte Nationen heute

von Hans-Joachim Heintze

Viele Hoffnungen, die mit dem Ende des Ost-West-Gegensatzes aufkamen, haben sich nicht erfüllt. Umso mehr braucht die Welt stabile Regeln, wie mit Konflikten umzugehen ist. Diese finden sich in der VN-Charta, in deren Zentrum die Friedenssicherung steht. Die Verfahren zur Durchsetzung dieses Normenkataloges bedürfen nach einem Dreivierteljahrhundert der Anpassung an die neuen Gegebenheiten. Im Zentrum steht dabei das Völkerrecht, das sich von einem Recht der Souveränität zu einem Recht der Solidarität weiterentwickeln muss.

Die Idee und das Konzept der Weltorganisation der Vereinten Nationen (VN) entstand in den Kämpfen des Zweiten Weltkrieges. Die erklärte Zielsetzung war es, angesichts der niederschmetternden Erfahrungen, künftige Generationen von der Geißel des Krieges zu befreiten. Mit der Charta der VN wurde die Rechtsgrundlage für die Weltorganisation und die Erreichung dieses Zieles geschaffen.

Vom Ursprung der Idee der »Welt«-organisation

Bereits im 1. Weltkrieg hatte US-Präsident Wilson in seinem 14-Punkte-Vorschlag zur Beendigung des Waffengangs den Gedanken einer Weltorganisation zur Friedenssicherung aufgebracht, der in der Folge mit der Schaffung des »Völkerbundes« auch umgesetzt wurde. Allerdings hatte der Völkerbund einen Geburtsfehler, denn er wurde nie zu einer »Welt«-Organisation der »Völker«. Vielmehr vereinte der Bund niemals alle Großmächte der damaligen Zeit und konnte damit in vielen Konflikten nicht tätig werden. Selbst die USA, die die Schaffung angeregt hatten, traten nicht bei, weil Präsident Harding, der Nachfolger Wilsons, einer solchen Organisation kritisch gegenüberstand. Damit war das Scheitern vorprogrammiert, denn der Völkerbund erwies sich als machtlos.

Der Zweite Weltkrieg hatte nun aber gezeigt, dass eine solche Herausforderung wie der Kampf gegen den Faschismus nur durch den gemeinsamen Kampf unter Führung der militärisch stärksten Staaten überwunden werden konnte. Aus diesen Erfahrungen heraus wählten die Autor*innen der VN-Charta eine neue Konstruktion für diese zweite »Weltorganisation«, die sicherstellen sollte, dass die Großmächte sich der Mitgliedschaft in der Organisation unterwerfen und zugleich ihre legitimen Interessen schützen können: das Einstimmigkeitsprinzip im Sicherheitsrat. Dieses Prinzip trägt dem Umstand Rechnung, dass zwar alle Staaten juristisch, aber nicht faktisch gleich sind. Die Konstruktion des Sicherheitsrates spiegelt den Gedanken der Gemeinsamkeit wider, die aufgrund unterschiedlicher Interessen sehr verschiedener Staaten nicht leicht herzustellen ist. Daher musste den wichtigsten Staaten die Möglichkeit gegeben werden, ein Veto einlegen zu können.1 Dieses Recht wurde aber mit der Verpflichtung verbunden, gemeinsam für die Friedenssicherung verantwortlich zu zeichnen und militärische wie wirtschaftliche Kapazitäten einem System kollektiver Sicherheit zur Verfügung zu stellen. Leider haben sich die Großmächte nicht immer dieser Verpflichtung unterworfen und oft genug ihre nationalen Interessen in den Vordergrund gestellt (vgl. Ipsen 2018, S. 296). Es schien den Autor*innen der VN-Charta aber so, dass die Weltgemeinschaft diesen Preis zahlen müsse, wenn sich die »Welt«-mächte einer »Weltorganisation« überhaupt unterwerfen sollten. Die USA haben seit Gründung der VN auch mehrfach bewiesen, dass sie bereit sind, andere Weltorganisationen wie die UNESCO oder die WHO zu verlassen, wenn sie ihre eigenen Interessen beeinträchtigt sehen. Dies musste bei einer vorrangig die Aufrechterhaltung des Weltfriedens garantierenden Organisation unbedingt vermieden werden. Schließlich kann der Weltfrieden nicht gegen die USA oder China gesichert werden, und die Weltorganisation ist eine Möglichkeit, sie überhaupt auf ihre Verpflichtungen hinzuweisen und zur Rechtfertigung zu bewegen.

Stärken und Schwächen des Sicherheitsrates

Eine grundsätzliche Schwierigkeit, die das gesamte System der VN fundamental prägt, ist der Umstand, dass Völkerrecht durch die Vereinbarung der Staaten untereinander zustande kommt und sich damit grundsätzlich vom nationalen Recht unterscheidet, das durch einen Gesetzgeber – in der Regel das Parlament – gesetzt wird. Die Vereinbarung von völkerrechtlichen Verträgen oder Konventionen ist daher oft ein langwieriger Prozess und von nationalen Eigeninteressen geprägt, wie viele umfassende Beratungen und Staatenkonferenzen gezeigt haben (bspw. dauerte die Dritte VN-Seerechtskonferenz mit Unterbrechungen von 1973 bis 1982, es nahmen zeitweise fast 5.000 Expert*innen teil). Das war auch bei der Ausarbeitung der VN-Charta 1944/45 der Fall. Schlussendlich wurde aber durch diese Verhandlungen ein sehr wichtiger Kompromiss erreicht, der die Souveränität der VN-Mitgliedstaaten erheblich einschränkt. Die VN-Charta verbietet mit Art. 2 (4) nicht nur die Anwendung militärischer Gewalt in den internationalen Beziehungen, sondern schafft auch einen Mechanismus der Durchsetzung und Ausdehnung dieses Verbots (Kapitel VII der Charta).2

Nach Kapitel VII VN-Charta kommt dem Sicherheitsrat die Aufgabe zu, in Fällen der Bedrohung oder Verletzung des Friedens tätig zu werden. Der Rat muss dann nach Art. 39 der Charta entscheiden, ob ein solcher Fall vorliegt. Da es aber keine Legaldefinition der Bedrohung des Friedens gibt, entscheiden die 15 Mitgliedstaaten des Rates nach ihren politischen Überzeugungen. Damit wird ein rechtlicher Mechanismus – der mit einem völkerrechtlichen Vertrag geschaffen wurde – letztlich durch politische Entscheidungen in Gang gesetzt. Der Rat muss mit einer Stimmenmehrheit von neun Staaten entscheiden, ob eine Bedrohung oder ein Bruch des Friedens vorliegt. Gemäß der neueren Praxis nach dem Ende des Kalten Krieges kann eine solche Situation nicht nur bei der schon erfolgten Anwendung von Waffengewalt vorliegen, sondern auch bei Menschenrechtsverletzungen und Katastrophen (vgl. Heintze 2019). Wichtig ist dabei, dass keines der fünf ständigen Ratsmitglieder (USA, Russland, China, Großbritannien und Frankreich) eine solche Einschätzung ablehnt (sog. Veto-Recht). Zu beachten ist aber auch, dass die Großmächte nicht allein zu einer Einschätzung kommen können, sondern immer zumindest die Zustimmung von vier der zehn Nichtständigen Ratsmitglieder brauchen.3

Wenn der Rat die Situation als »friedensbedrohend« einschätzt, so hat er die Pflicht, Maßnahmen zur Wiederherstellung des Friedens und der Sicherheit zu ergreifen. Einzigartig in der Geschichte des Völkerrechts ist, dass der Rat nach Art. 41 und 42 VN-Charta Zwangsmaßnahmen gegen den Akteur ergreifen kann, der den Frieden stört. Dabei handelt es sich einerseits um nichtmilitärische Sanktionen, wie z.B. Handels- oder Kommunikationsunterbrechungen. Angesichts der Einbindung aller Staaten in die globale Wirtschaft können solche Maßnahmen durchaus Druck auf Friedensstörer ausüben. Allerdings haben die VN auch lernen müssen, dass eine totale Isolation eines Staates, wie der Boykott aller Wirtschaftskontakte mit dem Irak nach der Kuwait-Intervention 1990, auch verheerende Folgen für die gesamte Bevölkerung eines Landes haben können. Im Irak starben damals viele Kinder als Folge der Sanktionen, weil Lebensmittel und Medizin nicht mehr geliefert werden konnten. Angesichts dieser Erfahrungen wenden die VN heute oftmals gezielte Sanktionen an, wie z.B. das Einfrieren von Bankguthaben politisch Verantwortlicher, um diese zu einer Politikveränderung zu veranlassen. Führen die wirtschaftlichen Sanktionen nicht zum Erfolg, so kann der Rat auch militärische Maßnahmen ergreifen. Mit Waffengewalt soll dann der Friedensstörer zu einem rechtstreuen Verhalten veranlasst werden. So entsandte der Sicherheitsrat 1992 Truppen nach Somalia, um militärisch zu erzwingen, dass die humanitäre Hilfe auch die Opfer einer Hungerkata­strophe erreicht (Resolution 794 [1992], vgl. Wellhausen 2002, S. 115ff.). Zuvor hatten Warlords sich diese Hilfsgüter gewaltsam angeeignet. Ein zusätzliches Problem bei der militärischen Durchsetzung des Völkerrechts im Rahmen der VN besteht darin, dass die VN nicht über eigene Soldat*innen verfügt, sondern die Mitgliedstaaten bitten muss, Truppen zur Verfügung zu stellen. Dies ist zum einen kostspielig und führt zum anderen dazu, dass den VN nicht immer genügend Truppen mit entsprechender Ausbildung zur Verfügung stehen.

Gleichwohl, die VN verfügen über die Möglichkeit, das Völkerrecht mit allen Mitteln durchzusetzen. Das Völkerrecht ist nicht zahnlos. Freilich bedarf es dazu des politischen Willens, die Mechanismen zu nutzen, und gerade dieser ist im System der VN oft blockiert, wie einige Entscheidungen zum Syrien-Krieg auf traurige Art und Weise belegen. So wurden 2013 sowohl durch die Regierungs­truppen als auch durch die Aufständischen Chemiewaffen eingesetzt. Damit war eine »rote Linie« überschritten, die US-Präsident Obama als Ausgangspunkt für ein Eingreifen der USA in den syrischen Konflikt gesetzt hatte. Allerdings gestaltete sich dieses Eingreifen auf sehr vernünftige Weise, denn Obama stimmte sich direkt mit dem russischen Präsidenten Putin ab und beide veranlassten die syrische Regierung, außerhalb eines Rahmens von VN-Maßnahmen, dem Chemiewaffen-Übereinkommen beizutreten und sämtliche in seinem Besitz befindlichen Chemiewaffen unter internationaler Kontrolle abzurüsten, was auch augenscheinlich erfolgte (vgl. Meier 2018).

Gleichwohl hatte der Kompromiss gerade darin seine Schwächen, dass der VN-Friedenssicherungsmechanismus nicht angewendet wurde. Die in den Sicherheitsrat eingebrachte Resolution 2118 (2013) wurde nicht unter Kapitel VII angenommen, was widersprüchlich ist, da die Präambel die von Chemiewaffen generell ausgehende Friedensbedrohung ausdrücklich nennt. Wenn der Sicherheitsrat das syrische Verhalten als Friedensbedrohung gemäß Art. 39 charakterisiert hätte, dann hätte er Maßnahmen zur Wiederherstellung der Sicherheit nach Kapitel VII VN-Charta ergreifen müssen, z.B. Sanktionen gegen die Regierung und die Aufständischen zu erlassen. Dazu konnte sich der Sicherheitsrat aber nicht entschließen, weil viele Ratsmitglieder (in)direkt in den Konflikt involviert waren. Dies erklärt das Zustandekommen der inkonsequenten Resolution 2118, die ohne Sanktionsmöglichkeiten auch Fehlentwicklungen bei der Abrüstung beider Seiten weder verhindern, noch ahnden konnte. Dies rächte sich wenige Jahre später. Als 2016 erneut Chemiewaffen in Syrien zum Einsatz kamen, die 2013 – offensichtlich wegen der Schwierigkeit der internationalen Kontrolle in einem laufenden Bürgerkrieg – doch nicht restlos vernichtet worden waren, erfolgte auch diesmal die Reaktion auf die erneute Anwendung außerhalb des VN-Systems und war völkerrechtlich und militärstrategisch höchst fragwürdig. Die USA, Großbritannien und Frankreich bombardierten einen Tag lang Ziele in Syrien als »Vergeltung«, ohne am Boden irgendetwas für die vom Kriege betroffenen Menschen zu verbessern. Der blutige und bis heute ungelöste Konflikt in Syrien legt die Schwächen des VN-Systems schonungslos offen.

Modernisierung der VN und des Völkerrechts?

Das System der VN und das Völkerrecht allgemein rufen daher nicht erst seit dem Konflikt in Syrien nach Veränderung. Das heutige Völkerrecht geht im wesentlichen vom Konzept souveräner Staatlichkeit aus. Staaten entscheiden demnach souverän, inwieweit sie sich an neue Verträge binden. Selbst der Austritt aus bestehenden Verträgen und die Betonung des Vorrangs nationaler Interessen bleibt den Staaten überlassen, wie die Trump-Regierung eindrucksvoll vorgeführt hat. Es ist aber offensichtlich, dass die Betonung souveräner Staatlichkeit nicht die Antwort auf die Herausforderungen der Gegenwart sein kann. Einzelne Staaten, seien sie auch noch so machtvoll und hochgerüstet, können globale Probleme wie den Klimawandel nicht lösen oder verhindern. Es scheint daher ein Übergang vom »Völkerrecht der Souveränität« zum »Völkerrecht der Solidarität« notwendig. In Ansätzen ist dieses Konzept bereits erkennbar, beispielsweise indem hoheitsfreie Räume einer völkerrechtlichen Regelung im Interesse der gesamten Menschheit zugeführt wurden (vgl. Wolfrum und Kojima 2010). So legt der »Weltraumvertrag« (1967) eine solche Herangehensweise für das All fest. Der Tiefseeboden darf gemäß »Seerechtsübereinkommen« (1994) ebenfalls nur gemeinschaftlich genutzt werden, der Klimaschutz wurde im »Pariser Abkommen« (2015) unter den Vorrang einer weltweiten schrittweisen Reduzierung von Klimagasen gestellt. Der internationale Schutz der Menschenrechte hat dazu geführt, dass die Beachtung dieser Rechte Teil des Anspruchs auf Souveränität ist. Es wurde eine internationale Strafgerichtsbarkeit (IStGH/ICC 2002) geschaffen, die komplementär zur nationalen Strafverfolgung eingreift, wenn Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen national nicht geahndet werden. Immer stärker nehmen nichtstaatliche Akteure an der Schaffung und Durchsetzung völkerrechtlicher Regelungen Anteil. Das sind positive Entwicklungen, die mühsam erkämpft wurden und nicht widerspruchsfrei sind.

Ein schwerwiegender Widerspruch ist der Umstand, dass sich Großmächte wie die USA, Russland und China nicht bereitfanden, sich der Gerichtsbarkeit des ICC zu unterwerfen. ­Stattdessen beschäftigte sich der ICC bislang vor­rangig mit Fällen auf dem afrikanischen Kontinent, was zum Vorwurf der »Doppelstandards« führte. Zweifellos ist dieser Vorwurf unberechtigt, untergräbt jedoch die Glaubwürdigkeit des Völkerrechts als einer universellen Rechtsordnung. Auch deshalb sind weitere Schritte notwendig und erfordern eine rasche Umsetzung, wenn die Menschen angesichts brutaler Kriege, massiven Waffeneinsatzes gegen friedliche Demonstrant*innen, schamlosen Wahlbetruges und der Ungleichheit bei der Bekämpfung globaler Krankheiten nicht das Vertrauen in die internationale Rechtsordnung verlieren sollen. Dringend müssen endlich energische Schritte zur Beendigung von Kriegen wie dem in Syrien ergriffen werden. Auch sind Planungen für den Wiederaufbau solcher vom Kriege gebeutelten Gesellschaften erforderlich (vgl. Asseburg 2020).

Die VN müssen als moralisch-politische und rechtliche Instanz vorangehen. So ist es notwendig, die in ihr eingeschriebenen Strukturen der Nachkriegsordnung von 1945 aufzubrechen. Internationale Konflikte können heute nicht mehr überzeugend im Rahmen eines Sicherheitsrates mit einer Vorrangstellung der Siegermächte des Zweiten Weltkrieges diskutiert werden. In diesem Gremium müssen mindestens alle Kontinente und großen Staaten als Ständige Mitglieder vertreten sein und Verantwortung übernehmen. Grundsätzlich scheint eine solche Reform aber nicht nur notwendig, sondern auch möglich. So gab um die Jahrtausendwende einen Ansatz zur Erweiterung des Sicherheitsrates, der allerdings nicht an einer Ablehnung durch die fünf ständigen Mitglieder scheiterte, sondern an der Uneinigkeit der fünf Regionalgruppen in den VN. Dies ist die Lehre, die aus dem bisherigen Scheitern einer Modernisierung der VN und des Völkerrechts im allgemeinen zu ziehen ist: Es bedarf immer wieder einer Überwindung nationaler Egoismen und der Einsicht eines kollektiven Vorgehens im Interesse der gesamten Menschheit.

Anmerkungen

1) Die Absprache wurde zwischen Roosevelt und Stalin in Jalta getroffen, deshalb wird sie in der Literatur als »Yalta-Formula« bezeichnet.

2) Das ist der große Unterschied zum 1928 abgeschlossenen Briand-Kellogg-Pakt, der zwar auch die Gewaltanwendung verbot, aber keinen Durchsetzungsmechanismus enthielt und so den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges nicht verhindern konnte.

3) Diese Nichtständigen Mitglieder werden durch die VN-Generalversammlung für zwei Jahre gewählt und repräsentieren die fünf Regionalgruppen der VN.

Literatur

Asseburg, M. (2020): Wiederaufbau in Syrien. Herausforderungen und Handlungsoptionen für die EU und ihre Mitgliedstaaten. SWP Studie 2020/S07, April 2020.

Heintze, H.-J. (2019): Frieden und Völkerrecht. In: Gießmann, H.J.; Rinke, B. (Hrsg.), Handbuch Frieden, 2. Aufl. Wiesbaden: Springer, S. 753-772.

Ipsen, K. (2018): Völkerrecht, 7. Aufl. München: C.H.Beck.

Meier, O. (2018): Chemiewaffenangriffe. Das Ende der Namenlosigkeit. SWP-Aktuell 2018/A39, Juli 2018.

Wellhausen, M. (2002): Humanitäre Intervention. Probleme der Anerkennung des Rechtsinstituts unter besonderer Berücksichtigung des Kosovo-Konflikts. Baden-Baden: Nomos.

Wolfrum, R.; Kojima, C. (Hrsg.) (2010): Solidarity: A structural principle of international law. Heidelberg: Springer.

Hans-Joachim Heintze ist Professor am Bochumer Institut für Friedensicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht und Direktor des European Master Programme »Human Rights and Democratization«.

Regelbasierte Weltordnung statt hegemonialem Wettstreit

Regelbasierte Weltordnung statt hegemonialem Wettstreit

von Paul Schäfer

Vor genau zwanzig Jahren widmete sich Wissenschaft und Frieden dem Thema »Recht ? Macht ? Gewalt« (Heft 2/2001). Die Bundeswehr hatte sich im Rahmen der NATO an einem Kriegseinsatz beteiligt. Der wurde 1999/2000 ohne Mandat des UN-Sicherheitsrates, also völkerrechtswidrig, gegen Rest-Jugoslawien geführt, mit dem vorgegebenen Ziel, die Unterdrückung der kosovo-albanischen Minderheit zu beenden. Die Befürworter*innen des Krieges bemühten wahlweise einen übergesetzlichen Notstand (?Not kennt kein Gebot?) oder redeten nebulös von einem ?werdenden internationalen Recht?.

Wiederum genau zehn Jahre danach erschien das Schwerpunktheft »Schafft Recht Frieden?« (2/2011). Auch dieses Heft behandelte die strikte Beachtung des Gewaltverbots der UN-Charta. Zugleich rückte das Spannungsfeld zwischen einer friedenssichernden nationalstaatlichen Souveränität und international verankerten und durchzusetzenden staatsbürgerlichen Rechten und Freiheiten stärker ins Blickfeld. 2005 hatte die UN-Generalversammlung die sogenannte Schutzverantwortung beschlossen (»Responsibility to Protect«), die vorsah, dass der UN-Sicherheitsrat im Falle von Völkermord und schwersten Kriegsverbrechen auch militärische Mittel einsetzen könne. Zuvor wurde mit dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH 2002) eine globale Strafgerichtsbarkeit etabliert.

Die Botschaft beider Hefte ist ziemlich klar: Recht entsteht nicht im luftleeren Raum, es hat auch mit gesellschaftlichen und internationalen Machtverhältnissen zu tun. Völkerrecht bewegt sich immer im Widerstreit zwischen dem Versuch der Staaten, ihre Machtinteressen und Privilegien zu sichern, und den elementaren Bedürfnissen der Menschen nach einer friedlichen und gerechten Welt. Gerade daher ist der »Kampf um das Recht« von elementarer Bedeutung, wenn es darum geht, die Prinzipien einer friedlichen Streitbeilegung und der internationalen Zusammenarbeit zum Wohle Aller dauerhaft und konsequent zu verankern.

Ausgangspunkt dieses Hefts und des beiliegenden Dossiers zur »Kooperativen Sicherheit« ist die Erosion einer regelbasierten Weltordnung, die aus den Fugen geratene Welt, die wir in den letzten Jahren verfolgen konnten. Mit den Fugen sind verbindliche Regeln und Normen gemeint, die in diplomatischen Aushandlungsprozessen zur Geltung gebracht werden sollen. Sie werden mit Recht auch als »zivilisatorische Leitplanken« bezeichnet. Viele dieser Institutionen der internationalen Ordnung (insbesondere das System der Vereinten Nationen) wurden zunehmend an den Rand gedrängt, internationale Verträge (nicht zuletzt im Bereich der Rüstungskontrolle und der Abrüstung) ausgehebelt, verbindliche Regeln des Miteinander in der Staatenwelt missachtet. Auch der Blick in die Zukunft verheißt nicht unbedingt Gutes. Wir befinden uns im Übergang zu einer multipolaren Welt, in der der Wettstreit um globale und regionale Vorherrschaft die Gefahr militärischer Zusammenstöße beträchtlich erhöht. Die neuen hegemonialen Konflikte sind auch deshalb bedrohlich, weil sie die überlebenswichtige globale Zusammenarbeit zur Lösung der globalen Probleme gefährden bzw. beeinträchtigen. Die Erfordernisse dieser Kooperation sind immens: Klima- und Umweltkrise, mächtige transnationale Unternehmen, die sich gesellschaftlicher Kontrolle entziehen, Covid-19-Pandemie, neue waffentechnologische Entwicklungen, digitale Überwachung und vieles mehr.

Die Weiterentwicklung und Reformierung der internationalen Rechtsordnung ist daher ein extrem wichtiger Bestandteil zukunftssichernder Politik. Neben der Erosion des Völkerrechts wendet sich das Heft daher auch den progressiven Entwicklungen zu. Mehr als dreißig Themenvorschläge hatten wir auf dem Tisch, als wir über dieses Heft beraten haben; Beleg für die vielfältigen Reformdiskussionen und -bestrebungen. Gemessen daran, kann uns das vorliegende Heft nur einen kleinen Einblick geben.

Hans-Joachim Heintze (der bereits 2001 zu den Autor*innen zählte) gibt eine Grundrichtung unserer Überlegungen vor: Vom »Völkerrecht der Souveränität« zum »Völkerrecht der Solidarität«. Damit ist die Messlatte hoch gelegt, die auch auf die Nachhaltigkeitsziele der UNO und deren Implementierung verweist. Andreas Schüller unterstreicht in seinem Beitrag die wichtige Rolle der Zivilgesellschaft bei der Mobilisierung und Weiterentwicklung des internationalen Rechts.

Alexander Benz befasst sich damit, wie deutsche Gerichte ? in der Umsetzung des Weltrechtsprinzips ? dazu beitragen können, dass schwere Verbrechen nicht länger straffrei bleiben, sondern auch an »entfernten Orten« geahndet werden können. Der Beitrag von Daniela Triml-Chifflard ist ein Beleg dafür, dass die künftige Rechtssetzung zur Bewahrung der Umwelt einen Horizont verlangt, der eurozentristisches Denken überschreitet und dabei auch Rechtsvorstellungen indigener Gemeinschaften würdigt. All dies zeigt: es ist vieles in Bewegung im Völkerrecht. Nicht nur aus diesem Grund sollten wir
nicht weitere zehn Jahre warten, um die Zusammenhänge von Recht, Friedenssicherung und ziviler Konfliktbewältigung erneut zu thematisieren,

Ihr Paul Schäfer

Sicherheit im Klimawandel

Sicherheit im Klimawandel

Die Rolle des UN-Sicherheitsrates

von Judith Nora Hardt und Alina Viehoff

Die vom Klimawandel ausgehenden Sicherheitsbedrohungen erschüttern das traditionelle Verständnis von Sicherheit und die institutionellen Strukturen nationaler und internationaler Sicherheits- und Friedenspolitik. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen steht hierbei unter besonderem Erwartungsdruck. Bisher hat dieser den Einfluss des Klimawandels auf Sicherheit jedoch nicht offiziell anerkannt. Welche Gründe gibt es hierfür, wie positionieren sich die Mitgliedsstaaten des Sicherheitsrates zu dieser Frage, und welche konkreten Maßnahmen könnten hinsichtlich der globalen und tiefgreifenden Herausforderung entwickelt werden?

Die Welt ist mit den dramatischen Folgen des Klimawandels konfrontiert, auch wenn diese in den letzten Monaten aufgrund der Ereignisse durch die Corona-Pandemie in den Hintergrund der öffentlichen Aufmerksamkeit geraten sind. Dabei zählten klimatische Veränderungen zu den wichtigsten gesellschaftlichen Themen des vergangenen Jahres. Gesellschaftliche Protestbewegungen, wie »Fridays for Future«, und die Ausrufung des »Klima-Notstandes« durch das Europäische Parlament (2019) verdeutlichen die zunehmende Politisierung des Klimawandels. Der Aufruf »Climate-Planetary Emergency« des Club of Rome (2020) an Entscheidungsträger*innen beschreibt zudem die Dramatik und Gleichzeitigkeit sozio-ökologischer Krisen und den Ruf nach Antworten auf multiple und miteinander verschränkte Sicherheitsbedrohungen. So werden im Zuge extremer Wetterereignisse, der Auswirkungen von Klimawandel auf Krieg und Frieden sowie weiterer Sicherheitsbedrohungen (Benner et al. 2020) die Forderungen nach »Klimasicherheit« lauter. Zum Beispiel gibt es im Rahmen der Vereinten Nationen mehrere Institutionen, die eine breitere Antwort und Verantwortlichkeit der Organisation fordern (UNEP 2011; Modéer 2019), und auch Generalsekretär Antonio Guterres (2019) warnte kürzlich erneut:
„[…]die Klimakrise ist ein Wettlauf gegen die Zeit um das Überleben unserer Zivilisation, ein Wettlauf, den wir gerade verlieren“.

Die traditionellen Sicherheitsinstitutionen und -akteur*innen, insbesondere der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (im Folgenden kurz Sicherheitsrat) – das einzige internationale Organ mit einem Mandat zur Aufrechterhaltung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit –, geraten zunehmend unter Druck. Sie sollen, so die Forderung, gegen die mit dem Klimawandel verknüpften Sicherheitsbedrohungen – hier als »Klima-Sicherheit-Nexus« bezeichnet – energisch vorgehen. Eine zentrale Herausforderung besteht jedoch darin, das klassische Sicherheitskonzept, welches im traditionellen Sinne als national gebunden und militärisch geprägt verstanden wird, im Kontext der neuen globalen, komplexen und sozio-ökologischen Herausforderungen neu zu denken. Zudem fehlen dafür bisher sowohl die theoretisch fundierte Orientierung als auch praktische Beispiele.

Sicherheitsrat und Klimawandel

Angesichts der existentiellen Sicherheitsbedrohungen, welche von der Erdsystemforschung aus naturwissenschaftlicher Perspektive beschrieben werden (Steffen et al. 2018; IPCC 2019), wird die Notwendigkeit koordinierter internationaler Maßnahmen im Sicherheitsrat zunehmend kontrovers diskutiert. Die vielfältigen Auswirkungen des Klimawandels auf Sicherheit wurden jedoch durch das Gremium noch nicht offiziell anerkannt, da dazu unter den 15 Mitgliedstaaten weiterhin keine Einigkeit besteht.

Im Sinne eines klassischen Sicherheitsverständnisses hatte sich der Sicherheitsrat seit seiner Gründung vorwiegend mit gewaltsamen Konflikten, Kriegen und militärischen Aktivitäten auseinandergesetzt. In den letzten Jahren entwickelte sich die Institution allerdings erheblich weiter und berücksichtigt bei der Betrachtung von Konflikten nun auch weiter gefasste Sicherheitsthemen, z.B. die umfassenderen Konzepte »Human Security« (Menschliche Sicherheit) und »Responsibility to Protect« (Schutzverantwortung) sowie die besondere Lage von Frauen und Kindern. Dies zeigt, dass der Sicherheitsrat durchaus eine dynamische und sich entwickelnde Institution ist (Scott und Ku 2018; Conca 2019). Seit seiner ersten Debatte zum Thema im Jahr 2007 diskutierte der Sicherheitsrat die Folgen des Klimawandels in mehreren formellen und informellen Treffen kontrovers. Im Juli 2020 griff das Gremium auf Betreiben Deutschlands, das den Klima-Sicherheits-Nexus zu einer Priorität seiner zweijährigen Mitgliedschaft im Sicherheitsrat erklärte, das Thema erneut auf. Zwar unterstützte ein Großteil der Mitgliedsstaaten die Einbindung klimatisch-bedingter Sicherheitsrisiken in die Agenda des Sicherheitsrates, ein Konsens wurde aber wieder nicht erzielt.

Die Beweggründe für die kontroversen Positionen lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:

Die Kritiker*innen verweisen vor allem auf die Risiken einer weiteren Militarisierung, Entpolitisierung und Vereinnahmung von Klimapolitik für machtpolitische Überlegungen. Weiterhin befürchten sie, dass es zu Überschneidungen von Arbeitsbereichen innerhalb der Vereinten Nationen, zu einer Einschränkung der staatlichen Souveränität sowie zu unzureichenden und vereinfachten Reaktionen auf komplexe Bedrohungen im Zusammenhang mit Klimasicherheit kommen könnte.

Die Befürworter*innen unterstreichen die Notwendigkeit, die bestehenden und wachsenden Bedrohungen des Klimawandels in einen umfassenderen Ansatz von Sicherheit und sicherheitspolitischen Maßnahmen einzubeziehen. Sie heben hervor, dass die Einstufung des Klimawandels als Sicherheitsproblem nicht zwangsläufig zur Militarisierung führt. Sicherheitspolitik kann ihnen zufolge nicht nur auf militärische Antworten zurückgreifen, sondern auch auf eine Reihe »weicher« sicherheitspolitischer Maßnahmen, welche auf eine friedvolle, multilaterale Zusammenarbeit abzielen.

Kompliziert wird das Thema durch parallele Diskussionen über Verantwortlichkeiten, Kapazitäten, Autorität und Legitimität sowie die ausbleibende Reform des Sicherheitsrates in einer sich verändernden Welt (Conca 2019). Die Diskussion dreht sich vor allem um die möglichen Richtungen, Instrumente und Formen von Sicherheitspolitik sowie um die Frage, wie bzw. inwieweit der Sicherheitsrat die Existenz von Klimawandel und anderen sozio-ökologische Phänomenen offiziell anerkennen kann. Ein weiterer Grund für den fehlenden Konsens ist, dass die Mitgliedstaaten die Thematik durch die Linse divergierender Positionen, politischer Bedenken und unterschiedlicher Sicherheitsverständnisse und -ansätze betrachten. Darüber hinaus werden die Diskussionen immer wieder durch die Komplexität der einzelnen Anliegen behindert.

Trotz alledem finden Aspekte von Klima und Sicherheit in der Arbeit des Sicherheitsrates ihren Niederschlag. Mehrere Resolutionen und Friedensmissionen berücksichtigen bereits seit 2017 die möglichen negativen Folgen von Klimawandel, Naturkatastrophen und anderen ökologischen Phänomenen für Stabilität und Sicherheit, allerdings nur in bestimmten Regionen und vor allem auf dem afrikanischen Kontinent, z.B. Tschadseebecken (Resolution 2349), Darfur (UNAMID, Resolution 2429), Zentralafrika (MINUSCA, Resolution 2499) und Mali (MINUSMA, Resolution 2480).

Auch die Etablierung des »Climate Security Mechanism« im Jahr 2018 sowie die Gründung der »Group of Friends on Climate and Security« (51 Mitgliedsstaaten unter dem gemeinsamen Vorsitz von Deutschland und Nauru) zeugt von der hohen Anerkennung und Relevanz des Klima-Sicherheit-Nexus in den Vereinten Nationen.

Vor dem Hintergrund dieser komplexen, teilweise widersprüchlichen und scheinbar verfahrenen Situation wurden im Rahmen des Studienprojekts »Klimawandel und Sicherheit im UN-Sicherheitsrat« die nationalen Positionen der Mitgliedsstaaten des Sicherheitsrates untersucht. Die Studie wurde in Kooperation zwischen dem Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH) und der Forschungsgruppe Klimawandel und Sicherheit (CLISEC) der Universität Hamburg durchgeführt und vom Auswärtigen Amt gefördert. Die Studie analysiert anhand offizieller Quellen, wie die 15 Mitgliedsstaaten (siehe Abb. 1) den Klima-Sicherheits-Nexus in ihrer nationalen und internationalen Politik und Praxis berücksichtigen, inwieweit sie Klimawandel als Bedrohung für ihre eigene und die internationale Sicherheit wahrnehmen und welche Maßnahmen und Strukturen in diesem Kontext aufgebaut und genutzt werden (Hardt und Viehoff 2020).

Die Sicht der Mitgliedsstaaten des Sicherheitsrates

Ein zentrales Ziel der Studie war u.a., aus der Praxis zu Klimasicherheit der verschiedenen Akteur*innen zu lernen und Orientierung über die unterschiedlichen Herangehensweisen zu schaffen. Die zentralen Ergebnisse der Studie zeigen, dass der Zusammenhang zwischen Klimawandel und Sicherheit von allen Mitgliedstaaten des Sicherheitsrates auf nationaler Ebene anerkannt wird. Durch die Analyse wurde zudem deutlich, dass die Anerkennung des Nexus quer durch die politischen Felder erfolgt – von den Staatsoberhäupter über den traditionellen Sicherheitssektor bis zu den unterschiedlichsten Ministerien. Auffällig ist auch das breite Spektrum an Verständnissen von Klimasicherheit der untersuchten Akteurscluster.

Besonders interessant ist, dass in elf Mitgliedsstaaten vor allem der traditionelle Sicherheits- [Verteidigungs-] Sektor auf den Klimawandel eingeht. Dabei wird Klimawandel meistens als eine Bedrohung der nationalen Sicherheit angesehen, und in den jeweiligen Sicherheitsstrategien werden die Auswirkungen auf u.a. gewaltvolle Konflikte und Migration, aber auch auf das Militär selbst hervorgehoben. Als Konsequenz wird der Aufbau von Fachwissen gefördert und die internationale Zusammenarbeit in dieser Frage gestärkt. Trotz der möglicherweise dramatischen Auswirkungen des Klimawandels und der damit verbundenen existenziellen Sicherheitsbedrohungen wird die Antwort auf die Herausforderung überwiegend in einer darauf ausgerichteten Klimapolitik gesehen. Mit anderen Worten: Die von manchen Mitgliedsstaaten befürchtete Militarisierung der Thematik wurde in der Studie nicht verzeichnet.

Die Untersuchung der Praxis von Staatsoberhäuptern und
Ministerien zeigt, dass diese zur Eindämmung klimatischer Sicherheitsbedrohungen weitgehend auf präventive und schützende Maßnahmen setzen. Klimawandel wird in den meisten Mitgliedsstaaten des Sicherheitsrates als politische Querschnittsaufgabe beschrieben. Dabei kann eine Institutionalisierung und ein »Mainstreaming« der Thematik in unterschiedlichen Politikbereichen beobachtet werden, z.B. in strategischen Politikplänen, Katastrophenmanagement, humanitärer Hilfe sowie Außen- und Klimapolitik. Länder wie die Dominikanische Republik oder St. Vincent und die Grenadinen sehen aufgrund ihrer großen Verwundbarkeit gegenüber extremen Wetterereignissen die Anpassung an den Klimawandel als eine Priorität des Staatshandelns an.

Zudem wurde in Reden wichtiger politischer Entscheidungsträger*innen von fast allen Mitgliedsstaaten anerkannt, dass Klimawandel eine existentielle Sicherheitsbedrohung für zukünftige Generationen, die Menschheit und den Planeten darstellt. Insbesondere die Bedrohung der so genannten Small Island Developing States (kleiner Inselstaaten im Globalen Süden) wird von vielen Staaten hervorgehoben.

Um den nationalen Fokus mit der internationalen Ebene zu verbinden und Schnittmengen von Handlungsansätzen zu finden, untersuchte die Studie zudem, welche Positionen die Staaten beim informellen Treffen des Sicherheitsrates (nach der Arria-Formel) am 22. April 2020 vertraten. Hierbei wurde deutlich, dass alle 15 Mitglieder die Auswirkungen des Klimawandels auf die internationale Sicherheit anerkennen, obwohl einige Staaten die Behandlung des Klimawandels im Sicherheitsrat mitunter noch skeptisch betrachten und Klimawandel nur als einen Sicherheitsfaktor unter vielen ansehen. Darüber hinaus wurde deutlich, dass alle Staaten bessere wissenschaftliche Informationen über die Zusammenhänge zwischen Sicherheit und Klimawandel sowie eine effizientere Koordination innerhalb der Vereinten Nationen befürworten.

Angesichts dieser Studienergebnisse ist es erstaunlich, dass der Sicherheitsrat weiterhin uneins bleibt und die nationalen und internationalen Politiken einiger Staaten deutlich divergieren. Zwar erkennen die meisten Staaten den Nexus auf nationaler Ebene an, äußern sich aber im Kontext des Sicherheitsrates eher skeptisch. Offener Dialog und Austausch zwischen den Staaten sowie eine solidere Wissensbasis über die Ausgangslage könnten eine Einigung befördern. Allerdings spielen auch machtpolitische Fragen eine zentrale Rolle, welche in weiteren Untersuchungen genauer analysiert werden sollten.

(Sicherheits-) Politik im Klimawandel?

Allgemein fällt auf, dass der Klima-­Sicherheit-Nexus in etlichen Politikfeldern relativ hohe Aufmerksamkeit erhält, während die in Betracht gezogenen Maßnahmen der Dramatik meist nicht angemessen sind, sondern auf Klimapolitik beschränkt bleiben. So spielen die existentiellen Sicherheitsfragen im Vergleich zu anderen Politikbereichen eine untergeordnete Rolle. Allerdings basieren die Studienergebnisse ausschließlich auf offiziellen Quellen, somit steht eine detaillierte Evaluierung der Praktiken und deren Qualität noch aus. Dabei ist es angesichts des Ausmaßes des Klimawandels und des unmittelbaren Handlungsbedarfs zentral, dass – wie von der Wissenschaft (z.B. Hagedorn et al. 2019) und den gesellschaftlichen Protestbewegungen gefordert – die dramatischen Folgen des Klimawandels eine hohe politische Priorität bekommen.

Der Ansatz für Klimasicherheit muss im Sicherheitsrat, aber auch in der allgemeinen Sicherheits- und Friedens­politik, viel weiter gefasst werden und Aktivitäten auf den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Ebenen einbeziehen. Dabei muss die Planung präventiver und multilateraler Maßnahmen zum Schutz der besonders Gefährdeten und der zukünftigen Generationen im Vordergrund stehen. Dafür ist ein offeneres und breiteres Verständnis von Sicherheit und dem, was geschützt werden muss, erforderlich. Dazu gehört auch das Bewusstsein, dass der Klima-Sicherheits-Nexus soziopolitischen Ursprungs ist und sich in vielfältigen und kontextabhängigen Formen äußern kann.

Die wechselseitigen Beziehungen zwischen Klimawandel und Sicherheit müssen breitere Anerkennung und Relevanz bekommen. Um eine glaubhafte Politik zu gewährleisten, dürfen wissenschaftliche Erkenntnisse über die verheerenden Auswirkungen des Klimawandels nicht länger ignoriert werden. Wissenschaftlicher Expertise muss mehr Aufmerksamkeit entgegengebracht werden; insbesondere sollte die Einzelfallanalyse, welche die komplexen, dynamischen und kontextabhängigen Zusammenhänge des Klima-Sicherheits-Nexus berücksichtigt, gefördert und institutionell eingebettet werden.

Literatur

Benner, A.-K. et al. (2020): Fokus / Friedenspolitik in Zeiten des Klimawandels. In: Friedensgutachten 2020. Bielefeld: transcript, S. 25-43.

Club of Rome (2020): Climate-Planetary Emergency. clubofrome.org/impact-hubs/­climate-emergency.

Conca, K. (2019): Is There a Role for the UN Security Council on Climate Change? Environment – Science and Policy for Sustainable Development, Vol. 61, Nr. 1, S. 4-15.

Europäisches Parlament (2019): Europäisches Parlament ruft Klimanotstand aus. Pressemitteilung, 29.11.2019.

Guterres, A. (2019): Remarks at the Paris Peace Forum, 11 November 2019; un.org/sg.

Hardt, J.N.; Viehoff, A. (2020): A Climate for Change in the UNSC? Member States’ Approaches to the Climate-Security Nexus. Hamburg: Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik, IFSH Research Report 05/20.

Hagedorn et al. (2019): The concerns of the young protesters are justified – A statement by Scientists for Future concerning the protests for more climate protection. GAIA, Vol. 28, Nr. 2, S. 79-87.

Intergovernmental Panel on Climate Change/IPCC (2019): Summary for Policymakers. In: Climate Change and Land – An IPCC Special Report on climate change, desertification, land degradation, sustainable land management, food security, and greenhouse gas fluxes in terrestrial ecosystems. Edited by Shukla, P.R. et al. Cambridge, New York: Cambridge University Press.

Modéer, U. (2019): Why does the UN focus on climate-related security risks? Genf: United Nations Development Programme.

Scott, S.; Ku, C. (2018): Conclusions – A climate change role for the Council? In: dieselben: Climate Change and the UN Security Council. Cheltenham: Edward Elgar, S. 229-243.

Steffen, W. et al. (2018): Trajectories of the Earth System in the Anthropocene. Proceedings of the Natural Academy of Sciences of the United States of America, Vol. 115, Nr. 33, S. 8252-8259.

Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (2011): State­ment by the President of the Security Council. Dokument S/PRST/2011/15 vom 20.7.2011.

United Nations Environmental Programme/UNEP (2011): Livelihood Security – Climate Change, Migration and Conflict in the Sahel. Genf: UNEP.

Judith Nora Hardt ist Forscherin am Centre Marc Bloch, arbeitet gerade an den Projekten »Climate Change as a Challenge to Security« und »Multiple Crises« und ist bei »Scientists For Future« aktiv.
Alina Viehoff ist Forscherin mit Fokus auf Kritische Sicherheitsstudien sowie Politische Geographie und Sozialgeographie, wobei sie sich mit den verschiedensten Dimensionen gesellschaftlichen Zusammenlebens auseinandersetzt.

Im Auge des Sturms


Im Auge des Sturms

Die WHO in der COVID-19-Pandemie

von Anna Holzscheiter

Who is WHO? Zweifelsohne hat sich innerhalb von nur wenigen Monaten die Zahl der Menschen vervielfacht, die wissen, was sich hinter dem Akronym WHO verbirgt. Wie schon bei anderen Gesundheitskrisen vor und nach dem Ende des Kalten Krieges blicken große Teile der Weltbevölkerung und selbst der Mitgliedsstaaten mit gemischten Gefühlen auf die Weltgesundheitsorganisation. Die Autorin geht den aktuellen Diskussionen um die WHO nach und erklärt am Ende, warum eine handlungsfähige und finanziell ausreichend ausgestattete WHO unverzichtbar ist.

Welchen Beitrag kann die Weltgesundheitsorganisation leisten, um „allen Völkern zur Erreichung des bestmöglichen Gesundheitszustand[s] zu verhelfen“ (Artikel 1 der WHO-Verfassung von 1946) und Gesundheitssicherheit selbst in Zeiten einer vielerorts schwer kontrollierbaren globalen Pandemie herzustellen? Wie sehr hängen unser persönliches Wohlbefinden und der Schutz unserer individuellen und öffentlichen Gesundheit von den Handlungsmöglichkeiten, der Autorität und möglicherweise auch der Intransparenz und Ineffektivität der WHO ab? Wie stark wird die WHO von unterschiedlichen staatlichen und gesellschaftlichen, unternehmensnahen und profitorientierten Akteuren vereinnahmt? Und wie beeinflussen ihre mächtigsten Geldgeber die Handlungsfähigkeit der WHO in Zeiten eines globalen Gesundheitsnotstands und darüber hinaus?

All diesen wichtigen Fragen zum Trotz verfolgte in den vergangenen Monaten die Öffentlichkeit vor allem den sich zuspitzenden Konflikt zwischen den USA und China innerhalb der WHO. Die Ankündigung des US-Präsidenten Donald Trump im April 2020, die Zahlungen an die WHO einzustellen, weil diese aufgrund ihrer zu engen Beziehungen zu China die Welt nicht rechtzeitig vor der drohenden COVID-19-Pandemie gewarnt habe, seine Ankündigung Ende Mai, die USA würden ihre Zusammenarbeit mit der WHO beenden, und schließlich Anfang Juli seine Kündigung der WHO-Mitgliedschaft binnen Jahresfrist werfen ein grelles mediales Scheinwerferlicht auf die WHO und ihre Rolle in der Pandemie.

Die Kritik am zögerlichen Handeln der WHO teilen viele Beobachter*innen. Ähnlich wie bei der Ebola-Epidemie ab 2014 wird der WHO vorgeworfen, sie habe zu spät einen internationalen Gesundheitsnotstand ausgerufen. Während das zögerliche Handeln bei Ebola vor allem auf die dysfunktionale Arbeitsweise der WHO und deren mangelnde Führung zurückgeführt wurde, fokussiert die Kritik an den Fehlern der WHO gegenwärtig darauf, dass sie einer Verschleierungstaktik der chinesischen Regierung nichts entgegengesetzt habe. Der WHO-Nothilfekoordinator Mike Ryan hatte nach dem Besuch einer WHO-Delegation in China Ende Januar 2020 die chinesische Regierung für ihren Umgang mit der Corona-Epidemie ausdrücklich gelobt. Ihre Anstrengungen seien vorbildlich gewesen. Andere Politiker*innen und Wissenschaftler*innen äußern sich allerdings ähnlich kritisch über die Schwäche und Vereinnahmung der WHO wie Trump.

Jenseits der Frage, ob und wieviel Schuld die chinesische Regierung und die WHO an der COVID-19-Pandemie tragen, wird im öffentlichen Diskurs immer wieder die allgemeinere Frage erörtert, warum Staaten die WHO als politische Plattform nutzen – eine Frage, die verdeutlicht, wie stark doch das Bild von der WHO als technokratischer Gesundheitsbehörde und politikfreier Zone die öffentliche Wahrnehmung dominiert. Gesundheitsfragen sollen bitte jenseits von Politik gelöst werden, daheim wie auf dem internationalen Parkett, und ganz besonders in Zeiten eines internationalen Gesundheitsnotstands.

Die ideale Weltgesundheitsorganisation stellen wir uns vor als Hort von Expert*innen, die Richtlinien und Standards formulieren, für Gesundheitskrisen genauso wie für eine lange Liste anderer Gesundheitsthemen und -probleme, die Länder beim Aufbau robuster und für alle zugänglicher Gesundheitssysteme beraten, die für die Koordination der Maßnahmen ihrer Mitgliedsstaaten und die Einbindung gesellschaftlicher Akteure zuständig sind. Wir wünschen uns die WHO frei vom Tauziehen um Einfluss, frei von Interessenpolitik und Lobbyismus, frei von Wettbewerb und Streit um Expertise, Wissen, Fakten und Daten. Die Vorstellung behagt uns gar nicht, dass im politischen Alltagsgeschäft von Regierungen, Ministerien und eben auch der WHO, in Zeiten großer Unsicherheit und trotz täglich sich wandelnder Fakten und Erkenntnisse weitreichende Entscheidungen fallen und Krisenstrategien beschlossen werden müssen. Genauso wenig wünschen sich viele innerhalb der WHO eine »Politisierung« der COVID-19-Pandemie, eine Infragestellung der Relevanz und Integrität der WHO und ihrer Führungspersonen, allen voran ihres Generaldirektors, und eine Kritik an ihrem Krisenmanagement zu einem Zeitpunkt, an dem in vielen Ländern und Regionen der Welt die Krise in vollem Gange ist.

Und doch kam – scheinbar aus heiterem Himmel – schon kurze Zeit nach dem Ausrufen einer »public health emergency of international concern« (PHEIC; gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite) durch die WHO die große Weltordnungspolitik ins Spiel, und viele, die sich sonst kaum mit internationalen Organisationen und internationaler Politik befassen, zeigten sich entsetzt. Ich möchte behaupten, dass die öffentliche Debatte über die Rolle der WHO in der Pandemie von einer seltsam ahistorischen und weltfremden Vorstellung von internationaler Politik und internationalen Organisationen geprägt ist.

Internationale Organisationen, und das schließt die WHO genauso ein wie das Welternährungsprogramm, das UN-Kinderhilfswerk oder die internationale Arbeitsorganisation, sind selbstverständlich immer auch politische Institutionen, selbst dann, wenn wir annehmen, dass sie vorwiegend technische, logistische oder humanitäre Aufgaben vor Ort erfüllen sollen. Einflussreiche Akteure der globalen Gesundheitspolitik, allen voran die großen Stiftungen und öffentlich-privaten Partnerschaften, die sich in diesem Feld tummeln, umschreiben globale Gesundheit gerne als ein Feld evidenz-basierter Strategien und Programme, deren vorrangiges Ziel es ist, Leben zu retten und Gesundheit und Wohlergehen weltweit sicherzustellen. Dass dabei natürlich auch Prioritäten gesetzt werden, dass um die Agenda der globalen Gesundheit, um Strategien, Therapien und Wissen ein fortwährender Konflikt ausgetragen wird – dieser Aspekt von Gesundheitspolitik als politischer Kampf um Einfluss, legitimes Wissen, Prioritäten und »value for money« soll lieber im Verborgenen bleiben.

Im Auge des Sturms

Internationale Gesundheitspolitik ist immer auch Ausdruck einer größeren und längerfristigen Weltordnungspolitik sowie von Auseinandersetzungen um Einflusssphären innerhalb und außerhalb von internationalen Organisationen. Und sie zeigt momentan auch, wie die Verachtung, die populistische Präsidenten, wie Trump oder Jair Bolsonaro, für multilaterale Organisationen hegen, sich für deren Zwecke als nützlich erweist. Indem sie nahelegen, auf der einen Seite stünden die WHO, auf der anderen einzelne Staaten der Welt, negieren sie die lange Geschichte und den Einfluss ihrer eigenen Länder als Mitgliedsstaaten und tragende Säulen der Politik, die internationale Organisationen wie die WHO machen. Eine solche Darstellung erlaubt es, die Schuld für die verheerende Lage im eigenen Land und das eigene klägliche Krisenmanagement auf die WHO abzuwälzen.

Jetzt, da die WHO wie keine andere Institution im Rampenlicht der internationalen Politik steht, ist das Interesse daran, die Politik hinter der globalen Gesundheit zu verstehen, größer denn je. Die Vorwürfe Donald Trumps gegen die WHO sind ungeachtet ihrer Verdrehung und Instrumentalisierung in Verschwörungstheorien offenbar auf fruchtbaren Boden gefallen. Befürworter*innen und Kritiker*innen der WHO finden sich in Politik, Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Wirtschaft. Die Serie an Interviews, Medienbeiträgen und Kommentaren, beispielsweise in »Foreign Policy« (Lynch 2020), »Foreign Affairs« (Bollyky und Fidler 2020) oder »The Lancet« (Durrheim et al. 2020), reißt nicht ab. Immer wieder steht dabei die Frage im Raum, wie sehr sich die WHO von Interessen, Staaten und privaten Geldgebern abhängig machen darf, welche Macht sie über starke Mitgliedsstaaten, wie China, hat und welches Handeln wir in Zeiten einer globalen Gesundheitskrise von ihr erwarten.

Einmal mehr zeigt sich in der COVID-19-Pandemie, wie sehr internationale Gesundheitsnotstände ein diplomatischer Drahtseilakt für die WHO sind. Dies trifft insbesondere dann zu, wenn Regierungen, die ein ungewöhnliches Infektionsgeschehen im eigenen Land beobachten, dies zu vertuschen versuchen (wie schon bei der SARS-Epidemie 2002/2003), obwohl sie gemäß den Internationalen Gesundheitsvorschriften der WHO die Verpflichtung haben, die Staatengemeinschaft zu alarmieren. Bei der Ebola-Epidemie 2014 brauchte die WHO viereinhalb Monate, um endlich von ihrem Recht Gebrauch zu machen, die höchste Alarmstufe, einen internationalen Gesundheitsnotstand, auszurufen. Die berechtigte Kritik an der Schwerfälligkeit der Organisation und die verheerenden »lessons learned« aus der Ebola-Krise führten zu weitreichenden Reformen im WHO-Krisenmanagement, allen voran die Einrichtung eines Gesundheitsnotstandsprogramms und einer unabhängigen Aufsichts- und Beratungskommission, die die Notstandsmaßnahmen der WHO engmaschig evaluieren soll.

In der COVID-19-Pandemie hat die WHO vier Wochen gebraucht, um einen internationalen Gesundheitsnotstand auszurufen. Kritiker urteilen, die WHO habe auch hier zu spät auf den Alarmknopf gedrückt. Die unabhängige Aufsichtskommission wiederum weist in ihrem ersten Bericht von Mitte Mai daraufhin, trotz der Ausrufung eines Gesundheitsnotstandes Ende Januar 2020 hätten viele Länder nur sehr zögerlich auf die Warnung der WHO reagiert. Auch in Deutschland stufte das Robert Koch-Institut erst am 17. März 2020 das Infektionsrisiko der Bevölkerung als »hoch« ein.

Ungeachtet des »shitstorm« aus den USA und des machtpolitischen Strudels, in dem die WHO sich seit Mitte April befindet, zeigte die online abgehaltene Jahresversammlung der WHO-Mitgliedsstaaten Mitte Mai, dass die internationale Gemeinschaft, und zwar nicht nur die Staaten, sondern auch die wissenschaftlichen und nicht-staatlichen Akteur*innen und Organisationen, mehr denn je auf die WHO angewiesen ist. Überraschend wenig Raum nahm während des Gipfels die Auseinandersetzung zwischen den USA und China ein. Stattdessen bewirkten die Besonnenheit einiger Staatschef*innen, einschließlich Kanzlerin Merkel, und die vermittelnde Rolle der Europäischen Union, dass eine Resolution mit einem umfangreichen Maßnahmenkatalog verabschiedet werden konnte (WHO 2020).

Diese Resolution stärkt der WHO einerseits den Rücken, verlangt aber zugleich eine „unparteiische, unabhängige und umfassende“ wissenschaftliche Untersuchung des Ursprungs des Coronavirus. Statt die WHO noch stärker in ihrer Autonomie und Autorität einzuschränken – und damit möglicherweise noch anfälliger für die Vereinnahmung durch starke Mitgliedsstaaten zu machen –, bestätigen die Mitgliedsstaaten die Rolle der WHO als Koordinationsinstanz des internationalen Gesundheitsmanagements. Die Resolution unterstreicht auch die beispiellose Relevanz der WHO für den Austausch zwischen dem Globalen Norden und dem Globalen Süden. Die Forderungen nach einem gerechten Zugang zu Diagnostik, Therapie und Impfstoffen für SARS-CoV-2, nach einem freiwilligen Pool für Patente und generell nach internationaler Solidarität und Zusammenarbeit offenbaren, wie wichtig diese Institution für eine wahrhaft »globale Perspektive« ist in einer Zeit, in der Grenzen geschlossen, Medizinprodukte gehortet und bereits egoistische Ansprüche auf den Impfstoff »in spe« erhoben werden.

Die Untätigkeit des UN-Sicherheitsrats

Während die WHO momentan extrem belastet ist und mit einer nie dagewesenen Präsenz zugleich an ihrem Image und an der Bewältigung der Krise arbeitet, war das mächtigste Organ der Vereinten Nationen, der UN-Sicherheitsrat, in den vergangenen Monaten aus einem anderem Grund massiver Kritik ausgesetzt. In der Ebola-Krise 2014/15 hatte sich der Sicherheitsrat zum ersten Mal in seiner Geschichte zu einer Dringlichkeitssitzung aufgrund einer Gesundheitskrise getroffen und die Ebola-Epidemie als Gefahr für Frieden und Sicherheit weltweit eingestuft (Resolution S/RES/2177 vom 18. September 2014). Er forderte unter anderem, die UN-Mitgliedsstaaten sollten die Reise- und Grenzbeschränkungen aufheben (!), die während des Ebola-Ausbruchs verhängt worden waren.

In der aktuelle Pandemie gelang es dem UN-Sicherheitsrat nach monatelangen Verhandlungen erst Anfang Juli, eine dringend notwendige Resolution zu verabschieden. Am 23. März 2020 hatte UN-Generalsekretär António Guterres verkündet, es sei Zeit „bewaffnete Konflikte zu beenden und sich gemeinsam auf den wahren Kampf unseres Lebens zu konzentrieren”, und rief zu einem „sofortigen globalen Waffenstillstand in allen Teilen der Welt“ auf (Guterres 2020). Daraufhin drängte insbesondere Frankreich zum Handeln, um dem UN-Generalsekretär den Rücken zu stärken. Die USA versuchten, die 15 Mitglieder des UN-Sicherheitsrates, dem China als ständiges Mitglied mit Vetorecht angehört, dazu zu überreden, in der Resolution China als Ursprungsland zu nennen, ja gar das Virus als »Wuhan-Virus« zu bezeichnen. Überdies, so die Forderung der USA, solle die WHO in einer solchen Resolution auf keinen Fall erwähnt werden. Russland wiederum stellte sich bei Formfragen quer und unterstellte, das Votum des Sicherheitsrates sei nur bei körperlicher Anwesenheit gültig, nicht per Videokonferenz. Nachdem der überarbeitete Resolutionstext, von Deutschland und Estland als nicht-ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrates eingereicht, die Nennung der WHO nicht mehr vorsah, bestand nun die chinesische Delegation darauf, es müsse zumindest die UN Health Group erwähnt werden. Erst als am 1. Juli 2020 Deutschland als nicht-ständiges Mitglied des Sicherheitsrates für einen Monat den Vorsitz übernahm, gelang endlich der Durchbruch, und der Sicherheitsrat sprach sich einstimmig für Resolution 2532 aus, die eine globale Waffenruhe fordert, aber zugleich die WHO nicht namentlich benennt – stattdessen wird dort nur von „allen relevanten Teilen des UN-Systems“ gesprochen (Resolution S/RES/2532(2020)).

Die sicherheitspolitischen Risiken der COVID-19-Pandemie sind offensichtlich und groß, die Konflikte im Sicherheitsrat werfen daher ein verheerendes Licht auf den Mangel an Vertrauen und Kooperationsbemühungen unter den UN-Mitgliedsstaaten. Gerade weil die COVID-19-Pandemie ungleich dramatischere Ausmaße angenommen hat als die Ebola-Pandemie 2014/15, ist ein koordiniertes Handeln von UN-Sicherheitsrat, UN-Generalsekretär und den anderen Organisationen im UN-System notwendiger denn je. Vergangene Gesundheitsnotstände und Resolutionen des Sicherheitsrates hatten gezeigt, wie stark globale Gesundheit und sicherheitspolitische Fragen miteinander verknüpft sind. Das Gezerre um die COVID-19-Resolution verdeutlicht, dass nicht alle Mitgliedsstaaten des Sicherheitsrates sich eine solche Ausweitung des Mandats wünschen. Auch der chinesische UN-Botschafter Zhang Jun wollte das Thema lieber bei den UN-Organisationen sehen, die sich explizit mit Gesundheit befassen, und nicht beim Sicherheitsrat.

Who pays WHO?

Die Aufregung über den Rückzug der USA aus der wichtigsten internationalen Organisation für Gesundheitsfragen ist groß. Die WHO mitten in der Pandemie in Frage zu stellen, „wäre wie während eines Flugs den Piloten aus dem Flugzeug zu werfen“, twitterte der deutsche Außenminister Heiko Maas Mitte April. Zugleich warnte er die USA vor einem internationalen Bedeutungsverlust, sollten sie sich aus der WHO zurückziehen.

Welche Auswirkungen wird die US-amerikanische Abkehr von der WHO aber tatsächlich haben? Was passiert, wenn der größte Beitragszahler den Geldhahn zudreht? Geht dann der WHO tatsächlich das Geld aus? Natürlich nicht. Im Nu stehen andere bereit, um nicht nur die finanzielle Lücke zu schließen, die die USA hinterlassen, sondern auch die Machtlücke in der WHO. Die 2019 von Deutschland und Frankreich gegründete »Allianz der Multilateralisten«, die aus gut 20 Staaten besteht, sprach sich am Tag nach der Hiobsbotschaft aus den USA für eine Stärkung der WHO aus. Angela Merkel räumte zwar ein, die WHO habe zu Beginn nicht ausreichend über die Gefahr des COVID-19-Ausbruchs in der chinesischen Provinz Wuhan informiert, sicherte der Organisation aber dennoch ihre volle Unterstützung zu. Auch Bill Gates kritisierte den US-Präsidenten scharf für seine Abkehr von der WHO und machte unmissverständlich klar, dass auch er, der mit seiner Stiftung wie kein anderer privater Akteur globale Gesundheitspolitik beeinflusst, gerne für die fehlenden Beiträge der USA aufkommen wird. Der chinesische Präsident Xi kündigt bei der Jahresversammlung der WHO an, China wolle die Arbeit der Organisation in der COVID-19-Pandemie mit zwei Milliarden Dollar unterstützen, um vor allem Entwicklungsländern den Zugang zu einem Impfstoff zu ermöglichen.

Die WHO hat sich seit dem Ende des Kalten Krieges, aber vor allem seit der Jahrtausendwende, stark verändert. Der Siegeszug des Liberalismus nach 1990, der sprunghafte Anstieg zivilgesellschaftlicher Akteure und Organisationen, die sich transnational vernetzten und organisierten, und das steigende Interesse multinationaler Unternehmen, über philanthropische Stiftungen und öffentlich-private Partnerschaften soziale Verantwortung zu übernehmen – all dies vergrößerte in den 1990er Jahren auch in der globalen Gesundheitspolitik den Einfluss privater Akteure immens. Vor allem die damalige WHO-Generaldirektorin Gro Harlem Brundlandt förderte die Zusammenarbeit zwischen der WHO und gemeinnützen sowie profitorientierten Akteuren. Damit sollte sichergestellt werden, dass die WHO sich als zentraler Akteur in einer stetig länger werden Liste von Gesundheitsproblemen einbringen konnte: HIV/AIDS, Malaria, Tuberkulose, vernachlässigte Tropenkrankheiten, Zugang zu lebensnotwendigen Medikamenten …

Zugleich schlossen sich jedoch auch viele Mitgliedsstaaten der WHO alternativen, öffentlich-privaten Gesundheits­initiativen an, allen voran dem »Globalen Fonds zur Bekämpfung von AIDS, Malaria und Tuberkulose« oder der globalen Impfallianz GAVI. Diese neuen, als flexible, unbürokratische und auf einzelne Gesundheitsprobleme zugeschnitten konzipierte Institutionen sollten der WHO Konkurrenz machen. Das schwindende Vertrauen der Mitgliedsstaaten in »ihre« WHO drückt sich auch darin aus, dass der WHO-Generalsekretär und die Mitarbeiter*innen seiner Behörde über ein immer kleiner werdendes reguläres Budget verfügen. In den 1970er Jahren betrug das Verhältnis zwischen den Pflichtbeiträgen der Mitgliedsstaaten und den freiwilligen, mit einem speziellen Verwendungszweck versehenen Beiträgen 80:20. Inzwischen liegt es bei 20:80. Wer sich eine WHO wünscht, die weder von großen privaten Stiftungen noch von autokratischen oder populistischen Regierungschef*innen überrollt wird, muss zwangsläufig fordern, dass die Mitgliedsstaaten mehr Beiträge in das reguläre Budget der WHO einzahlen – das ist der dringendste Reformbedarf für die WHO.

Ein Appell für eine starke WHO

Eine Organisation, die weltweit tätig ist, die sich mittlerweile nicht nur um Impfstandards, die Eindämmung von Infektionskrankheiten oder Medikamentenkontrolle kümmert, sondern auch um eHealth, Homöopathie, Gesundheit in Gefängnissen oder mentale Gesundheit, und die vor allem der Verständigung und demokratischen Willensbildung zwischen 194 Mitgliedsstaaten und einer Vielzahl nichtstaatlicher Akteure dient – eine solche Organisation ist zwangsläufig schwerfälliger und bürokratischer als kleine, hierarchisch organisierte und oft hochgradig intransparente »public-private partnerships«, die sich für einzelne Gesundheitsprobleme zuständig erklären. Für schwächere Länder, insbesondere Länder des Globalen Südens, genauso wie für die vielen NGOs, Berufsverbände, Betroffenengruppen, Stiftungen, Unternehmen und Wissenschaftler*innen, die in der WHO zusammentreffen, ist es von immensem Wert, über die grundlegenden Werte, Themen und Strategien globaler Gesundheitspolitik mitbestimmen zu können, eine Stimme zu haben, wenn über Agenden, Budgets und die Validität und Folgen wissenschaftlicher Erkenntnisse entschieden wird.

Die Botschaften der WHO und ihres Generaldirektors in den vergangenen vier Monaten haben unmissverständlich die internationale Solidarität mit ärmeren Ländern des Globalen Südens und die globale Gerechtigkeit thematisiert und darauf hingewiesen, wie sehr die Pandemie auch eine Pandemie der Armut und Ungleichheit ist – und wie groß die Verantwortung mächtiger und wohlhabender Staaten, durch internationale Kooperation und Solidarität globale Gesundheitssicherheit möglich zu machen.

Literatur

Bollyky T.J.; Fidler, D.P. (2020): It’s Time for an Independent Coronavirus Review. Foreign Affairs, 24.4.2020.

Durrheim, D.N.; Gostin, L.O.; Moodley, K. (2020): When does a major outbreak become a Public Health Emergency of International Concern? The Lancet, 19.5.2020.

Guterres, A. (2020): Aufruf zu einem globalen Waffenstillstand. Regionales Informationszentrum der Vereinten Nationen (UNRIC), 23.3.2020.

Lynch, C. (2020): Can the United Nations Survive the Coronavirus? Foreign Policy, 8.4.2020.

WHO (2020): Seventy-Third World Health ­Assembly, Agenda item 3 – COVID-19 re­sponse. Dokument WHA73.1 vom 19. Mai 2020.

Prof. Dr. Anna Holzscheiter ist Leiterin der Forschungsgruppe »Governance for Global Health« am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und Professorin für Internationale Politik an der Technischen Universität Dresden.

Erosion der UN-Charta


Erosion der UN-Charta

von Andreas Zumach

Wir, die Völker der Vereinten Nationen – fest entschlossen, künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat, […]

Mit diesem friedenspolitischen Bekenntnis beginnt die Präambel der Gründungscharta der Vereinten Nationen (United Nations, UN). Die Charta wurde nach achtwöchigen Verhandlungen im Opernhaus von San Francisco am 26. Juni 1945 verabschiedet von Delegierten aus 50 Staaten, die rund 80 Prozent der damaligen Weltbevölkerung repräsentierten. Vor Inkrafttreten der Charta am 24. Oktober 1945 kam als 51. Gründungsmitglied noch Polen hinzu.

Zur konkreten Umsetzung dieses friedenspolitischen Bekenntnisses wurden erstmals in der Geschichte des Völkerrechts das Verbot zwischenstaatlicher Gewalt (Art. 2,4) – mit Ausnahme der Selbstverteidigung gegen einen militärischen Angriff (Art. 51) – sowie Entscheidungsstrukturen, Regeln und Institutionen für kollektive Maßnahmen zur Bewahrung und Wiederherstellung des Friedens und der internationalen Sicherheit vereinbart (Art. 39-50).

Gemessen an dem Anspruch, „künftige Generationen vor der Geißel des Krieges zu bewahren“, sind die UN – oder besser: sind ihre inzwischen 193 Mitgliedstaaten – gescheitert. Fast 280 bewaffnete Konflikte fanden in den letzten 75 Jahren statt, oftmals verbunden mit Völkermord und anderen schweren Menschenrechtsverletzungen.

Doch ohne die UN und ihre Bemühungen zur Beilegung gewaltsamer Auseinandersetzungen hätten viele dieser Konflikte noch länger gedauert, noch mehr Tote und Verwundete gefordert und noch mehr Zerstörungen hinterlassen. Ohne die UN wäre es wahrscheinlich zu einem dritten Weltkrieg gekommen, möglicherweise sogar unter Einsatz atomarer Waffen. Zahlreiche Situationen, in denen die Welt sehr kurz vor dem Abgrund eines atomaren Krieges stand, wie im Oktober 1962 während der Krise um die sowjetischen Atomraketen auf Kuba, wurden im UN-Sicherheitsrat entschärft. Und ohne die UN und ihre humanitären Unterorganisationen wären in den letzten 70 Jahren Hunderte Millionen Opfer von Naturkatastrophen, Hungersnöten und gewaltsamen Vertreibungen nicht versorgt worden. Schließlich boten die UN den Rahmen für die Vereinbarung zahlreicher internationaler Normen, Regeln und Verträge zu Rüstungskontrolle und Abrüstung, Menschenrechten, Umweltschutz, Sozialstandards sowie zahlreichen anderen Themen. Diese Vereinbarungen haben die Erde zwar nicht in ein Paradies verwandelt, sie trugen aber immerhin dazu bei, die Lebensbedingungen für viele der inzwischen über sieben Milliarden Erdbewohner*innen zu verbessern. All das ist auch von friedenspolitischer Bedeutung.

Zu den friedenspolitischen Defiziten gehört, dass einige der in Art. 39-50 der UN-Charta (Kapitel VII, Maßnahmen bei Bedrohung oder Bruch des Friedens und bei Angriffshandlungen) vorgesehenen Strukturen, Maßnahmen und Institutionen nie realisiert wurden. Die Verantwortung dafür tragen in erster Linie die fünf ständigen Mitglieder (und Vetomächte) des Sicherheitsrats.

Darüber hinaus wird seit dem Ende des Kalten Krieges von vielen Staaten das zwischenstaatliche Gewaltverbot (Art. 2,4) ausgehöhlt, indem sie das Recht zur Selbstverteidigung (Art. 51) immer stärker ausweiten.

In den 1990er Jahren reklamierte zunächst die NATO in ihrer neuen Strategie das »Recht« auf weltweite militärische Intervention, gegebenenfalls auch ohne Mandat des Sicherheitsrates. Seit den »Verteidigungspolitischen Richtlinien« von 1992 macht auch die deutsche Bundesregierung Auslandseinsätze nicht mehr von einem Mandat des UN-Sicherheitsrates abhängig. 1999 markierte der völkerrechtswidrige Luftkrieg der NATO gegen Serbien/Montenegro einen gravierenden Bruch. Dieser Krieg und die nach dem Sieg der NATO durchgesetzte Abspaltung des Kosovo von Serbien schufen einen Präzedenzfall, auf den sich seitdem andere Völkerrechtsbrecher, wie Russland im Krimkonflikt, berufen.

Nach den Terroranschlägen vom 11.9.2001 wurde das Recht zur Selbstverteidigung von der US-Administration bemüht, um im »Krieg gegen den Terror« militärische Interventionen, Folter und Drohnenmorde zu rechtfertigen. Inzwischen sind andere Länder dem schlechten Vorbild gefolgt; aktuelles Beispiel ist die völkerrechtswidrige Besatzung der Türkei in Syrien.

Wie machtlos die UN häufig sind, zeigt der verzweifelte Appell von Generalsekretär Guterres, die Waffen mögen doch wenigstens während der aktuellen Coronapandemie ruhen. Bleibt mehr Hoffnung als die, dass uns die Regierungen, die für die Erosion der friedenspolitischen Normen des Völkerrechts verantwortlich sind, wenigstens mit verlogenen Reden zum 75. Geburtstag der UN-Charta verschonen?

Andreas Zumach ist Journalist und lebt in Berlin.

Deutschlands Verantwortung im UN-Sicherheitsrat


Deutschlands Verantwortung im UN-Sicherheitsrat

von Lisa Heemann und Patrick Rosenow

Bild Lisa Heemann
Bild Patrick Rosenow

Seit dem 1. Januar 2019 sitzt Deutschland für zwei Jahre als nichtständiges Mitglied im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Das wichtigste Gremium der Weltorganisation mit fünf ständigen und zehn nichtständigen Mitgliedstaaten ist für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit hauptverantwortlich zuständig und steht vor enormen Herausforderungen. Nicht nur die Krisen und Konflikte in Syrien, der Ukraine oder in Venezuela sorgen für eine starke Konfrontation innerhalb des Rates. Einige Mitgliedstaaten stellen sogar die bisherige multilaterale und regelbasierte Weltordnung grundsätzlich infrage – diesbezüglich ist der Sicherheitsrat aufgrund seines Regelwerks aber nahezu handlungsunfähig.

Die Erwartungen der UN-Mitgliedstaaten an die Bundesrepublik sind sehr hoch: Mit 184 von 193 Stimmen erzielte Deutschland im letzten Jahr in der UN-Generalversammlung ein sehr hohes Wahlergebnis. Deutschland wird als »Brückenbauer« gehandelt – zwischen den USA auf der einen und China und Russland auf der anderen Seite, z.B. im Syrien- und Ukraine-Konflikt oder bei den Spannungen zwischen den USA und Iran.

In der Mehrzahl seiner Sitzungen befasst sich der Rat mit »Alltagsgeschäften«, wie der Verlängerung von Friedensmissionen oder Sanktionen. Die Themen Abrüstung, Krisenprävention, Klimawandel und Menschenrechte sollten jedoch stärker in seinen Fokus rücken– dies sind auch für die Bundesrepublik relevante Themen. Der Vorsitz des Sicherheitsrates rotiert im monatlichen Wechsel, und der Vorsitz bestimmt maßgeblich die Agenda. Deutschland und Frankreich werden zum ersten Mal im März (Frankreich) und April (Deutschland) dieses Jahres im Rat eine Art »Doppelpräsidentschaft« führen. Sie hegen den Anspruch, mit einer starken und gemeinsamen europäischen Stimme zu sprechen, allerdings fällt in diese Zeit voraussichtlich der »Brexit«, der Ausstieg des ständigen Sicherheitsratsmitgliedes Großbritannien aus der Europäischen Union. Dies könnte die Zusammenarbeit erheblich erschweren.

Bei alledem darf nicht vergessen werden: Der Sicherheitsrat muss auf aktuelle Krisen und Konflikte sehr kurzfristig reagieren können. Gerade dann muss Deutschland bei Abstimmungen eine klare Position beziehen – entweder für oder gegen etwas – und darf sich nicht, wie im Fall Libyen 2011, mit einer Enthaltung aus der Affäre ziehen. Die Bundesregierung ist gefordert, sich auf solche Situationen vorzubereiten, indem sie die nötigen finanziellen und personellen Ressourcen für eine kohärente Außenpolitik zur Verfügung stellt.

Aufgrund der komplexen Gemengelage sollte die Bundesregierung überlegen, die Entscheidungsstrukturen und Weisungen durch das Auswärtige Amt gegenüber der Ständigen Vertretung in New York zu vereinfachen. Mehr Handlungsfreiraum für den Ständigen Vertreter im Sicherheitsrat könnte sowohl die Sichtbarkeit der Bundesrepublik als Brückenbauer erhöhen als auch bei Konfliktthemen ein konstruktives Verhandlungsklima in einem polarisierten Rat fördern.

Die deutsche Öffentlichkeit zeigt großes Interesse an außenpolitischen Themen, lehnt aber mehrheitlich ein stärkeres militärisches Engagement ab. Das Beharren auf völkerrechtlichen Regeln und die Angst vor Abenteuern mit unkalkulierbaren Risiken sind groß. Letzteres gilt allerdings nicht für Einsätze mit Mandat des UN-Sicherheitsrats. Wenn die Diskussion über Blauhelm-Einsätze zusammen mit der über die strategischen außenpolitischen Interessen und die Werte Deutschlands geführt würde, wäre Deutschland besser auf die fordernde Mitarbeit im Sicherheitsrat vorbereitet. Aus diesem Grund muss die deutsche Öffentlichkeit immer wieder über die Möglichkeiten und Grenzen der Vereinen Nationen und des Sicherheitsrats informiert werden.

Eine Reform des Sicherheitsrats, seiner Zusammensetzung ebenso wie des Vetorechts, bleibt hingegen bis auf Weiteres unrealistisch und damit auch der Anspruch Deutschlands auf einen ständigen Sitz im Rat. Europa ist – gemessen an der Weltbevölkerung – in dem Gremium ohnehin schon deutlich überrepräsentiert. Die fünf ständigen Mitglieder sind überdies zu keiner Reform bereit, und die möglichen Kandidaten für einen ständigen Sitz sind sich untereinander auch nicht einig. Deutschland sollte daher seine Ressourcen besser auf die kontinuierliche Reform der Arbeitsmethoden und ihre Transparenz konzentrieren sowie sich für konstruktive Debatten im Rat einsetzen.

Dr. Lisa Heemann ist Generalsekretärin der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen e.V. (DGVN).
Patrick Rosenow ist leitender Redakteur der Zeitschrift VEREINTE NATIONEN, die von der DGVN herausgegeben wird.

Sexualisierte Gewalt als »Kriegsstrategie«?


Sexualisierte Gewalt als »Kriegsstrategie«?

Zur Problematik dieser Rahmung

von Ruth Seifert

In einer Reihe von Resolutionen des UN-Sicherheitsrates wurden in den vergangenen 20 Jahren die Position von Frauen in bewaffneten Konflikten und das Problem sexueller bzw. sexualisierter Gewalt behandelt. In diesen Resolutionen wird sexualisierte Gewalt – gemeint ist sexuelle Gewalt gegen Frauen und Mädchen- als »Kriegswaffe« oder »Kriegsstrategie« gerahmt. Die Autorin hinterfragt diese Rahmung, begründet, warum sie sogar kontraproduktiv sein kann, und weist darauf hin, dass sexualisierte Gewalt gegen Männer in diesem Kontext fast aus dem Blick gerät. Deshalb fordert sie eine neue theoretische und politische Auseinandersetzung mit der Thematik.

Nach einer Hochkonjunktur des Themas »sexualisierte Gewalt in bewaffneten Konflikten« im politischen und akademischen Diskurs in den 1990er Jahren verlagerte sich das Interesse nach der Jahrhundertwende schwerpunktmäßig auf empirische Erhebungen und politisch-rechtliche Interventionen. Wegweisend war dabei die Resolution 1325, »Frauen, Frieden und Sicherheit«, des UN-Sicherheitsrats im Jahr 2000, in der – auf eine kurze Formel gebracht – die Mitgliedsstaaten aufgerufen wurden, Frauen und Mädchen in Kriegs- und Krisengebieten vor geschlechtsspezifischer und sexueller Gewalt zu schützen und ihre Teilnahme am Friedensprozess zu sichern.

Die Nachfolge-Resolutionen 1820 (2008), 1888 (2009) sowie 1960 (2010) bekräftigen jeweils die Forderungen der Resolution 1325 und fordern darüber hinaus Maßnahmen zur effektiven Verfolgung der Täter, die Einsetzung eines*einer Sonderbeauftragten für sexuelle Gewalt in bewaffneten Konflikten und von Expertenteams zur Untersuchung von sexualisierter Gewalt sowie ein Mandat für Peacekeeper-Truppen zum Schutz von Frauen und Kindern. Resolution 2272 (2016) thematisiert schließlich sexuelle Übergriffe von Seiten des Peacekeeping-Personals. All diese Resolutionen verfolgen das Ziel, die Position von Frauen in bewaffneten Konflikten und das Problem sexueller bzw. sexualisierter Gewalt zu einem Thema der Sicherheitspolitik und der internationalen Beziehungen zu machen. Insbesondere argumentieren sie, dass sexualisierte Gewalt zum Aufgabenbereich des UN-Sicherheitsrats gehört.

Das Interesse verlagerte sich im Zuge dieser Initiativen zunehmend von der Analyse der Hintergründe und verursachenden Mechanismen sexualisierter Gewalt auf die »Lösung des Problems«, die in politischen und rechtlichen Initiativen gesehen wurde. Wesentlich dafür war die Rahmung sexualisierter Gewalt als »Kriegswaffe« oder »Kriegsstrategie«, wie sie in den oben genannten UN-Resolutionen vorgenommen wurde.

Die Verlagerung der Debatte auf die politisch-rechtliche Ebene ging einher mit einem Wechsel der Akteur*innen, die die Resolutionen anschoben. Ging Resolution 1325 noch überwiegend auf Bottom-up-Initiativen von transnationalen Nichtregierungsorganisationen und zivilgesellschaftlichen Akteur*innen zurück, waren die folgende Resolutionen Top-down-Initiativen von Akteur*innen, die von Crawford (Crawford 2017) als »systemimmanente Expert*innen« (embedded experts) bezeichnet werden, unter ihnen Spitzenpolitikerinnen, wie Hilary Clinton und Condoleezza Rice.

In den ersten Interventionen, die in den 1990er Jahren erfolgten, wurde der Terminus »Kriegswaffe« oder »Kriegsstrategie« zur Charakterisierung sexualisierter Gewalt eher in skandalisierender und weniger in analytischer Absicht eingeführt: In den 1990er Jahren waren die (geschlechter-) politischen Verhältnissen dergestalt, dass es möglich geworden war, sexualisierte Gräueltaten aus einer kulturellen Grauzone des Verdrängens und (aktiven) transnationalen Verschweigens zu holen. Es gelang zu verdeutlichen, dass sie offenbar integrale Bestandteile gewaltsamer Konflikte vieler (wenn auch nicht aller) Konflikte waren und der Politisierung, der wissenschaftlichen Untersuchung und der menschenrechtlichen Thematisierung bedurften.

Es war bereits damals klar, dass die Begrifflichkeiten »Kriegswaffe« und »Kriegsstrategie« in analytischer Hinsicht problematisch waren (vgl. dazu Seifert 1995). Mit Blick auf neuere Arbeiten ist zwar festzuhalten, dass der Begriff der »Strategie« Wechselfällen unterliegt und von gesellschaftlichen Institutionen, Normen und kulturellen Besonderheiten abhängig ist (vgl. Heuser 2010). Insbesondere in so genannten »neuen Kriegen« findet, wie Gause feststellt, eine Vermischung von taktischer, operativer und strategischer Ebene statt, die amorphe Zustände höchster sozialer Spannung auslöst, in denen das Verhalten der Akteure „Mustern und Strukturen der Vergangenheit […] sowie den Umweltbedingungen des Systems (Gause 2011, S. 189) folgt. Entsprechend darf man folgern, dass die Konfliktdynamik damit nicht völlig militärisch planvoll ist. Dennoch: Soll der Begriff der »Strategie« oder des »Einsatzes als Kriegswaffe« Sinn ergeben, so beinhaltet er ein Minimum an planvollem und mit Bewusstsein vorgenommenem Einsatz militärischer Mittel zu bestimmten, insbesondere politischen, Zielsetzungen mit dem Zweck der Durchsetzung eigener Ziele gegen den Willen des Gegners (vgl. Heuser 2010; Liddell Hart 1967, S. 351).

Eben hier lag von Anfang an die Problematik, sexualisierte Gewalt als »Kriegswaffe« oder »Kriegsstrategie« zu bezeichnen. Zwar gibt es in einigen Fällen Hinweise darauf, dass sexualisierte Gewalt vonseiten der militärischen Führung eingeplant und/oder zielvoll eingesetzt wurde. So stellte Bassiouni1 fest, dass die sexualisierten Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien an ganz verschiedenen Orten stattfanden, aber dennoch systematische und konsistente Muster aufwiesen und über lange Zeiträume hinweg anhielten, was ohne die Billigung der politischen und militärischen Führung auf allen Ebenen nicht möglich gewesen wäre. In der Folge drängte sich die Schlussfolgerung einer systematischen Planung und Durchführung auf. Darüberhinaus gab es Aussagen von Soldaten, die über Vergewaltigungsbefehle berichteten (Bassiouni 1994, S. 22 ff.; Mazowiecki Report 1995). Für die Demokratische Republik Kongo wurde berichtet, dass sexualisierte Gräueltaten bewusst zur Provokation der kongolesischen Regierung eingesetzt und von lokalen Milizen und Rebellen dazu benutzt wurden, die Regierung an den Verhandlungstisch zu zwingen (Autessere 2012). Aus einer empirisch gesättigten Untersuchung verschiedener Konfliktszenarien geht hervor, dass sexualisierte Gewaltakte in Sierre Leone ebenfalls bestimmten Mustern folgten und die Funktion hatten, die Gruppenkohäsion in wenig kohäsiven militärischen Gruppen zu erhöhen (Cohen 2013). Allerdings ist zumeist nicht nachweisbar, dass es sich um Befehle handelte oder Soldaten zu sexualisierten Gewalttaten aufgefordert wurden (Mühlhäuser 2010, S. 73 ff.).

Bei Resolution 1820 (2008) hingegen handelte es sich bei der Wahl des Begriffs »Kriegsstrategie« nicht um den Versuch der Skandalisierung, sondern um eine »strategische Rahmung«, verstanden als eine spezifische diskursive Konstruktion einer Problematik, die bestimmte Bedeutungsaspekte einer Situation hervorhebt und zu einer kohärenten Interpretation einer Situation führen soll (Cohen 2014, S. 55). Diese spezifische Rahmung beinhaltete zum einen eine tendenziell genderspezifische Verengung sexualisierter Gewalt. Zwar taucht in Resolution 1820 erstmals der Hinweis auf, dass auch Männer von sexualisierter Gewalt betroffen sein können, was in Resolution 1888 etwas weiter ausgeführt und spezifiziert wurde; allerdings wurden daraus keine praktisch-politischen Folgerungen abgeleitet. Die Rahmung als »Kriegswaffe« oder »Kriegsstrategie« hatte zum anderen die Zielsetzung, den Sicherheitsrat, als „global höchste politische und normative Instanz“ (Crawford 2017, S. 4) davon zu überzeugen, dass sexualisierte Gewalt in seinen Zuständigkeitsbereich fällt und nicht ausschließlich ein menschenrechtliches, sondern auch ein sicherheitspolitisch relevantes Problem darstellt, das staatliche Sicherheitsinteressen tangiert. Ohne die Rahmung wäre, so Crawford (ibid., S. 14), Resolution 1820 aller Wahrscheinlichkeit nach nicht durch den Sicherheitsrat gegangen.

Kosten der »strategischen Rahmung«

Für diese »strategische Rahmung« hatte es also gute politische Gründe gegeben; sie hatte allerdings Kosten, die sowohl auf politischer wie auch auf analytisch-theoretischer Ebene zu verorten sind. In praktisch-politischer Hinsicht muss, sofern eine Aktivierung des Sicherheitsrats angestrebt wird, nachgewiesen werden, dass sexualisierte Gewalt strategisch eingesetzt wird. Das schränkt die politischen, rechtlichen und humanitären Handlungsmöglichkeiten ein, da die systematische und taktische Natur der Gewalttaten bzw. ihr absichtsvoller, auf die Bekämpfung des Feindes ausgerichteter Einsatz nachgewiesen werden muss (Crawford 2017) – ein Nachweis der naturgemäß in vielen Szenarien schwer zu führen ist.

Desweiteren wird sexualisierte Gewalt gegen Männer politisch bzw. menschenrechtlich, aber ganz wesentlich auch theoretisch zu einem zunehmend dringenden Problem. Die Erhebung empirischer Daten ist notorisch schwierig, was auch daran liegt, dass, wie eine Abfrage in 189 Ländern ergab, in ihrem Strafrecht 62 nur Frauen als Opfer und 28 nur Männer als Täter sexualisierter Gewalt kennen (Solangon/Patel 2012). Dennoch häufen sich die Hinweise, dass sexualisierte Gewalt gegen Männer ein dramatisch unterschätztes und, wie eingeräumt wird, ein aktiv aus historischen und empirischen Quellen getilgtes Phänomen ist (O’Móchain 2015; Cohen 2014, S. 127 ff.).

Sexualisierte Gewalt gegen männliche politische Gegner ist, um einige Beispiele zu nennen, dokumentiert in Chile, im ehemaligen Jugoslawien, im Iran, in Kuwait, in der ehemaligen Sowjetunion, in der Demokratischen Republik Kongo. Von 6.000 befragten Gefangenen eines KZ nahe Sarajevo im Jugoslawien-Konflikt berichteten 80 %, sie seien vergewaltigt worden. Sexualisierte Gewalt gegen Männer war, um ein weiteres Beispiel zu nennen, Bestandteil der von Angehörigen der US-Armee ausgeübten Folter in Abu Ghraib (Stemple 2009, S. 612 f.; Sivakumaran 2009). Allerdings können in 90 % der Krisengebiete dieser Welt Männer, die sexualisierter Gewalt ausgesetzt waren, weder Hilfe noch Schutz erhalten (Solangon/Patel 2012; Dolan 2014). Zeichneten sich die Menschenrechtsdiskurse lange Zeit durch eine fast völlig Vernachlässigung der Menschenrechtsverletzungen an Frauen aus, so ist aktuell sexualisierte Gewalt gegen Männer als blinder Fleck anzusehen.

Erneute Theoretisierung und Politisierung des Themas sind nötig

Was eine weitergehende Theoretisierung sexualisierter Gewalt anbetrifft, die auch das Problem der Betroffenheit von Männern zu berücksichtigen hat, so ist sie für die Rahmung als »Kriegswaffe« marginal, wenn nicht störend. Sie ignoriert darüber hinaus bereits vorhandene Ansätze, die über einen engen »Kriegsstrategie«-Ansatz hinausgingen und die kriegsstrategische Wirkung sexualisierter Gewalt in komplexeren, kulturtheoretisch zu erklärenden Kontexten verorteten. Beispielhaft dafür sind Ansätze, die auf die Verquickung von Konstruktionen von Gender, Nation und kollektiven Konflikten verweisen (z.B. Hayden 2000; Seifert 2003) und zumindest teilweise Antworten auf Fragen wie diese geben: Warum ist sexualisierte Gewalt alles andere als eine stets auftretende Begleiterscheinung aller bewaffneter Konflikte, sondern sind vielmehr bestimmte Erscheinungsformen an spezifische Kriegsszenarien gebunden? Warum gibt es unterschiedliche Häufigkeiten und Erscheinungsformen, je nachdem, ob es sich um Staatenkriege, Bürgerkriege, ethnonationale Kriege oder sezessionistische Kriege handelt? Warum wird sie von verschiedenen Akteuren in bewaffneten Konflikten in unterschiedlicher Weise gehandhabt? (Vgl. im Detail Wood 2006; Cohen 2013)

Illustriert werden kann dies mit der wegweisenden Arbeit von Hayden aus dem Jahr 2000, der sexualisierte Gewalt in der indischen Punjab-Region 1947, in Delhi 1985, in Hyderabad 1990 und im ehemaligen Jugoslawien in den 1990er Jahre untersuchte. Er stellte fest, dass in allen untersuchten Beispielen sexualisierte Gewalt dann verstärkt ausgeübt wurde, wenn neue geographische und soziale Grenzen gezogen werden sollten und sich eine Region in einem undefinierten Übergangszustand befand, in dem die Machtverhältnisse unklar waren. In diesen Situationen macht nicht ausschließlich »Weiblichkeit« Frauen zu Zielscheiben sexualisierter Gewalt, sondern die Intersektionalität von Gender mit anderen Identitätsmarkern, wie Nationalität, Ethnizität oder Religion (z.B. Hayden 2000; Seifert 2002 und 2003; Koo 2002).

Der hinter diese – hier nur kurz angedeuteten – Ansätze zurückfallende Topos von sexualisierter Gewalt als Kriegswaffe gibt eine Darstellung als in besonderer Weise verabscheuungswürdige Gräueltat, die jenseits der in kriegerischen Konflikten legitimen Gewaltausübung zu verorten sei. Diese Rahmung bezeichnet Meger (2016, S. 149 ff.) als „Fetischisierung“, da sie a) sexualisierte Gewalt dekontextualisiert und als »unakzeptable Kriegsgewalt« absondert von »akzeptabler« Gewalt, b) sie auch im internationalen Recht als sozusagen abweichenden Sonderfall von »normaler« Gewalt darstellt und c) sie in den Medien und in einer Helferindustrie, die nicht mehr unbedingt am Nutzen für die Betroffenen ausgerichtet ist, kommodifiziert (vgl. im Detail ibid.). Darüberhinaus, so könnte man hinzufügen, impliziert dies eine Hierarchisierung von Opfern und suggeriert, dass sexualisierte Gewalt aus dem Kriegsgeschehen zu tilgen sei, während andere Kriegsgräuel als »normal« und »akzeptiert« praktisch wie theoretisch unproblematischer seien und nicht in Bezug zu sexualisierter Gewalt gesetzt werden müssten.

Schließlich ist zu konstatieren, dass die weitgehend ignorierte sexualisierte Gewalt gegen Männer wesentlich ein feministisches Thema ist: Die Unsichtbarmachung des männlichen Opfers ist ein massiver Beitrag zu einer Geschlechterkonstruktion, in der Frauen als verletzungsoffen und Männer als verletzungsmächtig konstruiert werden. Angesichts der Realitätswirksamkeit kultureller Konstruktionen kann davon ausgegangen werden, dass die Ausblendung männlicher Opfer sexualisierter Gewalt keineswegs weiblichen Betroffenen zugute kommt (wie in einigen feministischen Zirkeln gelegentlich behauptet), sondern vielmehr die weibliche Opferrolle verstärkt und auf diese Weise die Positionierung von Frauen in gewaltsamen Konflikten eher noch prekärer macht.

Eriksson Baaz and Stern (2012 und 2018) stellen fest, theoretische Ansätze zum Thema sexualisierte Gewalt in kriegerischen Konflikten seien schwer fassbar und entzögen sich einer klaren Logik. Sie entziehen sich einer klaren Logik, weil das Phänomen selbst diese Logik nicht aufweist: Bei der Analyse der Problematik befinden wir uns in einem Minenfeld diverser politischer und sozialer Hintergründe, kultureller Muster und Mechanismen und nicht zuletzt strategischer Effekte. Was eine Fassung so schwierig macht, ist die Tatsache, dass Gewalttaten im Allgemeinen und sexualisierte Gewalt im Besonderen tief eingebettet sind in variierende kulturelle Kontexte: Was wesentlich in einem Kontext ist, mag es im anderen nicht sein. Angesichts der kulturell hochgradig aufgeladenen Bedeutung von Gewalt und der vielen Bedeutungen und Funktionen, die sexualisierte Gewalt in kollektiven Konflikten haben kann, kann man einen symbolischen Overkill oder mit Foucault eine Hypersaturierung mit Bedeutungen konstatieren. Ansätze, die das ignorieren und sich auf die Rahmung als »Kriegswaffe« oder »Kriegsstrategie« kaprizieren, konnten bisher wenig zu einer effektiven Bekämpfung des Phänomens beitragen. Im Gegenteil, es gibt Hinweise darauf, dass sie eher Anreize zur Ausübung sexualisierter Gewalt geben, da einige bewaffnete Gruppen sie neuerdings als politische Verhandlungsmasse einsetzen (vgl. Autessere 2012). Die weitergehende theoretische Analyse mag weniger leicht zugänglich sein als ein policy-orientierter Diskurs über sexualisierte Gewalt als Kriegswaffe, für eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Problem scheint eine Re-Theoretisierung und in der Folge Re-Politisierung allerdings unverzichtbar.

Ansätze für eine weitergehende Analyse finden sich in Soziologien und Anthropologien der Gewalt, die davon ausgehen, dass Gewalthandlungen nicht nur Funktionen, sondern auch kulturelle Bedeutungen haben, die den Handelnden nicht bewusst zugänglich sind, sich aber gleichwohl in Gewalthandeln übersetzen, da die Handelnden auf „Archive unbewusster Erinnerungen“ (Hayden 2000, S. 30) zurückgreifen, die im kulturellen Bestand vorhanden sind und das kollektive Handeln beeinflussen. Im Gewaltakt werden somit die kulturell geformten Erfahrungen der Täter mit denen der Opfer in einem spezifischen sozialen Zusammenhang verknüpft (von Trotha 1997, S. 31). In der Folge kann eine Analyse des Gewaltaktes auf die „kulturellen, geschlechtsspezifischen, religiösen, politischen und sonstigen Vorstellungen, Deutungen und symbolischen Interpretationen des Leibes nicht verzichten“ (Nedelmann 1997, S. 76). Die Analyse muss also notwendigerweise kontextuell sein und kann sich nicht in der Feststellung einer strategischen Funktion erschöpfen, sondern muss die Aufmerksamkeit richten auf den kulturellen, organisatorischen, institutionellen und situativen Kontext, in dem Gewalthandeln stattfindet und in den die Leiblichkeit von Opfern und Tätern jeweils eingebettet ist.

Anmerkung

1) Sonderberichterstatter der Sachverständigenkommission des Sicherheitsrats zu Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht im ehemaligen Jugoslawien 1992-1994.

Literatur

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Bassiouni, M.C. (Rapporteur) (1994): Final Report of the Commission of Experts Estab­lished Pursuant to Security Council Resolution 780 (1992). United Nations Security Council document S/1994/674, 27. Mai 1994.

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von Trotha, T. (1997): Zur Soziologie der Gewalt. In: ders. (Hrsg.): Soziologie der Gewalt. Opladen: Westdeutscher Verlag.

Ruth Seifert ist Professorin für Soziologie an der Hochschule Regensburg (OTH). Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Gender und kriegerische Konflikte, Gender und Militär, Theorien von Inklusion /Exklusion.

UN-Resolution 1325 in Deutschland


UN-Resolution 1325 in Deutschland

von Heidi Meinzolt

Die Resolution 1325, »Frauen, Frieden und Sicherheit«, des UN-Sicherheitsrats wurde im Jahr 2000 beschlossen, da gravierende Erkenntnissen und Untersuchungen vorlagen, die später durch eine globale Studie (UN Women 2015) und zahlreiche wissenschaftliche und Vor-Ort-Recherchen in Konfliktkontexten immer wieder bestätigt wurden. Ob als Verhandler*innen, Mediator*innen, Berater*innen, Entscheider*innen – wenn Frauen lokal und global an Waffenstillstands- oder Friedensverhandlungen und in Wiederaufbau-Szenarien im Bereich von Transitional Justice gleichberechtigt beteiligt sind, erhöht sich die Chance auf eine Einigung und auf eine nachhaltigere Konfliktlösung. Allerdings bleibt viel zu tun, damit die UN-Resolution 1325 eine Transformationsdynamik entwickelt für eine friedliche Gesellschaft, wie sie die Gründungsfrauen angestrebt hatten.

Die Resolution 1325(2000), »Frauen, Frieden und Sicherheit«, des UN-Sicherheitsrats hat nicht nur den Schutz von Frauen in Konfliktsituationen und nicht nur ein quantitatives Eingliedern von Frauen in ein bestehendes, patriarchal geprägtes und einseitig sicherheitspolitisch orientiertes Konzept zum Ziel (Paffenholz et al. 2016). Die Resolution 1325 darf auch nicht auf eine symbolpolitische Dimension reduziert werden. Vielmehr geht es um einen grundsätzlichen Ansatz, der sich aus Alternativen zur herkömmlichen Sicherheitspolitik, einer klaren Priorität für Prävention und dem Bezug auf menschliche Sicherheit speist (Bricke 2003). Der Interpretationsspielraum ist breit, weil mit menschlicher Sicherheit nicht nur Schutz vor physischer Gewalt, sondern auch Schutz vor weiteren Bedrohungen der Lebensgrundlagen, wie z.B. Umweltzerstörung, Krankheit und wirtschaftliche Instabilität, sowie die Förderung von Bildung, Gesundheit, eigenständigem Einkommen, Empowerment und insbesondere Partizipation an politischen Prozessen gemeint ist.

Frauen nehmen sich zuspitzende Spannungen und Konflikte aufgrund ihrer sozialen Eingebundenheit und grenzüberschreitenden Verbindungen oft anders wahr, sind kritischer gegenüber Heldengeschichten und Männlichkeitskonstrukten und haben deutlich weniger Bezug zu Waffen. Die Resolution 1325 soll „einen Umkehrschub auslösen in dem Sinne, dass die Außen- und Sicherheitspolitik nicht weiter fast ausschließlich von Männern bestimmt wird, dass in Nachkriegssituationen auch Frauen die Chance erhalten, in Führungspositionen zu gelangen. So gut wie überall auf der Welt scheinen Kriege dazu zu führen, dass das männliche Geschlecht alle führenden Positionen in Politik und Gesellschaft an sich reißt und Frauen an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden. Afghanistan und Irak sind hier nur zwei besonders anschauliche Beispiele. Doch mit Resolution 1325 liegt zum ersten Mal ein Werkzeug vor, diese extrem undemokratische Entwicklung zu stoppen.“ (Frauensicherheitsrat 2004)

Folgeresolutionen und Weiterarbeit

Zur Resolution 1325 sind im Laufe der letzten Jahre sieben weitere Sicherheitsratsresolutionen hinzu gekommen (1820 (2008), 1888 (2009), 1889 und 1960 (2010), 2106 und 2122 (2013), 2242 (2015)), die präzisieren und differenzieren, welches transformative Potential die Resolution 1325 in den Bereichen Geschlechtergerechtigkeit, Schutz, Partizipation, Prävention und Verfolgung sexualisierter Gewalt aufweist. Diese Resolutionen definieren die Agenda »Frauen, Frieden und Sicherheit« (Women, Peace and Securiya/WSP) der Vereinten Nationen. Zu diesem Thema wurden außerdem zahlreiche internationale Studien erstellt (z.B. Swisspeace 2016, OSCE 2014, EU 2008). Weitere Bezugspunkte waren von Beginn an die Aktionsplattform der UN-Frauenkonferenz von Peking (1985) und die internationale Frauenrechtskonvention CEDAW von 1979 (von der Bundesrepublik unterzeichnet 1980 und ratifiziert 1985). Im deutschen Kontext spielt auch der »Entwicklungspolitische Aktionsplan zur Gleichberechtigung der Geschlechter 2016-2020« des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit eine wichtige Rolle.

74 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen, das entspricht 38 %, haben Nationale Aktionspläne zur Umsetzung der Resolution 1325 verabschiedet; es gibt darüber hinaus regionale Aktionspläne in der Afrikanischen und der Europäischen Union. Auf UN-Ebene gibt es einen Zusammenschluss der »Friends of 1325« unter der Regie von Kanada, ein Netzwerk so genannter National Focal Points, eine EU Task Force zum Thema und sogar einen Aktionsplan der NATO zur Resolution 1325.

Umsetzung in Deutschland

Das deutsche Netzwerk »Frauensicherheitsrat« forderte bereits 2003 einen eigenen Nationalen Aktionsplan für Deutschland; mit dem später gegründeten breiten »Bündnis 1325« wurde mit Stellungnahmen, Blaupausen, Anträgen, Vergleichen mit anderen solchen Plänen, dem WILPF1-Portal »Peacewomen« (peace­women.org) und parlamentarischen Initiativen nationaler und internationaler Legitimationsdruck aufgebaut. Dennoch weigerte sich die Bundesregierung lange, einen eigenen Nationalen Aktionsplan zu verabschieden. Begründet wurde dies damit, dass es bereits den »Aktionsplan Zivile Krisenprävention« und die Strategien zur Umsetzung von »Gender Mainstreaming« gebe und somit keine Notwendigkeit für ein zusätzliches Dokument bestehe.

Die Bundesregierung legte im Dezember 2012 dann doch überraschend einen ersten Nationalen Aktionsplan vor, für den sie teilweise auf die detaillierte Vorarbeit der Zivilgesellschaft zurückgriff, jedoch weitgehend ohne diese einzubinden. Ohne vorherige Evaluation des ersten Aktionsplans wurde 2016 ein erster Entwurf für den zweiten Nationalen Aktionsplans für den Zeitraum 2017 bis 2020 vorgelegt. Erst als es einen Proteststurm gegen das Papier gab, wurden zur weiteren Ausarbeitung Frauen- und Friedensorganisationen einbezogen.

Der zweite Aktionsplan, der von der Bundesregierung am 11. Januar 2017 verabschiedet wurde, hat an inhaltlicher Prägnanz und Konkretisierung gewonnen. Positiv zu bewerten ist eine institutionalisierte Zusammenarbeit durch regelmäßige Treffen der Interministeriellen Arbeitsgruppe zur Umsetzung der Resolution 1325 mit der Zivilgesellschaft in einem operativen (z.B. zur Umsetzung der Resolution in Krisenregionen) und strategischen (konzeptionelle Grundsatzdiskussionen, z.B. zu Sicherheitskonzepten oder zum Projektanteil für Prävention) Austauschformat. Defizite gibt es weiterhin bei der finanziellen Ausstattung – der Aktionsplan hat kein eigenes Budget – und im Bereich von Monitoring und Evaluation. Insbesondere beim Thema Migration und Flucht wird die Anwendung der Resolution 1325 im Inneren verweigert (dem hat sich das Innenministerium im Rahmen der Interministeriellen Arbeitsgruppe widersetzt). Der Nationale Aktionsplan ist außerdem wenig verzahnt mit anderen außenpolitischen Grundsatzdokumenten, wie dem »Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr« (2016) und den »Leitlinien Krisenprävention« (2017). Es ist an der Zeit, die Problematik militarisierter Männlichkeit mit Blick auf Lösungsansätze ebenso breit zu thematisieren wie die Notwendigkeit, nach Geschlechtern unterschiedliche Schutzmaßnahmen gegen genderbasierte Kriegsgewalt zu ergreifen und Täter*innen konsequent zu bestrafen.

Internationale Umsetzung

Alle Gespräche mit Frauen in Kolumbien, dem Kongo, Bosnien (Women Organizing for Change in Bosnia and Herzegovina 2017), Syrien, Ukraine, Georgien (Kharashvili 2016) zeigen, dass die Umsetzung der Resolution 1325 im lokalen, regionalen und überregionalen Kontext komplex ist. Sie geht einher mit dem Abbau geschlechtsspezifischer Stereotype, patriarchaler Normen und Praktiken und der Stärkung der Partizipation von Frauen als »agents of change« im gesamten Konfliktzyklus: von der Prävention (z.B. durch spezifische Frühwarneinrichtungen im sozialen Kontext, Bildung, langfristige Projekte für zivilgesellschaftliches Empowerment) über konstruktives Konfliktmanagement bis hin zur Nachsorge, die wieder grundsätzliche Gerechtigkeitsfragen, insbesondere Geschlechtergerechtigkeit, ebenso wie geschlechtergerechte ökonomische Sicherheit auf den Prüfstand stellt. Als entscheidende Faktoren für eine Umsetzung der WPS-Agenda im Sinne einer sichtbaren Veränderung erwiesen sich immer wieder die grenzüberschreitende und ideologiefreie Kooperation lokaler Aktivist*innen, ihre aktive Wahrnehmung verschiedener Konfliktnarrative und vor allem Abrüstung und Entwaffnungsprogramme.

Neben Vor-Ort-Aktivitäten gibt es zahlreiche positive Ansätze zur Stärkung der Resolution 1325 durch Wortmeldungen bei internationalen und multilateralen Institutionen. Als geeignetes Instrument hat sich der UPR-Mechanismus des UN-Menschenrechtsrats (Universal Periodic Review, periodische Überprüfung jedes UN-Mitgliedsstaats hinsichtlich seiner Umsetzung menschenrechtlicher Verpflichtungen) erwiesen. Diesen nutzen verschiedene Ländergruppen der Women’s International League for Peace and Justice (WILPF), um weniger berücksichtigte Aspekte und Zusammenhänge im Rahmen der WPS-Agenda zu thematisieren.

Für Deutschland wird z.B. empfohlen, seine Rolle in multilateralen Organisationen, wie der EU und dem Internationalen Währungsfond, und die Auswirkungen der Austeritätspolitik auf die politische Teilhabe von Frauen in betroffenen Ländern kritisch zu beleuchten sowie das erhöhte Sicherheitsbedürfnis in der deutschen Bevölkerung und den drastischen Anstieg von Kleinen Waffenscheinen in den letzten Jahren zu thematisieren – alles unter dem Aspekt einer zusätzlichen Bedrohung für die Sicherheit von Frauen (WILPF 2017). WILPF weist in der Stellungnahme im Rahmen des UPR-Verfahrens auch auf die unbedingte Notwendigkeit hin, die Resolution 1325 im Bereich Migration anzuwenden, d.h. asylsuchende und geflüchtete Frauen in Entscheidungsprozesse um Asyl- und Flüchtlingsfragen miteinzubinden. Dies wäre ein Zeichen, dass Deutschland es ernst meint, die WPS-Agenda sowohl national als auch international voranzutreiben. Darüber hinaus ist es längst überfällig, für die Umsetzung der Resolution 1325 auch die notwendige personelle Ausstattung und finanzielle Unterfütterung bereitzustellen, damit sich die Zivilgesellschaft angemessen beteiligen kann und die Normen und Regeln überall angewandt und durchgesetzt werden können. Die Bereitstellung entsprechender Finanzmittel wird in zahlreichen Studien (siehe z.B. OSCE 2014) empfohlen und ist gute Praxis, z.B. in Großbritannien und den Niederlanden. Diese Gelder werden nicht nur für Empowerment- und andere Unterstützungsmaßnahmen für Frauen, in den Regionen, in Institutionen gebraucht, sondern besonders an den Verhandlungstischen für Menschen jeden Geschlechts mit Genderexpertise und -qualifikationen. Das heißt zum Beispiel, Verhandler*innen, Vermittler*innen, Mediator*innen in Waffenstillstands- und Friedensverhandlungen müssen entsprechend ausgebildet und zertifiziert werden.

Ausblick

Die Resolution 1325 läuft inzwischen Gefahr, auf die Einbindung von Frauen in militärische Kontexte (NATO, nationale Armeen) reduziert zu werden und damit in der Systemkonformität zu verharren und Frauen symbolpolitisch zu instrumentalisieren. Im Zusammenhang mit der Nachfolgeresolution 2242(2015) formuliert die Schweizer Friedensforscherin Annemarie Sancar (2017) Bedenken auch dahingehend, dass „sie einen großen Interpretationsspielraum schafft, der der postkolonialen Zuschreibung von Frauenrollen in der Terrorismusbekämpfung Vorschub leistet sowie interessengeleitete Interventionen ermöglicht“. Strategien und Maßnahmen müssen jeweils konkret daraufhin überprüft werden, wie sie insbesondere Frauen und Kindern vor Ort, Gender-Aktivist*innen und Grassroots-Expert*innen in den Regionen zugute kommen.

Die Resolution 1325 betreibt als ­solche keine Ursachenforschung für Gewalt und Krieg, aber sie macht einen kritischen Blick auf sozioökonomische Verwerfungen, zunehmende Prekarisierung und die internationale Tendenz zum »degendering« im politischen Kontext unverzichtbar. Sie verweist auch auf eine dringend erforderliche Umorientierung der Vereinten Nationen, die laut ihrer Charta als Friedensorganisation gestartet ist. WILPF hat dazu die Kampagne »Reclaiming the UN as a Peace Organisation« initiiert. Für die Frauenfriedensbewegung kommt es darauf an, in der WPS-Agenda statt Top-down-Prozessen und Militärpolitik inklusive und genderbewusste Bottom-up-Aktionen und Überprüfbarkeit der Umsetzung voranzubringen. Ob diesem Ziel mit dem von der Regierung angestrebten Sitz Deutschlands im UN-Sicherheitsrat gedient ist, bleibt eine offene Frage.

Fazit

Eine feministische Friedensbewegung hat ein breites Aufgabenfeld, für das die WPS-Agenda nur den Rahmen schafft. Beispielhafte Problemfelder aus verschiedenen Ländern sind: Entwaffnung der gesamten Gesellschaft, nicht nur von Rebellengruppen in Kolumbien; Aufbau politischer Friedensökonomien statt international verordneter Austeritätsmaßnahmen und neoliberaler Privatisierung in Bosnien; Pflege eines gendersensiblen Frühwarnsystems in Nigeria; Stopp von Waffenexporten in Konfliktregionen aus Deutschland; Schutz von Frauen und Mädchen vor geschlechtsspezifischer Gewalt mit Unterstützung der Opfer und entsprechender Strafverfolgung in Afghanistan und im Kongo. Immer geht es darum, Spielräume zu schaffen für echte Transformation, Vernetzungen und Allianzen zu unterstützen und patriarchale Dominanz umzuwandeln in Gerechtigkeit und Respektieren von Frauenrechten als Menschenrechte – für ein verträgliches Gemeinwesen und zur Förderung inneren wie äußeren Friedens.

Anmerkung

1) Women’s International League for Peace and Freedom.

Literatur

Bricke, D. (2003): Das Human Security-Konzept. W&F 2-2003, S. 70-72.

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Kharashvili, J. (2016): Frieden braucht Frauen – auch in Georgien. online.

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Paffenholz, T.; Ross, N.; Dixon, S.; Schluchter, A.-L.; True, J. (2016): Making Women Count – Not Just Counting Women: Assessing Women’s Inclusion and Influence on Peace Negotiations. Geneva: Inclusive Peace and Transition Initiative (The Graduate Institute of International and Development Studies) and UN Women.

Sancar, A. (2017): Gender-Mainstreaming »smart« – Vereinnahmung der Frauen im Krieg gegen den Terrorismus. Widerspruch 70, 36. Jg., 2.Halbjahr 2017, S. 55-64.

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Women Organizing for Change in Bosnia and Herzegovina (2017): A Feminist Perspective On Post-conflict Restructuring And Recovery – The Study Of Bosnia And Herzegovina. Sarajewo und Genf.

Heidi Meinzolt ist Europakoordinatorin der Women’s International League for Peace and Freedom/WILPF (wilpf.de, wilpf.org), Mitglied im Frauensicherheitsrat und im »Bündnis 1325« in Deutschland sowie Koordinatorin einer Arbeitsgruppe zu »Women and Gender Realities in the OSCE Region« (civicsolidarity.org).

Peacebuilding durch internationale Organisationen

Peacebuilding durch internationale Organisationen

ASPR State of Peacebuilding Conference, 29.-30.11.2017, Stadtschlaining/Wien

von Andrea Warnecke

In den letzten Jahrzehnten hat die Bedeutung internationaler Organisationen (IO) bei der Gestaltung globaler Policy-Diskurse und -Praktiken in Feldern wie Konfliktbearbeitung, nachhaltige Entwicklung oder Wahrung der Menschenrechte beständig zugenommen. Dabei verfolgen zwischenstaatliche und nichtstaatliche Organisationen, wie die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSCE) oder das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP), und große internationale Nichtregierungsorganisationen, wie Oxfam oder Saferworld, einerseits grundlegend verschiedene Aufgaben und weisen entsprechend unterschiedliche Satzungen und Mandate auf. Auf der anderen Seite haben zahlreiche internationale Organisationen in den vergangenen zwei Jahrzehnten damit begonnen, sich zusätzlich zu ihren traditionellen Aufgaben, beispielsweise in der Entwicklungszusammenarbeit oder humanitären Hilfe, in der Friedenskonsolidierung (peacebuilding) in Nachkriegsstaaten zu engagieren. Dabei reicht ihre Rolle und Gestaltungsmacht weit über bloße Implementierungsmaßnahmen hinaus: Internationale Organisationen leisten zentrale Beiträge bei der Entstehung und Ausdifferenzierung von Friedenskonsolidierung in Nachkriegsstaaten als eigenem internationalen Politikfeld an der Schnittstelle von Konfliktbearbeitung, Entwicklung, humanitärer Hilfe und Peacekeeping.

Diese Ausweitung der Akteursbasis und die zentrale Rolle internationaler Organisationen bei der Gestaltung von Ansätzen und Programmen führten zu einer intensivierten Diskussion von Fragen nach der Legitimität und Rechenschaft internationaler Organisationen in Nachkriegsstaaten. Zugleich erhält diese Diskussion in den letzten Jahren durch die Versuche zahlreicher nationaler Regierungen, das Handeln internationaler staatlicher und nichtstaatlicher Organisationen in ihrem Hoheitsgebiet einzuschränken, eine neue Dringlichkeit. Vor diesem Hintergrund beschäftigte sich die jährliche »State of Peacebuilding«-Konferenz des Austrian Study Centre for Peace and Conflict Resolution (ASPR) mit dem Thema »The Practices, Politics, and Paradigms of IO Peacebuilding«. Vom 29.-30. November 2017 diskutierten 25 internationale Wissenschaftler*innen und Praktiker*innen auf der Burg Schlaining die normativen und praktischen Herausforderungen internationaler Organisationen in der Konfliktbearbeitung. Die »State of Peacebuilding«-Konferenz wurde im Rahmen des »Conflict. Peace. Democracy«-Clusters mit Beteiligung der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Karl-Franzens-Universität Graz, des Demokratiezentrums Wien sowie des Instituts für Konfliktforschung organisiert.

Ausgangspunkt war die Beobachtung, dass (zwischen-) staatliche und nichtstaatliche internationale Organisationen in den vergangenen Jahren eine zunehmend eigenständige Rolle bei der Ausgestaltung von Projekten und Programmen im Themenfeld Friedenskonsolidierung eingenommen haben. Die Konferenz setzte sich zum Ziel, die Diskurse und Praktiken internationaler Organisationen aus soziologischer, rechtswissenschaftlicher und politikwissenschaftlicher Perspektive zu hinterfragen. Die meisten internationalen Organisationen in diesem Feld haben einen institutionellen Hintergrund bzw. Kernmandate in den Feldern Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe. Daher versuchte die Konferenz, die Herausforderungen von IO-Peacebuilding vor dem Hintergrund der Spannungsfelder zwischen den Ursprungsmandaten und Friedenskonsolidierung aufzugreifen.

Die Konferenz gliederte sich in einen Eröffnungsvortrag von Dr. Véronique Dudouet (Berghof Foundation, Berlin) zum Thema »International Support for Inclusive Political Settlements. A Critical Assessment« gefolgt von drei thematischen Paneldiskussionen: 1. »Practices: IO Trajectories and Peacebuilding Practices«, 2. »Politics: IOs and Sovereignty between Consent and Contestation« sowie 3. »Paradigms: Paradigmatic Shifts as Manifestations of Consent and Contestation«. Die Diskussionen wurden durch ein Abschlusspanel zu den methodischen und epistemologischen Herausforderungen der Analyse internationaler Organisationen abgerundet.

Im Rahmen des ersten Panels setzten sich Priyal Singh (Institute for Security Studies, Johannesburg), Dr. Benedikt Harzl (Karl-Franzens-Universität Graz), Dr. Maria Stage (Universität Kopenhagen) und Dr. Andrea Warnecke (ASPR) mit den historischen Entstehungszusammenhängen der Definition von Peacebuilding in Nachkriegsstaaten in den frühen 1990er Jahren auseinander. Unter welchen Annahmen und Umständen übernahmen entwicklungspolitische und humanitäre internationale Organisationen, wie UNDP, die Bretton-Woods-Institutionen und zahlreiche humanitäre staatliche und nichtstaatliche Organisationen, Schlüsselrollen in der Friedenskonsolidierung innerhalb von Staaten? In welcher Form haben diese Organisationen Friedenskonsolidierung in ihre bisherigen Mandate integriert? Inwieweit hat die Erweiterung des Aufgabenspektrums die Praktiken und Positionen dieser Organisationen verändert? Die Diskussion beschäftigte sich insbesondere mit den rechtlichen Rahmenbedingungen von IO-Peacebuilding vis-à-vis staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren, den unterschiedlichen institutionellen IO-Mandaten und dem Handlungsspielraum gegenüber Regierungen, der sich daraus ergibt, sowie der Wissensgenerierung und –vermittlung und dem Reformprozess innerhalb der UN-Peacebuilding-Architektur.

Im zweiten Panel diskutierten Prof. Oliver Ramsbotham (University of Bradford), Jan Daniel (Institute of International Relations Prag), Dr. Paula Drumond (Pontifícia Universidade Católica do Rio de Janeiro) und Prof. Hubert Isak (Karl-Franzens-Universität Graz) das Spannungsverhältnis zwischen IO-Handeln und staatlicher Souveränität in der Friedenskonsolidierung. Wichtige Fragen betrafen die Charakterisierung der rechtlichen und/oder politischen Machtverhältnisse zwischen externen internationalen Organisationen und staatlichen Akteuren und Strategien zur Generierung legitimer Autorität. Nicht nur in Fällen, in denen die Regierung des Zielstaats als Konfliktpartei auftritt, stellt dies internationale Organisationen vor die Herausforderung, Projekte zu gestalten, die sich einerseits mit kontroversen Themen, wie Menschenrechten und Ungleichheit, beschäftigen, jedoch zugleich von der Kooperation der jeweiligen Regierung abhängig sind.

Vor diesem Hintergrund untersuchten im dritten Panel Dr. Nicolás Lemay-Hébert (University of Birmingham), Dr. Gezim Visoka (Dublin City University), Dr. Jan Pospisil (ASPR) und Dr. Maximilian Lakitsch (Karl-Franzens-Universität Graz) die Entwicklung dominanter Peacebuilding-Paradigmen in Diskurs und Praxis internationaler Organisationen.

Das abschließende vierte Panel rundete diese Diskussionen mit einer kritischen Reflexion zur Epistemologie und Methodologie sowohl in der Peacebuilding-Praxis internationaler Organisationen als auch in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung damit ab. Dr. Anna Danielsson (Universität Uppsala), Dr. Juan Masullo (Jacobs Universität Bremen) und Andy Carl (London) diskutierten die Herstellung epistemologischer Autorität und Hierarchie in der Peacebuilding-Praxis, die Implikationen unterschiedlicher (quantitativer und qualitativer) methodischer Ansätze für das Verständnis von Konflikten sowie innovative praxisorientierte Ansätze zur Überwindung solcher Hierarchien/Hegemonien in der konkreten Arbeit internationaler Organisationen.

Ein ausführlicher Konferenzbericht befindet sich in Vorbereitung und wird über aspr.ac.at zu beziehen sein.

Andrea Warnecke