Ohne OSZE wird es nicht gehen
Ohne OSZE wird es nicht gehen
Zustand, Perzeptionen und Zukunft europäischer Sicherheit
von Simon Weiß
Der russische Angriff auf die Ukraine hat eine radikale Transformation europäischer Sicherheit eingeleitet. Dieser Krieg kam nicht plötzlich, sondern entsprang den akkumulierten sicherheitspolitischen Widersprüchen, vor allem zwischen den USA und Russland, die zu den verheerenden Ereignissen letztes Jahr geführt haben. Schon jetzt muss das kritische Nachdenken über die Zeit danach beginnen, auch wenn erwartet werden kann, dass die Feindseligkeiten zwischen Russland und der von der NATO unterstützten Ukraine eher zunehmen werden. Welche Rolle wird zukünftig kooperativen und inklusiven Institutionen zukommen?
In einem Punkt sind sich alle Verfahrensbeteiligten in Ost und West aktuell einig: das Ziel, einen Raum ungeteilter Sicherheit kooperativ zu organisieren, ist vorerst gescheitert. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) durchlebt dadurch gerade eine existenzielle Krise. Aufgeben sollte man diese Organisation jedoch auf keinen Fall. Jegliche Transformationszeit ist immer eine Hochzeit für alle möglichen Ordnungsvorschläge auf dem großen Politmarkt der Ideen. Unterm Strich lassen sich die meisten Beiträge des Polit- und Expert*innendiskurses auf die Varianten »Sicherheit mit Russland«, »ohne Russland« und »gegen Russland« herunterbrechen.
„Wie auch immer Russlands Krieg gegen die Ukraine enden wird, schon jetzt zeichnen sich Konturen einer veränderten Sicherheitsordnung in Europa ab. Diese Ordnung wird auf Sicht nicht mehr mit oder ohne, sondern in erster Linie gegen Russland organisiert, zumindest solange das Putin-Regime an der Macht bleibt.“ (Schneckener 2022)
Sicherheitswahrnehmungen in Europa
Doch welche Schritte sollten nun für eine neue Sicherheitsordnung gegangen werden? Das Regionalbüro für Internationale Zusammenarbeit der Friedrich-Ebert-Stiftung erkundet mit seiner sicherheitspolitischen Umfragereihe »Security Radar« die Wahrnehmungen von europäischen Bürger*innen (FES 2022a, 2023).1 Solche Umfragen grenzen zumindest für demokratische Systeme den politischen Gestaltungskorridor ein, da ein Regieren ohne Rücksicht auf die Stimmungen in der Bevölkerung nicht lange gutgehen kann. Drei interessante Datenpunkte aus dem diesjährigen »Security Radar« lassen sich zum Thema »Transformation der Sicherheitsordnung« anführen.
1. Divergierende Interessen zwischen den Machtzentren
Wir haben die Menschen danach gefragt, wie sie die Interessen globaler staatlicher Akteure im Verhältnis zueinander einschätzen? Rund 50 % der Befragten in Deutschland und Frankreich sind der Meinung, dass die Interessen der EU und Chinas im Widerspruch zueinander stehen; in Lettland und Polen sind die Anteile mit rund 40 % geringer. Es besteht für die Bürger*innen eine starke Konvergenz zwischen den beiden Akteuren. Ähnlich werden auch chinesische und russische Interessen als weitgehend übereinstimmend betrachtet. Im Gegensatz dazu werden die Interessen der EU und Russlands sowie die Interessen der USA und Russlands weitgehend als gegensätzlich wahrgenommen. Der wahrgenommene Widerspruch zwischen den Interessen der USA und Russlands hat in allen Ländern zugenommen, am stärksten in Deutschland und Polen (um 8 % bzw. 9 % im Vergleich zum Vorjahr). In Bezug auf die Interessen der EU und Russlands ist die Desillusionierung in Deutschland am stärksten ausgeprägt: Während im Jahr 2021 nur 46 % der Befragten der Meinung waren, dass die Interessen Europas und Russlands im Widerspruch zueinander stünden, stieg dieser Anteil im Jahr 2022 auf 60 % an und erreichte damit fast das Niveau der Wahrnehmung in den osteuropäischen Nachbarländern (vgl. Graphik 1).
Graphik 1: Wahrnehmung der Interessenwidersprüche. Quelle: Security Radar 2023, FES.
Insgesamt deutet dies darauf hin, dass zwei Blöcke wahrgenommen werden: die EU und die USA auf der einen Seite und Russland und China auf der anderen. Diese Blockkonfrontation wird durch den nächsten Punkt, die systematische Entflechtung von Demokratien und Autokratien, ergänzt.
2. Sich von Autokratien abnabeln
Die Ablehnung der Zusammenarbeit mit Russland und die Skepsis gegenüber der Zusammenarbeit mit China spiegeln sich deutlich in den Antworten auf die Fragen zur wirtschaftlichen Abkopplung wider. Überwältigende Mehrheiten (rund 70 %) sind bereit, die Abhängigkeit von Russland zu verringern, auch wenn dies mit Einbußen beim Lebensstandard verbunden wäre. Die Bereitschaft, sich von Russland abzukoppeln, ist in Polen am höchsten (74 %), während die lettischen Befragten vorsichtiger sind (57 %).
Hinsichtlich der Abkopplung von China zeigt sich ein bekanntes Bild, das zwischen Ost und West geteilt ist. Eine überwältigende Mehrheit in Deutschland und Frankreich befürwortet eine Verringerung der Abhängigkeit von China, selbst wenn dies negative Auswirkungen auf den Lebensstandard in ihren Ländern hätte. Die Bereitschaft, sich von China abzukoppeln, ähnelt in Deutschland und Frankreich stark der Bereitschaft, sich von Russland abzukoppeln. In Polen und Lettland sind die Werte niedriger.
Diese Tendenz stimmt aus der Perspektive inklusiver internationaler Organisationen (UNO, OSZE) sehr nachdenklich. Das langjährige Framing der geopolitischen Konflikte zwischen dem Westen und Russland und zwischen den USA und China als »Systemkonflikte« zwischen Demokratien und Autokratien spielt hier sicherlich eine Rolle. Komplementär dazu wird auch dem Krieg in der Ukraine die gleiche systemische Ursache zugeschrieben, am häufigsten sichtbar an der Erklärung: Die demokratische Ukraine verteidigt (auch) den demokratischen Westen und die liberalen Werte.
Mittlerweile entsteht aus dieser Spaltung ein großes westlich-liberales Paradigma, das scheinbar eine Welt mit multiplen Krisen recht einfach zu erklären versucht. Zahlreiche Apologet*innen eines »Neuen Kalten Krieges« schreiben dieser systemischen Aufteilung eine positive Ordnungskraft für das internationale System zu, indem es die Welt in konstruktive und destruktive Akteure einteilt. Die Welt und die Hybridität vieler Regimeformen jenseits west- und nordeuropäischer Demokratien machen dieses Unterfangen für den diplomatisch-operativen Einsatz sogar schädlich.
3. Rolle von internationalen Organisationen
Der Blick aus dem »Security Radar« auf den wahrgenommenen Einfluss internationaler Organisationen zeigt, dass die NATO als Verteidigungsbündnis in Kriegszeiten deutlich an Einfluss in den Augen der Menschen zugelegt hat. Doch das Bild ist komplexer und lässt auch einen Hoffnungsschimmer für die inklusiven Organisationen, UN und OSZE, erkennen.
In allen befragten Ländern wünschten sich die Befragten eine stärkere Rolle der NATO, wenn auch auf unterschiedlichem Niveau. Besonders gut schneidet die NATO bei den polnischen Befragten ab, die sich mit 72 % eine Stärkung ihrer Rolle wünschen. Der Zuwachs zum Vorjahr beträgt 13 %. Dies ist ein bemerkenswert hoher Wert im Vergleich zu beispielsweise 45 % in Deutschland. Auffällig ist zudem, dass sich im polnischen Fall der Wunsch nach einer erweiterten Rolle auf alle befragten Organisationen ausdehnt. In geringerem Maße gilt dies auch für Deutschland und Lettland. Frankreich ist das einzige Land, in dem sich die Befragten – überraschenderweise – eine geringere Rolle für die OSZE und die EU wünschen.
Verunsicherung begegnen, Entspannung schaffen
Dieser kleine Einblick in die empirischen Daten aus dem »Security Radar 2023« liefert uns eine Bestätigung dafür, dass die kriegsbedingte Transformation europäischer Sicherheitspolitik bei den Menschen in der EU (in West und Ost) ankommt. Die in den Medien und im politischen Diskurs omnipräsente Konfliktlinie zwischen Demokratien und Autokratien ist ebenfalls in der Wahrnehmung präsent und entwickelt sich über den Zeitverlauf dynamisch. Bei aller Verschärfung dieses Systemgegensatzes spürt man auch die große Verunsicherung in der Bevölkerung und den Wunsch nach sicherheitspolitischer Entspannung, wobei letzteres ungleich verteilt ist in den befragten vier Staaten.2
Angesichts der sichtbaren Euphorie über die Wiederbelebung der NATO aufgrund des russischen Angriffskrieges sollte man nicht außer Acht lassen, dass auch die UN und die OSZE weiter gebraucht werden, weil sie in den Augen der Menschen und einiger Expert*innen etwas leisten, was die NATO und die EU nicht leisten können: Vermittlungen und Verhandlungen.
Sicherheitsstabilisierung in Europa
Vor dem Krieg hörte man häufig auf internationalen Sicherheitskonferenzen folgende Aussage: „Wenn es die OSZE nicht gäbe, müsste man sie jetzt erfinden.“ Das spielte natürlich auch damals auf den schlechten Zustand der Sicherheitsordnung, auf verschwundenes politisches Vertrauen und das im Zerfall befindliche System von Rüstungskontrollverträgen im OSZE-Raum an.
Nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine am 24.2.2022 ist der ehemals schlechte Zustand europäischer Sicherheit einem katastrophalen Zustand der Konfrontation zwischen Russland und dem Westen gewichen. Wie angespannt die Situation und wie schwierig der Balanceakt zwischen militärischer Unterstützung für die Ukraine und der Nichtbeteiligung an einem direkten Krieg mit Russland ist, verdeutlicht die Aussage der deutschen Außenministerin Baerbock erst am 24.01.2023 in einer Sitzung des Europarats: „Wir kämpfen einen Krieg gegen Russland, nicht gegeneinander“. Dieser emotionale »Versprecher« der Außenministerin verdeutlicht, in welch einem Ausnahmezustand die deutsche und europäische Politik seit fast einem Jahr agiert.
Dies hat Auswirkungen auf die Prioritäten der Regierungen und befeuert einen massiven Militarisierungsschub. Das fatale dabei: Genauso wie der Krieg eine anspruchsvolle Logistik braucht, über die aktuell so viel in den politischen Entscheidungszentren und Medien gesprochen wird, so brauchen auch Verhandlungen, die zu Waffenstillständen oder Frieden führen sollen, einen organisierten Prozess und Logistik. Denn es ist klar, dass eine Stabilisierung und somit Verbesserung von Sicherheit mittel- bis langfristig nur in einem regionalen Setting erzielt werden kann. Dafür ist die größte Regionalorganisation der Welt, die OSZE, prädestiniert.
Wie aus den obigen Umfragedaten hervorgeht, haben wir ein gemischtes Bild zur Rolle internationaler Organisationen. Es gibt eine wahrgenommene Einflussverschiebung in Richtung exklusiver Organisationen (Bündnisse und Gemeinschaften), bei gleichzeitigem Wunsch, dass doch die inklusiven Organisationen wenigstens ihrem zweiten »Daseinszweck« entsprechen und zur Konfliktlösung beitragen mögen – wenn schon eine Konfliktverhütung in erster Linie nicht funktioniert hat. Die OSZE ist aber natürlich nur so wirkmächtig, wie es die Teilnehmerstaaten auch zulassen. Aktuell herrscht bei allen direkten und indirekten Kriegsbeteiligten wenig Interesse an konkreten Waffenstillstandsverhandlungen, geschweige denn darüber hinausgehenden Friedensverhandlungen inklusive multilateraler Sicherheitsgarantien, wie das noch kurz nach Ausbruch des Krieges in der Türkei verhandelt wurde.
Nach dem Abbruch dieser ambitionierten, »großen« Verhandlungen zwischen den ukrainischen und russischen Delegationen fanden und finden immerhin noch kleinere Verhandlungen über Gefangenenaustausche und ukrainische Getreideausfuhren statt. Diese werden bisher vor allem von der Türkei und der UN vermittelt durchgeführt. Momentan laufen viele Verhandlungsstränge über den türkischen Präsidenten Erdogan, doch er muss sich dieses Jahr einer Wahl stellen. Je länger der Krieg dauert, desto wichtiger wird es sein, solche Akteure zu ertüchtigen, die aufgrund ihres partnerschaftlichen Verhältnisses zu Moskau überhaupt in der Lage sind, Stabilisierungsinitiativen und Waffenstillstandsverhandlungen auf die bilaterale oder multilaterale Agenda zu setzten. Man sollte nicht nur hierzulande deshalb dringend über eine Erweiterung des bestehenden Vermittlungs- bzw. Verhandlungsrahmens nachdenken.
So könnte man versuchen die OSZE als einen Ort stiller Diplomatie wiederzubeleben oder ihr zumindest politisch mehr Aufmerksamkeit zu schenken, gerade weil sehr viele Ressourcen auf die NATO und in einen militärischen Sieg der Ukraine gesteckt werden. Die politische Stärkung inklusiver Organisationen wie der UN und OSZE (in denen Russland noch mit der Welt an einem Tisch sitzt) ist wichtig. Trotz aller internationaler Isolationsversuche, trotz des Schmiedens einer breiten Sanktionsfront gegen die russische Wirtschaft und trotz des weltweiten Einkaufs von Waffen für die Ukraine. Es braucht eine Parallelität von sanktionierenden Maßnahmen und Maßnahmen die zur Eingrenzung und späteren Überwindung des Krieges notwendig sind.
Die OSZE retten
„Dennoch gelte es an den Tag nach dem Krieg zu denken. Deshalb sollte man nicht mutwillig Dialogplattformen wie die OSZE, die wir dann brauchen werden, zerstören.“ (ORF 2023) Diese Äußerung des österreichischen Außenministers Schallenberg deutet auf ein vorsichtiges Umdenken hin. Zugleich reicht es nicht, die OSZE in einen Dämmerschlaf zu versetzen, bis man sie irgendwann später wieder braucht. Denn das wird die Organisation nicht überleben. Sie muss stattdessen ihrem Zweck nach politisch aktiviert werden.
Dafür muss die politisierte Blockbildung innerhalb der tagenden Gremien (Forum für Sicherheitskooperation, der Ständige Rat) abgebaut werden. Russland ist nun mal ein teilnehmender Staat und betrachtet diese Organisation, genauso wie die UNO, als ein eigenes, diplomatisches Produkt. Daher wird es trotz massiver Kritik an der eigenen Kriegsführung nicht einfach das Handtuch werfen und von sich aus die Teilnahme in Wien beenden. In diesem Jahr hat Nordmazedonien von Polen den OSZE-Vorsitz übernommen und braucht die Unterstützung aller anderen Teilnehmer der Organisation, um dem politischen Bedeutungsverlust entgegenzutreten.
Folgende Punkte sprechen zusätzlich für eine Aufwertung der OSZE:
- Die OSZE ist eine Organisation, die in allen Phasen eines Konfliktzyklus nützlich sein kann, sofern die teilnehmenden Staaten es wollen.
- Alle Kriegs- und Konfliktteilnehmer beschreiten sicherheitspolitisches Neuland ohne historische Präzedenzen. Auch dafür sind Organisationen, die Foren für den Austausch bieten, die richtigen Leitinstrumente, um politische Entscheidungen aller Beteiligten besser vorzubereiten.
- Unter den aktuell 57 teilnehmenden Staaten der OSZE finden sich einige Nachbarstaaten Russlands und Chinas, die faktisch dabei helfen können, die abgebrochenen direkten Kontakte nach Russland auszugleichen und generell einen besseren Einblick in die Region zu liefern.
- Russland wird aufgrund seines vollumfänglichen Krieges in der Ukraine nur noch notdürftig Schadensbegrenzung im Berg-Karabach-Konflikt und an der Grenze zwischen Tadschikistan und Kirgisistan leisten. Trotz bekannter Stolpersteine, die eine Konsensorganisation mit sich bringt, können politische Akteure, die an Deeskalation und Konfliktlösung in dieser Region interessiert sind, die jahrzehntelange Expertise der OSZE anfordern.
- Die OSZE kann Kapazitätenaufbau für Aussöhnungsprozesse in den Nachkriegsgesellschaften ermöglichen, die angesichts der Verbissenheit der Kriegsgegner und der Tiefe der Wunden, über einen längeren Zeitraum benötigt sein werden.
- Ebenso liegt bei der OSZE der Kapazitätenaufbau für die Beseitigung kriegsbedingter Umweltverschmutzung und für die Minenräumung. Denn größere Teile des Staatsgebiets der Ukraine werden auf Jahre hinaus zu den am stärksten verminten und verwüsteten Regionen der Welt gehören.
- Das »Conflict Prevention Centre« der OSZE ist seit Beginn des Krieges mit der Ausarbeitung von möglichen Einsatzszenarien in der Ukraine befasst. Mögliche Einsatzszenarien umfassen Missionen ähnlich der zwischen 2014 und 2022 eingesetzten »Special Monitoring Mission« (SMM), die nach Beendigung der Kampfhandlungen durchgeführt werden könnten oder Missionen, die beispielsweise in Assistenz zur IAEA zur Sicherung von Atomkraftwerken im Land arbeiten.
- Instrumente für militärische Deeskalation müssen nicht neu erfunden werden, es gibt sie bereits schon, sie müssen nur der veränderten Geographie und dem veränderten Grad an Compliance angepasst werden (vgl. OSCE Network 2018; Graef und Thies 2022), angesichts der Tendenz die sogenannte Ostflanke in der NATO zu verstärken.
Empfehlungen
„Kooperative Sicherheit heißt Verhandlungsbereitschaft und in weiterer Konsequenz Interessenausgleich – auch mit Autokratien.“ (Weiß 2021, S. 12) Das war und bleibt, trotz aller verständlichen Betroffenheit mit dem Kriegsleid in der Ukraine, die basale Voraussetzung für eine langfristige und nachhaltige Stabilisierung und Weiterentwicklung der Sicherheit im OSZE-Raum. Erst danach kommen gemeinsame Werte und eine Vergemeinschaftung von Sicherheit, die so nicht einmal in den besten Jahren der KSZE/OSZE bestanden.
Die Stärkung der OSZE und der UNO wäre wichtig, auch aus der Sicht der Menschen. Gerade in Krisenzeiten müssen sich internationale Institutionen bewähren. Die OSZE hat in punkto ihrer Krisenreaktionsfähigkeit mit den Erfahrungen der speziellen Beobachtungsmission in der Ukraine einen großen Sprung gemacht und stünde bereit, um während oder nach Beendigung der Kampfhandlungen auf unterschiedliche Art in dem Konflikt vermittelnd tätig zu sein.
Angesichts der ihr von allen Konflikt- und Kriegsparteien zugeschriebenen Schicksalshaftigkeit der aktuellen Auseinandersetzung in der Ukraine, ist die politische Fallhöhe für alle Beteiligten sehr hoch. Gerade deswegen sollten populäre »Frames« eher vorsichtig verwendet werden: Bei all der guten Binnenwirkung in der Betonung der Vorzüge von demokratischen Systemen gegenüber autokratischen Systemen sollte man nicht vergessen, dass ein Großteil der internationalen Beziehungen im Verkehr von Staaten mit unterschiedlicher Regimequalität besteht. Die Akzentuierung des Systemgegensatzes war Gift für das Ideal kooperativer Sicherheit, ist Gift für die Schadensbegrenzung während des Krieges und wird Gift für eine Stabilisierung von Sicherheit sein.
Die Chancen dafür, nach dem Krieg ein pro-westliches Russland zu bekommen, das sich gar »dekolonisiert« und dadurch verkleinert und für seine Nachbarn ungefährlich(er) wird, sind sehr gering. Es wird ziemlich sicher weiterhin ein Staat mit Atomwaffen, nationalen Sicherheitsinteressen und höchstwahrscheinlich mit einem zentralisierten Entscheidungs- und Sicherheitsapparat bleiben.
Die kritischen Stimmen aus dem Globalen Süden, insbesondere aus Lateinamerika und Afrika, die die westliche Klassifikation des russischen Angriffskrieges in der Ukraine infrage stellen, fungieren im guten Sinne als ein Realitätscheck, welchen man nicht als Ergebnis russischer Propaganda abtun sollte. Die Regierungen der BRICS-Staaten teilen weder die Singularität des Verbrechens, die wir dem russischen Völkerrechtsbruch zuweisen, noch teilen sie unsere gängige Prozessanalyse, die für den Ausbruch des Krieges verantwortlich zeichnet (vgl. u.a. Cocks 2022).
Aktuell und auf absehbare Zeit werden wir in einem konfrontativen Modus der Aufrechterhaltung von Sicherheit leben. Damit diese Phase nicht allzu lange dauert, da mit ihr Gefahren unbeabsichtigter Eskalation verbunden sind, werden wir so dringend wie möglich eine sicherheitspolitische Stabilisierung in der NATO-Russland-Kontaktzone brauchen. Es wäre fatal, sich auf eine vermeintlich stabile, konfrontative Ordnung in Analogie zum Kalten Krieg zu verlassen. Die als »existentiell« markierte Form, die Intensität und die geographische Nähe des Konfliktaustrags bedürfen daher eines feinen Austarierens westlicher Politik vis-à-vis Russland: Zwischen politisch-militärischer Schadensbegrenzung und der Aufrechterhaltung diplomatischer Kommunikationskanäle (UN, OSZE, direkter »Draht« zwischen Washington und Moskau) auf der einen Seite und der Beibehaltung eines prinzipienbasierten Eintretens für die territoriale Integrität der Ukraine auf der anderen Seite.
Zusätzlich dazu ist die Notwendigkeit zur – zumindest themenbezogenen – Kooperation weiterhin erforderlich, um globale Herausforderungen wie Klimawandel und Terrorismus anzugehen. Erst nach einer solchen Stabilisierung der Sicherheit wird man, sofern der politische Wille vorhanden sein sollte, über Idealvorstellungen kooperativer Sicherheit reden können.
Dieser Beitrag gibt nur die persönliche Meinung des Autors wieder und ist keine offizielle Publikation der Friedrich-Ebert-Stiftung.
Anmerkungen
1) Für den »Security Radar 2023« wurden Bürger*innen aus vier EU-Staaten (Deutschland, Frankreich, Lettland und Polen) befragt und vergleichend ausgewertet.
2) Zur Kompromissbereitschaft zur Beendigung des Krieges in der Ukraine siehe FES 2022b, S. 9.
Literatur
Schneckener, U. (2022): Wie sieht künftig Europas Sicherheitsordnung aus? Frankfurter Rundschau, 18.07.2022.
FES (2023): Security Radar 2023. Zeitenwende for Europe. Public perceptions before and after Russia’s invasion of Ukraine. Wien, 18.2.2023.
FES (2022a): Security Radar 2022. Navigating the disarray of European security. Wien, 10.3.2022.
FES (2022b): Mind the red line. Limits of European engagement in Russia’s war against Ukraine. Security Radar Perspective. Wien, Dezember 2022.
ORF (2023): Schallenberg: Keine engen Beziehungen mehr mit Russland. Agenturmeldung, 28.1.2023.
OSCE Network of Think Tanks and Academic Institutions (2018): Reducing the risks of conventional deterrence. Arms Control in the NATO-Russia Contact Zones. Wien, Dezember 2018.
Graef, A., Thies, T. (2022): Lessons from the past: Arms control in uncooperative times. Global Security Policy Brief. European Leadership Network, Dezember 2022.
Cocks, T. (2022): South Africa’s Ramaphosa blames NATO for Russia’s war in Ukraine. Reuters, 18.3.2022.
Weiß, S. (2021): Aktuelle Chancen für Entspannung. Studienergebnisse der »Initiative für kooperative Sicherheit«. In: Dienes et al. (ebd.): Mehr »Gemeinsame Sicherheit« wagen. Neue Impulse zur Entspannung für eine hochgerüstete Welt. Dossier 92, W&F 2/2021, S. 12-14.
Simon Weiß ist wissenschaftlicher Mitarbeiter bei FES ROCPE in Wien und beschäftigt sich mit Sicherheitspolitik im OSZE-Raum, Konflikten im post-sowjetischen Raum und Fragen der Rüstungskontrolle in Europa.