Terror grenzenlos?

Terror grenzenlos?

Höchste Zeit zur Deeskalation

von Corinna Hauswedell

Es gibt genügend Gründe, warum uns die schrecklichen Ereignisse von Beslan nicht loslassen dürfen, obwohl jener Ort in Nordossetien, der Anfang September Schauplatz des blutigsten Geiseldramas wurde, bereits wieder aus den Schlagzeilen verschwunden ist.

Mehrere hundert Kinder in einer Schule wurden Opfer eines brutalen Terroranschlages. Der Tabubruch – das Eindringen militärischer Gewalt in diesen von allen Kulturen als besonders geschützt erachteten, zivilen Lebensbereich – war immens. Wir haben diese Zerstörung jungen Lebens – nach zahllosen Selbstmordattentaten, nach den Enthauptungen in Bagdad, nach den Folterbildern von Abu Ghraib – als schockierendes Anwachsen von Inhumanität erlebt. Die Führung der russischen Großmacht hat den Anschlag – ähnlich wie die US-Regierung nach dem 11. September – als totale Kriegserklärung gewertet. Die Maßnahmen zur Einschränkung der ohnehin schwachen russischen Demokratie, die Präsident Putin als innenpolitische Konsequenz eingeleitet hat, sind besorgniserregend; seine Drohungen, präventive Schläge gegen Terroristen auch außerhalb russischen Territoriums durchzuführen, bergen das Potenzial neuer internationaler Eskalation.

Wie kann einer weiteren Entgrenzung von Recht und Moral, der ungeheuren politischen Machtanmaßung sowohl der vermeintlich Schwächeren wie der Starken auf der internationalen Bühne, entgegen gewirkt werden? Kofi Annan hat in seiner Rede vor der UN-Vollversammlung deutliche Worte zur Illegalität der Kriegführung im Irak gefunden, hat politische Doppelstandards westlicher Staaten kritisiert und eine stärkere Rolle der UNO und ihrer multilateralen Strukturen bei der internationalen Friedenssicherung gefordert. Doch wie sollen Deeskalationsstrategien aussehen, wenn immer häufiger regionale Konflikte wie im Kaukasus, im Nahen Osten oder auf dem afrikanischen Kontinent, die ihre eigene Geschichte und Muster haben, zu Schlachtfeldern im globalen Krieg gegen den Terror erklärt und gemacht werden; wenn der Krieg gegen den Terror eine Dynamik auslöst, die – wie im Irak – den Terroristen Tausende neuer Kämpfer in die Arme treibt und ein Land zum Hauptkampfplatz unterschiedlichster Kräfte, auch innerhalb des islamistischen Fundamentalismus, macht?

Ist es nicht höchste Zeit, alle verfügbaren Erfahrungen im Umgang mit internationalen Konflikten und mit regionalen bzw. nationalen Krisenszenarien zusammen zu tragen und auf ihre Tauglichkeit für diese scheinbar neue, globale Konfliktkonstellation hin zu prüfen? Die Behauptung, dass nach historischen Einschnitten wie dem Ende des Kalten Krieges 1989 oder den Anschlägen des 11. Septembers nichts mehr so sei wie zuvor, hat sich mittlerweile als wenig hilfreich und obendrein als sachlich falsch herausgestellt.

Dass sich der 45. Deutsche Historikertag, sonst eher ein behäbiges Verbandstreffen des Elfenbeinturmes, diesmal in gut besuchten Sektionen dieser aktuellen Brandthemen annahm, mag ermutigen. Man hörte begründete Warnungen, Terrorismus nicht mit Krieg gleich zu setzen, schon gar nicht mit »Totalem Krieg«. Sodann der Hinweis darauf, dass Terrorakte mehr als einmal in der Geschichte zum Ausgangspunkt für große Kriege wurden. Plädoyers für Differenzierungen zwischen den Netzwerken von Al Qaida und lokalen Gruppen, dazu Analysen der politischen Dimension des Terrors sowie Fallstudien über die Vergeblichkeit, Terror mit militärischen Mitteln besiegen zu wollen. Aufschlussreich auch das Nachdenken – wie Gudrun Krämer anregte – warum in der islamischen Welt die Wendepunkte 1989 und 11.9. anders wahrgenommen werden als vielerorts im Westen.

Man muss nicht in die von Josef Joffe in der ZEIT so beschriebene »Verständnis-Falle« tappen, wenn man nach Antworten auf die Fragen sucht, wo mögliche Wurzeln für die Eskalation terroristischer Handlungen zu finden sind, oder – vielleicht wichtiger – welche Mechanismen von Aktion und Reaktion den Terrorismus in Gang halten. Diese Analysen werden wir brauchen, um aus der Spirale der Gewalt, die sich zwischen nichtstaatlichen und staatlichem Terror immer schneller dreht, heraus zu kommen.

Der neue Terror ist vor allem grenzenloser als viele alte Formen des Terrors. Das begründet ein neues Bedrohungsgefühl, mit dem wir leicht in eine irrationale »Alarmismus-Falle« geraten können. Bei allem, was ein islamistisches Netzwerk wie Al Qaida von beispielweise der IRA Nordirlands unterscheidet, verweisen seriöse Forschungen wie die von Peter Waldmann aber eben auch auf (gemeinsame) Tatbestände wie, dass der Terrorismus vor allem eine Methode der Provokation der Macht sei, und insofern eine, wenn auch moralisch verwerfliche, Kommunikationsstrategie verfolgt werde. Hierauf die geeignete »Antwort« durch eine kommunikative Gegenstrategie zu finden, wird absehbar eine der großen Herausforderungen der internationalen Politik sein. Dürfen sich Staaten oder nichtstaatliche Organisationen erpressen lassen durch das zunehmend eingesetzte Mittel der Geiselnahme? Ist mit Terroristen zu verhandeln? Wenn ja, welches sind die Maßstäbe? Ist Vertrauensbildung hier eine geeignete Kategorie? Im Falle Nordirlands war es u.a. der Bereitschaft einzelner demokratischer Politikerinnen und Politiker, wie der Britin Mo Mowlam oder dem US-Senator George Mitchell, zu danken, dass – in einer oft umstrittenen Gratwanderung – die Einbeziehung auch radikaler Parteien in den langwierigen, oft von Rückschlägen begleiteten politischen Dialog- und Friedensprozess gelang, der schließlich auch zum Gewaltverzicht führte.

Der Ost-West-Konflikt hält ganz andere, aber zweifelsohne ähnlich ambivalente Erfahrungen in Sachen Deeskalation bereit. Das Paradox, dass der militärisch und ideologisch am höchsten gerüstete Konflikt unserer Zeitrechnung, der die Welt mehrfach an den atomaren Abgrund geschickt hat, letztlich unblutig zu Ende gegangen ist, wird die Forschungen weiter zu beschäftigen haben. Auch hier war Kommunikation im Spiel: Détente á la Kennedy sollte sich als weniger tragfähig erweisen als deutsche Ostpolitik. Unterschiedliche (Bedrohungs)Wahrnehmungen voneinander prägten das Konflikthandeln von Freund und Feind. Wo geredet wurde, wurde (fast) nicht geschossen. Am Ende (und Anfang einer neuen Ordnung) stand die KSZE: Welche Garantien bot dagegen die von den Gnaden bipolarer Ordnung abhängige Abschreckungslogik, deren Verschwinden heute von manchen bedauert wird? Wie viel Status-quo-Erhalt war der Preis der Deeskalation? Wie viel friedliche Veränderung machte sie andererseits möglich? Wie überzeugend war das in den 80er Jahren entstandene Konzept »Gemeinsamer Sicherheit«? Wie tragfähig ist das aus der Globalisierung erwachsene Konzept von »Human Security«? Ist das wachsende Zusammenspiel militärischer und ziviler Komponenten bei der Friedenssicherung einer Deeskalation von Konflikten eher förderlich oder hinderlich? Wie kann heute internationale Abrüstung als Teil einer erfolgversprechenden Deeskalationsstrategie (re)konstruiert werden?

Viele Fragen, auf die auch die multidisziplinäre Friedens- und Konfliktforschung helfen kann, Antworten zu finden. Zweifelsohne lassen sich strukturbildende Merkmale für eine »Einhegung« von internationalisierten Konflikten aus der bipolaren, aber durchaus auch asymmetrischen Blockkonfrontation für die unipolare und von wachsenden Machtungleichheiten geprägte internationale Konstellation heute bereit stellen. Der Wegfall der bipolaren Konfrontation hatte den Blick für die Eigengesetzlichkeiten und Deeskalationschancen lokaler oder regionaler Konflikte geöffnet und in den 90er Jahren mehrere erfolgreiche Friedensprozesse in Gang gesetzt. Die Welt läuft Gefahr, dass diese Erfahrungen im »war against terror« verloren gehen.

Die Zeit drängt. Und es ist nicht einmal in erster Linie der Mangel an Analyse und wissenschaftlichen Konzepten, der wirksamen Deeskalationsstrategien entgegen steht. André Glucksmann hat in einem bemerkenswerten Essay anhand des Beslan-Desasters grundsätzliche Fragen von Menschenrechtspolitik, Kriegführung und Anti-Terror-Kampf aufgeworfen und die »Kopf in den Sand«-Haltung der Mächtigen der Welt angeprangert: „Als Putin 1999 in Tschetschenien einmarschiert, behauptet er, gegen 2000 Terroristen anzutreten. Er schickt seine Bomber, seine Panzer und 100.000 Soldaten zur Eroberung eines Landes, das so groß ist wie Groß-Paris … Er schleift Grosny … Wenn ein solches Schlachthaus als Terrorbekämpfung gilt, muss man sich fragen, warum die Engländer nicht Belfast dem Erdboden gleich machten, die Spanier Bilbao, die Franzosen Algier … Wir sind ein aktiver Teil in diesem Desaster …“

Höchste Zeit also für Deeskalationsstrategien, die die Augen nicht verschließen vor den Konfliktinhalten, ihren Ursachen, Interessenlagen und Wahrnehmungen. Deeskalation, das heißt nicht Frieden; aber es ist die Suche nach anderen Formen des Konfliktaustrages als mittels der inhumanen, tödlichen Gewaltspirale.

Dr. Corinna Hauswedell ist Vorsitzende des Arbeitskreises Historische Friedensforschung, Mitherausgeberin des Friedensgutachtens und im geschäftsführenden Vorstand von Wissenschaft und Frieden

Friedenspolitisches Engagement nach dem 11. September 2001

Friedenspolitisches Engagement nach dem 11. September 2001

von Christopher Cohrs, Barbara Moschner und Jürgen Maes

Die Frage, wer aufgrund friedenswissenschaftlicher Erkenntnisse wie beeinflusst werden kann und soll, damit friedensdienliche Veränderungen zustande kommen, wird selten gestellt und noch seltener zu beantworten versucht. Im Anregen und Aufgreifen adressatenspezifischer Probleme dürften die besten Chancen liegen, den Anwendungsbezug der Arbeit zu verbessern. Der vorliegende Beitrag geht auf empirischer Grundlage der für die Friedensbewegung zentralen Frage nach, welche Bedingungen friedenspolitisches Engagement begünstigen.
Eine wichtige Frage der praxisorientierten Friedenspsychologie lautet: Von welchen Faktoren hängt es ab, ob sich Menschen aktiv für den Frieden engagieren? Eine Beantwortung dieser Frage kann möglicherweise von der Friedensbewegung genutzt werden, um mehr Menschen für ihr Anliegen zu gewinnen und so ihren Einfluss auf politische Entscheidungen zu vergrößern.

Die bisherige Forschung hat eine Reihe von Faktoren aufgezeigt, die wichtig sind für friedenspolitisches Engagement (vgl. Moschner, 1998; Preiser, in Druck). Politisches Engagement im Allgemeinen ist u.a. wahrscheinlicher, wenn man

  • sich für kompetent hält und sich bestimmte politische Handlungen zutraut;
  • glaubt, dass das eigene Handeln einen Einfluss auf die Politik hat;
  • sich sozial verantwortlich und zum Engagement verpflichtet fühlt;
  • über persönliche Ressourcen in Form von Zeit, Gelegenheit und bestimmten Kompetenzen (z.B. Kommunikations- und Teamfähigkeit) verfügt;
  • in einer sozialen Umgebung lebt, die politisches Engagement fördert oder akzeptiert;
  • glaubt, durch politisches Engagement verschiedene Bedürfnisse befriedigen zu können (z.B. soziale Eingebundenheit, Erleben eigener Kompetenzen, Anerkennung, Spaß);
  • ein Bewusstsein dafür entwickelt hat, dass die Zugehörigkeit zu einer aktiven Gruppe bedeutsam für die eigene Identität ist.

Aus diesen und weiteren Faktoren ergeben sich bereits zahlreiche Folgerungen für die Friedensbewegung (vgl. Preiser, in Druck). Die aufgelisteten Faktoren sind allerdings allesamt unabhängig von der Richtung des Engagements. Sie sind für friedenspolitisches Engagement ebenso wichtig wie z.B. für das Engagement Rechtsextremer gegen Ausländer/innen. In diesem Artikel möchten wir daher vor allem einige Faktoren untersuchen, die spezifisch friedenspolitisches Engagement begünstigen, also nicht »inhaltsleer« sind. Dies tun wir anhand einer eigenen empirischen Untersuchung. Zum Abschluss wird diskutiert, welche Folgerungen für die Friedensbewegung aus den Ergebnissen gezogen werden könnten.

Studie zum 11. September 2001

Bei der Untersuchung handelt es sich um eine große Fragebogenstudie, die wir nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 begonnen und im Laufe des Jahres 2002 fortgesetzt haben. Sie kann hier nicht umfassend dargestellt werden. Stattdessen beschränken wir uns auf einige ausgewählte Ergebnisse. Diese Ergebnisse stammen aus der zweiten Befragungsphase von Anfang März bis Anfang September 2002 und basieren auf einer Stichprobe von 1.505 Personen. Die Daten wurden zum größten Teil (91%) über das Internet erhoben, der Rest füllte Fragebögen in Papierform aus. Detaillierte Informationen zu der Studie finden sich in einem Forschungsbericht (Cohrs, Kielmann, Maes & Moschner, 2002).

Kurz zur Stichprobe: 42% der Teilnehmer/innen sind weiblich, 56% männlich (bei den restlichen Personen fehlt die Angabe). Das Alter liegt zwischen 13 und 76 Jahren (M = 31,9; SD = 11,1 Jahre)1. 94% der Personen haben die deutsche Staatsangehörigkeit. Die Teilnehmer/innen kommen aus dem ganzen Bundesgebiet, jedoch vor allem aus Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen, Bayern und Baden-Württemberg; Personen aus den neuen Bundesländern sind nur schwach vertreten. Knapp die Hälfe sind Studierende. Etwa 53% haben Abitur, weitere 36% einen Hochschul- oder Fachhochschulabschluss. Politisch ist die Stichprobe als eher links orientiert zu bezeichnen: Gefragt nach ihrer Wahlabsicht bei der Bundestagswahl im September 2002, gaben 30% die Grünen an, 15% SPD, 12% PDS, 9% FDP und 8% CDU/CSU. Die Ergebnisse können somit keinerlei Anspruch auf demografische oder politische Repräsentativität erheben. Dies ist aber nicht allzu problematisch, da es uns nicht darum geht, Angaben über die Verbreitung bestimmter Verhaltensweisen oder Einstellungen in der Bevölkerung zu machen, sondern Zusammenhänge zwischen verschiedenen Merkmalen zu untersuchen.

Ausmaß politischen Engagements

Um das Ausmaß des politischen Engagements nach dem 11. September 2001 zu erfassen, haben wir die Teilnehmer/innen gefragt, ob sie bestimmte Tätigkeiten ausgeübt haben, „um ihre Solidarität mit den USA zu zeigen, ihre ablehnende Haltung zu Militäraktionen zu äußern oder ein besonnenes Vorgehen der USA zu fordern“. Es geht hier also noch nicht um friedenspolitisches Engagement, sondern um politisches Engagement im Allgemeinen. In Tabelle 1 (mittlere Spalte) sind die Zustimmungsraten dargestellt. Mehr als ein Viertel der Befragten hat auf einer Unterschriftenliste unterschrieben, weniger als 10% haben an eine/n Abgeordnete/n geschrieben.

Um friedenspolitisches Engagement für sich betrachten zu können, haben wir die Teilnehmer/innen anhand von fünf Fragen bzw. Aussagen zur Bewertung des Krieges in Afghanistan (z.B. „Die Militäraktion in Afghanistan halte ich im Großen und Ganzen für gerechtfertigt“) mittels Clusteranalyse in drei Gruppen unterteilt.2 Diese drei Gruppen lassen sich interpretieren als Kriegsgegner/innen (N = 503), Unentschlossene (N = 640) und Kriegsbefürworter/innen (N = 362). Die Gegner/innen und Befürworter/innen sind im Mittel etwas älter als die Unentschlossenen (33,0 und 33,6 vs. 30,0 Jahre). Außerdem gibt es Geschlechtsunterschiede: Bei den Befürworter/inne/n sind Männer klar überrepräsentiert, bei den Unentschlossenen Frauen.

Ebenfalls in Tabelle 1 (rechte Spalte) sind die prozentualen Häufigkeiten der verschiedenen Tätigkeiten nur für die Kriegsgegner/innen wiedergegeben. Die Nennungsraten sind deutlich höher als in der Gesamtstichprobe: Die Gegner/innen haben sich im Mittel deutlich stärker politisch engagiert als die Unentschlossenen und die Kriegsbefürworter/innen. Dies betrifft interessanterweise alle Tätigkeitsformen mit Ausnahme des Geldspendens (welches bei den Unentschlossenen zwar weniger, bei den Befürworter/inne/n aber weiter verbreitet ist als bei den Kriegsgegner/inne/n).

Die Ja-Antworten auf die sieben Fragen haben wir zu einem globalen Engagementwert aufsummiert, der die Anzahl der verschiedenen Tätigkeiten angibt. Diese Variable wird als »Intensität oder Ausmaß« des Engagements interpretiert und im weiteren Verlauf als vorherzusagende Variable verwendet. Bei den Kriegsgegner/inne/n liegt der Mittelwert dieser Variablen bei 1,70; die Standardabweichung beträgt 1,78. Der Mittelwert ist, wie wir bereits wissen, höher als in den anderen Gruppen, während sich die Unentschlossenen (M = 0,77) und die Kriegsbefürworter/innen (M = 0,84) nicht signifikant voneinander unterscheiden.

Bedingungen friedenspolitischen Engagements

Wir betrachten nun die 503 Kriegsgegner/innen für sich, um der Frage nachzugehen, wieso einige dieser Personen ihrer kriegsablehnenden Position aktiv Ausdruck verliehen haben, andere aber nicht.3 Dazu haben wir die in der Untersuchung erfassten Merkmale, Einschätzungen und Einstellungen zu dem Ausmaß des politischen Engagements in Beziehung gesetzt.

Zunächst zu einigen soziodemografischen Merkmalen. Hier bestehen keine signifikanten Zusammenhänge zwischen dem friedenspolitischen Engagement der Teilnehmer/innen und ihrem Bildungsstand, Einkommen, Geschlecht, beruflichen Status oder der Größe ihres Wohnortes. Tendenziell findet sich nur, dass ältere Teilnehmer/innen ein stärkeres Engagement gezeigt haben. Die fehlenden Zusammenhänge liegen möglicherweise daran, dass unsere Stichprobe in Hinblick auf persönliche Ressourcen eher homogen ist: Die Teilnehmer/innen verfügen insgesamt über eine hohe Bildung und – wie der Zugang zum Internet anzeigt, der ja in den meisten Fällen für die Teilnahme notwendig war – über gute Möglichkeiten zur Information und Kommunikation.

Im Folgenden werden einige psychologische Merkmale aufgeführt, die – im Gegensatz zu den soziodemografischen Merkmalen – statistisch hochsignifikante Korrelationen mit der Intensität des Engagements aufweisen.4 Die Merkmale lassen sich unterteilen in solche, die sich auf die konkrete Situation nach den Terroranschlägen beziehen, und solche, die allgemeiner sind.

Was die situationsspezifischen Merkmale betrifft, so geht friedenspolitisches Engagement zunächst mit aktivem, informationssuchendem Verhalten einher (z.B. gut über die politischen Entwicklungen auf dem Laufenden bleiben, sich Gedanken über die Ursachen und Folgen der Terroranschläge machen), was sich vielleicht als »private« Form von Engagement sehen lässt. Daneben kommen einige Merkmale als Ursachenvariablen für friedenspolitisches Engagement in Betracht. Das Engagement der Kriegsgegner/innen ist um so intensiver,

  • je stärker der Krieg abgelehnt wird und je eindeutiger bzw. weniger ambivalent diese Ablehnung ist;
  • je stärker egoistische strategische Motive der USA für den Krieg angenommen werden (z.B. sich Zugang zu Erdöl- und Erdgasquellen verschaffen, die Effektivität neuer High-Tech-Waffen erproben);
  • je stärker negative Folgen des Kriegs wahrgenommen werden (z.B. eine unkontrollierbare Gewalteskalation, riesiges Leid für unschuldige Menschen) und
  • je stärker verständigungsorientierte Maßnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus befürwortet werden (z.B. Stärkung internationaler Organisationen wie der UNO, verstärkter Dialog zwischen den Religionen).

Betrachtet man diese Merkmale in einer Regressionsanalyse zusammen, so hat die Wahrnehmung negativer Folgen des Krieges keine eigenständige Bedeutung mehr.5 Dies legt nahe, dass die Wahrnehmung negativer Folgen nicht direkt auf das politische Engagement wirkt, sondern vermittelt über die Eindeutigkeit der Bewertung des Krieges: Je schlimmer man die Folgen eines Militäreinsatzes beurteilt, desto klarer ist die Ablehnung des Krieges (vgl. dazu Cohrs, 2000, in Bezug auf den NATO-Krieg gegen Jugoslawien). Die anderen drei Einschätzungen können dagegen sehr plausibel als Ursachenvariablen interpretiert werden: Wenn man sich sehr sicher ist und keine Zweifel hat, dass der Krieg in Afghanistan politisch-moralisch falsch ist, und wenn man zudem bestimmte Annahmen darüber hat, aus welchen Gründen die USA den Krieg führen und was stattdessen besser gegen die Gefahr des Terrorismus getan werden sollte, ist man eher motiviert, sich politisch gegen den Krieg zu engagieren. Die gemeinsame Varianzaufklärung durch diese drei Variablen beträgt 13% (s. Anm. 3).

Auch in Bezug auf die weitergehenden Einstellungen finden sich konsistente Zusammenhänge. Das friedenspolitische Engagement der Teilnehmer/innen ist um so stärker,

  • je negativer die Außen- und Handelspolitik der USA im Allgemeinen beurteilt wird;
  • je stärker eine Unterstützung ärmerer Nationen in der Welt für wichtig gehalten wird;
  • je bedeutsamer einem die Menschenrechte erscheinen, je stärker ein universeller Geltungsanspruch der Menschenrechte angenommen wird und je stärker gegen Menschenrechtsverletzungen Stellung bezogen wird;
  • je stärker eine allgemeine pazifistische Grundhaltung vorliegt.

Die Ergebnisse können wiederum gut interpretiert werden: Personen, die der festen Überzeugung sind, dass die grundlegenden Menschenrechte äußerst bedeutsam sind und allen Menschen in der Welt uneingeschränkt zustehen, dass die USA und der Westen ihre Außen- und Wirtschaftspolitik so umgestalten müssen, dass den armen Ländern in der Welt faire Chancen eingeräumt werden, und dass Krieg im Allgemeinen ein ungeeignetes und illegitimes Mittel der Politik ist, sind eher motiviert, sich politisch gegen den Krieg in Afghanistan zu engagieren. In diesem Überzeugungssystem finden sich die drei bereits oben genannten Einschätzungen wieder, nur auf einer verallgemeinerten Ebene: Krieg ist politisch-moralisch abzulehnen, die Wirtschafts- und Außenpolitik der Krieg führenden Seite ist zu kritisieren und es gibt eine Vision, wie eine bessere globale Politik aussehen kann.

Die bisherigen Ergebnisse lassen streng genommen keinen Schluss auf kausale Zusammenhänge zu. Zwar ist plausibel, dass bestimmte Einschätzungen und ein bestimmtes Weltbild zum friedenspolitischen Engagement motivieren. Es könnte aber ebenso gut sein, dass sich die Menschen aus anderen Gründen politisch engagiert haben, z.B. weil sie über ihre Eltern und Freunde so sozialisiert worden sind. Auf diese Weise könnten sich eine entsprechende Gewohnheit oder eine Art Lebensstil entwickelt und entsprechende Überzeugungen stabilisiert haben. Tatsächlich findet sich in unserer Studie ein äußerst hoher Zusammenhang (r = 0,65) zwischen dem Ausmaß allgemeinen politischen Engagements für die Menschenrechte in den vergangenen fünf Jahren und dem friedenspolitischen Engagement nach dem 11. September 2001. Wenn man diese Variable in Rechnung stellt, werden dadurch einige der oben genannten Zusammenhänge überdeckt. Dies gilt insbesondere für die allgemeineren Merkmale. Dennoch bestehen weiterhin hochsignifikante Zusammenhänge mit einigen der spezifischen Einschätzungen, nämlich mit der Eindeutigkeit der Ablehnung des Kriegs in Afghanistan und dem Glauben an egoistische Motive der USA. Insgesamt werden so 42% der Unterschiede im Ausmaß des friedenspolitischen Engagements erklärt.

Fazit

Wie lassen sich die Ergebnisse interpretieren? Zunächst ist festzuhalten, dass friedenspolitisches Engagement gegen den Krieg in Afghanistan mit der allgemeinen Bereitschaft zum Engagement für die Beachtung der Menschenrechte einhergeht und in ein System von bestimmten Überzeugungen und Werten eingebettet ist. Diese Überzeugungen und Werte lassen sich als globalisierungskritisch und internationalistisch, menschenrechtsbejahend, militärkritisch und US-kritisch bezeichnen. Ob sie Ursachenvariablen für friedenspolitisches Engagement sind oder sich durch friedenspolitisches Engagement erst entwickeln oder stabilisieren, können wir auf der Basis der präsentierten Ergebnisse nicht sagen. Plausibel ist, dass es sich um einen sich wechselseitig bedingenden und verstärkenden Prozess handelt.

Die Ergebnisse zeigen aber, dass es eigenständige Effekte spezifischer Einschätzungen gibt, auch wenn man berücksichtigt, dass politisches Engagement zu großen Teilen gewohnheitsmäßig auftritt. Wenn man den Krieg in Afghanistan ohne Zweifel ablehnt und den USA egoistische strategische Motive für den Krieg unterstellt, ist man eher motiviert, sich gegen den Krieg zu engagieren. Diese Effekte glauben wir durchaus kausal interpretieren und auch verallgemeinern zu können, da sie mit bisherigen Erkenntnissen übereinstimmen. Erstens werden starke und konsistente Einstellungen eher in Verhalten umgesetzt als schwache Einstellungen (vgl. Zick, in Druck). Die Friedensbewegung könnte daraus folgern, dass es sinnvoll ist, nicht nur Unentschlossene zu kriegsablehnenden Haltungen zu bewegen, sondern auch Kriegsgegner/innen in ihren ablehnenden Haltungen zu bestärken.

Zweitens wird politisches Engagement durch das Vorhandensein eines Gegners oder Adressaten erleichtert (vgl. Simon & Klandermans, 2001). In diesem Fall sind das offenbar die USA, deren Politik kritisiert wird und denen unlautere Motive für den Afghanistan-Krieg unterstellt werden. Hieraus lässt sich jedoch nicht ohne Weiteres der normative Schluss ziehen, dass außen- und wirtschaftspolitische Interessen der USA als Motive für den Krieg herausgestellt werden sollten. Dies kann durch folgende Überlegung veranschaulicht werden: Hätte sich in unserer Studie durch eine große Gruppe rechtsextremer Kriegsgegner/innen ergeben, dass friedenspolitisches Engagement mit der Überzeugung einhergeht, die Anschläge vom 11.9.2001 seien ein legitimes Mittel gegen den Weltherrschaftsanspruch der USA, die ja auch im Zweiten Weltkrieg Unheil über die Welt gebracht hätten, würden wir daraus auch nicht schließen, dass eine solche Sichtweise gefördert werden sollte. Die Frage, ob es sinnvoll ist, die wirtschaftlichen Interessen der USA – und anderer Länder – zu kritisieren, um friedenspolitisches Engagement zu fördern, kann daher nicht allein auf der Basis der empirischen Ergebnisse beantwortet werden. Daneben ist zu berücksichtigen, inwieweit sich die Kritik tatsächlich objektiv untermauern lässt und welche positiven oder negativen »Nebenwirkungen« zu erwarten sind.

Literatur

Cohrs, J. C. (2000). Die Beurteilung des Kosovo-Kriegs im Kontext relevanten politischen Wissens. Wissenschaft und Frieden, 18 (4), 60-62.

Cohrs, J, C. (in Druck). Militarismus-Pazifismus als Einstellungsdimension. In G. Sommer & A. Fuchs (Hrsg.): Krieg und Frieden. Handbuch der Konflikt- und Friedenspsychologie. Weinheim: Beltz.

Cohrs, J. C., Kielmann, S., Maes, J. & Moschner, B. (2002): Befragung zum 11. September 2001 und den Folgen, Bericht über die zweite Erhebungsphase (Berichte aus der Arbeitsgruppe »Verantwortung, Gerechtigkeit, Moral«, Nr. 149). Trier, Universität, Fachbereich I – Psychologie.

Moschner, B. (1998): Ehrenamtliches Engagement und soziale Verantwortung. In B. Reichle & M. Schmitt (Hrsg.): Verantwortung, Gerechtigkeit und Moral. Zum psychologischen Verständnis ethischer Aspekte im menschlichen Verhalten (S. 73-86). Weinheim, Juventa.

Simon, B. & Klandermans, B. (2001): Politicized collective identity: A social psychological analysis. American Psychologist, 56, 319-331.

Preiser, S. (in Druck): Politisches Engagement für den Frieden. In G. Sommer & A. Fuchs (Hrsg.): Krieg und Frieden, s. o.

Zick, A. (in Druck.): Soziale Einstellungen. In G. Sommer & A. Fuchs (Hrsg.): Krieg und Frieden, s. o.

Anmerkungen

1) Die Abkürzungen in dieser und den folgenden Klammern bedeuten: M = Mittelwert, SD = Standardabweichung, N = Stichprobengröße, r = Korrelationskoeffizient.

2) Die Clusteranalyse ist ein statistisches Verfahren, mit dem Personen anhand der Ähnlichkeit bzw. Unähnlichkeit ihrer Antworten so zu Gruppen zusammengefasst werden, dass die Gruppen in sich möglichst homogen sind und sich möglichst stark voneinander unterscheiden. Es gibt verschiedene Kriterien zur Bestimmung der angemessenen Clusterzahl, die in unserem Fall übereinstimmend für die Unterteilung in drei Cluster sprechen.

3) Der ebenso relevanten Frage, wie sich kriegsablehnende (oder -unterstützende) Haltungen psychologisch erklären lassen, wird z.B. von Cohrs (2000, in Druck) nachgegangen.

4) Die absolute Höhe von Korrelationen kann zwischen 0 (= es gibt keinen Zusammenhang) und 1 (= es gibt einen perfekten Zusammenhang, d.h. aus der Ausprägung in dem einen Merkmal kann man die Ausprägung in dem anderen Merkmal perfekt vorhersagen) variieren. In unserem Fall bewegen sich die Korrelationen zwischen r = 0,16 und r = 0,25. Wenn man eine Korrelation quadriert, erhält man den Anteil erklärter Varianz. Damit ist der Anteil der Unterschiede in der einen Variablen gemeint, der auf Unterschiede in der anderen Variablen zurückgeführt werden kann. In unserem Fall werden je nach betrachteter Variable zwischen 2,6% und 6,3% der Unterschiede im friedenspolitischen Engagement aufgeklärt. Die Korrelationen sind damit trotz hoher statistischer Signifikanz nur mäßig stark.

5) Mit der Regressionsanalyse wird eine »abhängige« Variable (hier: das Ausmaß des friedenspolitischen Engagements) durch eine lineare Kombination mehrerer »unabhängiger« Variablen (hier: den spezifischen Einschätzungen) vorhergesagt. Wenn, wie hier, zwei unabhängige Variablen mit den selben Aspekten der abhängigen Variablen zusammenhängen, trägt eine der beiden Variablen nichts mehr zur Vorhersage der abhängigen Variablen bei.

Christopher Cohrs ist Dipl.-Psychologe und arbeitet an seiner Dissertation an der Universität Bielefeld. Dr. Barbara Moschner ist Dipl.-Psychologin und Professorin für Empirische Lehr- und Lernforschung an der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg. Dr. Jürgen Maes ist Dipl.-Psychologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Pädagogische und Angewandte Psychologie an der Universität Trier.

Antiterrorkampf – Ja! Irakrieg – Nein!

Antiterrorkampf – Ja! Irakrieg – Nein!

Gernot Erler im Interview mit Tobias Pflüger

von Gernot Erler und Tobias Pflüger

Im Bundestagswahlkampf gab es ein für Viele überraschend deutliches Nein der Bundesregierung zu einer Beteiligung an einem US-Krieg gegen den Irak. Nach der brüskierenden Reaktion der Bush-Regierung stellt sich die Frage, ob die deutsche Regierung diese Position einhalten kann, oder ob es zu einer indirekten Beteiligung kommt oder die Bundesrepublik bereit ist, an Stelle einer direkten Kriegsteilnahme, an anderem Ort den USA den Rücken frei zu halten. Tobias Pflüger befragte am 21. November den für internationale Politik zuständigen stellvertretenden Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion, Gernot Erler, der nach dem Natokrieg gegen Jugoslawien forderte, dass dieser Krieg kein Präzedenzfall werden dürfe.

Tobias Pflüger: Die Vorbereitungen für einen Krieg gegen den Irak laufen auf Hochtouren und es sieht alles danach aus, dass die US-Administration diesen Krieg auch führen will. Was sind Ihrer Ansicht nach die Gründe?

Gernot Erler: Die Gefahren, die aus Bagdad kommen, werden in den Vereinigten Staaten unter dem Begriff Terrorismus eingeordnet. Während in Europa befürchtet wird, dass eine kriegerische Auseinandersetzung im Nahen Osten die Gefahren durch den Terrorismus noch erhöhen könnte, statt sie zu verringern.

T. P.: Was halten Sie von der These, nach der es der US-Regierung um eine Durchsetzung eines Hegemonialanspruches und den Zugang zu Öl geht?

G. E.: Ich halte solche aus alten Imperialismustheorien abgeleitete Analysen solange für entbehrlich, solange man andere, näher liegende Erklärungen für die amerikanische Politik bringen kann.

T. P.: Aber selbst in der »Washington Post« wird die Frage nach Zugang zum Öl ganz offen diskutiert.

G. E: Ja, aber der ganze Aufbau der neuen amerikanischen Doktrin, z. B. auch in der »State-of-the-Union-Rede« des amerikanischen Präsidenten vom 29. Januar dieses Jahres, mit der Auflistung der »Achse des Bösen«, darunter auch der Iran und Nordkorea, weisen eigentlich in eine andere Richtung.

T. P.: Bleibt es bei der Ablehnung des Irakkrieges durch die Bundesregierung und durch die SPD?

G. E: Es bleibt bei der klaren Aussage, dass Deutschland sich an einem Irakkrieg nicht beteiligen wird. Das hat der Bundeskanzler eben noch mal auf dem NATO-Gipfel in Prag wiederholt.

T. P.: Jetzt wird ja ein Unterschied gemacht zwischen einer aktiven Beteiligung und einer indirekten Beteiligung. Was sagen Sie dazu?

G. E: Ich kenne niemanden, der diesen Unterschied macht. Es gibt eine klare Aussage Deutschlands zu dem Irakkrieg, aber gleichzeitig die Bereitschaft, zusätzliche Verantwortung im Kampf gegen den Terrorismus zu übernehmen, z. B. in Afghanistan, das ist konsequent. Wir sind ein verlässlicher Partner im Kampf gegen den Terrorismus, der auch militärisches Engagement einschließt, aber den Schwerpunkt auf politische, ökonomische und humanitäre Maßnahmen legt.

T. P.: Handelt es sich dabei nicht um Kompensationsleistungen?

G. E: Nein, diese Prioritätensetzung entspricht unserer Analyse. Wenn z.B. Afghanistan nicht zu einem Erfolgsfall wird und dort die Taliban und Al Qaida zurückkehren, die ja gegenwärtig versuchen, sich zu reorganisieren, dann wäre das eine viel gefährlichere Entwicklung als alles andere. Deswegen ist es konsequent und nicht etwa Substitution, sich dort zu engagieren.

T. P.: Das hat den Effekt, dass die Bundesrepublik nach den USA am zweitmeisten Soldaten im Auslandseinsatz hat. Sind bei diesem starken Engagement auch eigene Interessen im Spiel?

G. E: Nein, dieser Einsatz entspricht unserem Gesamtverständnis von Sicherheitspolitik. Der allergrößte Teil dieser Soldaten, nämlich 7.700, sind auf dem Balkan stationiert. Dort hat Europa die Aufgabe, weitere blutige Konflikte zu verhindern und die Region nach mehreren blutigen Konflikten zu stabilisieren, also regionale Sicherheit und regionale Stabilität zu organisieren. Wir glauben, dass weltweit solche Maßnahmen die Entstehung von Terrorismus eindämmen könnten.

T. P.: Der Richter am Bundesverwaltungsgericht Dieter Deiseroth hat in einer Analyse, die in der Frankfurter Rundschau veröffentlicht wurde, festgestellt, die Bundesregierung bewege sich, wenn sie einen Irakkrieg – durch die Gewährung von Überflug und Transitrechten – indirekt unterstützt, „am Rande eines Verfassungsbruchs“. (siehe Artikel in dieser Ausgabe von W&F: Dieter Deiseroth, US-Stützpunkte in Deutschland im Irak-Krieg – Zur geltenden Rechtslage, die Red.)

G. E.:Ich schätze die Arbeit von Herrn Deiseroth sehr, aber das Problem ist, dass wir im Augenblick Details von eventuellen amerikanischen Wünschen nicht kennen. Die Bundesregierung hat allerdings schon erklärt – im Zusammenhang mit den vorgetragenen Wünschen in Prag –, dass sie natürlich eine genaue Prüfung gerade dieser Aspekte vornehmen will. D. h. es müssen drei Dinge untersucht werden: Die Verfassungsfragen und die völkerrechtlichen Fragen und natürlich auch die Bündnisverpflichtungen. Dabei kann es passieren, dass die Bündnisverpflichtungen und die rechtlichen Fragen kollidieren. Deswegen ist eine sorgfältige Prüfung jedes konkreten Wunsches der amerikanischen Seite notwendig und genau dies hat die Bundesregierung angekündigt.

T. P.: Und was ist mit den derzeit schon laufenden Transporten? Über Ramstein, Spangdahlem und die Frankfurt Airbase – da habe ich es selber gesehen – werden gegenwärtig Soldaten und Kriegsmaterial transportiert, ganz offensichtlich in den Großbereich um den Irak.

G. E: Es ist völlig außerhalb der Möglichkeit der Bundesregierung, zu prüfen, zu welchen Zwecken die amerikanische Seite militärische Güter hin- und hertransportiert in einer Phase, in der sie sich nicht in einem Kriegszustand befindet. Das können genau so gut Materialien für Übungen sein oder für den normalen Austausch von Personal. Die Bundesregierung kann deshalb unmöglich, zu einem Zeitpunkt zu dem es noch keine kriegerischen Auseinandersetzungen gibt, den Hintergrund von solchen Flügen im Einzelnen untersuchen. Eine Verpflichtung dazu dürfte sich auch nicht aus der Verfassung oder dem Völkerrecht ergeben.

T. P.: Die Transporte haben ja sichtbar zugenommen. Gab es denn eine Anfrage bei der US-Regierung, was da so umfangreich transportiert wird?

G. E.: Davon ist mir nichts bekannt.

T. P.: Das wäre aber doch interessant oder würden Sie sagen, das kann man einfach so lange hinnehmen, solange der Krieg nicht läuft?

G. E.: Ich will noch einmal sagen, es gibt alle möglichen Bewegungen, die man beobachten kann. Die kann man aber genauso deuten als Aufbau eines Drohpotenzials, das möglicherweise die Durchsetzung einer UN-Resolution unterstützt und ihr Nachdruck verleiht. Im Falle einer Anfrage könnte es auch gut sein, dass da überhaupt nichts zu beanstanden wäre. Insofern sind Spekulationen darüber, ob es sich bereits um Vorbereitungen auf einen Krieg handelt, zwar ganz normal im politischen Raum, aber Sie sprechen hier ja von einer rechtlichen Wertung und da helfen Spekulationen oder Wertungen meines Erachtens nicht weiter.

T. P.: Am 15. November hat der Bundestag mit 573 zu 11 Stimmen bei 5 Enthaltungen den Einsatz von »Enduring Freedom« verlängert. Eingeschlossen in »Enduring Freedom« sind ABC-Abwehrsoldaten in Kuwait, Soldaten des »Kommando Spezialkräfte« (KSK) in Afghanistan, die Marine am Horn von Afrika und eine Reihe weiterer Einheiten. Peter Struck hatte ja während des Wahlkampfes versprochen, dass bei Beginn eines Krieges die ABC-Abwehrsoldaten aus Kuwait abgezogen werden sollen. Vor dem Bundestagsbeschluss wurde das wieder rückgängig gemacht und Joschka Fischer hat erklärt, es gehe um eine langfristige Stationierung. Es ist innerhalb von Militärexperten relativ unstrittig, dass die in Kuwait stationierten Kräfte bei einem Krieg gegen den Irak, einbezogen würden. Donald Rumsfeld meint, wenn es Zweifel gäbe, ob man diese ABC-Abwehrsoldaten da haben will, soll man sie doch einfach abziehen, bevor sie nur rumstehen. Ist Ihre Position nach wie vor die eines Abzugs dieser ABC-Abwehrsoldaten oder gibt es für Sie keinen Zusammenhang mit dem Irakkrieg?

G. E.: Der Bundestag hat eindeutig, schon bei seinem ersten Beschluss zu »Enduring Freedom«, die Grenzen gezogen und Bedingungen formuliert für die deutsche Beteiligung an »Enduring Fre edom«. Dazu gehört eine wasserdichte geographische Abgrenzung, die deutschen Soldaten im Kontext von »Enduring Freedom« dürfen nur in Afghanistan eingesetzt werden oder in einem Land, das ausdrücklich zustimmt. Sie dürfen keinen anderen Auftrag wahrnehmen, als eben eine Beteiligung an dieser Mission »Enduring Freedom«, die eine Antiterrormaßnahme ist, gegen die Täter des 11. September, ihre Organisation Al Qaida und die ehedem in Afghanistan die Regierung stellenden Taliban, die diese Organisation geschützt haben. D. h. schon von der Verfassung her ist ein Einsatz von Soldaten, die sich an »Enduring Freedom« beteiligen, an einer anderen Mission oder in einem anderen Szenario, z. B. an einem Irakkrieg, nicht möglich, bzw. erst dann möglich, wenn dies ausdrücklich vom deutschen Bundestag beschlossen würde. Was die ABC-Soldaten in Kuwait angeht, wird das gelegentlich dramatisiert. Tatsächlich stehen im Augenblick 6 Fahrzeuge, also diese Spürpanzer Fuchs, dort vor Ort, die von ca. 50 Soldaten gewartet, aber nicht eingesetzt werden können. Die Bedienungsmannschaften sind in einer so genannten 72-Stunden-Bereitschaft in Deutschland stationiert und müssten, wenn es zu einem Einsatz kommt, nach Doha transportiert werden. Das würde nur passieren, wenn ein Einsatz im Rahmen von »Enduring Freedom« in Frage käme und wenn es ein entsprechendes Ersuchen zum Einsatz dieser Panzer mit Labors gibt. Die Spürpanzer Fuchs, die die Möglichkeit haben, die Nutzung von B- oder C-Waffen zu analysieren und in einem begrenzten Umfang zur Dekontaminierung beizutragen, würden nur auf Anfrage in Zusammenhang mit der Mission »Enduring Freedom« eingesetzt. Insofern ist diese immer wieder beschworene Gefahr einer so genannten »mission creep«, also einer schleichenden Verwandlung eines Auftrags in einen anderen, kontrollierbar und begrenzbar. Es gibt insofern im Augenblick auch kein Schutzbedürfnis etwa, was den Abzug unserer Soldaten aus der Region erforderlich machen würde.

T. P.: Wenn das die Sachlage ist, warum hat dann Peter Struck im Wahlkampf gesagt, dass sie im Kriegsfall abgezogen werden müssen?

G. E.: Das muss man ihn selber fragen, was er damit gemeint hat, ich kann das schlecht für ihn beantworten. Aber es ist vielleicht dahinter der Wunsch gewesen, deutlich zu machen, dass es natürlich eine Vermischung von diesen beiden Aufgaben nicht geben kann und auch nicht geben darf, dass weder die Verfassung das zulässt, noch das Schutzgebot gegenüber den deutschen Soldaten. Es spielt inzwischen sicher auch eine Rolle, dass ein Abbruch zum jetzigen Zeitpunkt einen falschen Eindruck erwecken könnte. Den Eindruck nämlich, dass Deutschland nicht mehr bereit sei, in dem Umfang wie bisher verlässlicher Partner im Antiterroreinsatz zu sein. Aber gerade unsere Kontinuität in der Mitwirkung bei Maßnahmen, z. B. gegen Al Qaida und gegen die Restbestände der Taliban, sie macht den Unterschied klar, was das Nein zu einem Irakkrieg angeht. Es ist die Überzeugung der deutschen Politik, dass ein möglicher Irakkrieg Schaden anrichten wird bei der Bekämpfung des Terrorismus. In unserer Analyse könnte ein solcher Irakkrieg zur weiteren Rekrutierung von Terroristen führen und die Gefahr erhöhen, dass es zu neuen Aktivitäten von der Art des 11. September kommt. Die Konsequenz ist, dass man da, wo es sich eindeutig um Antiterroraktionen handelt, ein verlässlicher Partner bleibt, und das ist sicherlich auch ein Hintergrund dafür, dass Peter Struck heute die Auffassung vertritt, dass ein Abzug der Fuchs-Fahrzeuge aus Kuwait einen missverständlichen Eindruck hinterlassen könnte.

T. P.: Eine abschließende Frage zu diesen ABC-Abwehrsoldaten: Wenn der Irakkrieg los geht – die bisherigen Planungen sehen ja so aus – was passiert dann mit den Panzern? Bleiben diese dort?

G. E.: Im Falle eines Irakkriegs würde erst mal kein unmittelbarer Handlungszwang gegeben sein. Auch dann wäre die Reaktion eines demonstrativen Abzugs dieser sechs Fahrzeuge nicht angezeigt. Allerdings hat die Bundesregierung mehrfach darauf hingewiesen, dass sie eben nur im Sinne und im Rahmen des Mandates von »Enduring Freedom« eingesetzt werden können. Das würde z. B. heißen, dass ein Einsatz in dem Kuwait benachbarten Irak nur nach einer erneuten Befassung des Bundestags und mit der entsprechenden parlamentarischen Legitimation möglich wäre.

T. P.: Das im Rahmen von »Enduring Freedom« eingesetzte KSK (Kommando-Spezial-Kräfte) hat kurz vor Verlängerung des Mandates einen eigenen Einsatzsektor zugewiesen bekommen. Bisher war das ja so, dass sie nur in einer ersten Phase im Einsatz waren, und da stellen sich jetzt politische und auch rechtliche Fragen. Es gab mal ein Gutachten des Außen-, Innen- und Justizministeriums, das besagt, wenn die KSK-Soldaten Al Qaida Kämpfer jagen und gefangen nehmen, dass es dann juristisch hochproblematisch ist, wenn sie diese Gefangenen an die US-Soldaten abgeben, da in US-Gefangenschaft ein großer Teil der Häftlinge nicht als Kriegsgefangene behandelt und somit gegen das Kriegsvölkerrecht verstoßen wird. Wenn es einen eigenen Einsatzsektor gibt, stellt sich damit die Frage nach einem deutschen Kriegsgefangenenlager. Kommt es dazu und wie ist genau dieser Einsatz des KSK geplant?

G. E.: Bekanntlich sind die Einzelheiten des KSK-Einsatzes geheim zu halten aus Schutzgründen. Aber es ist ja bekannt, dass bisher die deutsche KSK-Einheit vor Ort keine Festnahmen vorgenommen hat. Also in der ganzen Zeit von »Enduring Freedom« gibt es keine Festnahme, und es ist auch nicht vorgesehen, dass es in Zukunft zu solchen Aktionen kommt. Die Hauptaufgabe dieser Spezialkräfte hat sich verändert: Wir haben es jetzt mit so genannten Restaktivitäten von Al Qaida-Verbänden und mit gewissen Reorganisationsbemühungen von Taliban-orientierten Gruppen zu tun. Das alles in einem sehr unwegsamen Gelände, vornehmlich an der pakistanisch-afghanischen Grenze. Die in dieser Region verbleibenden Spezialkräfte – auch aus anderen Ländern – nehmen vor allem die Aufgabe wahr, Bewegungen gegnerischer Kräfte zu beobachten und zu analysieren. Der Fall, dass Gefangene gemacht wurden und dann die Entscheidung anstand, was mit diesen passiert, ist in der ganzen heißen Phase des Kampfes gegen Al Qaida für das deutsche KSK nicht aufgetaucht, und deswegen ist es eher unwahrscheinlich, dass sie in der jetzigen Phase, auftaucht.

T. P.: Nach den Aussagen von Rudolf Scharping (als er noch Verteidigungsminister war, die Red.), die ja auch in den Medien wiedergegeben wurden, haben die KSK-Soldaten auch an Kampfhandlungen in vorderer Linie teilgenommen. Trifft das zu?

G. E.: Dazu kann ich keine Stellung nehmen aus den besagten Gründen der Geheimhaltung. Ich habe bisher nur Informationen weitergegeben, die bereits öffentlich gemacht worden sind.

T. P.: OK. Der dritte Bereich im Rahmen von »Enduring Freedom«, der – sagen wir mal – eine neue Dimension bekommen hat, ist der Einsatz der Marine am Horn von Afrika. Bisher war das »ein relativ ruhiger Einsatz«. Durch die Region, in der die Marine stationiert ist, werden aber jetzt eine ganze Reihe von Transporten so genannter »Hochwertfahrzeuge« laufen, Schiffe der US-Marine usw. Das macht natürlich den Einsatz um ein vielfaches gefährlicher. Haben die Bundeswehrsoldaten jetzt die Aufgabe, die entsprechenden Soldaten der US-Armee oder der britischen Armee zu begleiten und zu schützen oder was ist eigentlich die konkrete Aufgabe?

G. E.: Diese Aufgabe haben sie ausdrücklich nicht, denn auch hier gelten natürlich ausschließlich die Aufgaben von »Enduring Freedom« und die bestehen vor allen Dingen in der Kontrolle und der Registrierung von Schiffsbewegungen. Es gilt sicherzustellen, dass hier keine Schiffsbewegungen stattfinden, die eventuell unter der Kontrolle von Terroristen stehen, die Anschläge verüben könnten auf andere Schiffe. Beispiele dafür gibt es, wie der versuchte Anschlag auf den Tanker Limburg vor der jemenitischen Küste.

T. P.: Das heißt ein Geleitschutz ist nicht vorgesehen?

G. E.: Ein Geleitschutz ist nicht vorgesehen. Und es wird auch dazu nicht kommen, weil das nicht zu dem Auftrag von »Enduring Freedom« gehört.

T. P.: Abschließend noch eine Frage zum Nato-Gipfel…

G. E.: …ich würde gerne auch ungefragt noch etwas sagen.

T. P.: Bitte!

G. E.: Sie haben sehr detailliert zum KSK, zu Kuwait und zur Marine gefragt. Ich finde, ein bisschen unter geht dabei, dass nach wie vor der deutsche Beitrag zu »Enduring Freedom« erstens ein sehr begrenzter ist, was man schon daran sehen kann, dass von 3.900 als Obergrenze festgelegten Soldaten zur Zeit nicht mehr als 1.200 im Einsatz sind. Im Vergleich: Auf dem Balkan sind bis zu 7.700 Bundeswehrsoldaten im Einsatz. Das ist nur ein Teilaspekt im Verhältnis zu den anderen Aufgaben, die von Deutschland wahrgenommen werden, etwa bei der humanitären Hilfe oder etwa bei der ISAF, also dem Schutz der afghanischen Übergangsregierung, oder bei dem Wiederaufbau Afghanistans, mit der besonderen Rolle Deutschlands bei der Polizeiausbildung, beim Wiederaufbau eines Bildungswesens. Dort liegt der eigentliche Schwerpunkt der deutschen Beiträge im Kampf gegen den Terrorismus.

T. P.: Aber nicht finanziell.

G. E.: Doch, doch, auch finanziell.

T. P.: Gerhard Schröder nannte die Summe von 1,7 Mrd. € für alle Auslandseinsätze.

G. E.: In dem Bundestagsbeschluss steht eine Größenordnung von 307 Mio., die möglicherweise dieser Einsatz in einem Jahr kostet, ISAF eingerechnet. Wir haben schon weitaus mehr in den anderen Bereichen ausgegeben, und auch weitaus mehr Zusagen gemacht. Der Beitrag der Deutschen zu »Enduring Freedom« nimmt ganz überwiegend defensive Aufgaben war, in einem Umfang weit unter dem, was der Bundestag als Obergrenze gesetzt hat. Die eigentlichen deutschen politischen Prioritäten liegen aber ganz bewusst auf dem Post-Taliban-Prozess, auf dem Wiederaufbauprogramm im Rahmen des Stabilitätspakts Afghanistan und natürlich auch in dem Rahmen der Unterstützung und des Schutzes der afghanischen Interimsregierung.

T. P.: Das würde sich jetzt lohnen zu diskutieren. Aus Zeitgründen aber zurück zu meiner Frage: Beim Nato-Gipfel sind eine ganze Reihe von Fragen auf der Tagesordnung, u. a. die Frage einer eigenständigen Nato-Interventionstruppe…

G. E.: …der »Nato Response Force«.

T. P.: Ja, der Nato Response Force. Jetzt ist selbst bei der Nato formuliert worden, dass man ein bisschen Konkurrenz sieht zu der im nächstes Jahr einsatzbereiten – so ist es geplant – Truppe der Europäischen Union. Wie ist das mit den jeweiligen Kapazitäten? Stellt die Bundeswehr jeweils für die Nato-Truppe und für die EU-Truppe eigenständige Einheiten bereit?

G. E.: Nein, das werden in der Regel auch die anderen europäischen Nato-Staaten nicht tun. Das würde die Kapazitäten der europäischen Nato-Mitglieder übersteigen. Das Ziel ist eindeutig die Vermeidung von Dopplung und die Vermeidung von Parallelstrukturen. Es ist mehrfach klar gestellt worden, das Ganze geht nur in der Parallelität zu diesen so genannten »European Headline Goals«. Die »Rapid Reaction Force« der EU im Umfang von 60.000 Mann und die »Nato Response Force« mit 21.000 Mann werden nur funktionieren, wenn das so genannte »Single Unit System« eingeführt wird, d. h. es sind dann dieselben Einheiten, die für beide Aufgaben vorbereitet sind und die auch die gleichen Kommando-, Kontroll- und Intelligence-Fähigkeiten nutzen.

T. P.: Es ist ja im Rahmen des Nato-Gipfels von US-Seite vorgeschlagen worden, dass so was ähnliches wie die »National Security Strategy«, also die Bush-Doktrin, für die Nato gelten soll. Wolfgang Schäuble hat jetzt im Bundestag das Gleiche vorgeschlagen, man solle sich die Kernelemente dieser Strategie zu eigen machen, z. B. sogenannte Präventivkriege. Die Bundesregierung hat bisher keine Position bezogen. Wurde da der Nato-Gipfel nur abgewartet?

G. E.: Die Nato hat auf dem Prager Gipfel ein ganzes Stück Arbeit geleistet, sieben neue Mitglieder aufgenommen, Aufträge vergeben zur Vorbereitung zu dieser »Response Force« und auch noch eine Resolution verabschiedet, die sich voll und ganz hinter die UNO-Resolution in Sachen Irak stellt. Ich kann nicht erkennen, dass hier auch eine Strategiedebatte geführt wurde. Die Nato hat sich ja erst auf ihrem letzten Gipfel ausführlich mit der eigenen Strategie beschäftigt. Ich denke schon, dass jede Änderung der amerikanischen Doktrinen eine mittelfristige Auswirkung auf die Strategiedebatte der Nato hat. Es wird eine Auseinandersetzung geben in der internationalen »Defence Community«, also den Leuten, die sich mit Sicherheit und internationaler Politik weltweit beschäftigen. Eine einfache Übernahme dieser Doktrin, die übrigens eine sehr amerikanische Doktrin ist und also so eins zu eins gar nicht Nato-Doktrin werden könnte, steht nicht zur Debatte. Hindernisse, wie der Parlamentsvorbehalt in Deutschland, würden das sowieso ausschließen, aber das ist eher eine Einzelheit in diesem Kontext. Dementsprechend ist auf dem Prager Gipfel auch nichts in dieser Richtung beschlossen worden. Vielleicht gab es am Rande des Gipfels Gespräche zu diesem Thema.

T. P.: Also mittelfristig kommt das?

G. E.: Mittelfristig wird die Debatte kommen. Aber die Debatte wird nicht damit enden, dass die Nato die Doktrin der Amerikaner übernehmen wird. Die Debatte kann genauso gut dazu führen – auch im Lichte der Ereignisse der nächsten Monate –, dass eine völlig andere Diskussion stattfindet. Es gibt in dieser neuen US-Doktrin übrigens auch einige sehr interessante, multilateral ausgerichtete Punkte. Auch zeigt der Vorschlag der Amerikaner, eine »Nato Response Force« zu schaffen, dass Amerika sich wieder stärker auf multilaterale Strukturen und damit auch multilaterale Diskussionen einlässt. Insofern bietet er die Möglichkeit, nun im künftigen Rahmen von 26 Mitgliedern Strategien zu diskutieren. Das ist besser als Alleingänge, vor denen Deutschland immer gewarnt hat.

T. P.: Herr Erler, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.

Gernot Erler, Mitglied des Deutschen Bundestages seit 1987, dort ist er stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion, verantwortlich für Außenpolitik, Sicherheitspolitik, Menschenrechte und Entwicklungspolitik. Tobias Pflüger ist Redakteur von W&F und im Vorstand der Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V.

Islamismus und Terrorismus

Islamismus und Terrorismus

Entgegnungen zu Claudia Haydt

von Werner Thiede

Seit dem 11. September 2001 erfährt Religion als »Brennstofflieferant« für Prozesse kollektiver Gewalt erhöhte Aufmerksamkeit. Die Berechtigung solcher Aufmerksamkeit hatte der Theologe W. Thiede in W&F 1/02 vor allem mit Blick auf den Islam unterstrichen. In W&F 2/02 kritisierte die Religionswissenschaftlerin C. Haydt entschieden diese Blickführung und forderte mehr Selbstkritik. Dazu merkt Thiede im vorliegenden Beitrag mit Nachdruck einige »Richtigstellungen« an. Aus der Sicht der Redaktion fehlt bisher eine muslimische Stimme; auch könnte vielleicht ein stärker objektivierender Ansatz weiter führen.
Die Redaktion hatte mich seinerzeit nicht nur als Autor eingeladen,1 sondern auch einen kritischen Folgebeitrag angeregt. Den hat nun Claudia Haydt aus dem erweiterten Vorstand von W&F selbst geschrieben.2 Allerdings beinhaltet ihre Kritik über Meinungsverschiedenheiten hinaus etliche Fehlwahrnehmungen und polemische Verzerrungen meiner Position, die nicht unwidersprochen bleiben können. Mit den folgenden knapp gefassten Ausführungen in zehn Punkten möchte ich zugleich weitere Informationen für eine differenziertere Perspektive auf die so ernste Thematik liefern.

  1. 1. Frau Haydt behauptet, ich hätte unterstellt, die Aggression gehe allein von „den anderen“ aus. „Kein Wort“ habe sie gefunden über die Schuld bzw. Schwächen der westlichen Haltung! Tatsache ist indessen, dass ich eigens unterstrichen habe, nicht dahingehend missverstanden werden zu wollen, als wäre „die abendländische Politik gegenüber islamistisch geprägten Ländern stets frei von Fehlern gewesen“ (a.a.O., S. 30). Allerdings war diese schwierige Frage in der Tat nicht mein Thema gewesen; insofern begrüße ich durchaus Haydts diesbezügliche Ausführungen als sinnvolle Ergänzung zu meinem umfangmäßig von vornherein begrenzten Artikel.
  2. 2. Die Unterstellung, ich hätte Interesse an der Konstruktion von Feindbildern, weise ich entschieden zurück. Ausdrücklich habe ich formuliert: Der „Dialog der Religionen ist jedenfalls zu begrüßen, wenn er ihre Vertreter authentisch sein lässt“ (a.a.O., S. 32). Der namhafte Göttinger Politologe und Islamexperte Bassam Tibi allerdings war es, der – mit kritischem Seitenblick auf Hans Küng – zur notwendigen Unterscheidung zwischen möglichen Dialogpartnern auf islami(sti)scher Seite aufgefordert hat. Und hinsichtlich der Moschee in Pforzheim, deren Name auf den Eroberer von Konstantinopel anspielt, hat er unterstrichen: „Als ein liberal orientierter Muslim halte ich es für höchst bedauerlich, wenn die islamische Gemeinde in Pforzheim sich ausgerechnet auf die Tradition der Bedrohung besinnt, indem sie die dortige Großmoschee al-Fatih genannt hat. Ich wundere mich nicht, daß diejenigen, die verstehen, was der Moschee-Name bedeutet, Angst bekommen. Das ist kein Feindbild Islam, sondern nackter Realismus.“3 Analysen dieser Art müssen erlaubt sein, ob sie nun aus muslimischer, christlicher oder sonstiger Feder stammen.
  3. 3. Haydt unterschiebt mir zu Unrecht die abwegige These, es gebe „den Glauben an die Verbalinspiration der Heiligen Schriften nur noch im islamischen Fundamentalismus“. Tatsache ist vielmehr, dass ich ausdrücklich geschrieben habe: „Sofern christliche Fundamentalisten oder christliches Sektierertum die Bibel einflächig lesen, tun sie das sozusagen gegen ihren Strich und gegen alle hermeneutische Vernunft“ (a.a.O., S. 32). Ob nicht „ideologischer Nebel“, wie ihn Frau Haydt mir als christlichem Theologen attestieren zu müssen meint, ihre eigene Wahrnehmung etwas getrübt hat?
  4. 4. Die Religionswissenschaftlerin bestreitet meine Aussage, dass der Islam als Weltreligion „wie keine andere zur Identifizierung von Religion und Politik neigt“. Einen Gegenbeweis bleibt sie schuldig; stattdessen diagnostiziert sie bei mir Blindheit gegenüber zivilreligiösen Vermischungen in der westlichen Kultur. Diese polemische Unterstellung weise ich zurück. Der Tatbestand jener abendländischen Vermischungen ändert nichts daran, dass die Verbindung von Religion und Politik im Bereich des Islam unübertroffen ist. Dementsprechend unterstreicht Bassam Tibi, dass sich unter den Fundamentalismen der Weltreligionen die direkte Verbindung von politischer Religion und Weltpolitik allein im besonderen Fall des Islam beobachten lässt!4
  5. 5. Frau Haydt unterstreicht die Wichtigkeit der Wirkungs- bzw. Überlieferungsgeschichte von Religionen, um mir zugleich »ahistorischen« Pauschalismus vorzuwerfen. Blicken wir also genauer in die Geschichte zurück! Die Interpretation des Dschihad im Sinne eines Heiligen Krieges lässt sich nach Haydt „nur für die expansive islamische Anfangszeit aufrecht erhalten“. Das zunächst darf man allerdings nicht kleinreden: Historisch ist – vielleicht doch etwas überspitzt – die Konstituierung Europas als »christliches Abendland« mitunter geradezu als Reaktion auf die islamische Expansion von Arabien in den Mittelmeerraum verstanden worden.5 Einige Historiker weisen darauf hin, dass der Dschihad über 300 Jahre älter war als die christlich verantworteten Kreuzzüge (welche ganz im Unterschied zum islamischen Dschihad immerhin ein ganzes Jahrtausend von den religiösen Ursprüngen trennt!), und dass deren Ursachen indirekt zum Teil sogar im islamischen Dschihad zu suchen seien!6 (Das vermag ich letztlich nicht zu beurteilen; und entschuldigen lässt sich damit das traurige Faktum der Kreuzzüge natürlich keineswegs.)
  6. 6. Was den islamistischen Dschihad in unserer Zeit angeht, so lehrt C. Haydt diesbezüglich: „Terror ist im Gesamtspektrum des Islamismus ein relativ marginales Phänomen“ (a.a.O., S. 68). Was heißt hier »relativ marginal«? Im Blick auf die Opfer des 11. September, die körperlich und psychisch Betroffenen, und im Blick auf die Opfer islamistischen Terrors in anderen Ländern dieser Welt klingt solche Quantitätsanalyse zynisch. Und weiß die Religionswissenschaftlerin, dass in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts eine in Ägypten verfasste Dissertation des blinden Studenten Omar Abder Rahman über diesen Begriff ihre Wirkung tat? Jene umfangreiche Studie versucht nachzuweisen, dass sich nur ein einziger Sinn von Dschihad auf den Propheten selbst zurückführen lasse, der militante!7 Noch einmal Bassam Tibi: „Islamisten unserer Gegenwart meinen mit Djihad ‚Kriegsführung gegen Ungläubige’; und wenn sie den Begriff zur Bezeichnung ihrer Gruppen heranziehen (z.B. Djihad Islami in Palästina, Djihad in Ägypten), dann lassen sie keinen Zweifel daran, daß sie Terror im Sinn haben.“8 Es ist also nichts mit der These, Dschihad im Sinne eines Heiligen Krieges lasse sich „nur für die expansive islamische Anfangszeit aufrecht erhalten“.
  7. 7. Wer Haydts Artikel liest, dem sticht als Zwischenüberschrift ins Auge: „Islamismus ist nicht identisch mit Terrorismus“. Sie erweckt damit den falschen (erst später im Textverlauf korrigierten) Eindruck, als hätte ich in meinem Artikel Gegenteiliges behauptet. Dass die Dinge aber tatsächlich auch in umgekehrter Richtung nicht so einfach liegen, lässt sich unter Verweis auf einschlägige Koran-Sätze verdeutlichen. Man meditiere Sure 9,112: „Allah hat von den Gläubigen ihr Leben und ihr Gut für das Paradies erkauft. Sie sollen kämpfen in Allahs Weg und töten und getötet werden.“ Einen womöglich zum Terrorismus ermutigenden Klang hat das Gotteswort: „Wahrlich in die Herzen der Ungläubigen werfe ich Schrecken. So haut ein auf ihre Hälse und haut ihnen jeden Finger ab“ (8,12).9 Wenige Sätze später soll den Kämpfern spirituelle Entlastung verschafft werden durch die Beteuerung: „Nicht ihr habt sie getötet, sondern Gott hat sie getötet.“ Darf und soll man unter Verweis auf den geschichtlichen Kontext10 derartige Sätze in der islamischen Heiligen Schrift relativierend deuten? Jedenfalls leben wir in einer Zeit, in der solche Relativierung mancherorts fundamentalistisch abgelehnt wird!11
  8. 8. Meine differenzierten Ausführungen zum Thema Dschihad ergänzt Frau Haydt um die Gegenthese: „Seine Dynamik erhält der Islamismus nicht aus einem Weltherrschaftsanspruch des Islam, sondern aus erlebten Ungerechtigkeiten und Asymmetrien.“ Hier wird eine unhaltbare Alternative aufgemacht. Tatsächlich lässt sich der von mir benannte Weltherrschaftsanspruch nicht bestreiten. Im Unterschied zum Christentum, das seine politisch-universalistischen Ansprüche erst im Mittelalter formuliert und im Übrigen längst wieder aufgegeben hat, ist der Islam von Beginn an auf Universalismus aus gewesen; ich verweise dazu auf Experten wie Adel Theodor Khoury, Hans Zirker u.a.12
  9. 9. Haydt betont den Koran-Vers „Es gibt keinen Zwang in der Religion“ (Sure 2,256) – und stellt ihn in christentumskritische Nachbarschaft zum neutestamentlichen Missionsbefehl, den sie von seiner teilweise unglücklichen Wirkungsgeschichte her versteht, statt von seinem exegetisch eindeutigen, nämlich gewaltfreien Sinn her. Bezeichnenderweise übergeht sie dabei, dass ich bereits selbst unter Anführung von Suren-Belegen die Bereitschaft des Koran, einen Pluralismus von Religionen hinzunehmen, vermerkt habe. Sie übergeht aber auch islamistische Intoleranz, wie sie z.B. Scheich al-Ghazali als bedeutsamer geistiger Führer des Islamismus mit der Forderung repräsentierte, ein Muslim müsse straffrei ausgehen, wenn er einen vom Glauben Abtrünnigen töte! Im übrigen sollte m.E. dort, wo die islamische Toleranz hervorgehoben wird, der traurige Sachverhalt massiver Beeinträchtigungen und Exzesse beispielsweise gegenüber Christen und Bahá’í in einigen islamisch-nationalistisch geprägten Ländern in neuerer Zeit nicht einfach verschwiegen werden.13 Mit diesen Hinweisen wird kein »Feindbild Islam« heraufbeschworen, wohl aber einem einseitig idealisierenden Bild vom Islam widersprochen.
  10. 10. Frau Haydt kreidet mir einen »essenzialistischen« Religionsbegriff an, während sie einen funktionalen vorzieht. Nun ist gerade der funktionale Religionsbegriff dazu geeignet, die Wahrheitsfrage zu verwischen. Dass ich aber als christlicher Theologe in der Regel einen inhaltlich orientierten Begriff von Religion präferiere, nämlich einen, der sich der Wahrheitsfrage stellt, das verbindet mich mit muslimischen Theologen. Damit soll freilich keineswegs grundsätzlich das Recht eines funktionalen Religionsbegriffs bestritten sein, der sich methodisch zur Erhellung mancher Aspekte eignet, wie Haydts Beitrag durchaus deutlich macht.

Anmerkungen

1) W. Thiede (2002): Religiöse Hintergründe des Terrors. Wissenschaft und Frieden, 1-2002, S. 29-32.

2) C. Haydt (2002): Religion, Islam, Christentum und Terror. Wissenschaft und Frieden, 2-2002, S. 66-68.

3) B. Tibi (2001): Kreuzzug und Djihad. Der Islam und die christliche Welt. München, S. 149; vgl. S. 203f. zu H. Küng.

4) Vgl. B. Tibi (2000): Fundamentalismus im Islam – Eine Gefahr für den Weltfrieden? Darmstadt; ferner A. Meier (1994): Der politische Auftrag des Islam. Programme und Kritik zwischen Fundamentalismus und Reformen. Originalstimmen aus der islamischen Welt. Wuppertal.

5) Vgl. Tibi, Kreuzzug, a.a.O., S. 102.

6) Z.B. H.-E. Mayer (19897 ): Geschichte der Kreuzzüge. Stuttgart.

7) Siehe M. Pohly und K. Durán (2001): Osama bin Laden und der internationale Terrorismus. München, S. 21.

8) Tibi, Kreuzzug, a.a.O., S. 52; vgl. jetzt auch U. Ulfkotte (2002): Propheten des Terrors. Das geheime Netzwerk der Islamisten. München.

9) Man höre anbei Martin Luthers Klage über den Gott der Türken: Es sei „das meiste und furnemest werck ynn seinem Alkoran das schwerd“ (Luther: Weimarer Ausgabe Bd. 30/II, S. 107-148, hier S. 129).

10) Zu berücksichtigen ist hierbei: „Die historisierende Sicht des Korans, die europäische Forscher erarbeitet haben, wird von gläubigen Muslimen fast stets als irrtümlich, ja blasphemisch empfunden.“ (H. Vocke (2001): Abu Lahab war ein Bösewicht. Was Muslime wirklich über andere Religionen denken. Rheinischer Merkur 48, S. 26).

11) Vgl. A. Manutscharjan (2001): Der »Heilige Krieg« im Internet. In R. Zewell (Hrsg.), Islam – die missbrauchte Religion… oder Keimzelle des Terrorismus? München, S. 66-69; siehe ferner W. Sofsky (2002): Zeiten des Schreckens. Amok, Terror, Krieg. Frankfurt/M.

12) A. T. Khoury (1991): Fundamentalismus im heutigen Islam. In H. Kochanek (Hrsg.), Die verdrängte Freiheit. Freiburg i. Br., S. 266-276, bes. S. 268; H. Zirker (1993): Islam. Theologische und gesellschaftliche Herausforderungen. Düsseldorf, S. 233f.; Tibi, Kreuzzug, a.a.O., S. 43.

13) „Wo immer jedoch der Islam nationalistisch wurde, wurden Christen auch verfolgt…“, vermerkt F.-W. Kantzenbach (1986): Art. Christenverfolgungen. In Evang. Kirchenlexikon Bd. 1. Göttingen, S. 670-676, hier S. 674.

Dr. Werner Thiede ist Privatdozent im Fach Systematische Theologie an der Theologischen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.

Kampf gegen den Terrorismus?

Kampf gegen den Terrorismus?

Worum es bei der jüngsten Konflikteskalation geht

von Rainer Zimmer-Winkel

Der lange Schatten des 11. September und die sich daran entzündende internationale Debatte um den »Kampf gegen den Terrorismus« liefern der israelischen Regierung unter Ariel Sharon den willkommenen Rahmen und das propagandistische Instrumentarium für ihre rüde Herr-im-Hause-Politik gegenüber den Palästinensern. Nach Rainer Zimmer-Winkel handelt es sich aber im Wesentlichen um eine konsequente – und fatale – Fortsetzung der schon von Ehud Barak initiierten Anstrengungen, die unvermeidlichen schmerzhaften Kompromisse hinauszuzögern, um den Traum von Groß-Israel vielleicht doch nicht aufgeben zu müssen.
Wer einmal in den letzten Monaten den Amtsitz von Yassir Arafat, dem Ra’is der Palästinensischen Autonomiebehörde und palästinensischen Präsidenten, besucht hat, wird in der Erinnerung versucht sein, eher an ein surreales Gemälde, an eine kafkaeske Situation zu denken, als an den Besuch bei einem Nobelpreisträger, der an der Spitze der Exekutive eines »Staates im Werden« steht: Die Szenerie wirkt gespenstisch. Vorbei an Panzern, patrouillierende israelische Soldaten rechter Hand, zerbombte Häuser linker Hand, herabhängende Betonteile flimmern in der Hitze…, über leergeräumte Bereiche geht es zum letzen Rest, zum »Amtssitz«, zur Mukatar… Sandsäcke, einige Soldaten, eiserne Schießstände, gespannte Ruhe, freundlicher Empfang, man zwängt sich durch schmale Gänge, vorbei an ein paar Jugendlichen mit Waffen, und gelangt in das Arbeitszimmer des Präsidenten…: Ein Staat im Werden, wie einst die Vision hieß, die mit dem Namen Oslo verbunden ist?

Besatzungsregime im Schatten des 11. September

Der israelische Ministerpräsident Ariel Sharon hat vor einiger Zeit in einem Interview bekannt, es zu bedauern, daß Arafat 1982 in Beirut nicht getötet worden sei. Drinnen im Bunker spricht der Ra’is vom „Frieden der Tapferen“, zu dem er sich zusammen mit Rabin entschieden habe, und von dem schmerzhaften Weg, der dorthin geführt habe.

Minister der israelischen Regierung fordern offen den „Transfer der Araber“ aus»Erez Israel«, dem Land Israel; Plakate überall in Israel sekundieren: „Transfer = Sicherheit und Frieden“. Ein Vertragspartner wird vor den Augen der Welt zuerst verbal demontiert, dann wird physisch nachgeholt: Mit der Zerschlagung der Autonomie, der Zerstörung ihrer politischen Infrastruktur.

Neun lange Jahre hat die Palästinensische Autonomie (PA) versucht, den Spagat zwischen den eigenen nationalen Aspirationen, den Hoffnungen der eigenen Bevölkerungen und den Forderungen der israelischen Seite auszuhalten. Außer Briefmarken und einem der größten Kabinette der Welt – pro Kopf der Bevölkerung gerechnet – hat die PA heute wenig anzubieten, so die innerpalästinensische Kritik. Die ökonomische Situation der Menschen ist schlechter als jemals zuvor. Nach dem neuesten Bericht von UNICEF1 leiden etwa 20% der palästinensischen Kinder an Unterernährung; die Arbeitslosigkeit läßt sich kaum noch beziffern, liegt aber bei etwa 2/3 der arbeitsfähigen Bevölkerung; Bewegungsfreiheit zwischen Dörfern und Städten gibt es schon lange nicht mehr; das Recht auf freie Religionsausübung ist faktisch aufgehoben; eine palästinensische Polizei, sei es zur Verkehrsregelung oder zur inneren Sicherheit, hat aufgehört zu existieren.

Die Angst vor Terroranschlägen läßt die Fußgängerbereiche in Tel Aviv leer werden. Cafés stellen Wächter vor die Türen, Busbahnhöfe verwandeln sich in Hochsicherheitstrakte ähnlich wie Flughäfen. Und dennoch gelingt es Palästinensern in der Cafeteria der Hebräischen Universität in West-Jerusalem wie auf dem Weg nach Safad/Zefat Sprengstoffanschläge zu verüben.

Wie lautet die Antwort der amtierenden israelischen Regierung, deren Spitze, Ministerpräsident Ariel Sharon, zum Amtsantritt versprochen hatte, binnen hundert Tagen für Ruhe an der palästinensischen »Front« zu sorgen? Die Institutionen der palästinensischen Behörden werden bombardiert (oder gesprengt, wie zum Beispiel in Hebron), besonders die Gebäude der Sicherheitsdienste; die Infrastruktur der besetzten und ehemals teilautonomen Gebiete wird zerstört (wie beispielsweise der Flughafen in Gaza, zahlreiche Straßen und vieles andere mehr); die Städte werden zuerst belagert, eingeschnürt, dann wieder besetzt, tageweise oder wochenlang; Flüchtlingslager werden durchkämmt, Ausgangssperren verhängt, wirtschaftlicher Austausch wird unterbunden; Tausende werden verhaftet (oder genauer: einfach festgesetzt); unzählige Olivenbäume werden vernichtet, Äcker verwüstet – und nicht zuletzt wird in gezielten und geplanten Aktionen politisches Führungspersonal der palästinensischen Seite ermordet (»extralegale Hinrichtungen«). Gerade diese letzte Maßnahme ist, jenseits ihrer moralischen und völkerrechtlichen Dimension, ein probates Mittel, Kompromißbereitschaft und Verhandlungswillen auf der palästinensischen Seite dauerhaft zu schwächen und die militanten und gewaltbereiten Gruppen unter Zugzwang zu setzen.

Ariel Sharon, ein israelischer Politiker mit einer langen und zum Teil außerordentlich blutigen Biographie, hat in seinem Land zwei Ehrentitel (oder Spitznamen): »Vater der Siedlungen« und »Bulldozer«. Beide Namen werfen ein signifikantes Licht auf die politische Persönlichkeit des Regierungschefs, beide Begriffe geben auch Hinweise darauf, was dieser Mann will. Die zionistische Landnahme, das Projekt der Errichtung eines jüdischen Staates im historischen Palästina, ist für ihn noch immer nicht abgeschlossen. Träumt er also weiter von einem »Groß-Israel«, wie es einige Falken von den rechtsnationalistischen und extremen Gruppen in seiner Regierung wünschen? Oder ist er so pragmatisch, die demographischen und politischen Wirklichkeiten anzuerkennen und verzögert er nur das auch ihm Unvermeidliche? Will er ein »Palästina«, das den Namen Staat trägt, ohne die Vorraussetzungen dafür zu erfüllen, verschiedene Bantustans also, Enklaven, die jederzeit abzuschließen wären?

In seiner Rede an die Nation vom 21. Februar 2002 schlug Sharon sog. Pufferzonen um die palästinensischen »Autonomiegebiete« vor, die Israels Sicherheit gewähren sollten. Die so entstehenden palästinensischen »homelands« böten – umgeben von der israelischen Armee – den enormen Vorteil, daß die Siedlungen nicht aufgegeben werden müßten, erhielte eine solche Regelung die Zustimmung der palästinensischen Seite. Ohne genau angeben zu können, was sich dann als »Staatsgebiet« Palästinas herausstellen würde, dürfte es sich um ein Gebiet etwa in der Größenordnung von 40% der Gebiete handeln – 40% von 22% des Mandatsgebietes. Im Kern der Auseinandersetzung geht es deutlich um die Frage, ob es in Israel eine politische Mehrheit dafür gibt, dem Staat im eigenen Selbstverständnis (endlich) anerkannte Grenzen zu geben und die Nationalbewegung der Palästinenser nicht nur als Erfüllungsgehilfen der eigenen politischen Bedürfnisse anzusehen, sondern als gleichberechtigten Partner.

Sharon und seiner Regierung scheint es im Zuge der internationalen und insbesondere us-amerikanischen Debatte nach dem 11. September gelungen zu sein, einen Konnex zwischen der Bekämpfung integrationalistischer islamischer Strömungen und der Besetzung Palästinas durch die eigene Armee herzustellen. Dabei konnte Israel ohne Zweifel an tief sitzende, wenig artikulierte, aber dennoch wirkmächtige Vorbehalte, besonders in den USA gegenüber den Palästinensern und ihrer politischen Spitze, Yassir Arafat, anknüpfen. Der PLO, als einer der (politisch) erfolgreichsten Befreiungsbewegungen im Zuge der Dekolonisierungsbewegung, war es zwar gelungen, weitgehende internationale Anerkennung zu finden; in den Vereinigten Staaten jedoch blieb ihre Position immer schwächlich – ein Umstand, der es Georg W. Bush sehr erleichtert hat, seine unausgewogene, kurzsichtige (und an den nicht erreichten Idealen seines Vaters orientierte) Politik zu realisieren.

Intifada und »Islamischer Terrorismus«

Welchen Hintergrund aber hat die sog. Intifada II, die Jerusalem- oder Al-Aqsa-Intifada? Was verbindet, was trennt sie von der Debatte um den sog. islamischen Terrorismus? Als am 28. September 2000 der damalige Oppositionschef Ariel Sharon in Begleitung Tausender Sicherheitskräfte seinen »Besuch« auf dem Haram as-Sharif, dem sog. Tempelberg, machte, verstieß dieser Besuch nicht allein gegen die orthodox-religiöse Anordnung, derzufolge Juden das Betreten dieser Stätte untersagt ist, liefen sie doch Gefahr, den Ort des antiken Allerheiligsten zu betreten; er erweckte vor allem – sicher bewußt und absichtsvoll – den Eindruck, diese heilige Stätte des Islam anzutasten.

Die auf diesen Besuch folgenden Unruhen waren ungleich heftiger als die bei Öffnung des sog. Tunnels wenige Jahre zuvor schon blutig ausgebrochenen. Innerhalb zweier Monate starben 212 Palästinenser, nicht zuletzt aufgrund völlig unangemessener, auf Eskalation statt auf Deeskalation angelegter Reaktionen der israelischen Sicherkräfte auf die Proteste der Palästinenser. Eine Reihe von Beobachtern, auch in Israel, sah in den Unruhen und der israelischen Reaktion eine gerade Linie seit dem Ende der Camp-David-II Verhandlungen wenige Monate zuvor.2Nachdem es dort Barak gelungen war – nicht zuletzt mit Hilfe des US-amerikanischen Präsidenten Clinton –, das Ende oder Scheitern des hastig und schlecht vorbereiteten Gipfels in die alleinige Verantwortung Arafats zu schieben, war es nur noch eine Frage der Zeit, wann die angespannte Stimmung explodieren würde.3 Denn damit begann eine Kette von Maßnahmen, die zum Ziel hatten, nicht allein Arafat zu diskreditieren, sondern in der israelischen Öffentlichkeit den Eindruck zu erwecken, das Land habe auf der »anderen Seite« keinen Partner für Frieden mehr.4 Sharon hat diese Linie konsequent fortgesetzt und mit seinem unseligen Vergleich zwischen Arafat und Saddam Hussein den Höhepunkt eines politischen Verbalattentats erreicht.5 Psychologisch wurde damit das Fundament dafür gelegt, daß heute in Israel zwei Drittel der Menschen Frieden wollen, aber zugleich eine ähnlich hohe Zahl hinter der »harten« Politik der Regierung Sharon steht. Die (internationale) Debatte um den sog. Kampf gegen den Terrorismus lieferte dazu den willkommenen Rahmen und das nötige Vokabular.Mit dem Besuch Sharons auf dem Haram/Tempelberg wurden die Möglichkeiten einer symbolischen Politik erneut in ihrer deutlichsten Form vorgeführt. Was als Besuch tituliert war, wurde als Angriff wahrgenommen: Jahrelange Vertröstungen der nationalen palästinensischen Aspirationen, die hinausgeschobene Staatsgründung, die intensivierte Siedlungstätigkeit,6 die ständig wachsende Zahl schikanöser Checkpoints, der sinkende Lebensstandard…, all das stieß zusammen mit der brutalen Antwort der israelischen Armee auf die ersten Proteste gegen den Besuch: Das Pulverfaß explodierte.Diese Entwicklungen betrachteten die militanten Kräfte auf palästinensischer Seite als Grund für einen Strategiewechsel, in dessen Folge sich das Verhältnis der Opfer von sieben getöteten Palästinensern auf einen getöteten Israeli in den ersten zwei Monaten des Aufstandes veränderte. Lag das Verhältnis im Jahresdurchschnitt 2001 noch bei drei zu eins, sank es Anfang 2002 weiter auf zwei zu eins.7 In dieser Logik der Gewaltopfer und mit Blick auf den im Mai 2000 erfolgten israelischen Rückzug aus dem Libanon, den viele Palästinenser auch als einen Sieg der Widerstandsstrategie der Hisbollah ansahen, war die Entscheidung für die zweite Intifada also richtig. Die massiven Ansehensverluste, die Arafat und seine Fath-Bewegung in den ersten Monaten der Intifada II hinnehmen mußten, führten dazu, daß sich mit den Al-Aqsa-Brigaden auch Fath-nahe Gruppierungen am militärischen Widerstand gegen die israelische Politik beteiligten und damit immer weitere Teile der palästinensischen Gesellschaft in eine Spirale von Gewalt und Destruktion hineingezogen.8

Blick aus einiger Distanz

Überblickt man/frau die inzwischen fast 24 Monate der Intifada II, so läßt sich relativ leicht eine Politik ausmachen, bei der Phasen relativer Ruhe in aller Regel durch spektakuläre Aktionen Israels zu Ende gingen. Das prägnanteste Beispiel ist die Bombardierung eines Wohnhauses in Gaza am 23. Juli 2002, bei der neben dem Führer des militärischen Arms der Hamas-Bewegung, Salach Schehade, weitere 14 Menschen durch eine 1.000 kg-Bombe ums Leben kamen. Die Aktion mitten im einem dicht bebauten Wohnviertel im Norden von Gaza-Stadt erfolgte nur Stunden nachdem sich durch Presseberichte abzeichnete, daß es eine reelle Möglichkeit für ein Abkommen zwischen den verschiedensten palästinensischen Fraktionen (einschließlich Hamas und Fath) geben könnte, das zu einer Art Waffenstillstandsangebot hätte führen können und zu einer Einstellung von Angriffen auf Zivilisten im israelischen Kernland. Hierher gehören auch, neben vielen weiteren Beispielen, die Ermordung von Abu Ali Mustapha (PFLP) im August 2001 oder der groß angelegte Angriff auf die Autonomiebehörde im Frühjahr 2002, nachdem der Arabische Gipfel in Beirut den Vorschlag Saudi Arabiens akzeptiert hatte: Volle Anerkennung für vollen Rückzug.

Solche israelischen Aktionen verstoßen gegen internationale Konventionen ebenso wie gegen die Prinzipien eines Rechtsstaats und sind auch nicht mehr mit einem legitimen Recht auf Selbstverteidigung oder einem Verweis auf Unzulänglichkeiten oder Fehlentscheidungen einer Seite zu rechtfertigen. Yossi Sarid, Meretz-Politiker und Oppositionsführer im israelischen Parlament, der Knesset, nannte sie in einer Veranstaltung Ende Juli Kriegsverbrechen.9 Mit Notwehr, wie sie von Israel geltend gemacht wird, hat eine Bombe wie die vom 23. Juli nichts zu tun. Israels Existenz steht, anders als die Regierung Sharon behauptet, nicht auf dem Spiel. Zu einem erheblichen Teil schafft sie die Gewalt erst, die sie zu bekämpfen vorgibt. Für jeden Getöteten melden sich neue Kämpfer; zu verlieren haben sie nichts, denn Israel als der Stärkere bietet ihnen keinerlei Perspektive. Aber diese Militäraktionen heizen auch immer wieder die Spirale von Gewalt und Destruktion an, mindern die Chancen auf Deeskalation. Nichts aber ist für den politischen Ansatz, den heute die Mehrheit der israelischen Regierung vertritt, gefährlicher, als Zeichen der Entspannung, als Hinweise auf gewaltfreien, politischen Widerstand. Hier entstünde die eigentliche Bedrohung des Szenarios, das Sharon vorschwebt: Jede Regelung mit den Palästinensern hinauszuzögern, Fakten zu schaffen, auf Zeit zu spielen, um so den notwendigen schmerzhaften Kompromissen, dem Verzicht auf den Traum von Groß-Israel, doch noch entgehen zu können.

Die abstrakte Forderung nach Gewaltverzicht an die Adresse der schwächeren Seite ignoriert allerdings die strukturelle Gewalt der Besatzung und treibt die Menschen in eine immer verzweifeltere Situation. Nicht zuletzt die Politik der gezielten Tötung, wie sie Israel praktiziert, richtet sich gegen alle Chancen, den Konflikt in absehbarer Zeit zu regeln und beiden Völkern eine Zukunftsaussicht in der Region zu geben. Die Verhaftung von politischen Führern – wie zuletzt die von Marwan Barghouti, Mitglied im palästinensischen Parlament und hoher Fath-Funktionär in der West Bank – und ihre drohende Verurteilung zielen darauf ab, jene auszuschalten, die, obwohl noch relativ jung, Erfahrungen aus der ersten Intifada mitbringen und ihr Prestige für einen Abschied von der Gewaltoption einbringen könnten. Dies macht einen Mann wie Barghouti für bestimmte Kräfte in Israel zu einem viel gefährlicheren Gegner als Arafat.

Solange aber in dem Prozeß, der zu einem Ausgleich der Interessen und Bedürfnisse beider beteiligten Völker führen soll und dessen gewaltreduzierte Variante eng mit dem Begriff Oslo verbunden war (ist), das Recht der einen Seite dem Recht der anderen Seite untergeordnet wird – solange also diese koloniale Attitüde weiter Teile der israelischen Regierung wie der Öffentlichkeit nicht zu einem Ende kommt –, solange gibt es keine Perspektive für einen dauerhaften Frieden zwischen Israel und Palästina.

Anmerkungen

1) Vgl. entsprechende Berichte der UNICEF; siehe auch DER SPIEGEL vom 25. Juli 2002: Lage in Palästina: US-Botschafter spricht von humanitärer Katastrophe.

2) Zur Frage der Bewertung von Camp David II vgl. Gresh, A.: Das großzügige Angebot, das keines war. In: Le Monde diplomatique, Juli 2002, S. 18.

3) Nachdem Arafat Barak noch unmittelbar vor dem bevorstehenden Besuch Sharons aufgesucht und ihn vergeblich beschworen hatte, diesen Besuch nicht zu genehmigen, war sein schon durch Camp David-II schwer angeschlagenes Vertrauen endgültig aufgebraucht; möglicherweise wird es die Geschichtsschreibung einmal als einen – den wirklichen – Fehler Arafats darstellen, daß er auf die Provokation Sharons nicht noch stärker und länger deeskalierend zu antworten versuchte.

4) In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, daß Barak schon als Generalstäbler gegen die Osloverträge war und als Innenminister unter Rabin gegen die Oslo-II Verträge gestimmt hatte.

5) Laut Spiegel-online vom 26. August äußerte sich zwischenzeitlich auch der israelische Armeechef Mosche Jaalon entsprechend: Er bezeichnete die Palästinenser als »Krebsgeschwür« und forderte einen endgültigen militärischen Sieg.

6) Siehe dazu die Berichte der Foundation of Middle East Peace: http://www.fmep.org

7) Vgl. Johannsen, M.: Krieg in Palästina. In: Der Schlepper, Nr. 19/Sommer 2002, S. 39-41.

8) Möglicherweise haben diese Kräfte damit – um einen sehr hohen Preis – die Perspektiven des säkularen Teils der palästinensischen Nationalbewegung gewahrt.

9) Briefing für die internationalen Vertreter in Israel, Tel Aviv 29. Juli 2002, eigene Aufzeichnung.

Anmerkung der Redaktion: W&F richtet sich seit Januar 1999 nach der neuen deutschen Rechtschreibung, der vorliegende Artikel weicht hier ab, da der Autor grundsätzlich nur in der alten deutschen Rechtschreibung publiziert.

Rainer Zimmer-Winkel, M.A., Theologe und Politikwissenschaftler, beschäftigt sich seit Mitte der 80er Jahre intensiv mit dem Nahen Osten (Schwerpunkt Israel-Palästina). Er gehört der Nahostkommission von Pax Christi Deutschland an, ist Mitglied im Deutsch-Israelischen AK für Frieden im Nahen Osten (DIAK), Vorsitzender der Deutsch-Palästinensischen Gesellschaft und arbeitet im Vorstand des Fördervereins Willy Brandt-Zentrum Jerusalem.

Teppichmesser oder Computerangriffe?

Teppichmesser oder Computerangriffe?

Der Bedrohungsdiskurs in den USA nach dem 11. September

von Oliver Minkwitz

Dass die Behauptung »10 Hacker und 10 Millionen Euro genügen, um die Welt elektronisch zum Erliegen zu bringen«, eine maßlose Übertreibung ist, gilt auch nach dem 11. September. Nur Journalisten, die sich noch nie ernsthaft mit den Risiken der elektronischen Welt auseinandergesetzt haben, fallen solchen Übertreibungen noch zum Opfer. Trotzdem wird in der Presse immer wieder die Gefahr von Cyberattacken durch feindliche Staaten und durch sogenannte »Cyber-Terroristen« bemüht.1 Unterstützt wird die Ventilierung solcher übertriebener Bedrohungsszenarien vor allem von den US-Militärs, der Regierungsbürokratie und von konservativen Think Tanks wie dem »Center for Strategy and International Security« (CSIS).
Nicht zuletzt durch die Übertreibungen und Argumentationen jenseits der Fakten materialisierte sich der Bedrohungsdiskurs schon während der Clinton-Regierung. Er setzte sich unter der neuen konservativen Bush-Administration fort mit der Schaffung neuer Militärdoktrinen und Organisationen. Ebenfalls weniger bekannt ist, dass das US-amerikanische Militär bei der Planung von »Informations Operationen« als Schwerpunkt zukünftiger Kriegsführung und deren Integration in bestehende Militärstrategien am weitesten vorgeschritten ist.2

Al Qaida, das Internet und Computer

Nach dem 11. September wurde die Bedrohungsdebatte der Cyber-Attacken auf »kritische Infrastrukturen« (Transport, Finanzdienstleistungen, Energie- und Wasserversorgung sowie Regierungsfunktionen) überraschenderweise unbeschadet fortgesetzt. Dabei zeigten die Anschläge auf das World Trade Center gerade das Gegenteil. Die Attentäter konnten mit einem Minimum an technischen Mitteln ihre Anschläge durchführen: Die Terroristen benutzen zwar, wie der Presse zu entnehmen war, Web-Email Accounts, buchten ihre Flüge über die Online-Reisebüros und nutzten möglicherweise Verschlüsselungsprogramme.3 Das Steuern der Flugzeuge in die zwei Türme erforderte wahrscheinlich Training am Simulator und einer der Attentäter überprüfte möglicherweise die Koordinaten der Türme mit Hilfe eines GPS-Senders, der in jedem Elektronik-Laden zu erstehen ist. Dies allerdings als Cyberterrorismus oder als Hinweis darauf zu werten, dass zukünftige Terroristen vor allem im Cyberspace operieren werden, ist absurd. Schon vor den Anschlägen im September galt Osama Bin Laden als »Superterrorist« der »Cyberspace und Terrorismus« verbindet. Es wurde behauptet, dass die Terroristen über Internetcafés anonym Nachrichten austauschen, dass die Al Qaida leicht zugängliche Verschlüsselungsprogramme, wie z.B. Pretty Good Privacy (PGP) nutzt oder ihre Nachrichten in Bilder, Textdateien, Audio-Daten und auf pornographischen Webseiten mittels Steganographie-Softwere versteckt.4 So wiederholte FBI-Direktor Louis Freeh vor einem Senatsausschuss Aussagen des CIA-Chefs George Tenet: „Hizbollah, Hamas, the Abu Nidal organization and Bin Laden‘s al Qa‘ida organization are using computerized files, e-mail and encryption to support their operations.“5 Bewiesen wurde das allerdings nie und zitiert wurden immer wieder anonyme Mitarbeiter aus den Geheimdiensten oder Sicherheitsbehörden. Letztlich stellt die Nutzung von Computern, Internet und Software auch keine großartige Gefahr dar. Denn um wirkliche Cyberangriffe durchzuführen und damit ökonomischen Schaden zu verursachen, benötigt man in der Regel Insider-Wissen: Man muss vor Ort mit den System vertraut sein oder die Passwörter besitzen. Es würde auch nicht ausreichen, nur ein System zu kennen. Terroristen müssten mit unterschiedlichsten Computersystemen vertraut sein, die in der Flugüberwachung, in Atomkraftwerken oder bei Telefongesellschaften eingesetzt werden. Hinzu kommt, dass solche Systeme nicht an öffentliche Netze angeschlossen sind. Im schlimmsten Falle können »Denial-of-Service« Attacken höchstens Shoppingportale – wie Ebay oder Yahoo – treffen und diese zeitweise blockieren, wie dies 1998 durch unbekannte Hackerangriffe geschah.

Cyberterrorismus ist ein Mythos

Die Logik, die hinter diesen absurden und irrelevanten Cyberterrorismus-Vermutungen steht, ist allerdings einfach zu erklären. Die Geheimdienste haben seit Jahren Angst, im Rennen um die immer stärker werdende und einfacher zu bedienende Kryptographie-Software vollständig abgehängt zu werden. Der Mythos des »Cyberterrorismus« dient da als Legitimations- und Argumentationshilfe der Sicherheitsbehörden, um gesetzliche Beschränkungen beim Abhören, bei Eingriffen in die Privatsphäre zu minimieren, eine Erhöhung des Budgets zu erreichen und die Liberalisierung des Handels mit Krytographie-Software rückgängig zu machen. Noch unter der Clinton-Regierung galten Ausfuhrbeschränkungen für Krypto-Technologie. Das populäre Programm PGP fiel bis 1998 sogar unter das Kriegswaffen-Exportverbot der USA. Für die Attentate auf das World Trade Center, das US-amerikanische Schlachtschiff »Cole« oder die US-Botschaften in Nairobi und Daressalam war die Informationstechnologie jedoch nicht das entscheidende Hilfsmittel.

Letztlich entscheidend für die Durchführung der Attentate im September war, dass die Täter externe Finanzquellen hatten, zu allem bereit waren und es ihnen gelang, auf Grund mangelnder Flughafensicherheit, Teppichmesser in die Maschinen zu schmuggeln. Mit Computer- oder Informationskriegsführung hat das beim besten Willen nichts zu tun. Dass Terroristen Emails benutzen oder ihre Emails verschlüsseln, ist auch keine neue Qualität. Die Nutzung von Informationstechnologie durch Terroristen ist genauso banal wie die Nutzung des Telefons, des Autos oder das unsichtbar machen von Nachrichten, indem man mit Zitronensaft schreibt.

Bedrohungsdiskurse auf Autopilot

Obwohl nach den Anschlägen deutlich wurde, dass das von vielen Experten seit Jahren herbeigeredete »elektronische Pearl Harbor« ausblieb, wurde die Gefahr von »Cyberterroristen« bemüht. Aus dem Joint Task Force-Computer Network Operations, das für die teilstreitkraftübergreifende offensive und defensive Nutzung des Cyberspace durch die US-Militärs zuständig und dem US Space Command unterstellt ist, ließ der Pressesprecher noch am selben Tag verlauten, dass man keine gefährlichen Aktivitäten verzeichne: „We are doing the same things we do every day (…)but so far we‘re seeing no increased activity on our networks.“6 Die zentrale Regierungsstelle für die Abwehr von Cyberattacken, das National Infrastructure Protection Center (NIPC) gab dennoch eine Warnung an privatwirtschaftliche und kommunale Mitglieder aus, alle nicht unbedingt notwendigen Computersysteme vom Netz zu nehmen. Die Presse sprang ebenfalls darauf an und USA-Today berichtete über mögliche Cyberanschläge, die nach den Szenarien von Experten in der Folge von Anschlägen in der physikalischen Welt auch elektronisch zu erwarten seien.7 Unter diesem Druck nahm US-Präsident Bush eine symbolische Umstrukturierung vor. Er richtete ein »Office of Cyberdefense« im Weißen Haus ein, das dem ebenfalls neugeschaffenen »Office for Homeland Security« unterstellt wurde.8 Der Grundstein für dieses Amt wurde allerdings schon unter Clinton, 1998 mit der »Presidential Decision Directive Nr.63« (PDD-63), gelegt. Es blieb auch in der Verantwortung von Richard Clark, der vorher bereits als nationaler Koordinator im Weißen Haus zuständig für den Schutz der kritischen Infrastruktur war.9 Unter dem Eindruck der Terroranschläge setzte sich mit Schaffung des »Office for Homeland Security« eine Politik durch, die zum ersten Mal in der US-amerikanischen Geschichte die Verteidigung des eigenen Territoriums in den Blick nahm. Auf der militärischen Seite wurde die Kommandostruktur der amerikanischen Streitkräfte neu strukturiert und ein eigenes Kommando zur Verteidigung des US-amerikanischen Territoriums geschaffen.10

Der 11. September hätte somit die Debatte um Informationskrieg und die Verletzlichkeit von kritischen Infrastrukturen mit einem Schlag beenden können. Mittlerweile ist der »Cyber-Bedrohungsdiskurs« allerdings eingeschliffen und mit der neugeschaffenen Behörde (Office for Homeland Security) auch institutionell verankert.

Die gleiche Loslösung von der Realität wie in der Debatte um Cyberterrorismus, findet sich in der Debatte um die US-amerikanische Raketenabwehr wieder. Auch hier stellt sich die Frage nach dem Sinn eines Verteidigungssystems, das extrem teuer und nur für ein extrem unwahrscheinliches Szenario Schutz bietet, wie es der Senator und Vorsitzende Tom Daschle noch im August 2001 auf den Punkt brachte: „National Missile Defense is the most expensive possible response to the least likely threat we face“.11 Die Wahrscheinlichkeit, dass eine den USA feindlich gesinnte Nation ein komplettes und funktionierendes Raketenprogramm auf die Beine stellt und dann auch noch die Intention besitzt, die USA tatsächlich anzugreifen, hat selbst der CIA im letzten Bedrohungsbericht nach unten korrigieren müssen.12 Viel eher gehen Terrorexperten davon aus, dass Terroristen weiterhin konventionelle Bomben bauen werden oder es ihnen im schlimmsten Falle gelingt, eine »radiologische Waffe« aus gestohlenem Plutonium zu bauen.13 Auch wenn letzterer Fall ein mögliches Katastrophenszenario darstellt, ein Raketenschirm bietet dagegen genauso wenig Schutz wie gegen Angriffe mit chemischen oder biologischen Waffen.

Clintons elektronisches Erbe und ein neuer (alter) Dreh

Den Mythos des Cyberterrorismus gab es schon vor der jetzigen Bush-Regierung und sie erreichte einen Höhepunkt während der Amtszeit von US-Präsident Clinton. Das Szenario – oder besser »der mediale Hype um ein mögliches elektronisches Pearl Harbor« – geistert schon seit über 10 Jahren durch die Gemeinschaft sogenannter Sicherheitsexperten. Der sicherheitspolitische Bedrohungsdiskurs der US-amerikanischen Entscheidungsträger ist dabei immer inkonsistent gewesen. So wechselten die identifizierten Akteure im Bedrohungsdiskurs der US-amerikanischen Militärs immer wieder beliebig zwischen jugendlichen Hackern, nichtidentifizierbaren Terroristen und feindlichen Staaten. So behauptet z.B. der Staatssekretär Jacques Gansler, dass jugendliche Hacker eine „reale Bedrohungsumgebung“ für die nationale Sicherheit seien.14 Wie wenig konkret diese Bedrohungswarnungen waren und dass sie lediglich dem Ziel dienten, eine neue Bedrohungsdimension zu konstruieren, zeigt sich, wenn nach Details und Umständen von Hackerangriffen auf das Pentagon gefragt wird. So musste John Hamre, der sich als zweiter Staatssekretär im Verteidigungsministerium und jetzt tätig im CSIS, als einer der größten Warner vor einem »elektronischen Pearl Harbor« hervorgetan hat, passen, als ein Journalist in einer Pressekonferenz nachhakte: „A journalist then asked: »When you say there were fewer incidents than in a normal weekend, can you help us with the numbers? On a normal weekend you have a hundred, a thousand, ten thousand?« John Hamre: »You know, I‘ll be happy to answer the question, but I honestly don‘t have the data. I know we had four instances where we pulled the plug on some hackers that were trying to break in. You know, this is a problem that‘s been growing . . .« Another question: »What areas did they want to break into?« John Hamre: »I don‘t really know.«“15

Mit dem Antritt der Bush-Regierung änderte sich das Akteursbild. Statt transnationaler terroristischer Akteure rückten nun wieder konkrete Staaten, vor allem die sogenannten Schurkenstaaten oder strategische Rivalen wie China und Russland in den Mittelpunkt der Debatte. Selbst Kuba und das elektronisch eher weniger vernetze Nordkorea, wurden nun als mögliche elektronische Herausforderer genannt. So beschrieb Admiral Thomas R.Wilson Kuba als möglichen Cyber-Angreifer: „Admiral Wilson: »Cuba is, Senator, not a strong conventional military threat. But their ability to ploy asymmetric tactics against our military superiority would be significant. They have strong intelligence apparatus, good security, and the potential to disrupt our military through asymmetric tactics. And I think that is the biggest threat that they present to our military.« Senator Wyden: »What would be an example of an asymmetric tactic that you‘re speaking of?« Wilson: »Using information warfare or computer network attack, for example, to be able to disrupt our access or flow of forces to the region.« Wyden: »And you would say that there is a real threat that they might go that route?« Wilson: »There‘s certainly the potential for them to employ those kind of tactics against our modern and superior military«.“16

Diese Warnungen wurden in der Folge von sämtlichen Mitgliedern des Bush-Kabinetts wiederholt. So verglich die Nationale Sicherheitsberaterin, Condolezza Rice, »Cyberwarfare« mit dem Kalten Krieg und bezeichnete den „Schutz kritischer Infrastrukturen“ als eine Aufgabe der klassischen Abschreckung.17 Der Kommandeur des US-Space Command, General Ralph E. Eberhart, selbst zuständig für US-Angriffe aus dem Cyberspace, rückte China in den Mittelpunkt seiner Bedrohungsanalyse. Als nach dem Abschuss des US-amerikanischen Spionageflugzuges durch chinesische Kampfflugzeuge ein Schlagabtausch unter Hackergruppen aus beiden Ländern stattfand, sprach auch die Presse wieder von einem Cyberkrieg. Allerdings ging es auch hierbei nicht um einen Angriff auf richtige Infrastrukturen, die zum Funktionieren einer technisierten Gesellschaft notwendig sind, es wurden lediglich ungenügend geschützte Webseiten verändert. Das bezeichnet man besser als Webgraffiti.18

Im April 2002 wurde erneut die China-Karte gespielt als ein geheimer CIA-Bericht in der Los Angeles Times zitiert wurde, nach dem China großangelegte Angriffe auf US-amerikanische und taiwanesische Computernetzwerke und »internet-linked miltary systems« plane.19 Unerwähnt blieb, dass es vor allem US-amerikanische Informations- und Telekommunikationsfirmen sind, die in China die elektronische Infrastruktur aufbauen. Passend zur Neuausrichtung der Debatte durch die neue Bush-Regierung wartete die National Security Agency mit der Feststellung auf, dass mittlerweile über 100 Staaten „already have or are developing computer network attack capabilities“.20 Das ist immerhin ein Sprung um 500 Prozent im Vergleich zu den etwa 20 Staaten, die das Defense Science Board noch im März desselben Jahres nannte.21

Nicht verschont blieben die NATO-Allierten durch Warnungen von Verteidigungsminister Rumsfeld und Präsident Bush. Beide nannten vor NATO-Gremien, Cyberattacken als „zukünftige Herausforderungen“ für die NATO in einem Atemzug mit Terrorismus, High-Tech Waffen, Raketen und Massenvernichtungswaffen.22

Es fehlt eine kritische Selbstreflexion

Die dramatische Cyber-Bedrohungsrhetorik nimmt kein Ende. Hantiert wird mit übertriebenen Statistiken und Halbwahrheiten. Auch die vom Pentagon gerne verbreitete Zahl von täglich 30.000 Hackerattacken auf die US-Streitkräfte ist mit Vorsicht zu genießen. Denn mitgezählt werden bei solchen Angaben immer auch unidentifizierbare, aber ungefährliche Pings oder der versuchte Aufbau von Telnet-Verbindungen zu Rechnern der Streitkräfte. Die wirkliche Zahl der schweren Einbruchsversuche wird sich wahrscheinlich auf unter 10 belaufen. Was bislang in der US-amerikanischen Debatte fehlt ist eine kritische Selbstreflexion der eigenen Vorreiterrolle. Die USA setzen selbst massiv auf die Kriegsführung durch Informationen und Computersysteme. In der »Quadrennial Defense Review 2001« des Verteidigungsministeriums wird die Fähigkeit zur Führung von Informationskriegen als Kernkompetenz der Streitkräfte bezeichnet. Die »Nuclear Posture Review« die im Januar 2002 nur in Bruchstücken der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, sieht sogar einen neuen Trend. In Zukunft sollen Informations-Operationen zusammen mit konventionellen High-Tech es möglich machen, die Einsatzschwelle für Nuklearwaffen zu erhöhen. Dass die USA mit einer solchen Militärpolitik der Aufrüstung und Militarisierung des Cyberspace erst richtig Schubkraft verleihen ist ausgemacht.

Andere Staaten werden bei einer solchen Politik nicht abseits stehen wollen. Auch der Planungsstab des Auswärtigen Amts nimmt sich in einer kürzlich erschienen Studie des Themas an. Allerdings in viel gemäßigteren Tönen. Dort heißt es unter anderem, dass neben militärischen und technischen Schutzmaßnahmen auch Ansätze der Rüstungskontrolle im Cyberspace entwickelt werden müssen. Erste Vorschläge dazu sind von der unabhängigen Forschungsgruppe Informationsgesellschaft und Sicherheitspolitik (FoG:IS) schon seit längerem gemacht worden.23

Anmerkungen

1) z.B.: Süddeutsche Zeitung, Attacken aus dem Laptop: Neben Flugzeugbomben und Biowaffen fürchtet Amerika den Cyber-Terrorismus, 15.10.2001. Eine lobenswerte Ausnahme ist das Online-Magazin »Telepolis« mit der kontinuierlichen und kritischen Berichterstattung zu solchen Themen: http://www.heise.de/tp

2) vgl. Für eine Diskussion der offensiven Elemente der älteren Information-Operations Planungen der USA siehe Geiger, Gebhard: Offensive Informationskriegsführung. Die »Joint Doctrine for Informatio Operations« der US-Streitkräfte: sicherheitspolitische Perspektiven, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik 2002. Ebenso auch Bendrath, Ralf: Informationskriegsabteilungen der US-Streitkräfte. Eine Zusammenstellung der mit offensive Cyberattacken befassten Einheiten der US-Streitkräfte, Berlin: FoG:IS Arbeitspapier Nr. 3 2001.

3) Frankfurter Rundschau, Im Fahndungseifer nach den Anschlägen in den USA leistete sich das FBI in vielen Fällen peinliche Fehlgriffe, 24.10.2001.

4) So eine Meldung von Reuters, die von anderen Medien aufgegriffen wurde und die kritisch Hinterfragt wurde von Wired: Bin Laden – Steganography Master?, 7.02.2002. http://www.wired.com/news/print/0,1294,41658,00.html (1.06.2002)

5) 107th U.S. Congress, Senate, Committee on Judiciary, Subcommittee for the Technology, Terrorism, and Government Information, Statement of Louis J. Freeh, Director FBI. for the Record on Cybercrime, Washington, DC: 28.03.2000.

6) Federal Computer Weekly: Spacecom on alert for cyberattacks, 11.09.2001. http://www.fcw.com/fcw/articles/2001/0910/web-cyber-09-11-01.asp (1.06.2002)

7) USA Today: Computer Network System At Risk for Terrorism, 13.09.2002.

8) Computer World: Bush taps Clarke as Cyberdefense Chief, 1.10.2001. http://www.computerworld.com/securitytopics/security/story/0,10801,64376,00.html (1.06.2002). Bush, George W.: Executive Order, Establishing the Office of Homeland Security and the Homeland Security Council., Washington, DC: 8.10.2001.Bush, George W.: Executive Order, Critical Infrastructure Protection in the Information Age, Washington, DC: 16.10.2001.

9) vgl. Kelle, Alexander/Schaper, Annette: Bio- und Nuklearterrorismus. Eine kritische Analyse der Risiken nach dem 11. September 2001, Frankfurt a.M.: HSFK-Report 2001.

10) New York Times: Pentagon Revamping Command Structure, 17.04.2002.

11) Remarks by Senate Majority Leader Tom Daschle at »The Woodrow Wilson International Center for Scholars« http://daschle.senate.gov/pressroom/speeches/2001A09615.html (9.08.2001)

12) Kubbig, Bernd: Die »Achse des Bösen« und ihre vermutete Gefährlichkeit, in: Frankfurter Rundschau, 12. Februar 2002. Siehe auch die Übersetzung des Dokumentes von Martina Glebocki und Alexander Wicker: National Intelligence Council, National Intelligence Estimate: Ausländische Raketenentwicklungen und die Bedrohung durch ballistische Raketen bis 2015. Öffentlicher Report an den Kongress. http://www.hsfk.de/abm/back/docs/nie2001.pdf (1.06.2002)

13) Kelle, Alexander/Schaper, Annette (siehe FN 10).

14) Wired: Teens a Threat, Pentagon Says, 2.06.1998. http://www.wired.com/news/news/business/story/12687.html

15) Vgl. Auszüge aus dem Crypt Newsletter von George Smith http://sun.soci.niu.edu/~crypt/other/harbor.htm (1.06.2002)

16) Transkription des öffentlich Teils des 107th U.S. Senate, Select Committee on Intelligence, Hearings on World Wide Threats vom 7.02.2001 unter http://www.cluebot.com/articles/01/02/08/1638232.shtml (1.06.2002)

17) The Register, Hack attacks called the New Cold War, 23.3.2001. http://www.theregister.co.uk/content/8/17820.html (1.06.2001)

18) Florian Rötzer, Banges warten auf den Cyberwar…, in: Telepolis 1.5.2001. http://www.heise.de/tp/deutsch/special/info/7513/1.html (1.06.2002)

19) Los Angeles Times, CIA Warns of Chinese Plans for Cyber-Attacks on U.S., 25.04.2002.

20) ABC News: Clear and Present Danger? Government Warns that its Computer Systems Need Security Improvments, 29.8.2001. http:// http://abcnews.go.com/sections/scitech/dailynews/govt_security010829.html (1.06.2002).

21) Office of the Undersecretary of Defense for Acquisition: Technology and Logistics: Protecting the Homeland. Report of the Defense Science Board Task Force on Defensive Information Operations Volume II, Washington, DC: März 2000. http://www.acq.osd.mil/dsb/dio.pdf (1.06.2002).

22) Bush, George W.: Excerpted remarks at the Meeting of the North Atlantic Council, Brüssel 13.6.2001, http://www.nato.int/docu/speech/2001/s010613g.htm (1.06.2002).

23) Minkwitz, Olivier/Schöfbänker, Georg: Information Warfare. Die neue Herausforderung für die Rüstungskontrolle, in: Vierteljahresschrift für Sicherheit und Frieden (S+F), Bd. 18, Nr. 2, 2000, S. 150-163. Die FoG:IS ist zu erreichen unter http://www.fogis.de und betreibt die Mailingliste infowar.de.

Olivier Minkwitz ist Mitarbeiter der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung (HSFK).

Die Phantomtürme

Die Phantomtürme

Feministische Gedanken zum Kampf zwischen globalem Kapitalismus und fundamentalistischem Terrorismus

von Rosalind P. Petchesky

Nach den terroristischen Anschlägen auf das World Trade Center und das Pentagon hat die US-Regierung den »Krieg gegen den Terrorismus« ausgerufen. Das Taliban-Regime in Afghanistan wurde wegbombardiert und mit ihm einige Tausend Zivilisten. Bush spricht von einem zu erwartenden jahrelangen Krieg gegen den Terrorismus und bezeichnet in diesem Zusammenhang Irak, Iran und Nordkorea als Achse des Bösen. Die Polemik gegen das Regime Saddam Husseins wird seitdem verschärft, ein nächster Krieg – unter dem Vorwand der Terrorbekämpfung – scheint möglich. Die US-amerikanische Professorin Rosalind P. Petschesky setzt sich auseinander mit der Situation in den USA nach den Terroranschlägen, vergleicht die US-Machtpolitik mit den Ansprüchen der terroristischen Fundamentalisten und entwickelt Vorschläge für eine andere Politik.
Der Anschlag auf das World Trade Center hat verschiedene Schäden angerichtet, nicht zuletzt eine große ethische und politische Verwirrung bei vielen Amerikanern, die sich irgendwie als »progressiv« bezeichnen – mit anderen Worten anti-rassistisch, feministisch, demokratisch, gegen den Krieg. Während wir eine Verantwortung gegenüber den Toten, ihren Angehörigen und gegenüber uns selbst haben zu trauern, ist es gleichwohl wichtig jetzt anzufangen, darüber nachzudenken, in was für einer Welt wir heute leben, und was diese Welt von uns verlangt.

Daher möchte ich versuchen, ein Bild oder eine Art Karte der globalen Machtdynamik wie ich sie heute sehe zu zeichnen. Ich werde auch die geschlechtspolitische und die Rassismus-Dimension mit einbeziehen. Ich möchte fragen, ob es eine Alternative gibt, einen menschlicheren, friedlicheren Weg, der uns wegführt von den zwei nicht akzeptablen Extremen, die sich bis jetzt präsentieren: der permanenten Kriegsmaschine (oder dem permanenten Sicherheitsstaat) und der Herrschaft des heiligen Terrors.

Eins möchte ich ganz klarstellen: Wenn ich die Frage stelle, ob wir heute vor einer Konfrontation zwischen globalem Kapitalismus und einer islamisch-fundamentalistischen Variante von Faschismus stehen, will ich nicht implizieren, dass diese beiden gleichwertig sind. Wenn die Anschläge vom 11. September tatsächlich das Werk von Bin Ladens Al Qaida-Netzwerk oder etwas Verwandtem und noch Größerem gewesen sind – und ich denke, das können wir im Moment als echte Möglichkeit annehmen –, dann sind die meisten von uns hier im Raum so strukturiert, dass wir wenig Zweifel an unserer Identität haben. (Ich kann mir vorstellen, dass das moralische Dilemma viel schwieriger ist für die Moslem-Amerikaner und arabischen Amerikaner unter uns.)

Ich lasse mich auch nicht dazu verleiten, unser jetziges Dilemma vereinfacht als kosmischen Kampf zwischen Gut und Böse zu sehen. Gegenwärtig wird dies in zwei gegensätzlichen, aber sich widerspiegelnden Versionen dargestellt. Es gibt die Version, die nicht nur von Terroristen und ihren Sympathisanten, sondern auch von vielen Linken in den USA und der Welt verbreitet wird, wonach US-Kulturimperialismus und wirtschaftliche Dominanz dafür verantwortlich sind, dass wir jetzt die wohlverdiente Strafe kassieren. Auf der anderen Seite gibt es die patriotische, rechte Version, wonach US-Demokratie und Freiheit die unschuldige Zielscheibe islamischen Wahnsinns sind. Beide Versionen ignorieren all die komplexen Faktoren, die wir in eine andere, stärker ethisch und politisch orientierte Vision integrieren müssen. Die apokalyptische Rhetorik, die zwischen Bush und Bin Laden nach den Anschlägen hin und her ging – die pseudo-islamische und die pseudo-christliche, der Djihad und der Kreuzzug –, beide Versionen lügen.

Während ich also terroristische Netzwerke und globalen Kapitalismus nicht als äquivalent oder gleich sehe, sehe ich doch einige auffällige und beunruhigende Parallelen zwischen ihnen. Ich erkenne sechs Bereiche, wo sie sich ähneln.

1. Reichtum – Ich brauche wohl nicht viel zu sagen über die USA als reichstes Land der Welt oder über die Art und Weise, wie die Anhäufung von Reichtum das ultimative Ziel, nicht nur unseres politischen Systems, sondern auch unseres nationalen Charakters ist. Unser Land ist das Zentrum der Großkonzerne, die den globalen Kapitalismus dominieren und die Politik der internationalen Finanzinstitutionen (IWF, Weltbank, WTO) beeinflussen, die seine wichtigsten regulierenden Instanzen darstellen. Diese Wirklichkeit spiegelt sich überall in der Welt wider durch die symbolische Bedeutung von allem, was mit den USA assoziiert wird – von den McDonald’s- und Kentucky-Fried-Chicken-Werbebildern der Demonstranten in Genua oder Rawalpindi bis zu den WTC-Türmen selbst. Gewinnsucht, ob individuelle oder unternehmerische, liegt sehr dicht hinter den Werten, die Bush und Rumsfeld meinen, wenn sie sagen, unsere »Freiheiten« und unsere »Lebensweise« stünden unter Beschuss und müssten aggressiv verteidigt werden.

Reichtum ist auch ein Motor hinter dem Al Quaida-Netzwerk, dessen Führungskräfte hauptsächlich Nutznießer der Bildung und Finanzierung der oberen Mittelklasse sind. Bin Laden selbst bezieht viel von seiner Macht und seinem Einfluss aus dem enormen Reichtum seiner Familie und die Zellen der arabisch-afghanischen Kämpfer gegen die sowjetischen Truppen in den 80ern wurden nicht nur von der CIA und der pakistanischen Geheimpolizei, sondern auch aus saudi-arabischen Öleinnahmen finanziert. Noch wichtiger jedoch sind die Werte hinter den terroristischen Organisationen. Wie Bin Laden in seinem berühmten Interview von 1998 deutlich machte, gehören die Verteidigung der »Ehre« und des »Besitzes« von Moslems weltweit dazu sowie „die Bekämpfung der Regierungen, die darauf hinaus sind, unsere Religion anzugreifen und unseren Reichtum zu stehlen (…)“.

2. Imperialistischer Nationalismus – Die erste Reaktion der Bush-Regierung auf die Anschläge zeigte das Verhalten einer Supermacht, die keine Grenzen kennt, die ultimative Forderungen unter dem Deckmantel der »Kooperationssuche« ausspricht. „Jede Nation in jeder Region muss eine Entscheidung treffen“, sagte Bush in seiner Rede an die Nation, die in Wirklichkeit eine Rede an die Welt war. „Entweder Sie sind mit uns oder Sie sind mit den Terroristen.“ „Dies ist ein Kampf der Welt, ein Kampf der Zivilisation.“ Demnach sind die USA der Führer und Sprecher der Zivilisation, während nicht nur die Terroristen, sondern auch diejenigen, die nicht bereit sind mitzukämpfen, zu den Unzivilisierten gehören. Gegenüber den Taliban und allen anderen Regierungen, die „Terroristen Unterschlupf gewähren“, war Bush der Sheriff, der die Viehdiebe konfrontierte: „Übergebt die Terroristen oder ihr werdet das gleiche Schicksal erleiden!“ Und wenige Tage danach lasen wir über „die amerikanische Ankündigung, dass die USA Saudi-Arabien als Stützpunkt für Luftangriffe gegen Afghanistan benutzen würden“.

Offensichtlich geht es bei dieser Offensive um viel mehr als nur um das Finden und Bestrafen von Terroristen. Ich kann nicht umhin, mich zu fragen, wie sie mit dem langjährigen US-amerikanischen Beschluss, eine dominante Position im Golf und die Kontrolle über Öllieferungen zu behalten, zusammenhängt. In der Tradition neo-imperialistischer Machtausübung müssen die USA andere Länder nicht politisch oder militärisch dominieren, um die gewünschten Zugeständnisse zu erreichen. Allein ihr wirtschaftlicher Einfluss zusammen mit der Möglichkeit der militärischen Zerstörung reicht aus.

Obwohl sie nicht die konkrete imperialistische Macht der USA besitzt, hat die Gruppe um Bin Laden ähnliche Bestrebungen. Wenn wir uns fragen: Was suchen die Terroristen?, müssen wir erkennen, dass ihre Weltanschauung eine extreme und bösartige Form von Nationalismus ist. Sie ist eine Art Faschismus, weil sie auf den Terror setzt, um ihre Ziele zu erreichen. So gesehen wollen sie – wie die USA – weit mehr als nur Bestrafung erreichen. Die ganze Geschichte des arabischen und islamischen Nationalismus hatte immer eine länderübergreifende, pan-arabische oder pan-moslemische Form. Die Sprache Bin Ladens macht dies deutlich – er spricht von der »Arabischen Nation«, »der Arabischen Halbinsel« und einer »Brüderschaft«, die von Osteuropa über die Türkei und Albanien bis zum Mittleren Osten, Südasien und Kaschmir reicht. Wenn sie die USA zur Bombardierung Afghanistans und/oder Attacke auf die Taliban provozieren, würde dies sicherlich Pakistan destabilisieren und eventuell in die Hände Taliban ähnlicher Extremisten katapultieren. Diese würden dann über Nuklearwaffen verfügen – ein Riesenschritt in Richtung ihrer verzerrten Version des pan-muslimischen Traumes.

3. Pseudo-Religion – Viele haben schon bemerkt, dass es falsch ist, die Situation als »Kampf der Religionen« oder »Kampf der Kulturen« zu sehen. Statt dessen haben wir hier einen Missbrauch von religiösen Symbolen für politische Zwecke und als Rechtfertigung für anhaltenden Krieg und Gewalt. So ruft Bin Laden zum Djihad oder heiligen Krieg gegen die USA, ihre Bevölkerung und Soldaten, und Bush ruft zum Kreuzzug gegen die Terroristen und alle, die sie verstecken oder unterstützen. Bin Laden behauptet, er sei der „Diener Allahs, der für die Religion von Allah kämpft“ und er verteidige die heiligen islamischen Moscheen, während Bush verkündet, Washington fördere „unendliche Gerechtigkeit“ und erwarte den sicheren Sieg, weil „Gott nicht neutral ist“. Wir müssen aber die Ehrlichkeit dieser religiösen Auseinandersetzung auf beiden Seiten in Frage stellen, ganz gleich wie aufrichtig die Befürworter sind.

4. Militarismus – Sowohl die Bush-Regierung als auch die Bin Laden-Anhänger nutzen die Methoden von Krieg und Gewalt, um ihre Ziele zu erreichen, doch in unterschiedlicher Weise. US-Militarismus kommt in einer hochtechnisierten Form daher, die durch die bloße Stärke, Größe und technische Perfektion unserer Waffen terrorisieren will. Unsere militärische Technik ist eine riesige und nimmersatte Industrie, deren Hauptantrieb nicht Strategie, sondern Gewinn ist. Sogar George W. Bush, in einer seiner bisher hellsten Äußerungen, bemerkte, wir würden nicht so blöd sein und „einen 2 Milliarden Dollar teuren Marschflugkörper auf ein leeres 10-Dollar-Zelt richten“. US-Militarismus hat nichts mit Vernunft zu tun – nicht mal etwas mit Terroristenbekämpfung –, sondern nur mit Profit.

Der Militarismus der Terroristen ist ganz anderer Art. Er basiert auf der mythischen Figur des Beduinenkriegers oder der Ikhwan-Kämpfer des frühen 20. Jahrhunderts, die es Ibn Saud ermöglichten, seinen dynastischen Staat zu festigen. Was sie auszeichnete waren der Mut und die Härte des Einzelnen im Kampf. Natürlich basiert dieses Bild, wie jede extreme nationalistische Ideologie, auf einer mythischen, goldenen Vergangenheit und es hat wenig damit zu tun, wie echte Terroristen im 21. Jahrhundert rekrutiert, trainiert und ausgezahlt werden. Außerdem basiert terroristischer Lowtech Militarismus wie Hightech Militarismus auf einer Illusion. Der Illusion, dass Millionen Gläubige aufstehen, die Fatwa ausführen und den Ungläubigen besiegen werden. Dies ist deshalb eine Illusion, weil es die mächtigste Waffe des Kapitalismus stark unterschätzt. Diese Waffe besteht nicht aus „endloser Gerechtigkeit“, das sind auch nicht die Atomwaffen, das sind die endlosen Ströme von Nikes und CDs. Außerdem unterschätzt es die lokale Macht des Feminismus, den die Fundamentalisten fälschlicherweise für ein westliches Phänomen halten. Im heutigen Iran, mit all seinen internen Widersprüchen, zeigen sich die Hartnäckigkeit und die globale/lokale Vielfalt sowohl der Jugendkulturen als auch der Frauenbewegungen.

5. Männlichkeit – Militarismus, Nationalismus und Kolonialismus als Machtbereiche sind und waren immer zum großen Teil Kämpfe über die Bedeutung von Männlichkeit. Die feministische Politikwissenschaftlerin Cynthia Enloe bemerkt, „das oftmals schwache Bild der Männer von ihrer eigenen Männlichkeit ist genauso ein Faktor in internationaler Politik wie die Ströme von Öl, Kabeln und militärischem Gerät“. Bei Bin Ladens Unterstützern, den Taliban, wurden die Form und das Ausmaß der Frauenfeindlichkeit, die mit Staatsterrorismus und Fundamentalismus Hand in Hand geht, deutlich demonstriert.

Wir sollten nicht vergessen, dass internationale Terroristen und Bin Laden selbst als Leitbild das Modell der islamischen »Brüderschaft« nehmen – die Bande der Brüder, verbunden in ihrer Entschlossenheit, den Feind bis zum Tode zu bekämpfen. Die von der CIA, Pakistan und Saudi-Arabien finanzierten Schulungslager, die zur Unterstützung der »Rebellen« (die später zu »Terroristen« wurden) im Krieg gegen die Sowjets aufgebaut wurden, waren Brutstätten nicht nur eines weltweiten Terrornetzwerkes, sondern auch seiner männlichen, frauenfeindlichen Kultur. Offensichtlich sieht sich Bin Laden als Patriarch, dessen Pflicht es ist, nicht nur seine eigene Familie mit vielen Frauen und Kindern, sondern auch seine ganze Anhängerschaft und deren Familien zu versorgen und zu schützen. Er ist das legendäre Gegenstück zum Paten oder »padrone«.

Können wir im Gegensatz dazu sagen, die USA als Fahnenträger des globalen Kapitalismus seien »geschlechtsneutral«? Sitzt nicht eine Frau – sogar eine afro-amerikanische Frau – an der Spitze unseres Verteidigungsministeriums, wo sie als rechte Hand des Präsidenten die permanente Kriegsmaschine mitgestaltet?

Auch wenn Meinungsumfragen zum Krieg einen angeblichen Spalt zwischen den Geschlechtern aufzeigen, sind Frauen nicht grundsätzlich friedensliebender als Männer. Die globale kapitalistische Männlichkeit lebt und gedeiht, aber sie versteckt sich unter dem eurozentrischen, rassistischen Deckmantel der »Rettung« unterdrückter, entmündigter afghanischer Frauen vor der frauenfeindlichen Regierung, der sie an die Macht geholfen hat.

6. Rassismus – Natürlich ist das, was ich faschistischen Fundamentalismus oder internationalen Terrorismus genannt habe, auch mit Rassismus getränkt. Dies ist aber eine sehr spezifische, zielgerichtete Art von Rassismus, nämlich Antisemitismus. Die Türme des WTC symbolisierten nicht nur US-Kapitalismus, sondern – für die Terroristen – jüdischen Kapitalismus. In seinem 1998 aufgenommenen Interview spricht Bin Laden immer wieder von »Juden«, nicht von Israelis, wenn er behauptet, sie plant, die gesamte Arabische Halbinsel zu übernehmen. Er sagt, „die Amerikaner und die Juden (…) sind die Speerspitze, mit der Mitglieder unserer Religion getötet worden sind. Jede gegen Amerika und die Juden gerichtete Aktion bringt positive und direkte Ergebnisse.“

US-Rassismus ist viel unklarer, aber genauso heimtückisch. Der unter der Oberfläche weit verbreitete Rassismus kommt immer in nationalen Krisenzeiten hoch. Die Attacken gegen Sikhs und andere Inder, gegen Araber und sogar Latein- und Afro-Amerikaner mit brauner Hautfarbe signalisieren eine Ausbreitung des amerikanischen Rassismus über die üblichen Schwarz-Weiß-Grenzen hinaus. Offiziell verabscheut der Staat solche Taten und verspricht, die Täter voll zur Rechenschaft zu ziehen. Dies ist aber der gleiche Staat, der das 1995 nach dem Bombenattentat von Oklahoma (eine von weißen, christlichen Amerikanern begangene Tat) verabschiedete so genannte Antiterror-Gesetz als Vorwand dafür nahm, Einwanderer aller Arten aufzuspüren und auszuweisen. Heute missachtet dieser Staat schon wieder die Rechte von Einwanderern in seiner eifrigen Jagd auf Terroristen.

Der Zusammenhang, in dem der Terror agiert, beinhaltet nicht nur Rassismus und Eurozentrismus, sondern auch viele Formen sozialer Ungerechtigkeit. Wenn wir unseren moralischen Standpunkt in dieser Krise überlegen, müssen wir zwischen direkten Ursachen und notwendigen Bedingungen unterscheiden. Weder die USA (als Staat) noch die vom World Trade Center symbolisierten unternehmerischen und finanziellen Machtstrukturen haben das Grauen vom 11. September verursacht. Ohne Zweifel verdient das fürchterliche, scheußliche Morden, Verstümmeln und Verwaisen so vieler unschuldiger Menschen aller ethnischen Gruppen, Hautfarben, Klassen, Altersgruppen, Geschlechter und aus über 60 Nationalitäten irgendeine Form von Vergeltung. Andererseits aber gibt es unter den Bedingungen, die den internationalen Terror gedeihen lassen, viele, für die die USA und ihre unternehmerischen/finanziellen Interessen direkt verantwortlich sind, auch wenn sie keineswegs die Anschläge entschuldigen. Man denke nur an folgende Tatsachen:

  • Die USA sind das einzige Land der Welt, das tatsächlich die schlimmsten Waffen der Massenvernichtung – Atombomben – gegen unschuldige Zivilisten eingesetzt hat – in Hiroshima und Nagasaki.
  • Bis heute bombardieren die USA den Irak und zerstören das Leben und die Nahrungsversorgung Hunderttausender Zivilisten dort. Wir haben Belgrad – eine dicht besiedelte Hauptstadt – während des Kosovo-Krieges 80 Tage lang zerbombt, und in den 1980ern unterstützten wir Bombardements, die unzählige Zivilisten in El Salvador umbrachten. Während der Operation Condor und ähnlichen Aktionen in den 1970ern förderten der CIA und militärische Schulungseinrichtungen Massaker, Attentate, Folter und Entführungen in vielen Ländern Latein- und Zentralamerikas. Außerdem haben sie unzählige korrupte, autoritäre Regierungen im Nahen Osten, in Südostasien und anderswo unterstützt – den Schah im Iran, Suharto in Indonesien, die Saudi-Dynastie usw.
  • Im Nahen Osten, einer Region, die wie das Zentrum des Tornados oder ein Mikrokosmos des jetzigen Konfliktes ist, sind US-Militärhilfe und das Nichtstun der Bush-Regierung die notwendigen Bedingungen dafür, dass die israelische Politik der Attacken auf Dörfer, des Abrisses von Häusern, der Zerstörung von Olivenhainen, Reiseverbote, Mordanschläge auf politische Führer, des Straßen- und Siedlungsbaus und der Menschenrechtsverletzungen weitergehen kann. All diese Sachen fördern die Feindschaft und die Selbstmordattentate.
  • Die USA sind eins von nur zwei Ländern – mit Afghanistan! –, die sich weigern, die Frauen-Konvention zu ratifizieren und das einzige Land, das die Kinder-Konvention nicht ratifiziert hat. Sie sprechen sich am lautesten gegen den Internationalen Gerichtshof aus, sie boykottieren die Abkommen zum Verbot von Landminen und biologischer Waffen, sie sind Hauptgegner eines neuen Abkommens gegen den illegalen Handel mit Kleinwaffen. Als einziges Land der Welt drohen sie damit, ein beispielloses Verteidigungssystem im All zu bauen und damit das ABM-Abkommen außer Kraft zu setzen. Wer ist da der »Schurkenstaat«?
  • Die USA sind das einzige große Industrieland, das sich geweigert hat, das Kyoto-Protokoll über die globale Klimaänderung zu unterzeichnen, obwohl das Dokument Kompromisse in ihrem Sinne enthält. In der Zwischenzeit zeigt eine neue, globale Studie, dass Kanada, Russland und die USA am meisten von der Klimaänderung profitieren werden, während die Länder verlieren werden, die am wenigsten zu der Klimaänderung beigetragen haben.
  • Zwei Jahrzehnte der Globalisierung lassen die Schere zwischen Arm und Reich eher weiter auseinander klaffen. Überproportional haben reiche Amerikaner und Europäer (und auch kleine Eliten in der Dritten Welt) von der globalen Marktliberalisierung profitiert. Und obwohl die USA ständig lautstark den »freien Handel« unterstützen, betreiben sie weiterhin eine Politik der Schutzmaßnahmen für ihre eigenen Bauern. Gleichzeitig verdrängen Importe aus den USA kleine Produzenten in Asien, Afrika und der Karibik – viele von ihnen Frauen – vom Markt. Sie müssen dann auf dem Schwarzmarkt oder in Ausbeutungsbetrieben der multinationalen Konzernen arbeiten.
  • Die G8-Länder, angeführt von den USA, dominieren die Entscheidungsprozesse des IWF und der Weltbank. Deren Strukturänderungen und Bedingungen für Darlehen und Schuldenerlass tragen mit dazu bei, dass viele arme Länder und ihre Bevölkerungen aus der Armut nicht ausbrechen können.
  • US-Konzerne können über Nacht Milliarden freimachen, um Firmen zu »unterstützen«, deren Büros und Personal durch die Anschläge auf das WTC zerstört wurden, und die Regierung kann der angeschlagenen Luftfahrtindustrie sofort 15 Milliarden Dollar überreichen. Auf der anderen Seite schrumpfen unsere Ausgaben für Entwicklungshilfe (ausgenommen militärische Hilfe). Als reichste Nation der Welt erreichen wir nicht mal die UN-Forderung von 0,7 % des BSP. Ein jüngst veröffentlichter Bericht der Weltgesundheitsorganisation rechnet vor, dass die Versorgung aller Menschen der Welt mit sauberem Wasser und sanitären Einrichtungen nur 10 Milliarden $ kosten würde, nur weiß niemand, woher das Geld kommen soll. Gleichzeitig sind die UN weit davon entfernt, eine vergleichbare Summe für ihren Welt-AIDS-Fond zusammenzutragen. Wie geizig kann man sein? Und was sagt das aus über die Formen von Rassismus oder »globaler Apartheid«, die manche Menschenleben – in den USA und Europa – viel höher bewerten als andere in anderen Teilen der Welt?

Die Liste könnte ich weiterführen – mit McDonald’s, Coca-Cola, CNN und MTV und dem ganzen kommerziellen Müll, der überall auf der Welt zu finden ist und der die kulturellen und geistigen Empfindungen so vieler, auch viel gereister Feministinnen wie ich, verletzt, wenn wir Teile unseres heimischen Einkaufszentrums in Kampala oder Kuala Lumpur, Kairo oder Bangalore wiederfinden. Was aber schlimmer ist als die Banalität und Geschmacklosigkeit dieser kulturellen und kommerziellen Bombardierung ist die arrogante Annahme, unsere »Lebensart« sei die beste auf Erden und müsse überall willkommen sein, oder die Ansicht, unsere Macht und unser vermeintlicher Fortschritt gäben uns das Recht, dem Rest der Welt zu diktieren, welche Politik und Strategien sie verfolgen sollten. Dies ist das Gesicht des Imperialismus im 21. Jahrhundert.

Die Vereinigten Staaten sind das Zentrum des globalen Kapitalismus, doch um den »Terror zu stoppen« ist es notwendig, dass sie ihre eigene Verantwortung heute und in der Vergangenheit für viele der oben aufgelisteten Tatsachen erkennen und beginnen, ihr Rechnung zu tragen. Dies würde aber auch bedeuten, dass sich die USA aus ihrer Rolle als selbst ernannter Weltpolizist verabschieden.

Welche anderen Lösungen als Krieg bieten sich an? Hier sind meine zaghaften Vorschläge:

  • Die Parole »Krieg ist nicht die Lösung« ist sowohl eine praktische als auch eine existenzielle Wahrheit. Militärische Anschläge gegen Afghanistan werden die Terrornetzwerke nicht ausrotten, die sich tief in den Bergen oder in Pakistan oder Deutschland versteckt halten können. Sie werden nur ein jetzt schon angeschlagenes Land zerstören, unzählige Zivilisten und Kämpfer töten und Tausende von Flüchtlingen zur Folge haben. Wahrscheinlich werden sie so viel Wut bei islamischen Sympathisanten provozieren, dass die ganze Region in Aufruhr geraten wird und der Kreislauf von Vergeltung und Terroranschlägen immer weiter gehen wird. Der ganze Schrecken des 20. Jahrhunderts sollte uns gelehrt haben, dass der Krieg sich selbst nährt und dass bewaffnete Gewalt keine andere Form von Politik ist, sondern das Scheitern der Politik darstellt; sie ist nicht die Verteidigung der Zivilisation, sondern ihr Zusammenbruch.
  • Das Ziel, die Terroristen in einer Art internationalem Polizeieinsatz zu finden und vor den Richter zu bringen, ist verständlich, aber voller Gefahren. Da die USA die einzige »Supermacht« sind, sieht es für andere Länder so aus, als ob sie schon wieder als globaler Polizist agieren wollten, wenn sie eine Kriegserklärung gegen den Terrorismus und seine Unterstützer ausrufen. Hier in Amerika bedeutet ein »nationaler Notstand« oder »Kriegszustand« – ganz besonders, wenn der Krieg anders als alle anderen sein soll – die Einschränkung ziviler Freiheiten, Belästigung von Immigranten, rassistische Vorurteile, Zensur oder das Füttern der Presse mit Fehlinformationen – all dies ohne Zeitbegrenzung und unter einem ominösen, neuen Büro für Staatssicherheit. Wir sollten uns sowohl gegen US-Alleingänge als auch gegen den permanenten Sicherheitsstaat zur Wehr setzen. Wir sollten unsere Abgeordneten dazu aufrufen, die bürgerlichen Rechte aller Menschen zu verteidigen.
  • Ich stimme der in Kairo ansässigen Afrikanisch-Asiatischen Solidaritätsorganisation (AAPSO) zu, die sagt, „nur diejenigen, die für diese Ereignisse verantwortlich sind, sollten nach dem Gesetz bestraft werden“ und dass die Bestrafung im Rahmen der Vereinten Nationen und nach internationalem Recht organisiert werden sollte – nicht im Alleingang der USA. Im internationalen Recht gibt es schon zahlreiche Abkommen gegen Terrorismus und Geldwäsche. Der Internationale Strafgerichtshof (ICC), der von den USA so hartnäckig abgelehnt wird, wäre das logische Forum für Verhandlungen gegen Terroristen in Zusammenarbeit mit nationalen Polizei- und Überwachungsdiensten. Wir sollten verlangen, dass die USA das ICC-Gesetz ratifizieren. In der Zwischenzeit könnte ein besonderer Gerichtshof unter internationaler Schirmherrschaft, so wie die für das ehemalige Jugoslawien und Ruanda, aufgestellt werden. Zusätzlich könnte eine internationale Behörde geschaffen werden, um die nationalen polizeilichen und geheimdienstlichen Arbeiten zu koordinieren. Die USA müssten Mitglied in dieser Organisation werden.
  • Keine Polizeiarbeit, egal wie gut koordiniert, kann den Terror stoppen, ohne die Bedingungen der Armut und Ungerechtigkeit, die den Terror nähren, anzugehen. Die USA müssen ernsthaft nicht nur ihre Werte, sondern auch ihre Nahost- und Weltpolitik überdenken. Sie müssen für ihre Stellung in der Welt Verantwortung übernehmen. Das heißt, sie müssen Wege finden, ihren Reichtum, ihre Ressourcen und ihre Technologie zu teilen; sie müssen Entscheidungen über den Welthandel, über Finanzen und Sicherheit demokratisch treffen; und sie müssen dafür sorgen, dass der Zugang zu Grundversorgungsgütern wie medizinische Versorgung, Wohnungen, Nahrung, Bildung, sanitäre Versorgung, Wasser und Freiheit von Diskriminierung wegen Rasse oder Geschlecht an erster Stelle in internationalen Beziehungen steht. »Sicherheit« in diesem Sinne beinhaltet all diese Formen von Wohlbefinden oder »menschlicher Sicherheit« und muss für alle gelten.

Was mir Hoffnung gibt ist die Tatsache, dass viele der oben erläuterten Gedanken auch von immer mehr Gruppen hier in den USA geäußert werden. Dazu gehören der Nationale Kirchenrat, die Grüne Partei, eine Koalition von 100 Leuten aus der Unterhaltungsbranche und Bürgerrechtlern, große Zusammenschlüsse von Studenten- und Friedensgruppen, New Yorker Sagen Nein Zum Krieg, schwarze und weiße weibliche Prominente, die in der Oprah-Winfrey-Show aufgetreten sind, und Angehörige von Opfern der Anschläge. Vielleicht können wir eine neue Art von Solidarität aus der Asche ziehen; vielleicht zwingen die Terroristen uns dazu, nicht sie widerzuspiegeln, sondern die Welt und die Menschheit als Ganzes zu sehen.

Rosalind P. Petchesky ist Professorin für politische Wissenschaften und Frauenstudien am Hunter College der Universität New York. Sie lehrte an mehreren Universitäten der USA, in Kanada, Brasilien, Mexiko, Vietnam, den Philippinen, Malaysia, Südafrika, England und Indien.
Der oben stehende Artikel ist die stark gekürzte Version ihres Vortrags vom 25. September 2001 am Hunter College. Die ungekürzte englische Fassung ist im Internet: www.fire.or.cr/oct01/tpowers.htm
Übersetzung aus dem Englischen von Michael Hemken

Wege und Irrwege im Kampf gegen den Terrorismus

Wege und Irrwege im Kampf gegen den Terrorismus

von Robert M. Bowman

Bei Redaktionsschluss, Ende November 2001, ist für manche der Krieg gegen den Terrorismus „doch vorbei“ (vgl. SZ vom 22.11.01, S. 12). Aber abgesehen davon, dass dieses angebliche »Nach dem Krieg«, wenn man die einschlägigen Erklärungen von George W. Bush und anderen Kriegsherren aufmerksam zur Kenntnis nimmt, ein ausdrückliches »Vor dem Krieg« bedeutet, ist die Auseinandersetzung mit dem internationalen Terrorismus ganz sicher nicht vorbei. Daher erscheint uns eine andere »Stimme Amerikas«, die schon bald nach den Terrorattacken von New York und Washington (im Netz unter www.rmbowman.com) erhoben wurde, nach wie vor aktuell. Wir veröffentlichen diesen Beitrag mit Zustimmung des Autors.
Als Terroristen vor einigen Jahren zwei US-Botschaften zerstörten, schlug Präsident Clinton zurück und attackierte zwei verdächtigte Einrichtungen Osama bin Ladens. In seiner Fernsehansprache teilte der Präsident dem amerikanischen Volk mit, wir seien Ziele des Terrorismus, weil wir für Demokratie stünden, für Freiheit und Menschenrechte in der ganzen Welt. Aus diesem Anlass habe ich damals geschrieben:

„Sagen Sie den Leuten die Wahrheit, Herr Präsident (…) Sagen Sie ihnen die Wahrheit über den Terrorismus, nicht über die arme Monica! Wenn Ihre Lügen über den Terrorismus nicht in Zweifel gezogen werden, wird der Terrorkrieg, den Sie von der Leine gelassen haben, weitergehen, bis er uns vernichtet.

Die atomterroristische Bedrohung kommt näher, die chemieterroristische ist fast schon da und die bioterroristische wird zur Gefahr der Zukunft werden. Keine einzige unserer Tausenden Atomwaffen kann uns vor diesen Bedrohungen schützen. Diese Götzen aus Plutonium, Titan und Stahl sind machtlos. Der Kult um sie, den wir fünf Jahrzehnte lang zelebriert haben und immer noch zelebrieren, hat uns keine Sicherheit gebracht, nur größere Gefahren. Kein »Krieg der Sterne«-System kann uns auch nur vor einer Terroristenbombe schützen – egal, wie technisch entwickelt es ist, egal, wie viele Billionen Dollar schon hinein gepumpt wurden. Nicht eine einzige Waffe in unserem gesamten Arsenal kann uns abschirmen gegen eine Atombombe, die in einem Segelboot zu uns gelangt oder einer Cessna, einem Koffer oder einem Mietauto. Nicht ein Cent der 273 Milliarden Dollar jährlich, die wir für die so genannte Verteidigung ausgeben, kann uns gegen eine Terroristenbombe verteidigen. Nichts von unserem enormen militärischen Aufwand kann uns wirklich ein bisschen Sicherheit garantieren. Das ist eine militärische Tatsache.

Herr Präsident, Sie haben dem amerikanischen Volk nicht die Wahrheit gesagt, weshalb wir das Ziel des Terrorismus sind. Sie haben gesagt, wir seien das Ziel, weil wir für Demokratie stünden, für Freiheit und für Menschenrechte. Unsinn! Wir sind das Ziel der Terroristen, weil unsere Regierung fast weltweit für Diktatur, Sklaverei und Ausbeutung steht. Wir sind das Ziel der Terroristen, weil wir gehasst werden. Und wir werden gehasst, weil unsere Regierung hassenswerte Taten begangen hat.

In wievielen Ländern haben wir Führer, die von der Bevölkerung gewählt waren, abgesetzt und gegen Militärdiktatoren ausgetauscht, die nichts anderes waren als Marionetten, bereit, ihre eigenen Leute an amerikanische Großkonzerne zu verkaufen?

Das haben wir im Iran getan, als wir Mossadegh absetzten, weil er die Ölindustrie nationalisieren wollte. Wir haben ihn durch den Schah ersetzt und dessen verhasste Geheimpolizei Savak, die die Menschen im Iran versklavte und terrorisierte, bewaffnet, trainiert und bezahlt. Das alles, um die wirtschaftlichen Interessen unserer Ölkonzerne zu schützen. Ist es ein Wunder, dass Leute im Iran uns hassen?

Wir haben es in Chile getan, als wir Allende absetzten, obwohl er vom Volk demokratisch dazu gewählt worden war, den Sozialismus einzuführen. Wir haben ihn durch den brutalen rechten Militärdiktator General Pinochet ersetzt. Davon hat sich Chile immer noch nicht erholt.

Wir haben es in Vietnam getan, als wir im Süden demokratische Wahlen, die das Land unter Ho Chi Minh geeint hätten, hintertrieben. Wir haben ihn durch eine ganze Reihe unfähiger Marionetten ersetzt, die uns dazu einluden, ihr Volk abzuschlachten. Und das haben wir getan! (Ich selbst bin in diesem Krieg, dem Sie sich, wie es sich eigentlich gehörte, widersetzt haben, 101 Kampfeinsätze geflogen.)

Wir haben es im Irak getan, wo wir eine viertel Million Zivilisten getötet haben in dem vergeblichen Versuch, Saddam Hussein zu stürzen, und wo wir seitdem noch eine Million mit unseren Sanktionen getötet haben – ungefähr die Hälfte dieser unschuldigen Opfer Kinder unter fünf Jahren.

Und natürlich, wie oft haben wir es in Nicaragua getan und in all den anderen lateinamerikanischen Bananenrepubliken? Wieder und wieder haben wir angesehene Führer verdrängt, die die Reichtümer des Landes unter denen aufgeteilt sehen wollten, die sie erarbeiteten. Wir haben sie durch mörderische Tyrannen ersetzt, die ihre eigenen Leute zu verkaufen versprachen, so dass die Reichtümer durch Domino Sugar, die United Fruit Company, Folgers und Chiquita Banana ausgebeutet werden konnten.

In einem Land nach dem anderen hat unsere Regierung Demokratie vereitelt, Freiheit unterdrückt und die Menschenrechte zertrampelt. Deswegen werden wir rund um die Welt gehasst. Und deswegen sind wir das Ziel der Terroristen.

In Kanada genießen die Menschen eine gesündere Demokratie, mehr Freiheit und weiter reichende Menschenrechte als wir. Ebenso die Menschen in Norwegen und Schweden. Hat man schon mal davon gehört, dass eine kanadische Botschaft bombardiert wurde? Oder eine norwegische? Oder eine schwedische?

Wir werden nicht gehasst, weil wir Demokratie, Freiheit und Menschenrechte praktizieren. Wir werden gehasst, weil die amerikanische Regierung diese Dinge den Menschen in den Dritte-Welt-Ländern versagt, deren Rohstoffe unsere Großkonzerne begehren. Und der Hass, den wir gesät haben, kommt in der Gestalt des Terrorismus zurück, um uns zu quälen – und demnächst in der Gestalt des Atomterrorismus!

Sobald erkannt ist, warum diese Bedrohung besteht, wird die Lösung klar: Wir müssen die ganze Richtung unserer Regierung ändern. Statt unsere Söhne und Töchter zum Töten von Arabern um die Welt zu schicken, damit unsere Ölmultis das Öl unter deren Sand verkaufen können, sollten wir sie entsenden, damit sie deren Infrastruktur wieder in Stand setzen, sie mit sauberem Wasser versorgen und die hungernden Kinder füttern. Statt weiterhin tagtäglich Hunderte von irakischen Kindern durch unsere Sanktionen umzubringen, sollten wir den Irakern helfen, ihre Elektrizitätswerke, Wasseraufbereitungsanlagen und Krankenhäuser wieder aufzubauen ­ alles Dinge, die wir in unserem Krieg gegen sie zerstört haben und deren Wiederaufbau wir verhindern.

Statt der Herr aller sein zu wollen, müssen wir ein verantwortliches Mitglied der Staatenfamilie werden. Statt Hunderttausende Truppen um die ganze Welt zu stationieren, damit sie die wirtschaftlichen Interessen unserer Multis schützen, müssen wir sie zurückholen und Peace Corps ausbauen.

Statt Terroristen und Todesschwadronen Folter- und Mordtechniken beizubringen, sollten wir die School of Americas (oder wie immer sie sich gerade nennt) schließen. Statt Militärdiktaturen müssen wir echte Demokratie unterstützen – das Recht aller Menschen, ihre eigene Führung zu bestimmen. Statt Aufstand, Zerrüttung, Mord und Terror weltweit zu fördern, müssen wir die CIA abschaffen und das Geld Hilfsorganisationen geben.

Kurzum: Wir tun Gutes statt Böses. Wir werden gute Kerle, endlich einmal. Die Bedrohung des Terrorismus würde verschwinden. Das ist die Wahrheit, Herr Präsident. Das ist es, was das amerikanische Volk gesagt bekommen muss. Wir sind gute Menschen. Man muss uns nur die Wahrheit sagen und uns eine Vision geben. Sie können das tun, Herr Präsident. Beenden Sie das Töten. Beenden Sie die Vergeltung. Beenden Sie das Rechtfertigungsgerede. Stellen Sie das Volk an die erste Stelle und sagen Sie ihm die Wahrheit.“

Überflüssig zu sagen, dass er es nicht getan hat… und auch nicht George W. Bush. So ist der Samen unser Politik aufgegangen und trägt seine bittere Frucht. Das World Trade Center ist ausgelöscht. Das Pentagon ist beschädigt. Und Tausende Amerikaner sind tot. Fast jeder Fernseh-Experte schreit nach einem massiven militärischen Gegenschlag gegen wer auch immer es getan hat (angeblich derselbe Osama bin Laden) und wer auch immer den Terroristen hilft oder Schutz gewährt (höchstwahrscheinlich die Taliban-Regierung Afghanistans). Steve Dunleavy von der New York Post kreischt: „Tötet diese Bastarde! Trainiert Mörder, mietet am besten gedungene Killer, setzt ein paar Millionen Dollar als Prämie aus, um sie tot oder lebendig zu kriegen, am besten tot. Und die Städte und Länder, die diese Würmer beherbergen, bombt sie zu Basketballfeldern zusammen.“

Es ist sehr verlockend, dem zuzustimmen. Ich habe keinerlei Sympathie für die Psychopathen, die Tausende Menschen getötet haben. Es gibt keine Entschuldigung für diese Taten. Wenn ich wieder zum aktiven Dienst gerufen würde, würde ich gehen, ohne mit der Wimper zu zucken. Zur selben Zeit lehren mich all mein militärisches Wissen und meine Erfahrung, dass uns Vergeltung in der Vergangenheit nicht von dem Problem befreit hat und das auch dieses Mal nicht schaffen wird.

Über den weltweit weitaus besten Anti-Terror-Apparat verfügt Israel. Nach militärischen Maßstäben gemessen war er äußerst erfolgreich. Und doch leidet Israel immer noch unter mehr Terroranschlägen als alle anderen Nationen zusammen. Wenn Vergeltung funktionieren würde, wären die Israelis das sicherste Volk auf der ganzen Welt.

Nur ein Mittel hat jemals eine terroristische Kampagne beendet: der Terrororganisation die Unterstützung der größeren Gemeinschaft zu entziehen, die sie repräsentiert. Und der einzige Weg dies zu erreichen ist die berechtigten Klagen der Menschen zu hören und die Überstände zu beheben. Wenn Osama bin Laden tatsächlich hinter den vier Flugzeugentführungen und dem anschließenden Blutbad steckt, heißt dies sich um die Sorgen der Araber und Muslime im Allgemeinen und die der Palästinenser im Besonderen kümmern. Das bedeutet nicht, Israel im Stich zu lassen. Aber es kann sehr wohl heißen, die finanzielle und militärische Unterstützung zurückzustellen, bis sie die Siedlungen in den besetzten Gebieten aufgeben und zu den Grenzen von 1967 zurückkehren. Es mag ebenso bedeuten, arabische Länder Führer ihrer eigenen Wahl haben zu lassen statt handverlesene, CIA-installierte Diktatoren, die möglichst bereit sind, mit westlichen Ölfirmen zu kooperieren.

Chester Gillings hat dies sehr gut in Worte gefasst: „Wie wollen wir gegen Bin Laden zurückschlagen? Was wir uns zunächst selber fragen müssen, ist, was wir eigentlich zu erreichen hoffen: Sicherheit oder Rache? Die beiden Ziele schließen sich gegenseitig aus. Streben wir nach Rache, verringern wir unsere Sicherheit. Wenn wir aber wirklich Sicherheit wollen, müssen wir anfangen, einige schwierige Fragen zu beantworten: Was genau sind die Vorwürfe der Palästinenser und der arabischen Welt gegen die Vereinigten Staaten und wieweit sind wir für die Übelstände wirklich verantwortlich? Wo wir wirklich verantwortlich sind, müssen wir das Elend, soweit möglich, beheben. Wo wir weder eine Schuld eingestehen noch Abhilfe schaffen können, müssen wir unsere Position ehrlich und offen der arabischen Bevölkerung mitteilen. Kurz: Der beste Kurs wäre, uns als Konfliktpartei aus den Auseinandersetzungen in der Region zurückzuziehen.“

Bin Laden zu töten würde ihn zum Märtyrer auf ewig machen. Tausende würden aufstehen, um seinen Platz einzunehmen. In einem Jahr wären wir mit einer neuen Runde terroristischer Angriffe konfrontiert, höchstwahrscheinlich einer schlimmeren als dieser. Aber es gibt noch einen anderen Weg.

Kurzfristig müssen wir uns vor denen beschützen, die uns bereits hassen. Das bedeutet weitere Sicherheitsmaßnahmen und bessere Aufklärung. Ich habe Kongressmitgliedern im März vorgeschlagen, alle Mittel für das »Krieg der Sterne«-Programm abzulehnen, bis die Exekutive gezeigt hat, dass sie alles Menschenmögliche dafür tut, dass heimlich ins Land geschaffte Massenvernichtungs-Waffen – eine wesentlich größere Bedrohung als ballistische Raketen – entdeckt und aus dem Verkehr gezogen werden. Es gibt eine ganze Reihe von möglichen Maßnahmen zur Erhöhung der Sicherheit ohne Einschränkung der Bürgerrechte. Auf längere Sicht aber müssen wir unsere Politik ändern, um den Hass und die Angst zu beenden, die neue Terroristen hervorbringen. Wenn wir von fremdem Öl möglichst unabhängig werden – durch Wiederverwertung von Stoffen, effizientere Energienutzung, Energieproduktion aus erneuerbaren Quellen und einen Übergang zu umweltfreundlicheren Transportmitteln – können wir auch zu einer rationaleren Politik gegenüber dem Mittleren Osten finden.

Die meisten Muslime und Araber sind gute und friedfertige Menschen. Aber ausreichend viele haben sich aus Verzweiflung, Wut und Angst erst Arafat und nun bin Laden in der Erwartung zugewandt, dass diese ihrem Elend abhelfen. Beseitigt die Hoffnungslosigkeit, gebt ihnen eine Perspektive, und die Unterstützung des Terrorismus wird sich in Luft auflösen. Dann wird Bin Laden gezwungen sein, den Terrorismus aufzugeben (wie Arafat ihn aufgegeben hat), oder man wird ihn wie einen gemeinen Kriminellen behandeln. In jedem Fall werden er und sein Geld aufhören, eine Bedrohung darzustellen. Wir können Sicherheit haben oder Rache. Nicht beides.

Dr. Robert M. Bowman, seinerzeit Kampfflieger in Vietnam, ist heute Bischof der Vereinigten Katholischen Kirche in Melbourne Beach, Florida/USA.
Übersetzung aus dem Englischen Simone Fuchs.

Algerien: zwei Seiten des Terrorismus

Algerien: zwei Seiten des Terrorismus

von Donata Kinzelbach

Berichte über die zielgerichtete Hinrichtung algerischer Intellektueller, über die Ermordung Hunderter Dorfbewohner durch Fundamentalisten und über die (Gegen-?)Gewalt des Staatsapparates sind aus unseren Presseorganen weit gehend verschwunden. Der Terroranschlag in den USA überlagert den »täglichen Terror« in Algerien und in vielen anderen Ländern. Donata Kinzelbach wirft einen Blick auf die Situation in Algerien und damit auf Ursachen des Terrorismus.
Durch Algeriens Geschichte ziehen sich Unterdrückung und Uneinigkeit wie ein roter Faden. Eine Vielzahl von Eroberungswellen haben ethnische Spuren hinterlassen: Römer, Vandalen, Araber verschiedener Stämme, Türken, Spanier und Franzosen. Die Geographie des Landes begünstigt den Individualismus noch: Das Land ist gekennzeichnet durch schroffe Hochgebirge mit unwegsamen Tälern, in denen Clans und Stämme sich von denen im – feindlichen – Nachbartal abgrenzen. Hinzu kommt eine Zersplitterung basierend auf vollkommen unterschiedlichen Gesellschaftsvorstellungen: Algerien wird u. a. bevölkert von islamischen Traditionalisten, arabischen Nationalisten, Muslimen unterschiedlicher Schulen und Riten, frankreich-orientierten Arabophonen, von Juden, nationalistischen Berbern, Berbern frankophoner Ausrichtung, christianisierten Berbern.

Diese Zersplitterung machte das Land von jeher anfällig für Kolonialismen, zuletzt den französischen, der auch in der unabhängigen Republik noch weiterlebt, denn trotz offizieller Arabisierung zählt ein französisches Diplom heute noch weit mehr als ein arabisches. Und es rächt sich die unüberlegte, qualitativ schlechte Arabisierungspolitik, die übereilt, mit importierten ägyptischen Lehrern dubioser Qualifizierung durchgeführt wurde, sodass die neue Generation zwar das Französische verloren, das Arabische aber noch lange nicht gewonnen hat.

Im Rahmen des neuen arabischen Nationalismus waren die Berber (eine Minderheit zwar, die aber mit weit mehr als 30% der Bevölkerung einen beachtlichen Anteil an der Gesamtbevölkerung ausmacht!) die eigentlichen Verlierer, denn ihre kulturellen Rechte wurden dem Nationalismus geopfert: Die Berbersprache wurde verboten. Erst nach langen, teils blutigen Konflikten ist Berber seit 1995 zweite offizielle Staatssprache; Beschwichtigungspolitik oder zu späte Einsicht, denn Lehrer für Berber gibt es nicht, Bücher oder Übersetzungen sind rar.

Solange der Freiheitskampf tobte, waren die Risse in der Gesellschaft zugekittet, aber mit der Unabhängigkeit brach das Konstrukt; die Vorstellungen vom neuen Algerien klafften zu weit auseinander. Die Befreiungsfront FLN kam an die Macht einer vom Militär kontrollierten Parteidiktatur. Ben Bella, erster Präsident, verlor sein Amt an General Boumediène, als er versuchte den Einfluss der Armee zu beschneiden. Boumediène war es auch, der alle wichtigen Industrie-, Finanz- und Handelszweige unter staatliche Kontrolle brachte. Die alten Seilschaften des Befreiungskrieges verstanden den Staat als ihre Pfründe – hatten sie ihn nicht mit ihrem eigenen Blut zum Leben erweckt, ja bezahlt? Die Erdölkrise 1973 arbeitete Boumediène in die Hände. Der Agrarsektor jedoch lag im Argen; 1980 wurden nur noch 30% des Nahrungsmittelbedarfs im eigenen Land erzeugt. Produkte mussten eingeführt werden, begannen zu fehlen. Schwarzmarkt und Korruption blühten als Folge auf. Das Regime, das soziale Unterschiede ausgleichen wollte, hatte das Gegenteil bewirkt: Während Funktionäre den privaten Swimmingpool voll Wasser hatten, gab der Wasserhahn in den Wohnungen der kleinen Leute oft stundenlang nichts her. Die Bevölkerung, an Eigeninitiative nicht gewöhnt, wartete ergeben, dass der Staat Lösungen böte. Der einstige Enthusiasmus verlor sich in Politikverdrossenheit, Sozialismus begann man mit Warteschlangen und Engpässen gleichzusetzen. Der tägliche Überlebenskampf tat sein Übriges: Mit durchschnittlich sieben Kindern brauchte eine Familie alle Energien um das nackte Überleben zu sichern. Im unterbezahlten Job arbeitete man halbherzig, da die Energie noch für zusätzliche Nebenjobs ausreichen musste. Allgemeine Demotivation und ein weit verbreiteter Schlendrian einerseits, hemmungslose Selbstbedienungsmentalität andererseits, vergesellschaftet mit Fehlbesetzungen in Schlüsselpositionen der Wirtschaft, führten zunehmend ins ökonomische Desaster. Fatal wirkte sich die Abhängigkeit von nur einem einzigen Produkt (Erdöl) aus, dessen Preis man nicht einmal selbst bestimmen konnte. Als 1985 der Erdölpreis drastisch fiel (von 30 auf 15 $/Barrel), galt es zu sparen, überall! Die Arbeitslosenquote stieg dramatisch.

Der Fundamentalismus gewinnt an Einfluss

1986 brachen Unruhen aus. Auf diesem Boden musste die Saat der Fundamentalisten zwangsläufig aufgehen: Mit billigen Schlagworten gewann man diejenigen, die sich sowieso ohne Zukunft sahen. 1988 kam es zum Generalstreik, in dessen Verlauf Jugendliche randalierten und plünderten. Die Ursachen lagen auf der Hand: Arbeitslosigkeit, leere Regale, Korruption, 26 Jahre verkrustetes FLN-Regime. In dieser Situation erhielt Algerien 1989 eine neue Verfassung, die für Überraschung sorgte: Mehrparteiensystem, Streikrecht, mehr demokratische Grundrechte, Wahrung der Menschenrechte, Liberalisierung der Wirtschaft. Aber die wirtschaftliche Öffnung kam unvorbereitet, es gab kaum Produkte, die im Ausland konkurrenzfähig waren. Und der Erdölpreis fiel weiter.

Gesellschaftspolitisch ungeübt, beflügelte die neue Perspektive dennoch: Vereine wurden gegründet, neue Zeitungen erschienen neben dem halbamtlichen El Moudjahid, das staatliche Fernsehen strahlte politische Debatten aus, im Radio gab es endlich Raï zu hören.

Etwa 30 neue Parteien entstanden. Neben der FLN konnten sich die Kommunisten (PAGS), die demokratisch orientierte Berberfront (FFS), die Bewegung für die Demokratie in Algerien (MDA), eine weitere Berberbewegung für Kultur und Demokratie (RCD) etablieren – und die Islamische Heilsfront (FIS). Obwohl das Gesetz ausschließlich religiös oder regional orientierte Parteien untersagte, ließ man sie zu, umso erstaunlicher, weil in den Nachbarländern Tunesien und Marokko fundamentalistische Parteien verboten waren. Verständlicherweise empörte man sich dort über die Entscheidung in Algier, gab sie doch Fundamentalisten im eigenen Land Auftrieb. Die ersten freien Wahlen 1990 waren ein Schock: Die FIS erhielt 54% der Stimmen, die FLN 28%. FIS-Chef Abassi Madani verkündete, er wolle „noch vor Ende des Jahres“ einen islamischen Staat errichten. Die FLN versuchte sich über eine Wahlrechtsänderung zu retten, die FIS reagierte mit Generalstreik, es gab Straßenschlachten, Panzer fuhren auf, es herrschte Ausnahmezustand. Dennoch gewann die FIS erneut. Zwar bemühte man sich Wahlbetrug nachzuweisen, der FIS den Sieg streitig zu machen, weil sie eine religiöse Vereinigung sei, was ihr im Ausland aber nur – unverdiente – Pluspunkte einspielte. Teils wurde ihre Gefahr unterschätzt, teils paktierte man mit dem potenziellen Machthaber von morgen. Die FIS überzog das Land mit einer Woge des Terrorismus. Besondere Zielgruppen wurden Intellektuelle und Freiberufler, die ideell und materiell das Regime unterstützten, sowie Journalisten. Immer mehr Intellektuelle sahen sich gezwungen ins Exil zu gehen oder zu schweigen, Algerien wurde intellektuell ausgeblutet. Ende 1993 wurden Ausländer Zielscheibe des Terrors. Ultimativ sollten sie bis zum 1.1.1994 Algerien verlassen. Von den wenigen, die blieben, wurden 70 »hingerichtet«. Aus Hilflosigkeit, aber auch unverhohlener Rache gingen Polizei und Armee dazu über, Terroristen direkt hinzurichten anstatt sie zu verhaften. Die Bevölkerung, ebenso hilflos, suchte sich durch private Aufrüstung zu schützen, gleichzeitig beutelte die mittlerweile galoppierende Inflation: Waren früher die Regale leer, so waren die Waren jetzt nur zu oft unbezahlbar. Die Arbeitslosenquote stieg über 25%. General Zeroual, ins höchste Amt gehievt, suchte den Dialog mit der FIS. Dieser umstrittene Weg – für die einen letzte Chance, für die anderen a priori verwerflich, weil man sich nicht mit Mördern an einen Tisch setzt und verhandelt – blieb erfolglos: Rabah Kebir, Sprecher der FIS im Ausland, stellte folgende Forderungen, die das Regime ablehnte, weil eine Beendigung des Terrorismus nicht gewährleistet schien:

  • Freilassung aller Gefangenen,
  • Wiederzulassung ihrer Partei,
  • Aufhebung der Sondergesetzgebung,
  • Aburteilung von Verantwortlichen von Staatsverbrechen,
  • ernsthafte Verhandlungen über die Zukunft Algeriens auf neutralem Boden.

Die Zunahme des Terrors

Während des traditionelles Fastenmonats Anfang 1997 häuften sich die Meldungen über grauenhafte Bluttaten. Der Westen gab sich schockiert, aber es darf an dieser Stelle nicht verschwiegen werden, dass wir in Deutschland es waren, die den Köpfen der Fundamentalisten großzügig Asyl gewährten, während England, Frankreich und Pakistan dies ablehnten.1 Das lässt unsere Tränen zu Krokodilstränen mutieren, zumal wir uns in Deutschland sicher wähnten nach dem Motto: „Lass die Unterentwickelten sich in Algerien doch ruhig die Köpfe einschlagen, zum Glück ist es ja weit genug weg, um uns nicht zu dérangieren.“2

Die deutschen Exportgeschäfte nach Algerien florierten besser denn je, was natürlich den zynischen Schluss nahe legte, dass man es sich mit dem potenziellen Machthaber von Morgen nicht verscherzen mochte.

Bendjedid trat zurück, das Parlament wurde aufgelöst, ein Hoher Staatsrat bestellt, die 1990 gewählten Kommunalvertreter der FIS durch Staatsbeamte ersetzt.

Auf ihr Verbot reagierte die FIS mit Heiligem Krieg. Man durchschnitt fünf Soldaten die Kehle – Fanal für einen Terrorismus, der ganz Algerien in Angst versetzte. Boudiaf, Symbol für nationale Versöhnung, wurde, kaum zum Präsidenten gekürt, bei einer Ansprache in Annaba ermordet. Sein Nachfolger Ex-General Zeroual begann einen undurchsichtigen Kurs zwischen Bekämpfung und Kooperation. Die demokratische Opposition sah auch in der neuen Regierung – mit je 7 Vertretern der islamistischen Bewegung für die Gesellschaft des Friedens (MSP) und der einstigen Einheitspartei Nationale Befreiungsfront (FLN) – eine gefährliche Allianz konservativ-islamistischer Kräfte.

Wer sind die Mörder?

Zwei Gruppen prägten den Krieg: die Bewaffnete Islamische Bewegung (MIA, ab 1994 unter dem Namen AIS) und die Bewaffnete Islamische Gruppe (GIA), die sich über Saudi-Arabien, Sudan und Schutzgelderpressung finanziert. Die Mitglieder dieser Gruppen rekrutieren sich aus den Reihen der ehemaligen Widerstandsgruppen, aus Angehörigen von Opfern staatlicher Gewalt, Kriminellen, jungen Arbeitslosen und Desperados, aus einem kleinen harten Kern religiöser Fanatiker, die ihre Kampferfahrungen in Afghanistan und Bosnien gesammelt haben.3 Dazu kommen in deren Windschatten kleine lokale Gruppen, die eigene Interessen unter dem gleichen Etikett verfolgen, sowie Spaltungen und Rivalitäten der als Kleinstgruppen operierenden Guerilla.

Welche Rolle spielt das Militär?

Auffällig oft fanden Massaker in unmittelbarer Nähe von Militärstandorten statt, ohne dass eingegriffen wurde, sodass gemutmaßt werden muss, dass das Militär nicht intervenieren wollte. Dieser Eindruck wird erhärtet durch die Tatsache, dass der Süden des Landes mit seiner einträglichen Erdölindustrie sehr wohl gesichert wurde. Hinweise auf eine Kollaboration zwischen Teilen des Militärs und Islamisten häuften sich. Ein nach Frankreich geflohener ehemaliger Offizier erklärte, dass die Massaker anfangs von Armee-Einheiten selbst initiiert worden seien. Die bestialische Arbeit hätten GIA-Kämpfer fortgesetzt, die zu diesem Zweck aus der Haft entlassen worden seien. Dies alles sollte einer Dialogpolitik, für die der gemäßigte Flügel der Armeeführung plädiert, den Boden entziehen und das Ausland für eine bedingungslose Unterstützung der algerischen Regierung einnehmen.4 Tatsächlich lässt manches auf einen regierungsinternen Machtkampf zwischen Versöhnungswilligen und »Hardlinern« schließen, so auch die Freilassung von Abassi Madani, dem Kopf der algerischen Fundamentalisten, die nur mit Zustimmung Zerouals geschehen konnte, und die Berufung eines Mann des Dialogs – General Tayeb Derradji – an die Spitze der sehr wichtigen Gendarmerie, statt eines »Hardliners«.

Auf eine noch engere Vernetzung von Militärs und Islamisten deuten die Aussagen des ehemaligen stellvertretenden Botschafters Algeriens in Libyen hin. Er behauptet, dass die islamistischen Gruppen in ihrer großen Mehrheit vom militärischen Sicherheitsdienst unterwandert seien: „Die über 200.000 Mann in 5.000 Gruppen rächen sich an all denen, die sie selbst für Islamisten halten (…) Der Terror soll die Islamische Heilsfront (FIS) bei der Bevölkerung in Verruf bringen, die einzige Kraft, die den Generälen hätte gefährlich werden können.“ Der vorgebliche Zeuge, der seit Jahren in London lebt, erklärt, radikale Militärs hätten die GIA ins Leben gerufen und seien mit ihr identisch.5 Dazu passt auch die Aussage des in den USA inhaftierten FIS-Sprechers Anouar Haddam, die Regierung in Algier gehe gegen die GIA vor um „lästige Zeugen“ loszuwerden, die einen „schmutzigen Job“ erledigt hätten. „Die Vorstellung eines kaltblütigen Zusammenwirkens von Militär und islamischen Terroristen scheint ungeheuerlich. Als gemeinsames Etappenziel ließe sich jedoch die weitere Destabilisierung der FIS und die Untergrabung einer politischen Lösung, die zweifelsohne den gewaltlosen islamischen Kräften eine Beteiligung an der Regierung zugestehen müsste, vermuten.“6

Aktiv gegen die Mörder

Besonders verdienstvoll waren seit Beginn der Terrorakte die algerischen Frauen im couragierten Kampf gegen den Fundamentalismus. In zahllosen Vereinen organisierten sie sich mit dem erklärten Ziel, dem Terror ein Ende zu setzen und den Frauen mehr Rechte zu erstreiten. Seit 1984 hatte sich die Anwendung des Familiengesetzbuches manifestiert, wonach z.B. im Falle einer Scheidung Unterkunft und Vormundschaft dem geschiedenen Vater zugesprochen werden, während das gleiche Gesetz die Frau für die Kinderbetreuung als zuständig erklärt. Sie »darf« betreuen, allerdings ohne jegliche Rechte, während der Mann über Bildung und Gesundheit wacht; er muss z.B. die Einschreibung in einer Schule oder einen chirurgischen Eingriff erlauben. Während die Verfassung die Frau für fähig erachtet, das Wahlrecht auszuüben und sie laut Bürgerlichem Gesetzbuch zum Abschluss von Verträgen befugt ist, spricht das Familiengesetzbuch ihr das Recht ab, ihre eigene Heirat abzuschließen. Als die Frauenvereinkommission in einen Aufruf, gerechtere Gesetze forderte, Gesetze, „die Frauen und Kinder nicht mehr auf die Straße setzen, Gesetze, die den Frauen nicht die Vormundschaft für ihre Kinder absprechen,“ reagierten die Islamisten prompt: Ihr erklärtes Ziel war die weitere Verschärfung bestehenden Gesetze. Die Unterzeichnerinnen leben seitdem in Angst vor Repressalien – und wie die aussehen, ist hingehend bekannt.

Die jüngsten Ereignisse in der Kabylei

Der Bevölkerung der Kabylei – den Maziren –, die mit an erster Stelle für Demokratie und Menschenrechte in Algerien und für die Befreiung von der französischen Kolonialmacht kämpften, wurde vom algerischen Militärregime stets ihre kulturelle und sprachlichen Identität abgesprochen. Eine gewisse Parallele zum Szenario im ehemaligen Jugoslawien oder zu den seit Jahrzehnten missachteten Rechten der Palästinenser drängt sich auf. Die Berber werden für die algerische Misere verantwortlich gemacht, sie sind Opfer staatlichen Terrors. Obwohl Algerien die Menschenrechte offiziell anerkennt, die »Convention on the Right of the Child« 1992 und die »Erklärung von Barcelona« 1995 unterzeichnete, verstößt das Regime täglich dagegen.

Seit dem 20. April 2001, dem 21. Jahrestag des »Berberfrühlings«, finden Demonstrationen in der Kabylei statt, bei denen bislang etwa 600 Menschen – meist Jugendliche – getötet wurden. Die Polizei setzt gezielt scharfe Munition ein.7 Offensichtlich gibt es die Order zum Töten.8 Auf die Frage, warum keine Munition aus Gummi eingesetzt werde, antwortet der Innenminister Yazid Zerhouni lapidar: „Weil wir keine haben!“ Und als wäre dies nicht genug, wird mittels Tränengas die Versorgung der meist Schwerverletzten vorsätzlich verhindert oder zumindest stark behindert.

Die Bevölkerung von Takrietz (Provinz Bejaia) berichtete am 20. Juli 2001, dass ein Offizier die Order gab, „ohne Rücksicht (zu) schießen“, was einen Gendarmen dazu veranlasste, gezielt den 14-jährigen Messalti Hafid zu exekutieren, der gerade auf der Treppe vor seinem Elternhaus stand. Die Bewohner erklärten, sie hätten das Gefühl von einem Fremden kolonialisiert zu sein, der lediglich das Ziel verfolge, sie zu zerstören: Telefon, Gas und Elektrizität werden willkürlich gekappt, das Fernsehen schweigt – insbesondere während der Sendezeit der Nachrichten, Zeitungen wurden seit Beginn der Unruhen nicht mehr geliefert.

Die deutsche Presse schweigt hierzu weitestgehend. Es gibt offensichtlich verschiedene Kategorien von Opfern: Die weltweite Welle der Sympathie und Anteilnahme, die Amerika zur Zeit erfährt, ist den Algeriern niemals entgegengebracht worden.

So lange Algerier Algerier bekämpfen, kann dieses Land nicht zur Ruhe kommen. Vorrangiges Ziel muss also sein, die Berber und deren Sprache ernsthaft anzuerkennen und sie als gleichberechtigte Landsleute zu akzeptieren. Im Oktober forderte deshalb die »World Amazigh Action Coalition« (Weltweite Koalition zum Schutz der Berber) in einer Petition an den Präsidenten von Algerien und die UNO die Autonomie der Kabylei. Wörtlich heißt es darin: „Um eine Wiederholung dieser Massaker zu verhindern, unsere Region unter Schutz zu stellen vor der vom Staat ausgeübten Gewalt, unserer Jugend eine Zukunft in Frieden und Wohlstand zu gerantieren, unsere Sprache, Identität und Kultur zu pflegen… verlangen (wir) für die Kabylei, (…) ein weitgefasstes Autonomiestatut mit der Perspektive eines Bundesstaates.“

Fazit

Der Weg aus der Misere ist schwierig und sicherlich lang, einige Vorraussetzungen scheinen jedoch unabdingbar. Dazu gehören: Trennung von Staat und Religion, wirtschaftliche Konsolidierung über mehr Motivation – damit weniger Schwarzmarkt und Korruption –, mehr Toleranz untereinander und ein größeres Vertrauen der Algerier in sich selbst. Letzteres kann allerdings nur dann erzielt werden, wenn die multiplen algerischen Splittergruppen sich gegenseitig mit Respekt begegnen – und wenn der Westen dies auch tut. Presse, Menschenrechtsorganisationen und NGOs sind hier gefragt. Außerdem bedarf es einer verbesserten Informationslage in den nicht-islamischen Ländern über den Islam, damit das zuweilen sehr verschwommene Bild einem detaillierteren weicht – und damit der Weg für mehr Verständnis geebnet und die weit verbreitete Xenophobie abgebaut werden kann.

Der tunesische Soziologe und Kolonialismusexperte Albert Memmi9 fordert deswegen unnachgiebig: „Europäische Demokraten sollten lauter ihre Solidarität mit den algerischen Demokraten manifestieren und offener ihre Gegner verurteilen. Der Pseudo-Respekt vor jungen Nationen darf nicht jegliche internationale Pflicht vergessen lassen. Die algerische Bevölkerung muss mit allen Mitteln gerettet werden, notfalls gegen ihren Willen.“10

Literatur:

Rachid Boudjedra: Prinzip Hass, Mainz 1993.

Christoph Burgmer: Der Islam, Frankfurt 1998.

Albert Camus: Der erste Mensch. Reinbek 1995.

Norman Daniel: Islam and the West. The Making of an Image. Edinburgh 1960.

Donata Kinzelbach (Hrsg.): Tatort: Algerien, Mainz 1998.

Anmerkungen

1) Vgl. hierzu Rachid Boudjedra: Prinzip Hass. Pamphlet gegen den Fundamentalismus im Maghreb, Mainz 1992.

2) Rachid Boudjedra in einem Interview am 26.6.1995. Das Interview führte Donata Kinzelbach.

3) Vgl. hierzu Verena Klemm: Algerien zwischen Militär und Islamismus. In: Donata Kinzelbach (Hrsg.): Tatort: Algerien, Mainz, 1998.

4) ARD-Tagesthemen, 7.1.1998, s.a. The Observer vom 11.1.1998.

5) Reiner Wandler : Algeriens Militärs kennen die Mörder. In: die tageszeitung, 3.2.1998, S. 3.

6) Verena Klemm, a.a.O., S. 157.

7) Vgl. hierzu : They Shoot with Real Bullets. In: Le Matin Newspaper, April 30, 2001. Siehe auch M.B.: Kabylia: Physicians‘ Testimonials Are Overwhelming: They Shoot to Kill. In: Liberté Newspaper, May 8, 2001.

8) Farid Alilat u. Nadir Benseba: Inquiry into the Events of Kabylia. In: Le Matin Newspaper, May 15, 2001.

9) Der tunesische Jude Albert Memmi (geb. 1920 in Tunis) lehrte als Soziologieprofessor an der Universität von Paris, wo er heute noch lebt und schreibt. Durch eine Vielzahl von Publikationen errang er sowohl auf soziologischem als auch auf belletristischem Gebiet internationalen Ruhm. Neben Frantz Fanon gilt er als der bedeutendste Kolonialismusforscher.

10) Albert Memmi: Für Algerien. Nationalismus und Internationalismus. In: Tatort: Algerien, a.a.O.

Donata Kinzelbach ist Verlegerin von Literatur aus dem Maghreb und freie Journalistin.

Terrorismus, Afghanistankrieg und westliche Feindbilder

Terrorismus, Afghanistankrieg und westliche Feindbilder

von Gert Sommer

Politisches Bewusstsein und Handeln werden stark vom Feind-Freund-Denken beeinflusst, also von den kontrastierenden Bildern, die sich Politiker und die Bevölkerung von politisch relevanten Ereignissen und Akteuren machen. Ausgeprägte Feindbilder sind regelmäßig Begleiterscheinungen von Kriegen sowie wichtige Indikatoren für Vorkrieg, also für die mögliche Eskalation eines Konfliktes hin zu einer gewaltförmigen Auseinandersetzung. Im Folgenden geht unser Autor zunächst auf psychologische Überlegungen zum Feindbildkonzept ein; anschließend untersucht er deren Relevanz am Beispiel Afghanistankrieg und Terrorismus.
Feindbilder sind sozial vermittelte Deutungsmuster (Bilder), starke negative Vorurteile, die sich auf Gruppen, Ethnien, Staaten, Ideologien, Religionen oder Ähnliches beziehen.

Ausgeprägte Feindbilder bestehen üblicherweise aus verschiedenen Komponenten:

  • Der »Feind« wird als gefährlich und (moralisch) minderwertig dargestellt; dazu komplementär wird das individuelle und kollektive Selbstbild positiv erlebt;
  • der »Feind« wird entmenschlicht und mit dem Bösen identifiziert;
  • ihm wird einseitig die Schuld für negative Ereignisse zugeschrieben;
  • es herrscht »Gruppendenken« vor, d.h., die Meinungen in der Eigengruppe sind – bezogen auf den »Feind« und damit zusammenhängende Ereignisse – stark vereinheitlicht, abweichende Meinungen werden sanktioniert.

Da sich bei der Eskalation von Konflikten beide Konfliktparteien üblicherweise zunehmend negativ wahrnehmen und bewerten, ist häufig das Spiegelbild-Phänomen zu beobachten: Beide Seiten werfen sich nahezu identisch Negatives vor und bewerten sich selbst jeweils überaus positiv.

Ausgeprägte Feindbilder haben – neben individuellen – auch eine Reihe von gesellschaftlichen Auswirkungen. Dazu gehören üblicherweise

  • Meinungsmanipulation und Verlust an Demokratie;
  • Stärkung militärischen Denkens und Handelns;
  • Emotionalisierung von Konflikten und damit Legitimation von Aggression bis hin zur Vernichtung des »Feindes«;
  • Vereinfachung von real komplexen Sachverhalten, z.B. internationalen Problemen;
  • Stabilisierung von Herrschaft im Inneren;
  • Missbrauch von Werten.

Welche Bedeutung haben diese psychologischen Überlegungen und Erkenntnisse für das konkrete Beispiel Afghanistankrieg bzw. Terrorismus?

Nach den Flugzeuganschlägen am 11. September 2001 in den USA wurden von der US-Regierung bald bin Laden bzw. mit ihm zusammenhängend Al Qaida und später die Taliban als Hauptschuldige bestimmt. Sie wurden zu zentralen Feinden der USA ernannt. Hier offenbart sich schon ein zentrales Problem: Obwohl die US-Regierung der Öffentlichkeit keine rechtlich verwertbaren Beweise für die Täter, deren Hintermänner bzw. die sie unterstützenden Organisationen oder Staaten vorlegten, erklärten sie »dem Terrorismus« ihren Krieg. Zunächst wurde vorgeblich bin Laden gesucht und anschließend ein Krieg geführt, der zwar »Krieg gegen den Terror« genannt wird, zunächst aber ein Krieg gegen die Taliban und das afghanische Volk ist.

Ist es angemessen, von einem »Feindbild« bin Laden bzw. Taliban zu sprechen? Dies kann nur eingeschränkt geschehen, denn – nach den uns vorliegenden Informationen – herrschen die Taliban äußerst brutal, überziehen Afghanistan mit Terror und unterdrücken insbesondere die Frauen; zudem werden sie für zahlreiche Terroranschläge in verschiedenen Ländern verantwortlich gemacht. Daher können sie auch als reale Feinde bezeichnet werden, z.B. von den unterdrückten afghanischen Frauen.

Trotzdem scheint es mir angemessen, von Feindbild zu sprechen, weil bin Laden von den USA (und anderen) zum zentralen Übel dieser Welt stilisiert wird. Ihm wird jegliche Rationalität abgesprochen. Dadurch werden die zentralen Mechanismen der Abwertung des Feindes bei gleichzeitiger Selbstwerterhöhung aktiviert. Eine komprimierte Zusammenstellung besonders prägnanter Zitate mag dies verdeutlichen. (Es gibt auch etliche besonnene Stellungnahmen, aber das im Folgenden ersichtliche Ausmaß an hoch emotionalen Bewertungen ist doch beeindruckend – zumal es nur einen kleinen Ausschnitt wiedergibt.)

„Der Angriff (vom 11.9.01) trägt (…) alle Züge einer Hass-Attacke“. (FR, 12.9.) „Die Terroristen (…) (hassen die) westliche Zivilisation (…) mit mörderischer Inbrunst (…) Ein vergleichbarer Zivilisationsbruch lässt sich nur an den Namen Hitler, Stalin und Pol Pot festmachen.“(ZEIT, 13.9.) „Das Böse schlechthin, Menschenverachtung und Barbarei haben (…) uns alle angegriffen.“ (CDU/CSU-Fraktionsvorsitzender Friedrich Merz; FR, 13.9.) „Die Terroristen haben uns den Krieg erklärt.“ (Bundeskanzler Schröder; FR, 20.9.) „Der Angriff auf das World Trade Center (…) ist eine Negation unserer Lebensweise und Zivilisation.“ (FR-Kommentar, 20.9.) „(…) selbstmordwillige Wahnsinnige.“ (ZEIT, 8.11.) .„We will hunt down these folks.“ (US-Präsident Bush; ZEIT, 13.9.). „US-Verteidigungsminister Wolfowitz sprach davon, »Staaten zu beseitigen«(ending states), die den Terrorismus fördern.“ (FR, 15.9.)

Diese hoch emotionale negative Bewertung u.a. von bin Laden und den Taliban und die daraus abgeleiteten Handlungen sind insofern erstaunlich, als die Taliban bis vor wenigen Jahren von den USA militärisch und politisch unterstützt wurden und als Stabilisierungsfaktor für Afghanistan vorgesehen waren.

Ergänzend hervorzuheben ist insbesondere das extrem positive Selbstbild, das als Kontrast zum Feind bin Laden bzw. Terrorismus aufgebaut wird. Die Flugzeuganschläge richteten sich gegen höchste Symbole der einzigen Weltmacht USA: gegen die Wirtschaftsmacht (World Trade Center) und gegen die Militärmacht (Pentagon). Aufgrund dieser Symbolik (Wirtschaft und Militär) hätte eine Diskussion um die Wirtschaftspolitik der USA und der anderen führenden Industrienationen sowie der Militärpolitik der USA und z.B. der NATO entstehen können. Diese findet zwar in etlichen gesellschaftlichen Gruppen statt, bislang aber nicht in der herrschenden Politik. Statt dessen wird der Anschlag auf die Symbole der Weltmacht USA uminterpretiert in einen Anschlag auf die Zivilisation und allgemeine menschliche Werte, wie sie – nach üblicher Lesart – besonders von den USA repräsentiert würden.

Komplementär zum Feindbild wird folgendes positive Selbstbild gezeichnet: Die Militäraktion erhielt von den USA zunächst die Bezeichnung »Grenzenlose Gerechtigkeit« und später »Andauernde Freiheit«. Bundeskanzler Schröder bezeichnete die Anschläge in seiner Bundestagsrede als „Kriegserklärung gegen die gesamte Welt“, „Kriegserklärung an die zivilisierte Völkergemeinschaft“ und „Kriegserklärung an die freie Welt“. Bedroht seien „die Prinzipien menschlichen Zusammenlebens in Freiheit und Sicherheit“; gefordert sei die „Solidarität aller, die für Frieden, Freiheit einstehen“ (FR, 13.9.) CDU/CSU-Fraktionsvorsitzender Merz sprach von einem „Angriff auf die Zivilisation, auf die Freiheit und Offenheit unserer Gesellschaften (…) auf die Grundwerte, die das friedliche Zusammenleben der Völker erst möglich (…) machen.“ (FR, 13.9.) „Wenn europäische Regierungschefs die Anschläge einen Angriff auf die westliche Zivilisation nennen, treffen sie den Kern der Sache.“ (FR-Kommentar, 13.9.) „(…) die Terroristen wollten nicht nur Amerika, sondern das Herz einer westlichen Zivilisation treffen.“ (ZEIT, 13.9.)

Bush sieht die Anschläge als Kriegshandlungen an; er sprach von einem „monumentalen Kampf“, den „das Gute gegen das Böse“ zu führen habe. „Der Feind hat nicht nur unsere Bevölkerung, sondern alle freiheitsliebenden Menschen in der Welt angegriffen. Amerika wurde zum Angriffsziel, weil wir in der Welt die strahlendste Fackel der Freiheit (…) sind.“ „(…) Entschlossenheit, für Gerechtigkeit und Frieden einzutreten.“ (FR, 13.9.). „Amerika ist nur das zugespitzte, weil machtvollste Symbol für die Moderne und für das, was wir westliche Zivilisation nennen.“ (Schröder im Bundestag, 11.10.) „Jedes Land (…) muss sich jetzt entscheiden – entweder es steht an unserer Seite oder an der Seite der Terroristen.“ „Das ist der Kampf (…) der Zivilisation. Das ist der Kampf aller, die an Fortschritt und Globalismus glauben, an Toleranz und Freiheit.“ (Bush; FR, 22.9.)

(Westliche) Zivilisation, Freiheit und Frieden waren die am häufigsten genannten positiven Begriffe, sie wurden geradezu als Synonyme für die USA verwendet. Die Militäraktionen der USA erhielten – weit gehend unkritisch – die Bezeichnung »Krieg gegen den Terrorismus«.

Ein solch überaus positives Selbst- bzw. Freundbild, überdies vermittelt in Demokratien mit Pressefreiheit, ist schon bemerkenswert. So hat der Medienbeauftragte der OSZE, Freimut Duve, die Einseitigkeit der Berichterstattung in den USA als „beängstigend“ bezeichnet, „der Journalismus (werde) auf nahe Null reduziert“, präsentiert werde eine „Vereinfachung der Welt, die Simplifizierung in richtig-falsch“ (dpa, 15.11.01).

Es ist hier nicht der Ort für eine kritische Analyse der Politik der USA. Es sei nur daran erinnert, dass die US-Politik häufig mit Militärdiktaturen zusammen arbeitete oder sie gar installierte; dass sie Terrororganisationen wie die UCK in Jugoslawien oder die Taliban in Afghanistan unterstütze, solange es ihnen opportun erschien; dass sie nach wie vor zahlreiche internationale Verträge, die zu Stabilität, zu Frieden und zukunftsfähiger Entwicklung beitragen können, boykottieren (z.B. B-Waffen-Vertrag; Kyoto-Protokoll; Internationaler Strafgerichtshof; Internationaler Pakt für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte). Erinnert sei auch daran, dass es diese westliche »Zivilisation« wenig zu berühren scheint, wenn täglich 100.000 Menschen verhungern, 1,3 Milliarden Menschen unterhalb der absoluten Armutsgrenze leben oder wenn durch die westliche Lebensart das weltweite ökologische Gleichgewicht ernsthaft bedroht wird. Hier werden doppelte Standards deutlich.

Und noch ein Gedankenspiel: Wie hätte wohl die Reaktion der USA und des Westens ausgesehen, wenn ein Anschlag mit vergleichbar schrecklichen menschlichen Opfern nicht in den USA, sondern in Russland, China, Indien oder Afrika geschehen wäre? Wäre dann auch übereinstimmend gefolgert worden, dass „nichts mehr so ist wie es mal war“?

Im Folgenden wird auch das »vereinheitlichte Gruppendenken« deutlich. Bezüglich der Bekämpfung des Terrorismus herrscht in den politisch führenden westlichen Kreisen Übereinstimmung, diesen mit militärischen Mitteln zu bekämpfen. Ein äußerst zweifelhaftes Konzept, schließlich lässt es außer Acht, dass der Zivilbevölkerung weiteres Leid zugefügt wird, dass Terrorismus durch Krieg nicht zu beenden ist, sondern eher noch verstärkt wird. Abweichende Meinungen werden von den Regierenden diskreditiert, z.B. als realitätsfremder Pazifismus, Anti-Amerikanismus, Gefährdung der Bündnistreue, gefährlicher Sonderweg etc. Bundestagsabgeordnete, die nicht mit der Kriegsbeteiligung Deutschlands einverstanden sind, werden stark unter Druck gesetzt bis hin zur Androhung, ihr Bundestagsmandat zu verlieren. Die rechtsstaatlich angemessene Alternative, im Rahmen der Vereinten Nationen konsequent verdächtigte Personen (Gruppen und Organisationen) zu erfassen – möglichst mit polizeilichen Mitteln –, Beweise vorzulegen und ein Verfahren vor einem internationalen Gericht durchzuführen, wird nicht ernsthaft überdacht. Die wichtige Unterscheidung zwischen Verbrechensbekämpfung und Krieg wird nicht vorgenommen.

Deutlich wird dieses »vereinheitlichte Gruppendenken« auch, wenn der Bundeskanzler Deutschlands den USA seine „uneingeschränkte Solidarität“ bekundet. Psychologisch bedeutet dies, dass der Konflikt wesentlich auf die Beziehungsebene transponiert wird (USA als Verbündete und Freunde; Vertrauensfrage im Bundestag) und damit weg von der inhaltlichen Ebene, auf der es intensiv und viel zu streiten gäbe. Damit bleiben im öffentlichen Diskurs zahlreiche Fragen weitestgehend unbeantwortet. Zum Beispiel:

  • Wer führt den Krieg: Die USA? Die Nato? Die »Staatengemeinschaft«?
  • Wer ist der Gegner in diesem Krieg: Bin Laden, die Taliban, Al Qaida? Afghanistan, Irak? Bis zu 60 Staaten, die Terrorismus unterstützt haben sollen?
  • Was sind die Ziele: Terrorbekämpfung? Welcher Terror? Kontrolle der Erdöl- und Erdgasvorkommen in der Kaspischen Region?
  • Was sind die Strategien: Wann und wie soll der Krieg »erfolgreich« beendet werden?
  • Was sind die zentralen Interessen der Bundesregierung: Ist es das so oft betonte mäßigende Einwirken auf die USA oder sind es vielmehr die angestrebte Mitsprache bei der Neuorganisation einer wichtigen Weltregion und die »Normalisierung« der deutschen Politik bis hin zur Möglichkeit militärischer Interventionen zur Durchsetzung eigener Interessen?

Durch das Feindbild werden militärisches Denken und Handeln gefestigt. In vielen kritischen Analysen werden Veränderungen u.a. in der westlichen Wirtschaftspolitik angemahnt. Es ist aber zu befürchten, dass diese notwendigen Schritte ausbleiben oder dass sie zumindest sehr viel zögerlicher vorgenommen werden als die derzeitigen Militäraktionen. Ein Indiz dafür ist z.B. der Bundeshaushalt für 2002, der eine Kürzung der Entwicklungshilfe um 2,2% vorsieht (FR, 17.11.01).

Feindbilder verändern Bewertungen: Des Feindes Feind wird zum eigenen Verbündeten, unabhängig von früheren Einstellungen. So wurde die Militärdiktatur in Pakistan ebenso zum Verbündeten der USA wie die Nordallianz in Afghanistan, die nach Ansicht von Experten kaum positiver zu bewerten ist als die Taliban.

Die Opfer der Anschläge in den USA sind »wertvolle Opfer« im Sinne der Propaganda, dass Krieg gegen den internationalen Terrorismus zu führen sei. Über die zahlreichen afghanischen Opfer aufgrund zunächst der Ankündigung und dann der Durchführung der Bombardierung von Seiten der USA wird erstaunlich wenig berichtet. Hier wird sehr deutlich, wie unterschiedlich mit Flüchtlingen politisch und in den Medien umgegangen wird: Während Flüchtlinge im Kosovo als Begründung für den Jugoslawienkrieg herhalten mussten, werden Flüchtlingsströme in Afghanistan als zwar bedauerliche, aber unvermeidbare Folgen eines gerechten Krieges dargestellt.

Zum Schluss seien einige auffällige Parallelen zwischen dem zweiten Golfkrieg und dem Afghanistankrieg aufgezeigt: Saddam Hussein sowie die Taliban wurden zunächst von den USA u.a. militärisch gestärkt und als strategische Partner angesehen – trotz der bekannten Gräueltaten gegenüber der eigenen Bevölkerung etc.; sie wurden erst dann zu Feinden der USA, als sie gegen direkte US-Interessen verstießen. Noam Chomsky (2001, S. 10) fasste dies kürzlich pointiert so zusammen: „Verbrechen werden (von der US-Regierung) nicht bestraft, nur Ungehorsam“.

In beiden Konflikten spielte der Feindbildaufbau eine entscheidende Rolle um die eigene Politik gegenüber der eigenen Bevölkerung und weltweit zu rechtfertigen. Verdeckt wurde damit, dass es in beiden Kriegen höchst wahrscheinlich primär um wirtschaftliche Interessen ging, um die Kontrolle von Erdöl und Erdgas.

Feindbilder spielen eine entscheidende Rolle bei den derzeitigen politischen Prozessen und Entscheidungen. Sie sind keine Ursachen für Kriege, auch nicht für den Afghanistankrieg. Aber sie sind wesentlicher Teil der psychologischen Kriegsführung. Gerade das Beispiel Afghanistankrieg zeigt, in welch hohem Ausmaß die Vorgaben der US-Regierung das (politische) Denken, Fühlen und Handeln in Deutschland und anderen Ländern bestimmen. Eine Emanzipation von Feindbildern ist dringend erforderlich, damit sich die Menschen mit Nachdruck der Lösung der drängenden Menschheitsprobleme widmen können: der Bekämpfung von Armut, Unterentwicklung und Umweltzerstörung; der Verwirklichung der bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte.

Literatur

Chomsky, N. (2001). War against people – Menschenrechte und Schurkenstaaten. Hamburg, Europa Verlag.

Flohr, A.K. (1991). Feindbilder in der internationalen Politik. Münster, LIT.

Sommer, G., Becker, J.M., Rehbein, K. & Zimmermann, R. (Hrsg.)(1992). Feindbilder im Dienste der Aufrüstung. Marburg, Arbeitskreis Marburger Wissenschaftler für Friedens- und Abrüstungsforschung.

Kempf, W. & Sommer, G. (1991). Feindbilder. Dossier. Informationsdienst Wissenschaft und Frieden, 3/91.

Dr. Gert Sommer ist Professor für Psychologie an der Philipps-Universität Marburg