Die Schwarzen Tiger

Ausgewählt für Selbstmordkommandos:

Die Schwarzen Tiger

von Dagmar Hellmann-Rajanayagam

Das nebenstehende Gedicht »Aus der Menschheit ein König« erschien 2001 in einer Broschüre der Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE),1 der militanten Bewegung, die für einen unabhängigen Tamilenstaat im Norden Sri Lankas kämpft, zur Ehrung ihrer gefallenen Helden. Diese Broschüren – inzwischen auch mit den Namenslisten der Gefallenen versehen – werden jährlich vom Publikationsbüro der LTTE am »Heldengedenktag«, dem 27. November, herausgegeben. In Gedichten und Kurzgeschichten werden alle gefallenen Kämpfer und speziell die Schwarzen Tiger geehrt. Aber wer oder was sind die Schwarzen Tiger?

Die Schwarzen Tiger sind – wie in dem Gedicht angedeutet – die Selbstmordkommandos der LTTE, die in der sicheren Erwartung, selbst zu sterben, ausgewählte und als militärisch deklarierte Ziele des sri lankanischen Staates angreifen. Als erster Schwarzer Tiger gilt gemeinhin Hauptmann Miller alias Vasanthan, der am 05.07.1987 im Alter von 21 Jahren einen mit Sprengstoff beladenen LKW in ein sri lankanisches Militärlager in der High School in Nelliady steuerte und es völlig zerstörte.

Diese Tat wird jedes Jahr am 5. Juli als Tag der Schwarzen Tiger begangen. Es folgten weitere Selbstmordangriffe dieser Kommandos, wobei sich ihr Charakter allmählich änderte. Richtete sich der Angriff 1987 noch auf ein Armeelager, so wurden in der Folge zunehmend individuelle politisch-militärische Ziele und einzelne Personen – meist Politiker und hochrangige Militärs – angegriffen. Das Attentat auf Rajiv Gandhi 1991 ist das bekannteste und berüchtigste, dazu zählen aber auch der Angriff auf den Militärkommandanten Denzil Kobbekaduwa und der – fehlgeschlagene – Angriff auf Chandrika Kumaratunga 1999. Weitere Angriffe wurden auf wirtschaftlich-militärische Einrichtungen, wie den militärischen Teil des Flughafens Katunayake 2001 oder das World Trade Centre in Colombo 1996, durchgeführt.

Die Anschläge der Schwarzen Tiger sind solche einzelner oder – seltener – einer Gruppe von nicht mehr als 10 – 15 Personen. Sie finden außerhalb des Kampfgeschehens auf dem Schlachtfeld statt, sind aber nicht selten von diesem abhängig. Die Schwarzen Tiger bzw. die LTTE bekannten sich meist nicht unmittelbar – manchmal gar nicht – zu diesen Anschlägen. Der Anschlag auf Rajiv Gandhi wurde 2006 eindeutig zugegeben; bei anderen Anschlägen zweifeln auch die Experten, ob sie tatsächlich auf das Konto der Schwarzen Tiger gehen: so das Attentat auf Präsident Premadasa 1993 und auf Außenminister Lakshman Kadirgamar 2005.

Die Angriffsziele der Schwarzen Tiger richten sich demnach auf Ziele und Gegner, von denen man annimmt, dass sie auf andere Weise nicht auszuschalten seien, mit anderen Worten, schwer bewachte und geschützte menschliche und materielle Objekte, deren Zerstörung jedoch als wesentlich angesehen wird. Bei Personen handelt sich um solche, die die LTTE für die Unterdrückung oder Ermordung von Tamilen oder für eine fehlerhafte Politik persönlich verantwortlich macht.

Der Unterschied zu »normalen« Kriegern liegt darin, dass Soldaten im Kampf sterben können; Schwarze Tiger »müssen« sterben; Überleben ist keine Option.2 Die Kämpfer auf dem Schlachtfeld rechnen zwar jederzeit mit dem Tod, sie tragen sogar eine Zyankalikapsel um den Hals, um im Fall der Gefangennahme Selbstmord begehen zu können, aber die theoretische Möglichkeit des Überlebens ist immer gegeben. LTTE-Kämpfer verpflichten sich heute für mehrere Jahre, dann können sie ins zivile Leben zurückkehren, was sie zunehmend auch tun. Viele ehemalige Kämpfer sind heute in der zivilen Verwaltung tätig.

Anders die Schwarzen Tiger: sie sind speziell ausgewählt und ausgebildet; nicht jeder kann ein Schwarzer Tiger werden, selbst wenn er möchte. Sie werden nicht für den Krieg trainiert sondern für das Sterben, da nur durch dieses Sterben das gewünschte Ziel erreicht werden kann. Dieses Sterben geschieht allerdings nicht um seiner selbst willen, sondern weil damit etwas bewirkt werden soll. Die Tamilen waren zahlen- und ausstattungsmäßig lange der sri lankanischen Armee unterlegen und griffen zur Selbstverteidigung zu diesem letzten Mittel, ähnlich den »menschlichen Bomben« der Kamikazekämpfer. Die Schwarzen Tiger verwenden das »Leben als Waffe«, weil eine andere Waffe nicht geeignet oder wirkungslos ist.3

Der Beweggrund für solche Einsätze von Schwarzen Tigern ist – zumindest auf Seiten der Führung – ein durchaus pragmatischer, der Einsatz selbst aber immer etwas Besonderes: Er bleibt die Ausnahme. Schwarze Tiger werden eingesetzt für Aufgaben, die andere Krieger nicht erfüllen können. Weder sind ihre Aktionen willkürlich, noch sind die Opfer willkürlich gewählt: Ziele und Attentäter werden sorgfältig gewählt und letztere geschult.

Angriffe auf Cafés und Hotels, wie sie Hamas, oder auf Schulen und Kinderheime, wie sie die sri lankanische Armee zunehmend durchführt, kommen nicht vor. Wohl aber Angriffe auf Flugplätze, Banken, alles, was im weitesten Sinne als militärisch-ökonomisches Ziel bezeichnet werden kann. Es genügt also nicht, sich einen Sprengstoffgürtel um den Bauch zu binden und los zu laufen, im Gegenteil, Schwarze Tiger sollen nicht wahllos Massaker anrichten, sondern genau bezeichnete Ziele zerstören. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Selbstmordattentäter der LTTE grundsätzlich von islamistischen Selbstmordattentätern.

Ihr Tod ist notwendig, aber nicht gewünscht, auch wenn er von den Aktiven oft nicht nur erwartet, sondern manchmal auch ersehnt wird. Schwarze Tiger operieren immer anonym. Ihre Namen sind nicht bekannt und ihre Gesichter im Leben und in Darstellungen immer vermummt. Namen erhalten sie erst nach ihrem Tod, wenn eine Aktion erfolgreich abgeschlossen wurde. Schwarze Tiger sind männlich oder weiblich, sie agieren zu Lande und zu Wasser, bisher aber noch nicht aus der Luft. Bekannt geworden ist die junge Frau, die angeblich Rajiv Gandhi in die Luft gesprengt hat. Beide Geschlechter müssen sich strengen disziplinarischen und moralischen Regeln unterwerfen.

In noch einem Punkt unterscheiden sich die LTTE-Kämpfer von islamistischen Selbstmordattentätern: Sie opfern sich nicht aus religiösen Gründen. Dies wird gleich noch näher erläutert, aber zuerst steht hier die Frage, welche Beweggründe die Schwarzen Tiger selbst antreiben. Was, salopp gesagt, versprechen sie sich von ihren Aktionen? Die Antwort lautet kurz und knapp: nichts für sich persönlich. Schwarze Tiger sterben, sie werden, wie auch Peter Schalk betont, nicht von der Aussicht auf ein Weiterleben nach dem Tod bewegt. Auch wenn die meisten LTTE-Mitglieder und demnach auch die Schwarzen Tiger sivaitische Hindus sind – mit einer substantiellen katholischen Minderheit – so findet sich weder in den Gedichten, von denen eines nebenstehend zitiert wird, noch in ihren Schriften ein Hinweis darauf, dass die Schwarzen Tiger mit der Hoffnung auf das Paradies oder eine günstige Wiedergeburt in den Tod gehen. Nicht nur die politische, auch die individuelle Motivation der Schwarzen Tiger ist eine durchaus säkulare.4

Ihre einzige Hoffnung ist die, dass durch ihre Aktionen das Land, die Mutter Tamil, das Mutterland, von Fesseln befreit unabhängig überleben wird. Das ist die einzige Genugtuung, derer sie sich in ihrem Sterben versichern können. Dies und die Gewissheit, dass sie in der Erinnerung ihres Volkes weiterleben werden, eine Gewissheit, die bisher nicht getrogen hat: Die Schwarzen Tiger werden in Reden, Geschichten und Gedichten besungen. In den Reden der LTTE-Führung, vor allem V. Prabhakarans, dominiert das Motiv des alles verzehrenden Feuers und des gerechten Zorns im Zusammenhang mit den Schwarzen Tigern: Schmerz und Trauer verwandelt sich in Zorn. Zum Heldengedenktag 2000 erklärte er z.B., dass das Feueropfer der Märtyrer das Land rein mache, die gefallenen Helden seien die Ecksteine Tamil Ilams, die das Land schützen, eine sehr alte tamilische Auffassung.5 Als Wegweiser auf dem Weg zur Freiheit brennen sie sich in die Erinnerung ein und werden dadurch unsterblich. Während das normale menschliche Leben mit dem Tod endet, leben die Helden weiter im Schoß der Tamilmutter.6

Das zitierte Gedicht nimmt dieses Motiv auf: der Kämpfer wird mythologisiert als Feuergestalt. Er richtet sich auf einen unendlichen Kampf ein, der Äonen andauert. Er ist durch das Böse nicht zu besiegen. Das Selbstopfer des Helden, die Verbrennung, Aschewerdung, macht die Erde fruchtbar. Auch das ist ein immer wiederkehrender Topos: Die Toten werden nicht verbrannt, sondern in die Erde als Saatkorn eingesät. Aus ihrem Opfer entsteht nicht unbedingt real, aber metaphorisch neues Leben, die Motivation für die Nachfolger. Sie werden zur Gabe an die Zukunft, wodurch sie zeitlos werden, und an den Tod, den sie dadurch besiegen. Der gerechte Zorn über das Unrecht, das den Tamilen, dem Volk angetan wurde, bestimmt die Beweggründe der Schwarzen Tiger genauso wie die Schuld, derer sie ihre Opfer bezichtigen. Ihr Lohn ist der Tod und das Überleben des Landes.

Das Bild erinnert an göttliche und menschliche Asketen der indischen Mythologie, die, in Meditation versunken, die Welt in Flammen aufgehen lassen können. Der Flammentod, die Selbstverbrennung, ist ein traditionelles und modernes Mittel der Wahl im religiösen und politischen Kontext: in der dravidischen Bewegung in Tamilnadu, die gegen Kastenunterdrückung und für kulturelle Autonomie kämpfte, finden wir Streiter, die sich aus Protest z.B. gegen die Einführung des Hindi als offizielle Sprache, also für ein säkulares Ziel, verbrannten. Hier zeigt sich, dass die Wahrnehmung der Zurückgebliebenen, auch und gerade der überlebenden Kameraden, sich von der offiziellen Ideologie subtil unterscheidet.

In den Gedichten zur Ehrung der Schwarzen Tiger finden wir, wenn nicht eine religiöse, so doch eine stark sakrale Komponente: das Nationale, die Nation und ihr Überleben, werden religiös überhöht und symbolisiert: Erlösung für die Schwarzen Tiger bedeutet das Sterben im Kampf und das (Über-)Leben der Nation Tamil Ilam.7 Zwar ist auch hier weder vom Himmel noch von Wiedergeburt die Rede, wohl aber von einer geisterhaften Existenz bzw. der Verwandlung der Helden in Gestirne. Ganz aufgeben will man sie nicht, sondern sich ihrer Macht weiterhin bedienen können, auch dies eine sehr alte Vorstellung.

Auch wenn ein Schwarzer Tiger mit dem Tod tot ist, so übt er doch Einfluss auf die Lebenden, vor allem auf den Gegner aus: Die geisterhafte Erscheinung ängstigt seine Feinde bis in ihre Träume, eine durchaus realistische Beschreibung der Angst der Sinhalesen vor den unvermutet und wirklich wie von Geisterhand zuschlagenden Selbstmordkommandos. Einige Armeekommandeure gingen so weit zu verlangen, dass die sri lankanische Armee ebenfalls Selbstmordbataillone gründe.8

Gedichte wie Prosatexte betonen die Menschlichkeit und die Normalität der Schwarzen Tiger. Eine Kurzbiographie Hauptmann Millers erwähnt seine Heiterkeit und seine Lausbubenstreiche, aber auch seine Hilfsbereitschaft und seine Liebe und Verehrung für seine Mutter. Letztere wird zitiert mit der Bemerkung, er sei so ein lieber Junge gewesen, den sie sehr betrauere, aber was er getan habe, sei zum Wohl des Landes gewesen.9

Der Schwarze Tiger bleibt ein Mensch, ein »König aus der Menschheit geboren«, der in gerechtem Zorn jede Überlegung aufgibt und nur noch handelt, ohne Rücksicht auf die Folgen für ihn selbst.

Der oftmals als unerklärlich angesehene Erfolg der LTTE gründet sich auf drei Komponenten, die in der kollektiven Erinnerung immer noch starken Rückhalt haben: Die oben beschriebene dravidische Bewegung Tamilnadus sowie religiöse und militärische Traditionen der Tamilen. Während die religiöse Tradition national uminterpretiert wird, knüpft die militärische Tradition an die der Maravar, einer tamilischen Kriegerkaste und an die Texte des Purananuru, einer Sammlung alttamilischer Kriegsgedichte, an. Diese Mobilisierung gelingt allerdings nur über den Versuch, die Tradition innerhalb des alten Rahmens von Grund auf neu zu definieren. Alte und akzeptierte Werte werden nicht verworfen, sondern einfach völlig neu interpretiert und mit neuem Inhalt gefüllt. Der Tiger ist dabei nicht nur das Symbol der alten tamilischen Dynastie der Colas, sondern auch das der Indian National Army Subhas Chandra Boses, der im Zweiten Weltkrieg von Birma aus gegen die Briten um die Unabhängigkeit Indiens kämpfte.10

Die LTTE vertritt nicht nur die alten Symbole und Emotionen tamilischen Heldentums, sie stellt sich auch als Hüter und Wächter dieser Tradition dar, ein Konzept, das die Bevölkerung akzeptiert, weil es ihr aus unzähligen Lektionen und Erzählungen wohl bekannt ist.11 »Tamilische« Tugenden wie strikte Disziplin und absolut ehrenhaftes Verhalten finden sich bei der LTTE wieder: Wir schützen euch, euer Volk, eure Ehre und eure Frauen. Der Anspruch auf ein unabhängiges Ilam beruht auf dem Kampf gegen die rassische und nationale Unterdrückung genauso wie auf vergangenem Ruhm. Hierin besteht das programmatische und ideologische Geschick der Militanten, die genau die Traditionen aufgreifen, die bei der Bevölkerung auf Resonanz stoßen. In der Synthese ergeben sie etwas Neues, nur der LTTE Eigenes. Das dürfte der Grund sein, warum die Märtyrer – und besonders die Schwarzen Tiger – bei der Bevölkerung auf soviel Verehrung stoßen.

In der genannten Konstellation ist es nicht leicht, den Kampf vor dem endgültigen Erfolg aufzugeben, das Leiden der Helden darf ja nicht umsonst gewesen sein. Umso bemerkenswerter ist es, dass es 2002 tatsächlich zu einem Waffenstillstand kam, von dem ausdrücklich gesagt wurde, er sei gut auch deshalb, weil man jetzt keine Einsätze der Schwarzen Tiger mehr durchführen müsse. Es ist aber anzunehmen, dass die Schwarzen Tiger nach dem Zusammenbruch des Waffenstillstandes wieder auferstehen werden: Geister aus der Asche des Weltuntergangs. Der Angriff auf die Marinebasis Galle im November 2006 hat davon einen Vorgeschmack gegeben.

Anmerkungen

1) Curiyap Putalvar: Heldengedenktag 27. November 2001, S.19, Internationales Büro der Liberation Tigers of Tamil Eelam,

2) vgl. Dagmar Hellmann-Rajanayagam (2005): And Heroes Die – Poetry of the Tamil Liberation Movement in Northern Sri Lanka, in South Asia: Journal of South Asian Studies, n.s., XXVIII, 1, April 2005, SS.112-153.

3) Peter Schalk (2006): Cavilum Valvom (Auch im Angesicht des Todes werden wir leben), Dortmund, S.166.

4) Peter Schalk (1997): Resistance and Martyrdom in the Process of State Formation of Tamil Eelam in: Joyce Pettigrew (Hg.): Martyrdom and Political Resistance – Essays from Asia and Europe (Comparative Asian Studies, 18) VU University Press for Centre Asian Studies, Amsterdam, angesehen: http://www.tamilnation.org/ideology/schalkthiyagam.htm 28.12. 2006.

5) Curiyap Putalvar (2001): a.a.O., S.1

6) Rede Prabhakarans zum Heldengedenktag 27. November 2006: „Im subtilen Wirbel von Geburt, Wandel, Tod vergeht die Zeit. Wie eine im pausenlos weiter drängenden Fluss der Zeit ab und zu Wasserblasen auftauchen und verschwinden, so beschließt und endet das unbeständige menschliche Leben mit dem Tod. Aber unserer großen Helden Leben und Geschichte entspricht dem nicht. Nach dem Tod geht ihr Leben weiter. Mit dem Tod ist ihr Leben nicht beschlossen. Sie leben ein ewiges Leben im Schoß der Tamilmutter. Als Zeugen der Wahrheit, als Entzünder des Feuers der Geistesstärke, als Wegweiser auf unserem Weg zur Unabhängigkeit gehen sie aufrecht voran.“ (Übersetzung: Dagmar Hellmann-Rajanayagam)

7) Des großen Helden Erlösung, in Curiyap Putalvar (2001): a.a.O., S.37 .

8) Schalk: Cavilum Valvom, a.a.O., S.167.

9) Der Anbruch einer neuen Zeit, in Curiyap Putalvar (2001): a.a.O., S.34.

10) vgl. Alexander Werth: Der Tiger Indiens Subhas Chandra Bose, Ein Leben für die Freiheit des Subkontinents, München [u.a.]1971.

11) vgl. Satchi Sri Kantha: Homage to the Black Tigers – A Review of Sooriya Puthalvargal 2003, Memorial Souvenir, 22 June 2004, angesehen: http://www.tamilnation.org/forum/sachisrikantha/blacktigers2.htm 28.12.2006.

PD Dr. Dagmar Hellmann-Rajanayagam arbeitet zur Geschichte sowie den ethnischen und religiösen Konflikten in Süd- und Südostasien. Seit 20 Jahren lebt sie jährlich mehrere Monate in Sri Lanka und Südindien.

Stimmen aus der arabischen Öffentlichkeit

War on Terror:

Stimmen aus der arabischen Öffentlichkeit

von Carmen Becker

Die arabische Medienlandschaft ist genauso verwirrend und vielfältig, wie die in anderen Ländern. Dementsprechend unterschiedlich sind auch die arabischsprachigen Angebote zum »war on terror« im Internet, in den audio-visuellen und den Printmedien. Die Autorin beschränkt sich bei ihrer Darstellung des Umgangs mit dem Kampf gegen den Terrorismus in der arabischen Öffentlichkeit auf die arabischen Nachrichtensender, allen voran al-Jazeera als beliebtester Sender mit den insgesamt höchsten Einschaltquoten. Diese Sender bilden den Kern einer politisierten arabischen Öffentlichkeit, in der Argumente ausgetauscht und um Definitionen sowie Interpretationen gerungen wird. Um die Darstellung des Themas »war on terror« und die Diskussionen um dieses Thema in der arabischen politischen Öffentlichkeit besser einordnen zu können, befasst sie sich zunächst mit dem Selbstverständnis dieser Öffentlichkeit. Anschließend geht sie auf die Wortwahl der Berichterstattung über Terrorismus ein und wirft einen Blick in die diskursiven Felder, die in den Fernsehdebatten zum Thema dominieren.

Das Selbstverständnis arabischer Zuschauer und auch vieler Produzenten arabischsprachiger Satellitenprogramme – jenseits des Unterhaltungssegements – wird in einer Aussage im Hizbullah-Sender al-Manar1 deutlich: Die USA bekämpfen jedes freie Medium, das nicht ihre Politik in der Region propagiert. Al-Manar vertritt die arabische Straße und ist ein Echo der Sorgen arabischer Bürger. Das stört die Amerikaner und die zionistische Lobby.“2

Die Mehrheit der arabischen Bevölkerung ist überzeugt, dass sie al-Jazeera und Co brauchen um ihrer Stimme Gehör zu verschaffen und dem »amerikanischen bzw. westlichen Projekt« etwas entgegen zusetzen. Auch diejenigen, die wenig für Verschwörungstheorien übrig haben, konzidieren, dass eine unabhängige arabische Stimme als Alternative sowohl zu den westlichen als auch zu den arabischen staatlich zensierten Medien unbedingt geboten ist.

Arabische Gegenöffentlichkeit zur westlichen Dominanz?

Das Misstrauen gegenüber westlichen Medien, obwohl diese fleißig konsumiert werden, ist groß. Sie werden in weiten Kreisen der arabischen Öffentlichkeit als Instrument der Öffentlichkeitsarbeit – oder weniger taktvoll als Propagandainstrument – des »Westens« wahrgenommen. Dieser Subtext untermalt sämtliche Diskussionen in der arabischen politischen Öffentlichkeit und ist die gängigste Schablone, vor deren Hintergrund internationale und regionale Ereignisse wahrgenommen werden, auch der »war on terror«.

Dabei schien sich mit dem Aufkommen der transnationalen arabischen Satellitensender Anfang der 1990er Jahre zunächst aus der Sicht des so genannten Westens ein neuer Verbündeter für Demokratisierung aufzutun. Man versprach sich dadurch eine Befreiung von Regierungskontrolle, ein Aufbrechen staatlicher Medienmonopole und in der Folge einen Demokratisierungsschub in den arabischen Gesellschaften. 1996 trat al-Jazeera als erster arabischsprachiger reiner Nachrichtensender mit der berühmten Prämisse auf die Bühne: „Die Meinung und die andere Meinung“. Al-Jazeera beanspruchte für sich, professionell auf Arabisch und mit einem arabischen Blick aus der Region sowie über außerregionale Ereignisse zu berichten und dabei alle Meinungen zu Wort kommen zu lassen. Der Sender transformierte die arabische Medienlandschaft durch seinen dezidiert politischen Fokus im Gegensatz zu den herrschenden Entertainmentsendern und trat zu einer Zeit auf, als die staatliche Kontrolle über die meisten nationalen Medien wieder zunahm. Mittlerweile sind zahlreiche Nachrichtensender bzw. Sender mit gemischten Unterhaltungs- und Nachrichtenanteilen entstanden. Al-Jazeera hat inzwischen scharfe Konkurrenz von al-Arabiya bekommen und auch das religiöse Segment erfreut sich großer Beliebtheit. Zu letzterem zählen neben dem bereits eingangs erwähnten Nachrichtensender al-Manar mit Standort in Beirut, auch Sender wie Iqraa3 aus Ägypten.

Die Entwicklung des arabischen Satellitenfernsehens zog eine Restrukturierung des kommunikativen Raums nach sich. Stil und Struktur der öffentlichen Diskussionen veränderten sich rapide. Es ist fast unmöglich, den Talkshows im arabischen Fernsehen zu entkommen. Die Debatten sind offen, überwiegend nicht aufgezeichnet, enthalten die unterschiedlichsten Positionen und sind im Verlauf nicht vorhersagbar. Es ist für Teilnehmer (oder Moderatoren) an Talkshows, Live-Interviews und Fernsehdebatten unmöglich, Kontrolle auszuüben. Gleichzeitig finden sich die Kommunikationsformen in einem neuen Verhältnis zur politischen Organisation sowie Artikulation wieder. Die arabischen Zuschauer erfahren oft zum ersten Mal, was politische Partizipation in Form von Meinungsäußerung bedeuten kann. Nicht umsonst sind gerade Talkshows mit der Möglichkeit, ungefiltert über Telefon seine Meinung zu äußern oder über bestimmte Fragen abzustimmen, besonders beliebt.

Allgegenwärtig – vor allem auf al-Jazeera – sind die »polarization entrepreneurs«, diejenigen, die jede Talkshow mit diametral entgegengesetzten Meinungen versorgen. Nicht zufällig heißt die beliebteste Diskussionssendung auf al-Jazeera »Entgegengesetzte Richtung«. Hier findet der Kampf zwischen zwei unversöhnlichen Lagern statt, der sich aus der Sicht der Teilnehmer oft zum Kampf zwischen Gut und Böse entwickelt, z. B. bei Themen wie »Die Araber und der Besitz von Atomwaffen«, »Die Krise in Libanon« und »Amerika und die Klassifizierung der Araber in Moderate und Extremisten«. Solche Sendungen stellen nicht nur den ständigen Nachschub an extremen Ansichten sicher, sie bieten auch einen gewissen Unterhaltungswert.

Transnationale arabische Medien erreichen Gemeinschaften, die durch Migration und Vertreibung in alle Winde zerstreut wurden, und können sie über Grenzen hinweg vereinen. Soziale und nationale Identitäten (Stadt und Land; Tunesier, Ägypter oder Kuwaiti etc.) verlieren an Bedeutung gegenüber dem Gefühl, an einem gemeinsamen politischen Projekt teilzunehmen und zu arbeiten. Wie dieses Projekt genau aussieht, ist umstritten, aber es ist arabisch und beschäftigt sich mit »arabischen« Problemen. In den arabischen Ländern und Diasporagemeinden betrachten sich die Zuschauer als Teilnehmer an einer permanenten politischen Debatte.

Die transnationale arabische Öffentlichkeit ist somit keine kosmopolitische Öffentlichkeit. Sie ermutigt sogar die Politik der Identitäten, da sie sich bewusst auf eine bereits existierende transnationale politische Gemeinschaft – die Araber – bezieht. Teilnehmer an Debatten sprechen die arabische politische Öffentlichkeit eben als arabische Öffentlichkeit an.

Dies zieht im Umkehrschluss nach sich, dass man sich als Gegenöffentlichkeit zur westlichen Hegemonie versteht. Bis zu den Ereignissen des 11. September wurden die Debatten in der arabischen Öffentlichkeit so geführt, als ob der so genannte Westen weder teilnimmt noch zuhört. Erst nach dem 11. September interagierte die »westliche« Öffentlichkeit mit dem arabischen Counterpart. Jedoch entwickelte sich daraus kein Dialog, sondern vielmehr eine Beziehung basierend auf Dominanz und Widerstand. Der Krieg gegen den Terror traf auch arabische Satellitensender und führte zum tiefgreifenden Vertrauensbruch zwischen dem Großteil der arabischen Medien und allen voran der US-Regierung. Nicht zuletzt angebliche US-Pläne zur Bombardierung des Sitzes von al-Jazeera in Katar vertieften den Bruch. Die arabischen Medien sahen und sehen sich immer noch den Vorwürfen ausgesetzt, Hass gegen die USA und dem »Westen« zu verbreiten, Terroristen sowie Islamisten eine Plattform zu bieten und für den Antiamerikanismus, der die arabische Welt nach 9/11 überschwemmte, verantwortlich zu sein. Vor allem al-Jazeera hält dagegen: Man müsse die Stimmung auf der Straße einfangen und wiedergeben. Alles, was politisch relevant sei, müsse zu Wort kommen, ob es den USA passe oder nicht. Der Antiamerikanismus ist in den letzten Jahren auch außerhalb der arabischsprachigen Region (auch in Europa!) gestiegen. Die Schuld einseitig arabischsprachigen Medien zuzuschreiben, würde die Existenz des Phänomens in anderen Sprachregionen nicht erklären. Allein aus diesem Grund können al-Jazeera und Co. kaum als Verursacher von Antiamerikanismus, als Verantwortliche für steigenden Hass und Extremismus, ausgemacht werden.

War on Terror vor Ort

Vor dem geschilderten Hintergrund debattiert eine Vielzahl unterschiedlicher Akteure in der politischen arabischen Öffentlichkeit über den »war on terror«. Die Betroffenheit der Diskussionsteilnehmer als Araber oder Muslim sowie die gewaltsamen Veränderungen, die sich aus dem »Krieg gegen den Terrorismus« in ihrem Lebensumfeld ergeben, sind naturgemäß der Ausgangspunkt dieser Diskussionen. Im Unterschied zu den Menschen außerhalb der Region, hat der »Krieg gegen den Terrorismus« die regionalen Herrschaftsstrukturen im Nahen und Mittleren Osten nachhaltig verändert (Irak, Afghanistan, Aufstieg Irans zur Regionalmacht), lokale Konflikte überlagert (israelisch-palästinensischer Konflikt, Libanon) und die Einteilung politischer Akteure, sowohl innerhalb der politischen Systeme als auch auf der internationalen Bühne, neu konfiguriert (Extremisten vs. Moderate, Terroristen vs. Staat, Achse des Bösen etc.). Aufgrund dieser Betroffenheit der Diskutanten erscheinen die Diskussionen oft emotional, überhitzt und extrem.

Vier diskursive Zusammenhänge dominieren die Diskussionen um Terrorismus und Terrorismusbekämpfung in der arabischen Öffentlichkeit:

  • Arabische Medien berichten ausführlich über die neue Gesetzgebung im Rahmen der Terrorimusbekämpfung in Europa und den USA. Im Mittelpunkt der Berichterstattung steht der Umgang mit den jeweiligen muslimischen Minderheiten. Besonders dann, wenn Bürgerrechte zu Gunsten von Sicherheitserwägungen eingeschränkt werden und in der westlichen Öffentlichkeit wieder einmal ein »Generalverdacht« gegenüber Muslimen geschürt wird, ist die mediale Aufmerksamkeit sehr hoch. Während einer Folge der Sendung »Mehr als eine Meinung« auf al-Jazeera bedauerte ein islamischer Flüchtling in Großbritannien diese Entwicklung: „Das britische Rechtswesen war die Wirbelsäule Großbritanniens und hat das System und den Erfolg der Väter und Großväter des Vereinigten Königreichs getragen. Dafür haben wir die Briten respektiert und ihre Gesetze studiert. Es tut mir um die Entwicklung in Großbritannien leid.?
  • Sowohl arabische Regime als auch der »Westen« werden zunehmend als Kräfte wahrgenommen, die Terrorismusbekämpfung als Vorwand nutzen, um Demokratieförderung und Reformen auszusetzen. Demokratisierung, so die weit verbreitete Wahrnehmung, werde vom Westen nur dann verfolgt, wenn es den eigenen Interessen diene. Ist dem nicht der Fall, lasse der Westen hehre Ziele wie Demokratie und Menschenrechte im Namen des Kampfes gegen angebliche Terroristen fallen. Als Beispiel wird prominent die Blockade der von Hamas gebildeten Regierung oder auch aktuell das Gerichtsverfahren gegen Sadam Hussain angeführt. Ebenso müssen sich arabische Regime den Vorwurf gefallen lassen, unter dem Deckmantel der Terrorismusbekämpfung Repressionen gegen Opposition und Zivilgesellschaft zu verschärfen, vor allem wenn sie islamistischer Prägung sind und eine Herausforderung für die eigene Herrschaft darstellen. Auch hier wird Terrorismusbekämpfung von weiten Teilen der politischen arabischen Öffentlichkeit als Instrument zur Festigung von autoritärer Herrschaft und Unterdrückung von Opposition interpretiert.
  • Die Beziehung zwischen Islam und Terrorismus hat ebenfalls ihren Platz in den öffentlichen politischen Diskussionen. Terrorismus wird allgemein verurteilt. Jedoch ist die große Frage, was eigentlich Terrorismus ist, der Punkt, an dem sich auch in der arabischen Öffentlichkeit die Geister scheiden. Sind palästinensische Selbstmordattentäter, Hizbullahkämpfer und irakische Rebellen Terroristen oder Widerstandskämpfer gegen Besatzung und ausländische Bedrohungen? Während in den westlichen Öffentlichkeiten das Wort »Islamist« überwiegend als eine Bezeichnung für einen Terroristen muslimischen Glaubens verstanden wird – oft verdeutlicht durch Adjektive wie extremistisch oder radikal, so wird in der arabischen Öffentlichkeit weiter differenziert und zunehmend nach den Wurzeln von Terrorismus, z.B. sozio-ökonomische und psychologische Faktoren oder äußere Einflüsse wie Imperialismus, gefragt.
  • Der »Krieg gegen den Terror« hat sich unbemerkt aber mit aller Wucht in lokale Konflikte in der Region übertragen oder ist, wie im Irak, selbst zum Auslöser eines neuen Krisenherdes geworden. Anders als das nicht-arabische Publikum ist die arabische Öffentlichkeit direkt im täglichen Leben vom »Krieg gegen den Terror« betroffen bzw. fühlt sich als »Araber« oder »Muslim« als Teil der betroffenen Gemeinschaft. In lokalen gewalttätigen Auseinandersetzungen, wie dem israelisch-palästinensischen Konflikt, oder in Irak, wird die Legitmität des eigenen Handelns aus der jeweils als terroristisch oder illigitim wahrgenommenen Gewalt der Gegenseite abgeleitet. Die israelische Politik – mit den gezielten Tötungen, der Zerstörung von Häusern und der Enteignung von Ländereien – wird in weiten Teilen der arabischen Öffentlichkeit als Staatsterrorismus bezeichnet. Hamas oder auch Hizbullah gelten demgegenüber überwiegend als gewählte politische Akteure. Selbst ihre arabischen politischen Gegner begegnen ihnen zumindest in der Öffentlichkeit nicht mit dem Terrorismusvorwurf. Dass sie in der Matrix des »war on terror« im »Westen« auf der Seite terroristischer Kräfte verbucht werden, stößt in der arabischen Öffentlichkeit auf Unverständnis.

Ausgestrahlte Videos mit Botschaften von Terroristen, mit verängstigten, flehenden Geiseln und Aufnahmen von Morden an unschuldigen Zivilisten haben heftige Reaktionen im »Westen« ausgelöst. Der Vorwurf wendet sich vor allem an al-Jazeera. Der Sender strahlt trotzdem weiterhin Videos von al-Qa’ida und anderen jihadistischen Gruppen aus, wenn auch selektiver als zuvor; Tötungen und Leichen, die auf solchen Videos zu sehen sind, werden nicht gezeigt. Al-Jazeera zufolge wird sogar die große Mehrheit der Videos, die beim Sender ankommen, nicht gesendet. In der arabischen Öffentlichkeit wird die Veröffentlichung der Videos im Gegensatz zu den westlichen Öffentlichkeiten kaum kontrovers diskutiert. Al-Qa’ida beeinflusst aus arabischer Sicht die Geschicke der Region. Daher haben z.B. Videonachrichten vom zweiten Mann al-Qa’idas, Aiman al-Zawahiri, einen eigenen Nachrichtenwert. Während der Inhalt der Nachrichten durchaus sehr kontrovers diskutiert und kritisch kommentiert wird, befürwortet nur eine Minderheit ein Verbot der Ausstrahlung solcher Nachrichten.

Von Rebellen, Märtyrern oder Terroristen

Die Wortwahl entscheidet in den Medien über die Legitimität einer politischen Aktion, auch wenn dazu der Einsatz von Gewalt gehört. In der Berichterstattung über den israelisch-palästinensischen Konflikt bezeichnet al-Jazeera fast ausnahmslos alle getöteten Palästinenser, sowohl Kämpfer als auch Zivilisten, als »Märtyrer« (arab. shahid). Entsprechende Nachrichten werden in der Regel mit „x Palästinenser starben heute den Märtyrertod (arab. ustushhida)“ eingeleitet. Der Begriff wird ebenso, wenn auch weniger konsequent, für palästinensische Selbstmordattentäter verwendet. Der Ausdruck »den Märtyrertod erleiden« bleibt auf al-Jazeera im irakischen oder afghanischen Kontext Zivilisten vorbehalten. Kämpfer werden als Kämpfer oder Rebellen, seltener als Mitglieder des Widerstands bezeichnet.

Der größte Konkurrent al-Jazeeras, der Nachrichtensender al-Arabiya, versucht, Begriffe wie Märtyrer und Terrorist weitgehend zu vermeiden. Al-Arabiya definiert sich im Kampf um Marktanteile als moderate Alternative zu al-Jazeera, die mehr als der Konkurrent der Objektivität verpflichtet sei. Viele leiten daraus eine größere Nähe zum »Westen« ab. So benutzt al-Arabiya z.B. oft ohne Hinterfragung den Begriff Terrorismus. Demgegenüber hört man auf al-Jazeera grundsätzlich nur „der so genannte Terrorismus“ oder „so genannte Terroristen“.

Für das westliche Publikum erscheinen Diskussionsrunden absurd, in denen Islamisten und Nicht-Islamisten über Themen wie Reform, Demokratie und Terrorismus streiten. Was soll ein Islamist, der per se als potenzieller Terrorist gilt, zu Demokratie und Terrorismus schon zu sagen haben? Ein Beispiel aus der Diskussionssendung »Offener Dialog« auf al-Jazeera vom Februar 2005 zeigt exemplarisch und in fast idealtypischer Weise, wie auch in der arabischen Öffentlichkeit Akteure dem Zwang ausgesetzt sind, sich als wahre Muslime darzustellen und sich gleichzeitig von Gewalt und Terrorismus abzugrenzen. An der Diskussion nahmen Abdullah al-Nibari, ehemaliger Abgeordneter im kuwaitischen Parlament, und Abd al-Mun’im Abu Fatuh, Mitglied des Leitungsbüros der ägyptischen Muslimbrüder, teil.

Im Laufe der Diskussion argumentierte al-Nibari, dass der moderate politische Islam, also auch die Muslimbrüder, zwar nicht mit den radikalen islamischen Fundamentalisten gleichgesetzt werden könne, er habe aber indirekt den Nährboden für den islamischen Fundamentalismus bereitet. In einigen Staaten wie Ägypten und Kuwait seien quasi Bündnisse zwischen moderaten Islamisten und den Regierungen entstanden. Die moderaten Islamisten erhielten Zugang zu Parlamenten und priviligierten Positionen in der Verwaltung. Diese Bündnisse erleichterten dadurch die Verbreitung islamisch-politischen Gedankenguts, vor dessen Hintergrund fundamentalistische Bewegungen – als Abspaltungen von den moderaten Bewegungen – ihre radikalen Agenden entwickelten.

Abu Fatuh entgegnete, dass Korruption und der Mangel an Freiheit sowie Demokratie die wahren Gründe für Gewalt sind. Die wachsende Armut führe angesichts einer sich selbst bereichernden privilegierten Schicht zu Gewalt. Laizisten sähten das Gerücht, dass die Muslimbrüder fundamentalistische Strömungen hervor gebracht hätten. Extremismus und Fundamentalismus seien aber keine religiösen Prinzipien. Die Muslimbrüder seien ein durch die Bevölkerung legitimierter Teil der politischen Szene in vielen arabischen Ländern. Auf Irak bezogen betonen beide, dass „Köpfe abschlagen, Zivilisten nieder metzeln und lebensnotwendige wirtschaftliche Organisationen zu zerschlagen kein Widerstand ist.“ Wenn diese Aktionen auf das amerikanische Militär beschränkt wären, dann könne man dies Widerstand nennen.

Obwohl das Thema der Sendung explizit der Kampf gegen den Terrorismus war, tat sich während der Diskussion ein wahres Bouquet an Themen auf: Reformen, Demokratie, Islam, Korruption, Armut, Widerstand gegen Besatzungen, Gewalt, Laizismus und die Rolle der Religion in der Öffentlichkeit.

Jede Diskussion zum »war on terror« zieht, wie die von mir skizzierten vier diskursiven Felder zeigen, eine Fülle von grundlegenden Fragen des Zusammenlebens, des Allgemeinwohls und des zu erstrebenden politischen Systems nach sich. Dies ist ein Indiz, dass sich die arabische Öffentlichkeit in einem tiefgreifenden Prozess des Wandels in allen Lebensbereichen wähnt, wovon der Krieg gegen den Terrorismus ein zentraler Teilaspekt ist. Da alle bereits durchlebten Experimente wie etwa Panarabismus, Monarchien und sozialistische Republiken als gescheitert gelten, dominieren Fragen nach der erstrebenswerten politischen, sozialen und wirtschaftlichen Verfasstheit der Gemeinwesen und die Abrechnung mit der gegenwärtigen Lage auch die Diskussionen über Terrorismus und den »war on terror«.

Anmerkungen

1) Al-Manar: Libanesischer Satellitensender der Hizbullah, der in Europa durch die Diskussion um eine Fernsehserie auf der Grundlage des antisemitischen Buchs »Die Protokolle der Weisen von Zion« bekannt wurde.

2) Aussage eines Teilnehmers an der Sendung »Kulissen« auf al-Jazeera im April 2006 zum Thema »Verbot von al-Manar«.

3) Iqraa bedeutet übersetzt „Lies!“ oder „Rezitiere!“. „Iqraa“ ist Aufforderung Gottes an den Propheten Muhammad, der damit aufgefordert wird, die göttliche Offenbarung zu verbreiten. Neben religiösen Programmen mit Koranauslegungen sowie Lebensberatung dominieren vor allem Familiensendungen und Dokumentationen das Programm des Senders.

Carmen Becker ist Politologin mit Schwerpunkt auf dem arabischsprachigen Raum. Bis vor kurzem war sie im Auswärtigen Amt für die Analyse arabischsprachiger Medien zuständig.

Staatsterrorismus

Unterschiedliche Grundauffassungen:

Staatsterrorismus

von Deutscher Bundestag

Der Bundestag hat am 1. Dezember, sowohl die Einrichtung einer Antiterrordatei als auch ein »Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz« beschlossen. Doch eine einheitliche Definition darüber, was als Terrorrismus bezeichnet werden kann oder muss, gibt es nicht. Geht Terrorismus immer nur von Personen und Personengruppen sowie Organisationen aus oder fällt auch staatliches Handeln, das gegen das Völkerrecht und die Menschenrechte verstößt, darunter? In einer Kleinen Anfrage der Bundestagsfraktion »Die Linke« vom 28.10.2006 und in der Antwort der Bundesregierung vom 14.11.2006 werden die unterschiedlichen Grundauffassungen besonders deutlich. Wir dokumentieren zuerst die Vorbemerkungen der Fraktion und der Regierung und dann den Text der Anfrage mit den Antworten (Deutscher Bundestag, Drucksache 16/3412)

Vorbemerkung der Fragesteller:

Die Konferenz der Innenminister von Bund und Ländern hat am 4.September 2006 die Einführung einer sogenannten Antiterrordatei gefordert. Problematisch daran ist nicht nur, dass diese Datei das Trennungsgebot von Polizeibehörden und Geheimdiensten weiter einschränkt. Genauso schwer wiegt der Umstand, dass die Bundesregierung bislang keine präzise Definition von »Terrorismus« vorgelegt hat.

Zuletzt hat die Bundesregierung am 8. September 2006 der Resolution A/60/L.62 der Generalversammlung der Vereinten Nationen zur Bekämpfung des Terrorismus zugestimmt. Doch auch hierin findet sich keine Definition dessen, was unter Terrorismus verstanden werden soll. Die Vertreterinnen und Vertreter Kubas und Venezuelas haben darauf hingewiesen, dass ihre Regierungen auch den von Staaten ausgehenden Terror für bekämpfenswert halten (www.un.org/News/Press/docs/2006/ga10488.doc.htm).

In den bisherigen Debatten über die Antiterrorbemühungen der Bundesregierung fehlt eine solche Präzisierung. Im Gesetzentwurf zur Antiterrordatei, der die Innenministerkonferenz am 4. September 2006 grundsätzlich zugestimmt hat, ist die Rede von „Personen, die rechtswidrig Gewalt als Mittel zur Durchsetzung international ausgerichteter politischer oder religiöser Belange anwenden oder eine solche Gewaltanwendung unterstützen, befürworten oder durch ihre Tätigkeiten vorsätzlich hervorrufen.“

Das Problem des internationalen Terrorismus würde jedoch nicht im erforderlichen Maße angegangen, wenn man den von Regierungen betriebenen Terror ausklammern wollte. Bedauerlicherweise lässt sich feststellen, dass auch die Bundesregierung bereits rechtswidrig Gewalt als Mittel zur Durchsetzung international ausgerichteter politischer Belange angewandt hat; besonders augenfällig wurde dies 1999 mit dem Angriff auf die damalige Bundesrepublik Jugoslawien, der ohne UN-Mandat erfolgte. Auch in Zusammenhang mit dem Irak-Krieg hat die Bundesregierung eine solche rechtswidrige Gewaltanwendung unterstützt, wie das Bundesverwaltungsgericht mit seiner Entscheidung vom 21. Juni 2005 festgestellt hat. Mit Blick auf die Gewährung von Überflugrechten für US-Militärflugzeuge, die Bewachung von US-Kasernen und andere Unterstützungsleistungen für den völkerrechtswidrigen Angriff auf den Irak hielt das Gericht fest: „Eine Beihilfe zu einem völkerrechtlichen Delikt ist selbst ein völkerrechtliches Delikt“ (Urteil des 2. Wehrdienstsenats vom 21. Juni 2005 BVerwG 2 WD 12.04).

Versteht man unter Terrorismus die widerrechtliche Anwendung von Gewalt zur Erreichung politischer Ziele, so fallen dem Staatsterrorismus weit mehr Menschen zum Opfer als terroristischen Vereinigungen, wie sie etwa im Strafgesetzbuch beschrieben sind. Hierunter müssen nicht nur völkerrechtswidrige Kriege gefasst werden, sondern auch solche Kriege, die zwar mit einem UN-Mandat legitimiert sind, in deren Verlauf die Kriegsparteien aber immer wieder vorsätzlich oder grob fahrlässig Zivilisten töten, wie etwa beim Enduring-Freedom-Einsatz in Afghanistan. Im weiteren Sinne ist die gewaltförmige Aufrechterhaltung einer Weltordnung, die Milliarden von Menschen in Elend hält, ebenfalls geeignet, Gewalt hervorzurufen. Ernsthaften Willen zur Bekämpfung jeder Form des Terrorismus vorausgesetzt, ergeben sich daraus erhebliche Konsequenzen für die Politik der Bundesregierung.

Vorbemerkung der Bundesregierung

Die Bundesregierung teilt die Ansicht, dass es den Rechtsbegriff »Staatsterrorismus« gibt, ausdrücklich nicht. Das bedeutet nicht, dass die in der Kleinen Anfrage mit dem Begriff des »Staatsterrorismus« in Verbindung gebrachten Handlungen von Staaten keinerlei rechtlichen Regelungen unterlägen. Das Gegenteil ist der Fall. Handlungen von Staaten, insbesondere die Anwendung bewaffneter Gewalt durch diese, unterliegen Normen des Völkerrechtes, insbesondere dem humanitären Völkerrecht und dem System der Menschenrechte. Sie dem Begriff des »Terrorismus« zuzuordnen, ist daher weder systemgerecht noch erforderlich.

Diese Ansicht vertritt die Bundesregierung auch auf internationaler Ebene. Sie wird auch im Kreise der Europäischen Union geteilt, wie der Gemeinsame Standpunkt des Rates vom 27. Dezember 2001 über die Anwendung besonderer Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus (2001/931/GASP – ABl. EG 2001 L 344/93) demonstriert. Die Handlungen, die nach diesem Gemeinsamen Standpunkt als terroristische Straftaten, als Straftaten im Zusammenhang mit einer terroristischen Vereinigung oder als Straftaten im Zusammenhang mit terroristischen Aktivitäten eingestuft und näher bezeichnet werden, werden danach von »Personen, Vereinigungen und Körperschaften« begangen. Staaten werden davon nicht umfasst.

Es trifft zu, dass auf globaler Ebene immer wieder versucht wird, den Begriff des »Staatsterrorismus« in die Definition des »Terrorismus« einzuführen. Hierin liegt allerdings einer der wichtigsten Gründe dafür, dass bisher kein Konsens über eine umfassende Konvention über die Bekämpfung des Terrorismus gefunden werden konnte. Auch hier vertreten die Bundesregierung und die EU ihre Position, dass »Terrorismus« ein strafrechtlich zu bewertendes Phänomen ist, das von Personen und den von ihnen gegründeten Organisationen, nicht aber von Staaten begangen wird. Diese Auffassung unterstützt u. a. auch der Generalsekretär der Vereinten Nationen (VN) Kofi Annan: „We do not need to argue whether States can be guilty of terrorism, because deliberate use of armed force by States against civilians is already clearly prohibited under international law“, (Wir müssen nicht darüber streiten, ob Staaten sich des Terrorismus schuldig machen können, weil das Völkerrecht es bereits klar verbietet, dass Staaten ihre Waffen vorsätzlich gegen Zivilisten einsetzen) bei der Vorstellung der Elemente einer umfassenden VN-Antiterrorismusstrategie in einer Rede am 10. März 2005 in Madrid.

Die Bundesregierung setzt sich auf internationaler Ebene nachhaltig für den Entwurf der umfassenden Konvention über internationalen Terrorismus ein, wie er von den Verhandlungskoordinatoren der Generalversammlung der VN vorgelegt wurde. Dieser Entwurf enthält eine Definition des »terroristischen Akts«, die mit derjenigen der Europäischen Union weitgehend übereinstimmt. Darüber hinaus gibt es auf der Ebene der Vereinten Nationen eine Reihe von Konventionen zur Bekämpfung des Terrorismus, in denen einzelne Begehungsarten terroristischer Handlungen für die Zwecke der jeweiligen Konvention definiert sind. Die Bundesregierung ist gleichwohl der Meinung, dass die Schaffung einer umfassenden VN-Terrorismuskonvention mit einer klaren, verbindlichen Definition von Terrorismus bzw. des »terroristischen Akts« auf internationaler Ebene unerlässlich ist. Dies würde unter anderem eine willkürliche Auslegung der Begriffe »Terrorismus« und »Terrorismusbekämpfung« (z.B. den Einschluss legitimer politischer Opposition) durch einzelne Staaten einschränken.

Kleine Anfrage

Wir fragen die Bundesregierung

Frage 1: Stellt nach Ansicht der Bundesregierung die widerrechtliche Anwendung von Gewalt zur Erreichung politischer Ziele auch dann eine Form des Terrorismus dar, wenn sie von Regierungen demokratischer Staaten ausgeht? Wenn nein, warum nicht? Wenn ja, welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die Mitarbeit der Bundesrepublik Deutschland in EU und NATO?

Frage 2: Ist nach Ansicht der Bundesregierung Krieg eine Form des Terrorismus, insbesondere ein völkerrechtswidriger Krieg, und wie begründet sie ihre Position?

Frage 3: Sind nach Ansicht der Bundesregierung jahrelange Freiheitsberaubung von Menschen ohne Rechtsgrundlage sowie ihre Demütigung und Misshandlung durch staatliche Behörden eine Form des Terrorismus, und wie begründet sie ihre Position?

Antwort: Nein. Auf die Vorbemerkung der Bundesregierung wird verwiesen.

Frage 4: Will die Bundesregierung zur Bekämpfung des Terrorismus auch diejenigen bekämpfen, die ihrer Ansicht nach rechtswidrige Gewaltanwendung unterstützen, und wenn ja, wie definiert sie den Begriff der Unterstützung?

Antwort: Die Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung im repressiven Bereich richten sich gegen Personen, die nach den Bestimmungen des Strafgesetzbuches strafbare Handlungen begangen haben; hierzu ist insbesondere auf §§ 129a, b StGB zu verweisen. Nach § 129a Abs. 5 StGB ist strafbar, wer eine in Absatz 1, 2 oder Absatz 3 des § 129a StGB bezeichnete Vereinigung unterstützt. Der Begriff der Unterstützung – nach der herrschenden Meinung eine zur Täterschaft verselbständigte Beihilfe eines Nichtmitglieds – ist in Rechtsprechung und Literatur näher konkretisiert worden. Soweit sich die Frage auf den Entwurf des Gesetzes zu Errichtung gemeinsamer Dateien von Polizeibehörden und Nachrichtendiensten des Bundes und der Länder (Gemeinsame-Dateien-Gesetz) bezieht, wird auf die Begründung zu § 2 Satz 1 Nr. 2 ATDG-E verwiesen (Seite 29 des Gesetzentwurfs der Bundesregierung – Bundesratsdrucksache 672/06).

Frage 5: Versteht die Bundesregierung unter »Unterstützung« des Terrorismus auch die Mitwirkung an der Operation Enduring Freedom, weil in Afghanistan immer wieder unschuldige Zivilisten durch die dortigen NATO-Truppen getötet werden, und wie begründet sie ihre Position?

Antwort: Nein. Die »Operation Enduring Freedom« dient im Gegenteil der Bekämpfung des Terrorismus, wie aus dem Antrag der Bundesregierung an den Deutschen Bundestag vom 7. November 2001 (Bundestagsdrucksache 14/7296) auch hervorgeht. Im übrigen wird auf die Vorbemerkung der Bundesregierung verwiesen.

Frage 6: Versteht die Bundesregierung unter »Unterstützung« des Terrorismus auch die Gewährung von Überflugrechten für fremde Militärflugzeuge, wenn diese an völkerrechtswidrigen Angriffskriegen wie denjenigen gegen den Irak im Jahr 2003 beteiligt sind, und wenn nein, welchen grundsätzlichen Unterschied sieht die Bundesregierung zwischen einer völkerrechtswidrigen Bombardierung durch staatliches Militär und rechtswidrigen Bombenanschlägen nichtstaatlicher Akteure?

Antwort: Nein. Auf die Vorbemerkung der Bundesregierung wird verwiesen.

Frage 7: Will die Bundesregierung zur Bekämpfung des Terrorismus auch diejenigen bekämpfen, die ihrer Ansicht nach rechtswidrige Gewaltanwendung zur Erreichung politischer Ziele befürworten, und wie definiert sie den Begriff des Befürwortens?

Antwort: Die Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung richten sich auch gegen Personen und Organisationen, die durch Aufstachelung zu Hass oder Willkürmaßnahmen die Bereitschaft zur Anwendung von Gewalt fördern und den öffentlichen Frieden stören: Terrorismusbekämpfung muss präventiv, also bereits im Vorfeld möglicher terroristischer Straftaten ansetzen. Soweit sich die Frage auf den Entwurf des Gesetzes zu Errichtung gemeinsamer Dateien von Polizeibehörden und Nachrichtendiensten des Bundes und der Länder (Gemeinsame-Dateien-Gesetz) bezieht, wird auf die Begründung zu § 2 Satz 1 Nr. 2 ATDG-E verwiesen (Seite 29 des Gesetzentwurfs der Bundesregierung – Bundesratsdrucksache 672/06). Im übrigen wird auf die Vorbemerkung der Bundesregierung verwiesen.

Frage 8: Versteht die Bundesregierung unter der »Befürwortung« von Terrorismus auch das öffentliche Eintreten zugunsten von Regierungen, die wie etwa in Afghanistan oder im Irak immer wieder die Tötung unschuldiger Zivilisten zu verantworten haben, und wie begründet sie ihre Position?

Antwort: Die Bundesregierung teilt die der Frage zugrundeliegenden Prämissen nicht. Im übrigen wird auf die Antwort zu Frage 7 und die Vorbemerkung der Bundesregierung verwiesen.

Frage 9: Will die Bundesregierung zur Bekämpfung des Terrorismus auch diejenigen bekämpfen, die ihrer Ansicht nach die rechtswidrige Anwendung von Gewalt hervorrufen, und wie definiert sie den Begriff des Hervorrufens?

Antwort: Auf die Antwort zu Frage 7 wird verwiesen.

Frage 10: Teilt die Bundesregierung die Ansicht der Fragesteller, das Führen eines völkerrechtswidrigen Angriffskrieges, das Töten unschuldiger Zivilisten etwa in Afghanistan durch die NATO-Truppen oder jahrelanges Festhalten von Menschen ohne Rechtsgrundlage durch staatliche Behörden seien geeignet, Gewaltanwendung hervorzurufen, und wie begründet sie ihre Position?

Antwort: Die Bundesregierung teilt die der Frage zugrundeliegenden Prämissen nicht. Offenkundig ist aber, dass politische und soziale Konflikte zur Entstehung von gesellschaftlicher Gewalt beitragen können. Dennoch ist die Bundesregierung der festen Überzeugung, dass terroristische Anschläge durch nichts zu rechtfertigen sind.

Frage 11: Teilt die Bundesregierung die Ansicht der Fragesteller, die herrschende Weltordnung mit ihrer ungerechten Verteilung des Reichtums sei geeignet, Gewalt hervorzurufen, und wie begründet sie ihre Position?

Antwort: Auf die Antwort zu Frage 10 wird verwiesen.

Frage 12: Beurteilt die Bundesregierung die Anwendung von Gewalt zur Stabilisierung der weltweiten Vorherrschaft der kapitalistischen Industriestaaten anders als die Anwendung von Gewalt zur Destabilisierung dieser Vorherrschaft, und wie begründet sie ihre Position?

Antwort: Die Bundesregierung teilt die der Frage zugrundeliegende Prämisse nicht. Ungeachtet dessen ist die Bundesregierung der Auffassung, dass die Anwendung von Gewalt nach den jeweils anwendbaren völkerrechtlichen Regelungen beurteilt werden muss. Im übrigen wird auf die Vorbemerkung der Bundesregierung verwiesen.

Frage 13: Will die Bundesregierung zur Bekämpfung des Terrorismus auch diejenigen bekämpfen, die ihrer Ansicht nach mit Terroristen oder Terrorverdächtigen in Verbindung stehen, und wenn ja, was versteht sie darunter?

Antwort: Auf die Antwort zu Frage 4 und die Vorbemerkung wird verwiesen.

Frage 14: Steht die Bundesregierung nach eigener Einschätzung mit Kräften, die völkerrechtswidrige Kriege führen, Menschen jahrelang ohne Rechtsgrundlage ihrer Freiheit berauben oder auf andere Weise rechtswidrig Gewalt als Mittel zur Durchsetzung international ausgerichteter politischer oder religiöser Belange anwenden oder eine solche Gewaltanwendung unterstützen, befürworten oder durch ihre Tätigkeiten vorsätzlich hervorrufen, in Verbindung, und wenn ja, mit welchen, und auf welche Weise?

Antwort: Die Bundesregierung teilt die der Frage zugrundeliegende Prämisse nicht. Die Bundesregierung steht mit den Regierungen aller Staaten, mit denen sie diplomatische Beziehungen unterhält, in Verbindung. Sie ist der Auffassung, dass diese diplomatischen Beziehungen auch zur Durchsetzung völkerrechtlicher Standards nützlich und notwendig sind

Kalter Krieg im Schatten des »war on terror«

USA und Kuba:

Kalter Krieg im Schatten des »war on terror«

von Edgar Goell

Offiziell gilt der Kalte Krieg seit 15 Jahren als beendet. Doch in der Karibik gibt es sie noch, die Auseinandersetzungen nach dem alten Muster »Freedom & Democracy« versus »Kommunismus & Diktatur«. Die Spannungen zwischen dem David (dem revolutionären Kuba) und dem Goliath (den imperialen USA) dauern nun schon seit mehr als 46 Jahren an. Kuba hat im Laufe dieses Zeitraums fast alle Formen der Intervention durch den »Koloss im Norden« (José Martí) über sich ergehen lassen müssen: militärische, terroristische, ökonomische, finanzpolitische, geheimdienstliche, politische, diplomatische, mediale, psychologische Aktivitäten.

Seit US-Präsident Kennedy 1961 die Wirtschaftsblockade gegen Kuba verhängt hat, wurden von allen nachfolgenden Präsidenten – mit Ausnahme Carters – weitere Verschärfungen durchgesetzt. Mit einem jeweils spezifischen Mix aus Druck, Subversion und Diplomatie sollte das Ende der Regierung Castro und des kubanischen Gesellschaftssystems erwirkt werden. Erfolge im Sinne der US-Administrationen konnten damit bisher allerdings nicht erzielt werden, es sei denn die provozierte Verhärtung des kubanischen Regimes, die Verhinderung weiterer Pluralisierung und damit wiederum die Reproduktion des Feindbilds für die USA werden positiv bewertet. Treffend lautet dann auch das Fazit einer Studie über die Kubapolitik der 1990er Jahre: „Bush and Clinton policy operated within the same Cold War conceptual framework that shaped the policies of their predecessors: heightened economic warfare and a refusal to consider normalized ties in the absence of regime change.“1

Das destruktive Grundmuster des Verhältnisses zwischen den USA und Kuba ist bereits 1962 in einem Klassiker des US-Historikers Williams als „Tragödie der amerikanischen Diplomatie“ bezeichnet worden, da die intolerante und einseitige Außenpolitik der USA gegenüber dem befreiten Kuba den innerkubanischen Kampf verhärtet und radikalisiert habe. Bei genauer Betrachtung drängt sich die Analogie des Umgangs mit systemkritischen Akteuren in der Außen- und der Innenpolitik der USA auf: Gegen die Linke in den USA wurde von einigen US-Administrationen ähnlich vehement und mit einem ähnlich breiten Spektrum an Instrumenten vorgegangen wie gegen nicht-konforme andere Staaten.2 Es erscheint durchaus plausibel, die Aversion oder Obsession der US-Eliten gegenüber Andersdenkenden im In- und Ausland und den dafür zumindest zeitweise zu erheischenden öffentlichen Zuspruch auf die durch Hyperkonkurrenz und Verunsicherung, durch Gewalt und Angst gekennzeichnete US-Gesellschaft zurückzuführen, wie sie so prononciert von Michael Moore oder auch wissenschaftlich von Barry Glassner (Culture of Fear) dargelegt worden ist.

Gegenüber Kuba hat diese Haltung ihren exemplarischen Ausdruck gefunden und wird trotz aller Widerstände, Misserfolge und Ansehensverluste verbissen weiter betrieben: „Worldwide, American policy was seen as anachronistic and irrational, and beholden to domestic interests that cared little for the responsible conduct of foreign affairs or respect for international law.“3 So wird die lang anhaltende US-Blockade gegen Kuba seit 1992 in der UN-Vollversammlung jährlich fast einstimmig kritisiert und deren Beendigung angemahnt – bislang folgenlos, denn Bush praktiziert eine Art »Multilateralismus á la carte«: Wenn es sinnvoll dünkt, wird unilateral und aggressiv gehandelt wie im Falle Afghanistan, Irak, und eben auch mit primär subversiven Maßnahmen gegen Kuba.

Die Folgen der US-Politik für Kuba jedenfalls sind sehr vielgestaltig und tiefgehend. Nach Schätzungen der kubanischen Regierung wurden durch die US-Blockade direkte Kosten in Höhe von 70 Milliarden US-Dollar verursacht. Die Destabilisierungsversuche der USA behindern die eigenständige Weiterentwicklung des Systems. Der Befreiungstheologe Frei Betto meinte, dass die kubanische Revolution „ihre Wege nicht selber wählen (konnte). Die USA haben nie die Souveränität irgendeines Landes der Welt akzeptiert, sondern einem jeden die traurige Option »Kapitalismus oder Tod« aufgezwungen.“4

US-Subversion heute

Mit dem Amtsantritt von Präsident George W. Bush wurden der Druck gegenüber Kuba und die Subversionen und Provokationen weiter verstärkt. Dazu gehören auch militärisch unterstützte Zwischenfälle wie der vom Mai 2003. Damals überlagerten US-Störsender mit starker Sendeleitung vier kubanische Bildungskanäle mit anticastristischen Programmen. Als Sender agierte ein High-Tech-Flugzeug des Typs EC-130E Commando Solo einer Spezialeinheit der US-Luftwaffe (193rd Special Operations Wing; Teil des U.S. Special Operations Command), die bereits bei US-Interventionen in Grenada, Panama, Kuwait und Haiti eine zentrale Rolle spielte. Im Hintergrund hielten sich sechs US-Jagdbomber bereit, um etwaige kubanische Abwehrmaßnahmen zu kontern.5 Ähnliche US-Sendeangriffe wurden auch mit unbemannten Ballons und Satelliten durchgeführt.

Bush setzte als Chef der US-Interessenvertretung in Havanna James Cason ein, der am Umsturz gegen Aristide in Haiti beteiligt war. Der hatte bereits vor seinem Amtsantritt im September 2002 angekündigt, seine Hauptaufgabe sei die Bündelung und Stärkung der Opposition in Kuba. Cason verfolgte dies mit Vehemenz, reiste in Kuba circa 10.000 km, traf sich mit etwa 300 Bürgern und Gruppen, verteilte »systemfeindliche« Materialien, verschenkte Tausende Radios zum Empfang der anticastristischen US-Sender, gab der Opposition erhebliche infrastrukturelle Unterstützung (PC, Internetzugang, Kopierer, Fotoapparate, Videorekorder) und führte in seiner Residenz Seminare mit Oppositionellen durch. Einige hatten mit speziellen Ausweisen ständigen Zugang zur US-Interessenvertretung in Havanna und erhielten nachweislich Geld. Im US-Bundeshaushalt sind offiziell etwa 50 Mio.$ ausgewiesen, die jährlich für Aktivitäten gegen Kuba verausgabt werden, und zwar über Institutionen wie National Endowment for Democracy (NED) oder über stramm reaktionäre und im geheimdienstlichen Vorfeld agierende US-NGOs wie »Freedom House«. Diese wiederum verteilen diese – für ein Land wie Kuba hohe – Summe an in- und ausländische Organisationen und NGOs, die damit Kuba im Namen von »Freedom & Democracy« zu unterwandern und destabilisieren versuchen.

Diese US-Aktivitäten in Kuba führten Anfang 2003 zu einer bedrohlichen Eskalation: Trotz mehrerer Einsprüche der kubanischen Regierung fuhr Cason fort, Systemgegner zu unterstützen und eine gegnerische Infrastruktur aufzubauen. Es häuften sich in dieser Zeit – in der die Bush-Administration auch den Irakkrieg startete – versuchte und erfolgreiche bewaffnete Schiffs- und Flugzeugentführungen von Kubanern in die USA.6 In dieser Situation verhafteten kubanische Sicherheitskräfte im März 2003 insgesamt 75 Kubaner. Sie wurden der Kollaboration mit dem Feind angeklagt und zu unterschiedlich langen Haftstrafen verurteilt. Unmittelbar nach den ersten Inhaftierungen begann in den US-Medien eine Kampagne gegen diese »Menschenrechtsverletzungen in Kuba« die (Hinter-)Gründe und die Erklärungen der kubanischen Seite wurden nicht erwähnt. Damit schufen die USA die Basis für ein äußerst erfolgreiches »Framing«: Die Subversionen und Provokationen hatten in diesem Fall zu einer Reaktion Kubas geführt, die international als Menschenrechtsverletzung und nicht etwa als legitime Abwehr von Kollaborateuren wahrgenommen wurde – ein bedeutender und andauernder Propagandaerfolg! Die mit Unsummen und allen erdenklichen technischen und logistischen Ressourcen ausgestatteten US-Behörden – inkl. Geheimdienste – hatten es endlich geschafft, eine auf eingängigen Klischees beruhende »story line« zu kreieren, die auch in Westeuropa – und selbst in einigen Kreisen der Linken – »verstanden« wurde, so dass sich auch einige Kräfte in die US-Kampflinie gegen Kuba einreihten, die bisher mit Kuba solidarisch waren.7

Der Plan Bush

Der sogenannte Plan Bush (oder auch Powell-Report) bestimmt heute die US-Strategie gegen Kuba. Er war im Mai 2004 von der mit hochrangigen Vertretern aus allen relevanten US-Ministerien und Behörden besetzten und von Bush berufenen Commission for Assistance to a Free Cuba unter Leitung des damaligen US-Außenministers Colin Powell vorgelegt worden. Dies ist ein weltgeschichtlich einmaliger Vorgang: Eine Weltmacht formuliert eine umfassende Konzeption zum Umsturz eines anderen Staates, ohne sich in einem heißen Krieg zu befinden und entgegen dem Willen der UN-Vollversammlung. Ziel dieser auf fast 500 Seiten ausgebreiteten generalstabsmäßigen und vielschichtigen Subversionsstrategie ist eine Bündelung und Forcierung der US-Aktivitäten gegen Kuba.8 Im Einsetzungsbeschluss der Kommission heißt der Auftrag „Kubas Übergang von stalinistischer Herrschaft zu einer freien und offenen Gesellschaft zu planen und Wege zu identifizieren, die Ankunft dieses Tages zu beschleunigen.“

Das Konzept umfasst strategische und taktische Empfehlungen für ökonomische, finanzielle, diplomatische und politische Maßnahmen. Zentrale Elemente sind unter anderem eine Vervielfachung der (offiziell veranschlagten) Finanzmittel und die Schaffung eines »Transition Coordinator« im US-Außenministerium, der kontinuierlich zivilgesellschaftliche Projekte und künftige Unterstützungsmöglichkeiten für einen Regimewechsel in Kuba planen soll. „Wir werden nicht auf den Tag der kubanischen Freiheit warten, sondern für den Tag der Freiheit in Kuba arbeiten“, kündigte US-Präsident Bush an. Der Abgeordnete DeLay sagte vor Exilkubanern in Miami: „Der Krieg gegen den Terror ist ein Krieg gegen das Böse, und deshalb ist er auch ein Krieg gegen Castro.“ Und die neue Außenministerin, Condoleezza Rice, reihte Kuba in die „Vorposten der Tyrannei“ ein.9

Die praktischen Auswirkungen dieser Zuspitzung sind im kubanischen Alltag deutlich und schmerzhaft spürbar. Ökonomisch schlagen die immens eingeschränkten Möglichkeiten von Dollarüberweisungen besonders negativ durch. Sie hatten sich zu einer Hauptdevisenquelle für Kuba entwickelt. Nur die engsten Verwandten dürfen jetzt noch – sehr begrenzt – Geld nach Kuba überweisen. Zudem wurde eine US-Behörde aufgebaut (OFAC), die weltweit Handel und Transfers mit Kuba überwacht und gegebenenfalls sanktioniert und abstraft: der Schweizer Bankkonzern UBS musste z.B. 100 Mio. $ Strafe zahlen, weil er US-Banknoten an Kuba getauscht hatte und damit gegen US-Gesetze verstieß. Diese US-Aktivitäten waren dann auch der Hauptanlass für Kuba, die seit etwa einem Jahrzehnt erlaubte Benutzung von US-Dollar wieder zu beenden. Darüber hinaus wurden durch die USA die Reisemöglichkeiten von US-BürgerInnen nach Kuba extrem eingeschränkt, die Strafen bei Übertretungen verschärft, US-Reisebüros in ihren Angeboten beschnitten, der WissenschaftlerInnenaustausch erschwert und selbst Publikationsmöglichkeiten gestrichen. Allem Anschein nach fließen zunehmend Dollars an NGOs in aller Welt, die gegen Kuba opponieren, wie diverse hochrangig besetzte Veranstaltungen auch in der EU nahe legen.

Ein machtvoller Antrieb für die Freiheitskämpfer á la Bush sind ihre vermeintlichen Erfolgserlebnisse in Osteuropa, worauf Powell im Vorwort seines Reports hinweist: „Wir haben… die Lektionen berücksichtigt, die wir bei der Unterstützung der Völker Ost- und Mitteleuropas und der früheren Sowjetunion bei ihrem Wandel von Kommunismus zu Demokratie und freiem Markt gelernt haben. Und genauso, wie es im Falle des Ostblocks gewesen ist, sehen wir für die multilateralen Finanzinstitutionen eine hervorragende Rolle bei der Transition Kubas.“ 10

Angesichts der Bekundung Bushs, alles gegen den Terrorismus zu unternehmen, mutet ein Fall in Bezug auf Kuba geradezu pervers an: Kubas Geheimdienst übergab dem FBI 1998 ein über eintausend Seiten starkes Memorandum, das Terroraktionen dokumentiert, die exilkubanische Gruppen in Miami seit Jahrzehnten gegen Kuba organisierten. Darin wurden für die neunziger Jahre 140 Anschlagspläne und ihre Hintermänner genannt (z.B. waren 1997 in Havannas Touristenzentren Bomben detoniert, ein italienischer Tourist wurde getötet). Das FBI sagte Kuba seine Hilfe zu, doch Maßnahmen gegen das Netzwerk in Miami blieben aus. Statt exilkubanische Terroristen zu verhaften, wurden die fünf Kubaner festgenommen, die das Material für das Memorandum gesammelt hatten, sie saßen 31 Monate in Untersuchungshaft, bis ihr sieben Monate dauernder Prozess eröffnet wurde. Weil die Fünf private Zirkel ausgekundschaftet hatten, konstruierte der Staatsanwalt eine Verschwörung zur Spionage. Die Urteile: Doppelt lebenslänglich plus 15 Jahre, lebenslänglich plus 18 Jahre, lebenslänglich plus 10 Jahre, 19 Jahre und 15 Jahre. Aufgrund der Verfahrensfehler, der Schikanen und der politischen Manipulationen intervenierte Amnesty International und eine weltweite Kampagne (inkl. Günter Grass, Elmar Altvater) fordert die Freilassung der Fünf.

Nichtsdestotrotz erklärte Rice im Dezember 2005: „The time has come to end 46 years of cruel dictatorship“ und sie kündigte an, im Mai 2006 eine überarbeitete Version mit noch effektiveren Aktionsplänen vorzulegen, um den Druck gegen Kuba weiter zu verschärfen. „The report will include more recommendations to push for regime change in Cuba, especially after Fidel Castro’s death. Rice told a House panel that the administration is seeking to enforce policies more effectively to ensure that the Cuban political system is ‘not capable of replicating itself’ after Castro’s death. (…) Meanwhile, eight exile groups in February created a support committee for an armed insurrection in Cuba.11

Anpassung der EU an Bush-Politik

Bis zu Beginn des Jahres 2003 sah es nach einer Annäherung zwischen Kuba und der EU aus: Beispielsweise sollten in Havanna ein EU-Büro und ein Goethe-Institut eröffnet werden. Doch kurz zuvor erfolgte eine Abkühlung der Beziehungen. Anlass waren die o.g. Haftstrafen gegen 75 Bürger in Kuba. In mehreren ungewöhnlich scharfen Deklarationen prangerten EU-Gremien „wiederholte Menschenrechtsverletzungen in Kuba“ an. Sie reagierten mit einer Einschränkung der bilateralen Kontakte auf hoher Ebene, der Reduzierung der Teilnahme an Kulturereignissen, einer Neubewertung der Haltung der EU zu Kuba (Gemeinsamer Standpunkt) und einer Einladung kubanischer Dissidenten zu Nationalfeiertagen der EU-Staaten.12 Vorangetrieben wurde dieser EU-Schwenk von den Proto-Demokraten Aznar und Berlusconi sowie den Regierungen Polens (die speziell die katholische Kirche unterstützen) und Tschechiens.

Flankiert werden die antikubanischen Aktivitäten durch einige NGOs in Westeuropa, allen voran die antikommunistische und insbesondere Kuba verzerrt darstellende Internationale Gesellschaft für Menschenrechte und die französische Sektion der Reporters sans Frontier. Ende 2005 schließlich reiste der US Transition Coordinator, Caleb McCarry, in Hauptstädte der EU-Staaten „to design and implement a comprehensive strategy for advancing freedom in Cuba.“ Seine Aufgabe: die US-Alliierten zur Hilfe für die „opposition to the Castro dictatorship“ zu animieren.13

Unter Berücksichtigung dieserVorkommnisse gehören die Auseinandersetzungen um Kuba nicht primär in den Diskurs über (bürgerliche) Menschenrechte, sondern in den des Rechts auf selbstbestimmte Entwicklung (UN-Charta). Aufgabe der EU müsste es sein, sich in Übereinstimmung mit den Resolutionen der UN-Vollversammlungen (seit 1992) aktiv für die Beendigung der Blockade und der Subversionspolitik der USA gegen Kuba einsetzen und gleichberechtigte Beziehungen zu Kuba aufbauen.

ExpertInnen weisen immer wieder darauf hin, dass eine Verbesserung des Pluralismus und der bürgerlichen Freiheitsrechte auf Kuba primär von der aggressiven US-Politik behindert wird. So resümiert Susanne Gratius, tätig bei der Stiftung Wissenschaft und Politik, dem außenpolitischen Think Tank der Bundesregierung, in einer wissenschaftlichen Studie: „Erst der Wegfall der potentiellen Interventions- und Einmischungsgefahr seitens der USA wird eine demokratische Öffnung in Kuba überhaupt erst ermöglichen.“ 14 Es ist an er Zeit, dass die Kreise, die die Einhaltung der Menschenrechte in Kuba einklagen, endlich die primäre Ursache für die Einschränkung individueller Menschenrechte zur Kenntnis nehmen: Die aggressive, das Völkerrecht missachtende Politik der Bush-Administration gegen Kuba. Auch sollten sie endlich mal einen Blick werfen auf das vorbildliche Niveau der sozialen und kollektiven Grund- und Menschenrechte in Kuba.

Gegentrends und Hoffnungsschimmer

Die historischen Zäsuren 1989 und 1991 waren für Kuba eine enorme Herausforderung. Damals lösten sich nicht nur die wichtigsten Partnerregierungen auf, gewissermaßen über Nacht fielen mit der Auflösung des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe auch 85% der Außenmärkte weg, Handel konnte nur noch über Devisen abgewickelt werden. In der Folge wurde die Binnenökonomie Kubas in eine fundamentale Krise gestürzt, die Versorgungslage verschlechterte sich spürbar. Weil der Tauschhandel mit der Sowjetunion für Zucker gegen Öl zum Erliegen kam, begann eine Energiekrise nie gekannten Ausmaßes. Für Viele unerwartet überwand Kuba diese Krise mit einer intelligenten Mischung pragmatischer Maßnahmen und vorsichtiger Reformen, die teilweise im Vorfeld breit diskutiert wurden und der Bevölkerung viel abverlangten. Der damit verbundene rapide gesellschaftliche Wandel in Kuba, die Einflüsse durch den zwiespältigen Massentourismus, und die damit einhergehenden sozialen Fragmentierungen und Polarisierungen stellen Regierung und Gesellschaft vor immense Herausforderungen.

Gleichzeitig profitiert Kuba von der Gesamtentwicklung in Lateinamerika. Die Kooperation mit Venezuela und anderen Regierungen vergrößert den wirtschaftlichen und politischen Spielraum. Hinzu kommen verstärkte Wirtschaftskontakte zu China. Vor diesem Hintergrund sprach Castro in einer Grundsatzrede am 17.11.2005 in der Universität Havanna offen über die Zeit nach seiner Präsidentschaft und wies auf Gefahren des Zerfalls aufgrund interner Defizite hin. Nun entwickelt sich langsam eine Diskussion über die Verbesserung des kubanischen Modells und über einen »Sozialismus des 21. Jahrhunderts«, von dem auch Impulse für die Zukunftsdebatte in anderen Ländern ausgehen können. Eine Weiterentwicklung Kubas und der Region, verbunden mit einer Abwehr der neoimperialen Politik der USA , würde letztlich auch den fortschrittlich-emanzipatorischen Kräften in Europa und einer friedlichen »nachhaltigen Entwicklung« nutzen. Auch deshalb sollte sich die politische Linke in Europa kritisch – aber vor allem solidarisch – an dieser Debatte beteiligen.

Wie sagte doch der frühere britische Handelsminister Wilson (2003): „Kritik [an Kuba] sollte niemals die Tatsache ignorieren, dass Kubas wichtigster Beitrag für die Welt darin besteht, den lebendigen Beweis dafür zu liefern, dass es möglich ist, Armut, Krankheiten und Analphabetismus in einem Land zu besiegen, das mit allen dreien mehr als vertraut war. Das ist ein ziemlich großer Nutzen. Und die Tatsache, dass dies angesichts anhaltender Feindschaft eines zwanghaft besessenen Nachbarn erreicht wurde, macht alles umso erstaunlicher.“

Anmerkungen

1) Morley, Morris/ McGillion, Chris (2002): Unfinished Business. America and Cuba After the Cold War, 1989-2001, Cambridge University Press, Cambridge, S. 5.

2) Eine radikale, gleichwohl differenzierte Position dazu vertrat Bertram Gross (1980) in seinem Buch mit dem provokanten Titel »Friendly Fascism«, New York, Evans & Co.

3) Morley, Morris/ McGillion, Chris (2002): siehe FN 1, S.9; das Postscript des Buches trägt den Titel: Washington’s Last Cold War, S. 185.

4) In: epd-Entwicklungspolitik, Juni 1993, S.48-51. Damit sollen nun nicht die realen Defizite Kubas pauschal der US-Politik zugeschoben werden, vielmehr muss durch differenzierte Analyse ein Verstehen der komplizierten Lage Kubas jenseits simpler Klischees erarbeitet werden.

5) Heinz Dieterich: Bush und Brüssels Kampf gegen Kuba, in: junge Welt vom 14.7.2003.

6) Diese Sicherheitsmaßnahmen können m. E. zum Einen als Warnung nach innen und außen interpretiert werden, dass nun die Toleranzgrenze gegenüber der von den USA gestützten Subversion erreicht war; und zum Anderen können sie gewissermaßen als Hilferuf an andere Staaten und die UN interpretiert werden, die Aggressionen der USA gegen Kuba nicht länger zuzulassen.

7) Der jüngste »Erfolg«: Im Februar 2006 wurde im EU-Parlament eine antikubanische Resolution auch von den PDS-MdEPs Brie, Zimmer und Markov unterstützt.

8) [http://state.gov/p/wha/rt/cuba/]. Siehe Göll, Edgar: Wandel durch Destabilisierung. »Powell-Report« bestimmt US-Strategie gegen Kuba; in: Lateinamerika Nachrichten (Berlin), Heft 372, Juni 2005, S.55-57. Darüber hinaus gibt es Vermutungen, dass es geheime Zusätze gibt, in denen militärische Maßnahmen gegen Kuba enthalten sind.

9) Im Windschatten des Irakkrieges und anderer militärischer Aktionen der USA und kooperierender Regierungen/Staaten wurden in den letzten Jahren Strategien ausprobiert, die fast noch effektiver sind als die militärischen Operationen.

10) Siehe Maria Huber: The United States and Ukraine – Scenario of a Revolution, in: The Analyst. Central and Eastern European Political and Economic Review, Vol. 1, No. 2, September 2005, pp. 51-74; Revolutions GmbH in: Der Spiegel 46 und 47/2005; Schuller, Konrad: Der Westen und die Revolution im Osten, in: FAZ, 21.09.2005, S. 8.

11) Siehe United States, Instability and Cuba, in: Cuba Trade & Investments News (Tampa/Florida), Vol.VIII, No.3, March 2006, S. 7.

12) Declaration by the Presidency, on behalf of the European Union, on Cuba, 5. Juni 2003 [www.eu2003.gr/en/articles/2003/6/5/3005/print.asp].

13) Siehe Meldung vom 13 January 2006 auf http://www.cuba-solidarity.org.uk/news.asp?ItemID=658. Dort heißt es auch: „In fact, on the same day that Britain voted publicly against US interference in Cuba at the United Nations, McCarry was invited to meetings and a reception at the Foreign and Commonwealth Office in London.“

14) Susanne Gratius (2003): Kuba unter Castro – Das Dilemma der dreifachen Blockade. Die kontraproduktive Politik der »Demokratieförderung« seitens der USA und der EU, Opladen, S. 328.

Dr. Edgar Göll, Sozialwissenschaftler, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zukunftsstudien in Berlin und Mitglied der Freundschaftsgesellschaft Berlin – Kuba e.V.

Indonesien: Krieg im Gewand des »Antiterrors« und Nationalismus

Indonesien: Krieg im Gewand des »Antiterrors« und Nationalismus

von Rainer Werning

Am 21. Mai 2003 jährte sich zum fünften Mal der Abgang des mit 32 Jahren dienstältesten Despoten in Südostasien, doch Freude über das Ende des Ex-Generals Suharto mochte in Indonesien nicht aufkommen. Eine politische Krise folgt der nächsten und die tiefgreifende Wirtschaftsmisere verursacht soziale und kommunale Unruhen Die Militärs, seit Suhartos Zeiten die eigentlichen Machthaber im Lande, demonstrieren ihre Macht, maßen sich an, nach Gutdünken darüber befinden, wer als »Staatsfeind« oder »Terrorist« abgestraft wird und setzten jetzt auch durch, dass über die im Norden der indonesischen Insel Sumatra gelegene Region Aceh das Kriegsrecht verhängt wurde. Notfalls wollen sie den Frieden herbeibomben – mit fatalen Folgen für die Zivilbevölkerung und die nationale Wirtschaft.
Über die langjährig unruhige Region Aceh wurde am 19. Mai das Kriegsrecht verhängt. Präsidentin Megawati Sukarnoputri vollzog diesen drakonischen Schritt ohne parlamentarische Zustimmung auf der Grundlage des Gesetzes Nr. 23/1959. Kurz zuvor war der als »zu wenig resolut« eingestufte Militärkommandeur Acehs, Generalmajor M. Djali Jusuf, von der Armeeführung durch einen Hardliner ersetzt worden. Der Krieg in Aceh hat verheerende Konsequenzen für die regionale Zivilbevölkerung und die nationale Wirtschaft. Die Militärs in Jakarta kalkulieren unverhohlen bis zu 200.000 interne Flüchtlinge als Kriegsopfer ein.

Ultimativ hatte Jakarta zuvor die Widerstandsorganisation Bewegung Freies Aceh (Gerakan Aceh Merdeka – GAM) aufgefordert, sich seinem Friedensdiktat zu beugen. Andernfalls drohe die seit der Osttimor-Invasion 1975/76 größte Militäroffensive auf dem Archipel. Kampfjets und Kampfhubschrauber wurden von ihrem Stützpunkt in Madiun (Ostjava) nach Medan (Nordsumatra) verlegt, Kriegsschiffe und über 40.000 Regierungssoldaten in die Region entsandt. Unbeeindruckt vom intensiven Krisenmanagement in letzter Minute seitens indonesischer und internationaler Vermittler in Tokio, setzte Jakarta schließlich auf die militärische Lösung des Konflikts und beendete damit einen Prozess »ziviler Konfliktlösung«. Gerade einmal fünf Monate vorher, am 9. Dezember 2002, hatte man in Genf ein Abkommen über die Beendigung von Feindseligkeiten für Aceh vereinbart. „Ein historischer Tag für das Volk von Aceh“, kommentierte damals Martin Griffiths, Direktor des Genfer Henri-Dunant-Zentrums für den humanitären Dialog (HDZ), den Vertragsabschluss zwischen indonesischen Regierungsvertretern und Emissären der GAM. Seit annähernd zwei Jahren hatte sich das HDZ für die Unterzeichnung dieses Abkommens und multilaterale Hilfsleistungen eingesetzt.

Indonesien ist ein zentralistisch regierter Inselstaat, dessen Präsidenten sich seit dem Abgang Suhartos mit dem Erbe des Ex-Diktators herumschlagen müssen. Noch Anfang 1998 zählte die Weltbank Indonesien zur zweiten Generation der ökonomisch erfolgreichen »Tigerstaaten«. Doch kein Land erlebte eine so rasche Pauperisierung so großer Bevölkerungsschichten, wie das seitdem in Indonesien der Fall ist. Über ein Fünftel der etwa 215 Millionen Einwohner Indonesiens, so der Australier Dr. Kevin O’Reilly, Leiter der Sektion Feldforschung und Analyse im Jakarta-Büro der Vereinten Nationen, ist gegenwärtig von Lebensmittelhilfen des UN-Ernährungsprogramms abhängig. Knapp 200 Bombenanschläge in verschiedenen Landesteilen, bewaffnete Konflikte sowie gesellschaftliche Spannungen unterschiedlicher Art erschütterten seit Mai 1998 das Vertrauen der Menschen in die öffentliche Ordnung. Die Attentate auf Bali am 12. Oktober 2002 mit 202 Todesopfern erheischten nur deshalb kurz mediale Aufmerksamkeit im Westen, weil das Gros der Opfer Weiße waren.

Alte Konfliktpotenziale

Aceh ist eines der ältesten Sultanate in Südostasien und gleichzeitig eine Konfliktregion mit einer Tradition von Widerstand gegen Kolonialisten, Besatzer und despotische Politiker. Während der holländischen Kolonialzeit von England zeitweilig als unabhängiger Staat anerkannt, verlor Aceh diesen Sonderstatus 1871, als die Engländer mit dem Vertrag von Sumatra Holland nun auch über Aceh freie Hand ließen. Unter dem Vorwand, gegen die Piraterie vorzugehen und das angebliche Machtvakuum nach dem britischen Verzicht von 1871 auszufüllen, schlugen die Holländer zu. Die Folge: Der holländisch-acehnesische Krieg (1873 bis 1903) war der längste und blutigste während ihrer Kolonialherrschaft. Selbst nachdem der Sultan von Aceh die Waffen gestreckt hatte und der Guerillakrieg 1912 endete, sah sich die holländische Militärregierung von Sabotageakten bedroht. Die Mehrheit der Acehnesen revoltierte gegen die Herrschaft der Europäer und begrüßte 1942 die japanische Okkupation Sumatras, was den holländischen Einfluss in diesem Teil ihres Imperiums beendete. Seine große Rolle im Unabhängigkeitskampf Indonesiens (1945-49) sah Aceh von der zentralistischen Politik Jakartas unzureichend gewürdigt: 1953 wurde eine unabhängige islamische Republik ausgerufen, die im Jahre 1961 erst aufgelöst wurde, nachdem Jakarta dem Territorium einen Sonderstatus zubilligte.

Das änderte nichts daran, dass Jakarta auch fortan die Politik in Aceh und über den Erlös seiner Ressourcen bestimmte. Aceh ist reich an Bodenschätzen inklusive der für Indonesien überaus wichtigen Öl- und Erdgasvorkommen, die seit Beginn der siebziger Jahre systematisch erschlossen wurden und wo Exxon-Mobil kräftig mitmischt. Ökonomisch wäre ein eigenständiges Aceh überlebensfähig. Würde auch der Rest Sumatras auf Distanz zu Jakarta gehen, wäre das für Indonesien aber ein Desaster, bräche dann doch einer seiner bedeutsamsten Exportzweige weg. Allein die Ölfelder in Zentral- und Südsumatra decken etwa achtzig Prozent des landesweiten Rohölbedarfs. Acehs Reichtum wurde zum Fluch, weil Jakarta zum Schutz der Förderanlagen immer mehr Sicherheitskräfte in die Region beorderte und damit das ohnehin vorhandene Protest- und Widerstandspotenzial gegen die Zentralregierung vergrößerte und zunehmend militanter werden ließ.

Am 4. Dezember 1976 formierten sich unter Führung des heute im schwedischen Exil lebenden Muhammad Hasan di Tiro die GAM und ihr bewaffneter Arm, die AGAM. Etwa 400 AGAM-Kämpfer sollen anfänglich in Libyen militärisch ausgebildet worden sein. Aktuell beziffert Jakarta die Gesamtstärke der AGAM mit 8.000 bis 10.000 Mann. Erklärtes politisches Ziel der GAM ist ein unabhängiges Aceh, eine Forderung, die von großen Teilen der Bevölkerung unterstützt, doch von Jakarta abgelehnt wird. Die Konsequenz: Als die GAM den bewaffneten Kampf begann, holte Jakarta zum Gegenschlag aus. Von 1989 bis zum Ende der Ära Suharto währte die »daerah operasi militer« (DOM), das heißt, die Region war das Counterinsurgency-Terrain par excellence. Sämtliche Methoden der Aufstandsbekämpfung wurden dort praktiziert. Forderungen nach einem Referendum wurden erstickt, selbst wenn dafür in der Hauptstadt Banda Aceh weit über eine halbe Million Menschen friedlich auf die Straße gingen. Massive Menschenrechtsverletzungen waren die Folge, Bürgerrechtsgruppen gerieten ins Schussfeld und mindestens 12.000 Tote sind zu beklagen.

Die Lage schien sich während der Präsidentschaft von Abdurrahman Wahid (Herbst 1999 bis Sommer 2001) zu entspannen, als Wahid erwog, die Bevölkerung Acehs nun doch in einem Referendum über die Zukunft ihrer Region selbst abstimmen zu lassen. Das Militär vereitelte diesen Plan. Es befürchtete die Internationalisierung des Konflikts und eine ähnliche Sequenz der Ereignisse wie in Osttimor, dessen Weg in die Unabhängigkeit letztlich das Engagement der Vereinten Nationen ebnete. Während sich das Militär lediglich auf Gespräche über Autonomie, einen Waffenstillstand und humanitäre Hilfe einließ, verstärkte es aufs Neue seine Präsenz in der Region. Mehreren Phasen koordinierter Militär- und Polizeioperationen folgte die Aufstockung der Truppenstärke auf etwa 40.000 Soldaten einschließlich Spezialeinheiten.

Nach dem 11. September 2001 wurde die Situation noch prekärer. Neue »Antiterrorgesetze« ermächtigen jetzt die Sicherheitskräfte, verdächtige Personen allein aufgrund geheimdienstlicher Erkenntnisse bis zu sechs Monate festzuhalten. Außerdem wurde auch in Aceh ein Territorialkommando eingerichtet, welches das Militär als Teil der staatlichen Verwaltung auf lokaler Ebene strategisch positioniert und dem Kommandeur mindestens dieselben Rechte einräumt wie der zivilen Exekutive. Wer unter solchen Bedingungen noch immer zu den Waffen greift oder den bewaffneten Widerstand propagiert, gerät zwangsläufig in den Verdacht des »Terrorismus«. Das U.S. State Department hat angekündigt, die GAM auf seine Liste internationaler terroristischer Organisationen zu setzen, sollte diese ihre Attacken gegen Bohranlagen, Raffinerien und andere Einrichtungen von Exxon-Mobil nicht einstellen.

Ein zweites Osttimor?

Die in Genf im Dezember 2002 getroffene Vereinbarung sah ein Waffenstillstandsabkommen, einen besonderen Autonomiestatus und eine intensive Dialogphase mit Beteiligung internationaler Beobachter vor, der 2004 freie Wahlen folgen sollten. Binnen eines halben Jahres, spätestens bis zum 9. Juli 2003, sollten die GAM-Kämpfer ihre Waffen in eigens designierten Depots abgegeben und sich die Regierungssoldaten in vorgeschriebene Defensivstellungen zurückgezogen haben. Außerdem sollten die in Aceh verübten Menschenrechtsverletzungen aufgeklärt sowie die Opfer und deren Hinterbliebene entschädigt werden. Ein 150-köpfiges »Gemeinsames Sicherheitskomitee« (JSC) unter Vorsitz eines thailändischen Generals mit einem philippinischen Kollegen als Stellvertreter sollte diesen Prozess überwachen und befugt sein, Sanktionen zu verhängen.

Bereits um die Jahreswende warf man sich gegenseitig Vertragsbrüche vor. Die GAM kritisierte das JSC wegen Befangenheit: Der philippinische General könne nicht neutral sein, da Jakarta 1996 als Makler zwischen einer südphilippinischen muslimischen Widerstandsorganisation (der Moro Nationalen Befreiungsfront – MNLF) und Manila aufgetreten sei und Manila gegenwärtig mit einer rivalisierenden muslimischen Widerstandsorganisation (der Moro Islamischen Befreiungsfront – MILF) in den Südphilippinen Friedensgespräche führe. (Diese hat die philippinische Präsidentin Gloria Macapagal-Arroyo jedoch torpediert und nun auch der MILF mit der »Eliminierung« gedroht.) Jakarta hingegen warf der GAM vor, die JSC-Sitzungen zu verschleppen, seine Waffen nicht niederzulegen und auf Sezession statt auf Autonomie zu drängen. Nichtregierungsorganisationen vor Ort beklagten, die indonesischen Streitkräfte beziehungsweise Segmente des Militärs stünden hinter dem Aufbau von Milizen, die – wie 1999 im Falle Osttimors – Furcht und Schrecken säten und bereits mehrfach internationale Beobachterteams angegriffen und deren Posten niedergebrannt hätten. Dabei soll es sich im Wesentlichen um vom Militär protegierte Milizen in Zentralaceh handeln, wo ein Großteil Javaner siedelt, die es dorthin im Rahmen des von Jakarta einst ehrgeizig betriebenen »Transmigrationsprogramms« verschlagen hat.

Seit Ende April/Anfang Mai 2003 eskalierte der Konflikt. „Entscheidet man sich schließlich für ein militärisches Vorgehen“, schrieb Wiryono Sastrohandoyo, Chefunterhändler der indonesischen Regierungsseite, in der Jakarta Post, „sollten die Operationen sorgsam geplant sein, so dass kein Krieg im traditionellen Sinne, sondern ein »humanitärer Krieg1« geführt wird, der außerdem berücksichtigt, dass die zunehmend komplexe politische Situation in Aceh nicht ausschließlich mit militärischen Mitteln lösbar ist.“ Unter »humanitärem Krieg« versteht Jakarta zuvörderst einen Krieg für Nationalismus und gegen »den Terror« – möglichst unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Aus dem Irakkrieg hat man von den USA das Konzept eigener »eingebetteter« und zensierter Journalisten übernommen, und die Einreise internationaler Beobachter und Medienleute ist strikt reglementiert.

Bilanz des Krieges bis Ende August: Weit über 500 Menschen kamen ums Leben, und nach den ohnehin spärlichen Regierungsangaben sind bereits annähernd 45.000 Personen zu internen Flüchtlingen geworden. Etwa 550 Schulen und andere öffentliche Einrichtungen gingen in Flammen auf. Beteiligt an dieser blutigen Offensive sind auch Kriegsschiffe der ehemaligen NVA-Flotte, die die Bundesrepublik zu Beginn der neunziger Jahre an Jakarta lieferte. Zwar sollten sie nur zum Küstenschutz, der Sicherung der Seewege sowie zur Bekämpfung von Schmuggel eingesetzt werden. Doch mittlerweile dienen einige der Korvetten dem Transport von Kampfbataillonen und Kriegsmaterial in das Krisengebiet.1

Vom Nutzen des »Kampfes gegen den Terror«

Der seit Juli 2001 amtierenden Präsidentin Megawati Sukarnoputri, Tochter des Staatsgründers und ersten Präsidenten Indonesiens, wurde bereits wenige Wochen nach ihrem Amtseid ein politischer Spagat abverlangt. Einerseits ist Indonesien traditionell ein enger Verbündeter Washingtons. Zum anderen prangerten verschiedene muslimische Organisationen im Lande die imperiale Selbstherrlichkeit der USA nach den Anschlägen in New York und Washington an und organisierten während der Kriegführung in Afghanistan in allen größeren Städten des Landes machtvolle anti-US-amerikanische Demonstrationen.

Vor diesem Hintergrund müssen die häufigen Besuche hochrangiger US-amerikanische Politiker nach den Anschlägen vom 11. Septemb in Jakarta gesehen werden. Den Chefs von CIA und FBI sowie Außenminister Colin Powell und Kriegsminister Donald Rumsfeld ging es vor allem um die Küstensicherung des Archipels, der sich mit 17.000 Inseln von Ost nach West über eine Länge von immerhin etwa 5.000 Kilometern erstreckt. Eine ideale Rückzugsmöglichkeit für Mitglieder von al-Qaida oder der in mehreren südostasiatischen Ländern operierenden panislamischen Jemaah Islamiyah, die hinter den Anschlägen von Bali und Jakarta stecken soll. Gegenwärtig, da die letzten Prozesse des Ad-Hoc-Menschenrechtstribunals abgeschlossen sind und das indonesische Militär wieder zur »Tagesordnung« übergehen kann, verstärken die USA ihren Initiativen um Indonesiens Generalität als verlässlichen Verbündeten dauerhaft in den »Feldzug gegen den internationalen Terrorismus« einzubinden. Einen ersten (eher symbolischer denn pekuniär bedeutsamer) Betrag in Höhe von 400.000 US-Dollar stellt Washington bereit, um die Teilnahme Indonesiens am »Internationalen Militärischen Ausbildungs- und Trainingsprogramm« (IMET) zu gewährleisten.2Die Präsidentin nutzt diesen Feldzug entgegen ihrer früheren öffentlichen Beteuerung, einen Waffengang in Aceh unter allen Umständen zu vermeiden,3 offensichtlich auch als Wahlpropaganda. Im nächsten Jahr ist Präsidentschaftswahl, da will sie sich im Vorfeld als eiserne Wahrerin des nationalen Zusammenhalts empfehlen. Eine Politik, die deckungsgleich ist mit den Ambitionen des Militärs, das jetzt – jenseits weiterer Gerichtsverfahren und fernab vernehmbarer Kritik seitens der »westlichen Wertegemeinschaft« – erneut als Hüter von öffentlicher Ordnung und nationaler Sicherheit paradiert und ganz im Geiste seines langjährigen Mentors Suharto in Aceh wieder Krieg führt.

Anmerkungen

1) Ausführlich berichtete darüber und über das Schweigen der Regierung in Berlin das ARD-Fernsehmagazin Monitor in seiner Sendung vom 19. Juni 2003.

2) Jim Lobe (Washington/IPS), Hilfe aus dem Pentagon, in: Junge Welt v. 19. Juli 2003.

3) M. Sukarnoputri hatte vor Anhängern ihrer Demokratischen Partei für den Kampf (PDI Perjuangan) in einer politischen Grundsatzrede am 28. Juli 1999, wenige Wochen nach ihrem Wahlsieg bei den Parlamentswahlen, feierlich versprochen, den Aceh-Konflikt friedlich zu lösen, sollte sie jemals Präsidentin werden.

Dr. Rainer Werning, Politikwissenschaftler und Publizist, arbeitet seit 1970 schwerpunktmäßig zu Südost- und Ostasien

Der Autor, der sich selbst nicht glaubt

Der Autor, der sich selbst nicht glaubt

Anmerkungen zu Henryk M. Broders »Hurra, wir kapitulieren«

von Knut Mellenthin

Je offenkundiger die Desaster des »war on terror« werden, desto besinnungsloser scheinen manche Befürworter und Befürworterinnen dieses Abenteuers gewillt, ihre Kriegstrommeln zu bearbeiten – unter ihnen hierzulande nicht zuletzt Henry M. Broder mit seinem neuesten Buch »Hurra, wir kapitulieren«1. Mit gewissem Zögern hat die Redaktion sich entschlossen, in diesem Fall die übliche akademische Zurückhaltung hintanzustellen und Knut Mellenthin, einen Alters- und Berufsgenossen Broders, um einen Review-Artikel zu Broders Buch zu bitten statt um eine Besprechung herkömmlicher Art. Wir würden es begrüßen, wenn Broder oder ähnlich »getunte« KollegInnen den Beitrag als Einladung zu einer offenen Diskussion begreifen könnten – wie deutlich unser Autor auch Tacheles schreibt und wie schwierig eine solche Diskussion demnach auch zu werden verspricht.

Der Journalist Henryk Broder hat ein Buch „von der Lust am Einknicken“ geschrieben. Gemeint ist die Selbstaufgabe Europas vor den moslemischen Horden – die von den europäischen Polit-Eliten und Medien bereitwillig hingenommene, ja sogar feige voran getriebene Islamisierung Europas. Es geht also um ein Phantom, das wenig mit der Wirklichkeit und viel mit einer besonders böswilligen Form der Kriegspropaganda zu tun hat.

Das Thema ist nicht wirklich neu und schon gar nicht originell. Die britische Historikerin Gisèle Littman, bekannter unter ihrem Künstlernamen Bat Ye’or, hat seit 2004 in einer Fülle gleichförmiger Artikel und einem Buch beschrieben, „how Europe became Eurabia“, wie Europa zu Eurabia wurde.2 Man beachte die Vergangenheitsform: Der Prozess ist bereits abgeschlossen. Behauptet zumindest die Autorin, die darüber hinaus meint, der gegenwärtige Verrat der europäischen Eliten sei sehr viel schlimmer als das britisch-französische Einknicken vor Hitler in München 1938.3

Artikelüberschriften wie „How Europe Died“ 4, „While Europe Slept“ 5, „Europe’s Suicide?“ 6, „The Slow Death of Europe“ 7, „Eurabia is no Fairytale“ 8, „The Rapid Islamization of Europe“ 9, „Eurabian Nightmares“ 10, „Goodbye Europe, Hello Eurabia“ 11, „The Muslim Brotherhood’s Conquest of Europe“ 12, „Why Al-Qaeda Will Dominate the European Union“ 13 und „France: The Republic of Paristan14 – solche Artikelüberschriften erinnern mich an die wahnhaften Titel antisemitischer Broschüren der 20er und 30er Jahre des vorigen Jahrhunderts. Und die Liste dieser Headlines, die oft so klingen, als kämen sie direkt aus einem Irrenhaus oder von einem Besäufnis pubertierender Jugendlicher mit einem ziemlich schrägen Humor, ließe sich noch lange fortsetzen. Jeden Moment erwarte ich die Parole „Die Moslems sind unser Unglück15 und den Kampfruf „Europa erwache!“

Denn dass Europa endlich erwachen und sich dem von den USA und Israel angeführten neuen Kreuzzug gegen die islamische Welt anschließen möge, das erhoffen sie sich alle als Ergebnis ihrer Klagen und Alarmrufe. Keiner von ihnen macht daraus ein Geheimnis. Letztlich auch Broder nicht, selbst wenn er seine Bekenntnisse zur Notwendigkeit des Straflagers Guantánamo, zu den segensreichen Folgen des Irakkrieges und zur Berechtigung des Einsatzes von Atomwaffen gegen den Iran etwas verdruckst und hintenherum vorträgt, als schäme er sich doch noch ein ganz klein bisschen über sich selbst. Broder leistet seinen Beitrag zum antiislamischen Kreuzzug vorzugsweise, indem er dessen Kritiker mit Schmutz bewirft, ohne selbst mit allerletzter Klarheit Farbe zu bekennen, worauf er eigentlich konkret hinaus will. Statt direkt für den von den Neokonservativen ausgerufenen »Weltkrieg« zu werben, lästert Broder lieber, dass sich Bin Laden über jede Antikriegsdemonstration freue (S.137). Und die Schlussfolgerung, bitte?

Broder schreibt zu Guantánamo: „Die Vorstellung, ein Unschuldiger könnte jahrelang festgehalten werden, ist ein Albtraum. Andererseits übersteigt die Idee, man könnte dem Terror nur mit rechtsstaatlichen Mitteln beikommen, die Grenzen zum Irrealen. Es ist, als ob man die Feuerwehr auffordern würde, sich bei ihren Einsätzen an die Straßenverkehrsordnung zu halten und auf keinen Fall eine rote Ampel zu überfahren. (…) Gegenüber Terroristen ‚fair’ zu sein, auf verdeckte Ermittlungen zu verzichten und im Verfahren alle Quellen offen zu legen, käme einem Verzicht auf eine Verfolgung gleich.“ (S.124) – Die Rede ist, wohlgemerkt, von Guantánamo, dessen Gefangene überhaupt nie mit gerichtlich nachprüfbaren Vorwürfen und irgendeiner noch so unperfekten Form von Verfahren konfrontiert werden. Weiß Broder das nicht, oder verdrängt er es einfach nur?

Den sachlich zutreffenden Hinweis, dass der »Krieg gegen den Terror« jetzt schon um ein Vielfaches mehr Menschenleben gekostet hat als der Terror selbst, kontert Broder mit dem Gegenargument: „Solche Fragen sind nicht zynisch, sie sind dumm. Denn in dieser Rechnung sind die irakischen Opfer des Saddam-Regimes nicht enthalten, hunderttausende von Menschen, die verfolgt, gefoltert und getötet wurden.“ (S.134) – Mit runden Zahlen ist Broder sehr flott, Quellen nennt er meist nicht, wie auch in diesem Fall. Wie auch immer: Über den tyrannischen Charakter des Saddam-Regimes muss und kann nicht gestritten werden. Tatsache ist aber, dass sich unter der US-Besatzung eine Situation entwickelt hat, die von einer großen Mehrheit der Iraker als noch erheblich schlimmer als die früheren Zustände empfunden wird. Hunderttausende sind inzwischen aus dem Land geflüchtet, weit mehr als zur Zeit Saddam Husseins. Grundsätzlich ist die Idee, man dürfe und müsse moslemische Länder überfallen, um deren Bevölkerung zu befreien, pervers und menschenfeindlich. Im Fall Iraks kommt hinzu, dass der Angriff ausgerechnet einen Staat traf, in dem islamische Fundamentalisten denkbar wenig zu sagen hatten – und ganz sicher weitaus weniger als derzeit.

Zur »Option« eines amerikanisch-israelischen Atomschlags gegen Iran schreibt Broder: „Das Berliner Büro der ‚Deutschen Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges’ hat ein Papier veröffentlicht, in dem die Folgen eines amerikanischen Atomschlags gegen den Iran beschrieben werden: Mehr als zwei Millionen Menschen würden in den ersten 48 Stunden sterben, eine Million würde schwere Verletzungen erleiden. Zehn Millionen würden verstrahlt. Nur eine Frage wurde in dem Papier weder gestellt noch beantwortet: Was wären die Folgeschäden eines iranischen Atomschlages?“ (S.158)

Was versucht uns der Dichter damit zu sagen? Dass ein Atomschlag gegen den Iran immer noch vergleichsweise das geringere Übel, also »sittlich geboten« ist, wie es der damalige niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht 1976 bezüglich der Anwendung der Folter formuliert hatte? Oder was sonst? Der Autor verrät es uns nicht, und er möchte es sich offenbar selbst auch gar nicht so genau eingestehen. Denn sonst bekäme er vielleicht doch beim Blick in den Spiegel, beispielsweise während des Rasierens, ernsthafte Probleme.

Wohlverstanden: Die Rede ist von iranischen Atomwaffen, die selbst in den kühnsten Phantasien neokonservativer Kriegshetzer zumindest derzeit gar nicht existieren und die es nach offiziellen amerikanischen und israelischen Schätzungen auch in den nächsten Jahren nicht geben wird. Die Behauptung, Teheran strebe die Entwicklung solcher Waffen aber immerhin an, obwohl es stets das genaue Gegenteil behauptet, ist reine Glaubenssache. Es gibt dafür nicht die geringsten Beweise. Verglichen damit waren die seinerzeitigen kriegsbegründenden Erzählungen über Saddam Husseins Massenvernichtungswaffen, die später nie gefunden wurden, geradezu grundsolide und hochwissenschaftlich.

Daniel Bax diagnostiziert Broders »psychische Störung« als Hysterie.16 Mir scheint diese Deutung zwar nicht absolut ausgeschlossen, aber doch unwahrscheinlich. Broder wirkt auf mich in keinem einzigen Moment seines Buches wie jemand, der ernsthaft an das glaubt, was er schreibt. Ich denke, er spielt den Hysteriker lediglich, um dem Zweck zu dienen, den er für den guten hält: literweise Benzin ins entfachte Feuer des »Clash of Civilizations« zu kippen.

Ich will diesen Verdacht auch begründen: Henryk Broder und ich sind derselbe Jahrgang (1946), er knapp zwei Monate jünger als ich. Wir haben also dieselben Abschnitte deutscher Nachkriegsgeschichte im selben Alter erlebt. Anfang der 70er Jahre, als ich der Redaktion einer linken Zeitschrift angehörte, hat Henryk Broder, der damals ehrenvolle Fehden mit deutschen Rechten und »Ewiggestrigen« austrug, punktuell mit uns zusammengearbeitet. Ich will damit sagen: Henryk Broder weiß, wovon die Rede ist. Er kennt den gesamten rechten und rechtsextremen Diskurs. Und er merkt vermutlich auch heute noch ganz genau, wenn er sich aus dem Dreck bedient, gegen den er in früheren Jahren angekämpft hat. Wie fühlt man sich denn als Rechtspopulist, der verzweifelt so tut, als wäre er ein geistig minderbemittelter Leserbriefschreiber der BILD-Zeitung? Also kein intellektuell begabter Journalist von 60 Jahren mit einem großen Erfahrungshintergrund, sondern bloß ein ganz armes Würstchen, das außer einem Sack von blödsinnigen Ressentiments nicht viel vorzuweisen hat?

Ein konkretes Beispiel. Broder schreibt, gleich zu Beginn seines Buches, es gehe „um 1,5 Milliarden Moslems in aller Welt, die chronisch zum Beleidigtsein und unvorhersehbaren Reaktionen neigen“ (S.13). „Unvorhersehbare Reaktionen“ meint im Kontext, da ist gar kein Zweifel möglich, alle Arten von Gewalttätigkeit, bis hin zum Terrorismus. 1,5 Milliarden Individuen, von denen Broder doch höchstens einen Bruchteil persönlich kennt. 1,5 Milliarden Menschen, denen Broder exakt dieselben Eigenschaften zuschreibt. Menschen völlig unterschiedlicher Kulturen, in denen es riesige Unterschiede auch in religiöser Hinsicht gibt.

Welcher Mensch, und wäre sein IQ noch so niedrig, kann ernsthaft einen solchen Quatsch glauben? Und es geht ja dabei nicht um heitere, harmlose, womöglich sogar selbstironische Vorurteile, wie etwa, dass alle Schotten geizig oder alle Touristen in Brighton schwul seien. Sondern es geht um die Ausgestaltung eines Feindbildes, und zwar letztlich mit knallharten militärischen Konsequenzen. Also um ein widerwärtiges Spiel mit Hunderttausenden von Toten, um nur die Untergrenze zu kennzeichnen.

Ein weiteres konkretes Beispiel. Broder lobt den Fleiß und Bildungshunger der in Deutschland lebenden Vietnamesen und fragt, warum es – seiner Ansicht nach – die Moslems denn nicht ebenso machen. Als Antwort schreibt er: „Vielleicht weil sie“ (die Vietnamesen – K.M.) „aus einer Kultur kommen, in der Arbeit und Lernen zu den primären Tugenden gehören, während es bei den Moslems aus der Türkei und den arabischen Ländern (natürlich mit Abstufungen) vor allem die Ehre, der Respekt und die Unterwerfung sind. Hier stößt eine Kultur des Fleißes und der Betriebsamkeit mit einer Kultur der Scham und der Schande zusammen, die auf jede ‚Provokation’ beleidigt und aggressiv reagiert.“ (S.113)

Ich halte jede Wette, dass Broder, der zwar möglicherweise bösartig, aber doch alles andere als ein Idiot ist, es besser weiß. Aber selbst wenn nicht: Er müsste nur das Branchenbuch einer deutschen Großstadt zur Hand nehmen, um sich von der Existenz einer großen Zahl kleiner und großer türkischer Geschäftsleute, iranischer Ärzte, und was sonst noch Zeichen einer „Kultur des Fleißes und der Betriebsamkeit“ sein mögen, zu überzeugen. Geh rein in einen türkischen Imbiss, sprich mit den Leuten, mach dir ein Bild von ihrem harten Arbeitspensum – und hör auf, Hunderttausende von Menschen zu diffamieren!

Doch, wie gesagt, ich glaube nicht, dass Broder diesen Ratschlag wirklich braucht. Er weiß es. Er hat in Wirklichkeit gar keine persönlichen Vorurteile gegen Moslems. Er spielt »aus übergeordneten Interessen« den Ausländerfeind, ohne wirklich einer zu sein. Das macht sein Tun nicht besser, sondern schlimmer.

Anmerkungen

1) Henryk M. Broder (2006): Hurra, wir kapitulieren! Von der Lust am Einknicken. Siedler, Berlin.

2) Bat Ye’or (2006): Eurabia, The Euro-Arab Axis. Fairleigh Dickinson University Press, Madison, NJ.. Bat Ye’or hat den Begriff »Eurabia« zwar nicht erfunden, wohl aber dessen Anwendung als Schimpfwort für die angebliche Islamisierung Europas.

3) Bat Ye’or: Beyond Munich – The Spirit of Eurabia. FrontPageMagazine.com, 02.07.04. Das Online-Magazin FrontPage ist ein wichtiger Treffpunkt dieser politischen Strömung. Der Artikel war das Transkript eines Vortrags, den die Autorin auf einem Seminar im Französischen Senat gehalten hatte.

4) Sebastian Villar Rodriguez im FrontPageMagazine, 20.09.05.

5) David Forsmark im FrontPageMagazine, 03.05.06. Der Autor besprach dort das Buch »While Europe Slept: How Radical Islam is Destroying the West from Within« von Bruce Bawer.

6) Interview mit Morten Messerschmidt im FrontPageMagazine, 26.04.06. Messerschmidt ist Parlamentsabgeordneter der nationalistischen, rechtspopulistischen Dänischen Volkspartei, die sich gegen Einwanderung und Multikulturalismus einsetzt.

7) Guy Millière im FrontPageMagazine, 26.04.06

8) Bruce Bawer im FrontPageMagazine, 18.04.06

9) Robert Spencer im FrontPageMagazine, 18.09.04. Spencer ist offiziell verantwortlich für die sehr aufwändig und arbeitsintensiv gemachten antiislamischen Webseiten Jihad Watch und Dhimmi Watch. Der Umfang dieser stets aktuellen Seiten übersteigt bei weitem die Möglichkeiten eines Individuums und lässt den Verdacht auf Geldgeber und Organisatoren zu.

10) Andrew G. Bostom im FrontPageMagazine, 13.03.06

11) Lowell Ponte im FrontPageMagazine, 28.03.06. Der Autor malt auf die von Rechtsaußen bekannte vulgär-demographische Weise das Aussterben der Europäer an die Wand.

12) Lorenzo Vidino im FrontPageMagazine, 14.03.05. Eine deutsche Übersetzung ist unter dem Titel „Die Eroberung Europas durch die Muslim-Bruderschaft“ im Internet zu finden. Lorenzo Vidino ist stellvertretender Direktor beim Investigative Project in Washington, das sich als »Antiterror-Forschungsinstitut« bezeichnet, und Autor des neokonservativen Online-Magazins National Review.

13) Der frühere tschechische Präsident Pavel Kohout im FrontPageMagazine, 07.10.04

14) Pete Fisher im FrontPageMagazine, 07.11.05.

15) „Die Juden sind unser Unglück“, behauptete der deutsche Historiker und Reichtagsabgeordnete Heinrich von Treitschke (1834 – 1896) in seinem 1879 veröffentlichten Artikel »Unsere Aussichten«. Der Satz wurde zum Motto des deutschen Antisemitismus. Broder hat sich inzwischen immerhin zu der Parole „Die Europäer sind unser Unglück“ vorgearbeitet. So die Headline eines Textes, den er am 28.07.04 auf seine Website setzte. Broder beklagte sich dort bitter über die europäische Kritik an Israels »Sperranlage«, in Israel offiziell als »Fence« (Zaun) verniedlicht.

16) „Humoristische Hasspredigt“ im taz Magazin, 18.11.06.

Knut Mellenthin lebt und arbeitet als freier Journalist in Hamburg. Hauptsächlich beschäftigt er sich mit dem Kriegsstrategie der US-Regierung seit dem 11. September 2001.

Morden im Namen von Freiheit

Morden im Namen von Freiheit

Kesseltreiben gegen Linke in den Philippinen

von Rainer Werning

Vor zwanzig Jahren stürzte in den Philippinen die Marcos-Diktatur, die über den Inselstaat am 21. September 1972 das Kriegsrecht verhängt hatte. Anlässlich des 34. Jahrestages dieses Ereignisses versammelten sich Zehntausende von Demonstranten in den Philippinen sowie in einigen europäischen und US-amerikanischen Großstädten, um gegen die Regierung von Präsidentin Gloria Macapagal-Arroyo lautstark zu protestieren. Die nämlich hat seit Beginn ihres Amtsantritts im Januar 2001 mit Methoden des einstigen Diktators Front gegen missliebige Kritiker gemacht und das Land tief gespalten.

Die „Menschenrechtslage unter Präsidentin Gloria Macapagal-Arroyo“, schrieb Girlie T. Padilla, Generalsekretärin der Ökumenischen Bewegung für Gerechtigkeit und Frieden in den Philippinen, zum Jahreswechsel, „ist mit Abstand die schlechteste in der Post-Marcos-Ära. Alle diese Morde gehen auf das Konto des Staatsapparates und geschahen im rechtsfreien Raum; weder wurden Anklagen erhoben, noch Verdächtige in Gewahrsam genommen. Wer heute gegen die Regierung protestiert, kann bereits unter dem Terrorverdacht festgenommen und auf unbestimmte Zeit inhaftiert werden“.

Die engagierte Bürgerrechtlerin sollte leider Recht behalten. Auch in diesem Jahr setzen Schergen der staatlichen »Sicherheitskräfte« ihr Kesseltreiben gegen Kritiker des Arroyo-Regimes fort. Dabei verfahren sie fast immer nach ein und demselben Muster: Maskierte Personen auf Motorrädern erschießen ihre Opfer aus kurzer Entfernung, um dann unerkannt davon zu preschen. In erster Linie trifft es vermeintliche Mitglieder und Sympathisanten der Kommunistischen Partei (CPP) und ihrer Guerilla, der Neuen Volksarmee (NPA), Aktivisten der im Kongress vertretenen linken Gruppierungen Bayan Muna (Das Volk zuerst) und Anakpawis (wörtlich: Kinder des Schweißes) sowie Bürgerrechtler, Kirchenleute, Gewerkschafter, Arbeiter- und Bauernführer. Insgesamt sind seit dem Amtsantritt von Präsidentin Arroyo im Januar 2001, so Marie Hilao-Enriquez, Generalsekretärin der Menschen- und Bürgerrechtsorganisation Karapatan, bis Mitte September dieses Jahres 650 Personen aus politisch motivierten Gründen ums Leben gekommen – darunter knapp 70 Journalisten, mehr als während der Kriegsrechtsära unter Marcos (1972-86). Damit rangieren die Inseln hinter Irak zum gefährlichsten Land für investigative Medienvertreter.

Unterstützt wird diese Kritik an Arroyo mittlerweile auch von der staatlichen Menschenrechtskommission (CHR) und amnesty international (ai). Bereits zwei Mal in diesem Jahr, im Mai und September, legte ai Berichte vor, in denen vor allem der starke Anstieg außergerichtlicher Hinrichtungen, das Klima von Straffreiheit und der Täterschutz kritisiert werden. Selbst die CHR-Vorsitzende Purificacion Quisumbing schloss sich dieser Einschätzung an – ungewöhnlich für eine Organisation, die sonst stets die Regierungsseite verteidigte. Im Mittelpunkt der Kritik stehen namentlich Personen wie (der mittlerweile in den Ruhestand getretene) Generalmajor Jovito Palparan, Generalstabschef Hermogenes Esperon, Exekutivsekretär Eduardo Ermita und der Nationale Sicherheitsberater Norberto Gonzales. Sie seien die Hauptarchitekten von »Oplan Bantay Laya«, dem staatlichen Aufstandsbekämpfungsplan »Freiheitswacht«, der sich ausdrücklich gegen exponierte Aktivisten im Hinterland und in den Städten richte. Palparan, ein in Manila hochgeschätzter Offizier, ist erklärtermaßen ein glühender Befürworter des »kurzen Prozesses«, wenn es gilt, »Aufständische, Terroristen und Kommunisten« zu jagen. Er befehligte zuletzt Infanterieeinheiten im Zentrum der Hauptinsel Luzon, auf der auch Manila liegt. Das Treiben von Palparan und Co. genießt seit Ende Mai zudem besonderen Rechtsbeistand aus Manila und Washington, da der zwischen beiden Parteien geschlossene so genannte »Security Engagement Board« über normale militärische Aspekte hinaus auch und gerade Sonderaufgaben wie „die Bekämpfung des Terrorismus“ und „die Hilfestellung im Falle von Naturkatastrophen“ u.ä. vorsieht. Das alles weckt böse Erinnerungen an die einst in Vietnam exekutierte Operation Phönix, bei der es darum ging, faktisch die Zivilbevölkerung in »Unruhegebieten« als Geiseln zu nehmen, um so der Guerilla den Nährboden zu entziehen.

Aus seinem Exil im niederländischen Utrecht meldete sich in den vergangenen Wochen gleich mehrfach José Maria Sison zu Wort, der einst Mitbegründer der CPP war und heute als Chefberater des Nationalen Demokratischen Front (NDFP) fungiert, der Dachorganisation der illegalisierten philippinischen Linken. „Geblendet von Hybris“, so Sison kürzlich in einer Presseerklärung, „überschätzt das Regime maßlos seine Fähigkeit, sich mittels schierer Gewalt und Betrug an der Macht zu halten. Tatsächlich trägt es aktiv dazu bei, dass sich die Masse der Bevölkerung und verschiedene politische Kräfte einen und vielfältige Formen des Kampfes entwickeln“. Sison ist selbst in einen delikaten Rechtsstreit verwickelt. Nach der letzten Anhörung am 30. Mai soll in Kürze vor dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in Luxemburg über seine Klage befunden werden, seinen Namen von der»Terroristen-Liste« des Rates der Europäischen Union zu streichen.

Dr. Rainer Werning, Politologe und Publizist mit dem Schwerpunkt Südost- und Ostasien, ist u.a. Ko-Herausgeber des jüngst erschienenen »Handbuch Philippinen – Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Kultur« (Unkel/Bad Honnef: Horlemann Verlag).

Die Terroristen, das sind die anderen

Die Terroristen, das sind die anderen

von Sabine Korstian

Die israelische Tageszeitung Ha'aretz berichtete, dass am 19.12.2006 israelische Soldaten aus ca. 100 Meter Entfernung das Feuer auf zwei ihrer Meinung nach verdächtige Gestalten eröffneten, die sich dem »seperation fence« in der Nähe des Dorfes Faroun bei Tulkarem näherten. Die zwölfjährige Rasha Shalbi wurde leicht verletzt und die vierzehnjährige Da'ah Abed Al Qadr so schwer, dass sie noch im Rettungswagen starb. Die Soldaten wurden vorläufig vom Dienst suspendiert und eine Untersuchung eingeleitet. Die Mädchen waren auf dem Weg zu familieneigenem Land auf der anderen Seite gewesen.

Die »seperation barrier«, die Israel seit Juni 2002 baut, wird 703 km lang sein. Bei ihrer Fertigstellung werden 11,9% der Westbank auf der israelischen Seite der »barrier« (Quelle: b'tselem) liegen. Viele Palästinenser empfinden solche Vorfälle, den Bau der »barrier« und andere israelische Sicherheitsmaßnahmen als Staatsterror, der gegen sie gerichtet ist.

Die meisten Israelis wiederum befürworten den Bau und andere Sicherheitsmaßnahmen. Für sie sind sie notwendig zur Abwehr palästinensischer Terroranschläge. Tatsächlich hat die »barrier« zu einer deutlichen Reduktion der Anschläge innerhalb Israels geführt. Doch wurden meist vom Gazastreifen aus seit dem israelischen Rückzug im Sommer 2005 mehr als 1.500 Qassam Raketen abgefeuert, von denen über 1.200 auf israelischem Gebiet niedergingen. Eines der insgesamt mehr als 20 Opfer von Qassam Raketen war die 57jährige Muslima Fatima Sklutzker, die erst vor drei Jahren mit ihrem jüdischen Mann aus dem Kaukasus eingewandert war. Sie starb, als am 15. 11. 2006 Raketen in ein Wohngebiet in Sderot einschlugen (Quelle: Jerusalem Post). Für die Mehrheit der Israelis sind es die Palästinenser, von denen Terror ausgeht.

Ähnlich diametral entgegengesetzte Interpretationen der Ursachen politischer Gewalt sind auch aus anderen Konflikten bekannt. Genauer gesagt, Interpretationen über die Verursacher der Gewalt: Geht für die kolumbianische FARG die Gewalt vom Staatsapparat und den Todesschwadronen aus, so begründen diese ihrerseits ihr Morden mit der Existenz der Terrororganisation FARG. Für die kurdische PKK rechtfertigt die Gewalt des türkischen Staates gegen Kurden ihre Anschläge, während der Staat seine Gewalt mit dem Kampf gegen die PKK begründet. Die Tamil Tigers auf Sri Lanka wehren sich ihrer Meinung nach gegen den von Singhalesen dominierten Staat. Dieser sieht in den Tigers einen guten Grund, gewaltsam vorzugehen. Die Liste lässt sich fortsetzen bis hin zu Bushs »War on Terror« und Bin Ladens »Krieg gegen die Kreuzzügler«.

Aus den Auseinandersetzungen über all diese Konflikte ist der Begriff des Terrorismus nicht wegzudenken. Das liegt nicht an seinen besonderen deskriptiven oder analytischen Qualitäten, mit deren Hilfe sich ein erhellendes Licht auf komplexe Zusammenhänge werfen ließe. Eher im Gegenteil, gerade weil dies nicht der Fall ist, eignet er sich als Waffe in den Propagandaschlachten um die Legitimität politischer Gewalt. Sie richten sich nach der Logik, dass, wer Terror anwendet, im Unrecht ist und wer sich gegen ihn verteidigt, im Recht. Wer dabei wer ist, das richtet sich wiederum danach, für welche Seite Partei ergriffen wird: Die Terroristen, das sind die anderen und deshalb sind sie die Schuldigen, selbst wenn sie selber Opfer werden. Jeder, der den Begriff benutzt, muss damit rechnen, dass ihm Parteinahme unterstellt wird. Doch auch der Verzicht auf die Terrorismus-Zuweisung macht verdächtig, denn wer nicht für die eine Seite Partei ergreift, unterstützt wohl die andere. »Terrorismus« eignet sich sowohl als Etikett als auch als Mittel politischer Gewalt besonders gut Freund-Feind-Schemata zu (re-)produzieren und damit einen Konflikt zu perpetuieren.

Eine Lösung der Konflikte verlangt einen Ausstieg aus der Schuldzuweisung. Zum Beispiel zeigt das Ringen um den Frieden in Nordirland einerseits, wie schwierig dieser Ausstieg ist. Andererseits wird deutlich, dass – selbst wenn längst nicht alle Probleme gelöst sind – die Bereitschaft aller Konfliktparteien, einen Kompromiss zu finden, statt sich über Schuldzuweisungen zu legitimieren, der politischen Gewalt ein Ende setzen kann.

Erst wenn die Beteiligten der anscheinend verführerischen Kraft des Glaubens widerstehen, dass sowohl Überlegenheit als auch Unterlegenheit von der Verantwortung für einen tragfähigen Kompromiss befreien, wird es eine Chance auf eine friedliche Lösung geben. Wie immer im jeweiligen Fall ein Kompromiss aussehen mag: Des einen Sicherheitsmaßnahmen können dann nicht mehr des anderen Sicherheitsrisiko sein.

Ihre Sabine Korstian

Ursachen und Grundstrukturen politischer Gewalt

Ursachen und Grundstrukturen politischer Gewalt

von Jochen Hippler

Menschen greifen nicht selbstverständlich und leicht zu politischer Gewalt. Dazu bestehen zu viele psychologische Hemmschwellen, politische Restriktionen und persönliche Risiken. Zwar sind die Hindernisse einer Gewaltausübung in verschiedenen politischen und gesellschaftlichen Kontexten und zu verschiedenen historischen Zeitpunkten unterschiedlich ausgeprägt, aber sie können prinzipiell relativiert oder überwunden werden. In fast allen Fällen gilt allerdings, dass politische Gewalt ein Zeichen sozialer, ökonomischer oder politischer Krisen darstellt, die sich häufig auch in ideologischen oder spirituellen Umbrüchen reflektieren. Das trifft sowohl für die Gewalt von oben – die politischer Machteliten – zu wie auch für die Gewalt von unten – die nichtstaatlicher Akteure.

Wenn Gewalt von politischen Machteliten oder Regierungen und deren bewaffneten Organen angewandt wird, kann dies offensiven oder defensiven Absichten entsprechen: Eine von der Bevölkerung nicht getragene Regierung oder ein staatliches System, die von Machtverlust oder gar Sturz bedroht sind, können versuchen, sich dem gewaltsam entgegen zustemmen. Dann ist wahrscheinlich, dass die direkten Träger der Bedrohung, also die Opposition, zum Ziel der Gewalt wird, aber häufig werden über die aktiven Kader und Politiker, die den Herrschern gefährlich werden könnten, auch mit ihnen identifizierte Gruppen getroffen: etwa politische Organisationen, Parteien oder Bewegungen, religiöse, kulturelle, ethnische oder nationale Gruppen. Der Völkermord in Ruanda 1994 gehörte sicher in diese Kategorie einer umfassenden Anwendung politischer Gewalt, um die Gefahr eines Machtverlustes präventiv und endgültig zu bannen.

Eine offensive Art des Einsatzes politischer Gewalt kann vorliegen, wenn ein Regime entweder nach außen (durch Krieg) die eigene Macht ausdehnen möchte, wie im Fall des Irak 1980 und 1990, als Saddam Hussein den Iran und Kuwait überfallen ließ oder beim US-Angriff auf den Irak 2003. Nicht selten sind solche Aggressionen mit interner Repression verbunden, um zugleich innenpolitische Gegner auszuschalten. Ein offensiver Umgang mit staatlicher Gewalt kann aber auch vorliegen, wenn ein Regime ein Konzept der politischen, ethnischen, nationalen oder rassistischen Umgestaltung der eigenen Gesellschaft betreibt und dazu ganze Bevölkerungsgruppen marginalisieren, vertreiben oder auslöschen möchte. Klassische Beispiele sind natürlich die Vernichtung der europäischen Juden durch den deutschen Faschismus, die Vernichtung der »Kulaken« in der Ukraine durch den Stalinismus, die ethnischen »Säuberungen« und der Völkermord auf dem Balkan, insbesondere durch die großserbischen Nationalisten, oder der jungtürkische Völkermord an den Armeniern.

Zwischen diesen beiden Extremen politischer Gewalt zu defensiven oder offensiven Zwecken liegt die »normale« Gewaltpolitik von Herrschern, die auf Kosten und ohne Zustimmung ihrer Völker regieren. In erfolgreichen Diktaturen kann das Maß der tatsächlich ausgeübten Gewalt erstaunlich gering bleiben, weil die Bevölkerung einerseits bereits von der Drohung gelähmt und diese Strategie meist mit positiven Anreizen des Wohlverhaltens verknüpft wird.

Sehen wir von dieser »routinemäßigen« Gewaltanwendung einer Diktatur oder autoritären Herrschaft ab, dann deutet vieles darauf hin, dass bei der offensiven wie defensiven Variante bereits gesellschaftliche oder gar regionale Ungleichgewichte oder Verwerfungen entstanden sind, zu deren Beseitigung die Gewalt dienen soll. Ein größeres Ausmaß an Gewalt deutet auf eine latente oder akute soziopolitische oder ökonomische Krise hin, die gewaltsam überwunden werden soll.

Eine solche Voraussetzung darf man auch bei massiver und dauerhafter Gewalt durch nichtstaatliche Akteure unterstellen, mag diese von Befreiungsbewegungen, Unabhängigkeitskämpfern, politischen Parteien oder Bewegungen, terroristischen Organisationen, oder ethnischen oder religiösen Gruppen ausgehen.

Armut, soziale Ungleichheit und Entwicklungsprobleme

Häufig wird Armut als eine zentrale Ursache politischer Gewalt allgemein und des Terrorismus insbesondere genannt. Ein solcher Zusammenhang erscheint einleuchtend, ist auch nicht prinzipiell falsch – aber funktioniert doch eher indirekt und über einige Zwischenschritte. Armut an sich ist schrecklich, aber nicht notwendigerweise ein direkter Auslöser oder eine Ursache von Gewalt. Wenn in einer Gesellschaft alle Menschen mehr oder weniger gleich arm sind, gibt es aus Armutsgründen kaum Anreize für Gewaltanwendung. Wenn allerdings krasse Armutsunterschiede vorhanden sind, eine Gesellschaft also tief in Arm und Reich gespalten ist, wächst das Potential latenter Gewalt, auch wenn diese nicht unbedingt zum Ausbruch kommen muss. Heikel wird es aber, wenn solche Armutsdifferenzen in erkennbare Bewegung geraten, sich also etwa vermindern oder verbreitern – dann kann die Gewaltwahrscheinlichkeit beträchtlich steigen. Eine Vergrößerung oder Verkleinerung des Abstandes zwischen Arm und Reich hat immer Gewinner und Verlierer zur Folge, und deren Reaktionen können die Gewaltschwelle senken. Armut kann unter bestimmten Umständen einen Leidensdruck produzieren, der – wenn andere Faktoren hinzutreten – in gewaltsame Reaktionen umschlagen, wie er auch in Apathie, Selbsthass, Kriminalität, Entpolitisierung, individuelle Überlebensstrategie und anderes münden kann, aber nicht muss. Der Faktor Armut ist also mit anderen verknüpft. Paul Brass weist auf den Zusammenhang zwischen Ungleichheit, ungleichen Wettbewerbssituationen und ethnischer Fragmentierung in Situationen von Modernisierung für eine nationalistische Mobilisierung mit dem Potential zu Gewalt hin: „(N)icht Ungleichheit an sich oder relativer Mangel oder Statusunterschiede sind der entscheidende Antrieb für den Nationalismus ethnischer Gruppen, sondern die relative Verteilung ethnischer Gruppen im Wettbewerb um wertvolle Ressourcen und Chancen und in der Arbeitsteilung in Gesellschaften, die soziale Mobilisierung, Industrialisierung und Bürokratisierung erleben.“1

Ungleichheit, Armut und damit verbundene sozioökonomische Probleme müssen mit gesamtgesellschaftlichen Umbruchssituationen, innergesellschaftlicher Konkurrenz und diesen entsprechenden Ideologien zusammentreffen, um politisch explosiv zu werden.

Armut und in Bewegung geratene Armutsdifferenzen sind also ein Rohstoff der Gewaltentwicklung, aber nicht mehr als das. Sie führen nicht automatisch zur Gewalt, und Gewalt kann auch ohne sie zustande kommen. Trotzdem: Gerade Veränderungen in der Armutsstruktur, also beispielsweise die Pauperisierung der Mittelschichten, eine massive Vergrößerung oder Verkleinerung des Armutsgefälles, oder die bloße Gefahr bisher privilegierter Gesellschaftssektoren, abzusinken und gegenüber anderen ins Hintertreffen zu geraten, können wichtige Faktoren einer gesellschaftlichen Gewaltdynamik sein.

Ob die Gewaltschwelle dabei tatsächlich überschritten wird, ob dies punktuell oder systematisch, spontan oder organisiert, durch kleine Gruppen oder auf Grundlage einer breiten sozialen Bewegung, durch den Staat oder nicht-staatliche Akteure, durch Sachbeschädigung, Bürgerkrieg oder Terrorismus geschieht – das wird von dem konkreten Kontext und Konfliktverlauf, der Geschichte, Kultur, den wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen eines Landes abhängen.

Repression und der Charakter des Staates

Ähnliches gilt für den Faktor »politische Repression«. Die Verweigerung von Freiheits- und Partizipationsrechten und Unterdrückung können zu mächtigen Faktoren werden, die politischen Widerstand provozieren und schließlich auch zu gewaltsamem Ausdrucksformen führen. Diktatorische Regime haben oft auch weniger Anreize als demokratische Systeme, selbst bei der Konfliktbearbeitung auf Gewaltanwendung zu verzichten.2

Tobias Debiel formuliert: „Zu den strukturellen Gewaltursachen und den essentiellen Konfliktgegenständen zählen insbesondere die fortdauernde Bedrohung kultureller Identität durch staatliche Repression bzw. eine vorherrschende Bevölkerungsgruppe, der Ausschluss von der Machtausübung auf staatlicher Ebene, die hartnäckige Verweigerung regionaler Autonomie und lokaler Selbstbestimmung, schließlich die Beschneidung individueller wie kollektiver Entwicklungschancen: Wenn sich unter solchen Bedingungen das kollektive Gefühl von Diskriminierung bzw. Unterdrückung mit der Organisationsfähigkeit betroffener Gruppen verbindet, so sind gewaltsame Konflikte sozusagen vorprogrammiert.“3

Aber der Zusammenhang zwischen politischer – auch terroristischer – Gewalt und Repression sowie dem Fehlen von Demokratie mag zwar existieren, ist aber kompliziert und indirekt. Es gibt zahlreiche Diktaturen, die mit einem bemerkenswert niedrigen Grad an politischer Gewalt auskommen, während umgekehrt in manchen Demokratien oder Halbdemokratien ein beträchtliches Maß an politischer Gewalt existieren kann – Indien und Pakistan (in den 1990er Jahren) mit ihren internen ethnischen und religiösen Konflikten und der Konkurrenz um Kaschmir sind Beispiele. Auch Kolumbien, die Türkei oder Indonesien sind Länder mit Wahlen und einem gewissen Grad an Demokratie, aber leiden oder litten durchaus unter politischer Gewalt im großen Stil. Demokratische Staaten können Terrorismus hervorbringen, wie die Bundesrepublik Deutschland und Italien in den 1970er Jahren erfahren mussten. Umgekehrt existieren zahlreiche autoritäre Regime oder Diktaturen, die das Gewaltniveau nach innen und außen relativ niedrig halten können. Demokratie und die Geltung demokratischer Freiheitsrechte vermögen tatsächlich gewaltsamer Konfliktaustragung und terroristischer Gewalt vorzubeugen, indem sie bestimmte Widerstandsgründe beseitigen und zugleich politische Mechanismen bereitstellen, die eine friedliche Konfliktregulierung erlauben. Dies gilt allerdings nur prinzipiell und langfristig. Kurzfristig können Demokratisierungsprozesse das Gewaltpotential sogar noch erhöhen, indem die repressiven Instrumente der Gewaltvermeidung geschwächt werden, die konsensualen aber noch nicht ausreichend entwickelt sind oder eine Phase der Instabilität mit massiven Verschiebungen der Machtgleichgewichte eintritt. Trotz dieser Einschränkungen lässt sich feststellen, dass insbesondere in Bezug auf terroristische Gewalt funktionsfähige und entwickelte demokratische Gesellschaften (nicht unbedingt »neue« Demokratien) tendenziell weniger anfällig sind und – falls Terrorismus doch auftritt – dieser gesellschaftlich eher isoliert bleibt. Andererseits werden harte Diktaturen, die zivile Mechanismen der Konfliktregulierung nicht zulassen, auf Dauer eher einen gewaltsamen, ggf. auch terroristischen Widerstand hervorbringen – allerdings fast immer nicht allein wegen ihres diktatorischen Charakters, sondern weil dieser Faktor sich mit anderen, wirtschaftlichen, sozialen, religiösen, politischen verbindet. Deshalb ist der Charakter staatlicher Systeme für die Gewaltfrage zentral. Der Arab Human Development Report 2004 kennzeichnet die arabischen Staatsapparate so: „Die allgemeinen Merkmale dieses arabischen Modells, das einige als den »autoritären Staat« bezeichnen (…) und das in einer Reihe von Studien ausführlich beschrieben wurde (…), sind in den jüngsten Kommentaren eines arabischen Journalisten und Aktivisten zusammengefasst. Er beschreibt die Regierung in seinem Land als ein System ohne freie und transparente Parlamentswahlen, das ein »monochromes« Parlament zur Folge hat. Auch die Pressefreiheit ist in diesem System eingeschränkt, ebenso wie politische und Menschenrechtsarbeit, das Justizsystem wird genutzt, um an Oppositionellen Exempel zu statuieren, und die Verfassung ermöglicht eine Regierung, die »auf unbestimmte Zeit eingesetzt und der Kontrolle durch Parlament und Justiz nicht unterworfen« ist. In einem solchen Regime wird auch die herrschende Partei zu nicht mehr als einem Teil des Verwaltungsapparats, der von »Funktionären ohne jegliche Initiative und Effizienz« geführt wird.“4

Solche Staatsapparate sind so auf die Gewährleistung sozialer und politischer Kontrolle fixiert, dass sie an den grundlegenden staatlichen Aufgaben (z.B. Entwicklung, Rechtssicherheit, Partizipation, Transparenz) scheitern oder sie erst gar nicht zu bewältigen versuchen. Solche Diktaturen oder Halb- und Scheindemokratien vermögen Terrorismus und ähnliche Gewaltformen aufgrund ihrer Spitzelsysteme und Repression oft jahrelang einzudämmen, aber erzeugen dadurch letztlich einen Konfliktstau, der sich später um so gefährlicher entladen kann.

Die Rolle der Wahrnehmung

Neil Kressel hat die psychologischen Bedingungen politischer Gewalt untersucht, insbesondere die Faktoren von Hass, Wut und Frustration. „Wirtschaftliche Entbehrungen, Verfolgung, Epidemien, militärische Niederlagen und andere Probleme können Frustrationen auf gesellschaftlicher Ebene hervorrufen. Doch harte Lebensumstände allein führen nicht direkt oder zwingend zu schwelender Enttäuschung und Wut. In vielen Ländern ertragen Menschen solche Bedingungen mit Gleichmut, und umgekehrt gewährleistet das Fehlen sichtbarer Entbehrungen kaum, dass Menschen keine Enttäuschung empfinden. Am stärksten sind Menschen entmutigt, wenn die Erfolge, die sie im Leben erreichen, hinter ihren Erwartungen zurückbleiben. Folglich tragen steigende oder unrealistisch hohe Erwartungen manchmal ebenso sehr zu Massenfrustration bei wie tatsächlicher Mangel.

So muss auch eine enttäuschte Gesellschaft nicht automatisch zu einer zornigen Gesellschaft werden. Nur wenn Menschen ihre Lebenssituation als inakzeptabel und als Folge von Ungerechtigkeit betrachten, wird Wut um sich greifen. Wenn viele Menschen in einer Gesellschaft beschließen, dass sie unerträglich leiden, weil sie unterdrückt oder schlecht behandelt werden, steigt die Gefahr des Massenhasses erheblich. Erfahrungen tatsächlichen Unrechts sind der tiefere Grund für manche destruktiven Impulse, doch ein Gefühl der Ungerechtigkeit muss weder aus tatsächlicher Verfolgung noch aus den Handlungen derer erwachsen, gegen die sich diese Impulse möglicherweise richten.“5

Ein wichtiges Element des Entstehens eines Gewaltpotentials besteht tatsächlich im Auseinanderklaffen der Erwartungen und Hoffnungen eines Großteils der Bevölkerung und der gesellschaftlichen Realitäten. Nicht die Armut der Bevölkerung oder der Mangel an Demokratie an sich führen direkt und automatisch zu politischer Gewalt – auch extrem arme Gesellschaften können bemerkenswert friedfertig sein. Aber wenn diktatorische Verhältnisse oder Armut von größeren Teilen der Bevölkerung nicht mehr akzeptiert werden, weil die Menschen mehr Wohlstand und Freiheit für erstrebenswert und möglich halten und beides ihnen verweigert wird, dann entsteht ein Konfliktpotential mit möglicher Gewaltkomponente.

Wenn wir diese allgemeinen Anmerkungen auf die Region des Nahen und Mittleren Ostens anwenden, lässt sich feststellen, dass korrupte und unfähige Regierungen der eigenen Bevölkerung grundlegende politische Rechte verweigern und zugleich nicht in der Lage sind, eine wirtschaftliche Zukunftsperspektive zu bieten. Massive Jugendarbeitslosigkeit, eine schamlose Spaltung der Gesellschaften zwischen Arm und Reich (letztere oft demonstrativ pro-westlich) und ein starkes Auseinanderklaffen der öffentlichen Werte und Normen einer Gesellschaft und der sozialen Realität sind Warnsignale. Gerade Saudi Arabien liefert ein krasses Beispiel, wie die offiziellen – religiösen – Werte und die politischen und persönlichen Realitäten in Konflikt geraten. Umgekehrt wird deutlich, dass die nach innen deutlich friedfertigeren Verhältnisse in Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg weniger aus »westlichen Werten« und anderen kulturellen oder religiösen Faktoren, als mit funktionierenden sozialen und politischen Systemen resultieren, die der Mehrheit der Menschen auch eine wirtschaftlich Lebensperspektive boten und dann entsprechenden Einstellungen und Werten erst eine Basis boten. Solche positiven gesellschaftlichen und politischen Bedingungen sind der Herausbildung friedfertiger Mentalitäten und Einstellungen sehr förderlich. In einer ganzen Reihe von Ländern des Nahen und Mittleren Ostens sind die Bedingungen dem aber genau entgegengesetzt: Es bestehen chronische Krisen der Gesellschaften und eine zunehmende Atmosphäre der Hoffnungslosigkeit und Wut.

Gesellschaftliche Träger von Gewalt

Als soziale Organisatoren eines resultierenden politischen Radikalismus (und später möglicherweise dessen gewaltsamer Praktiken) kommen häufig Sektoren der Mittelschichten in Betracht, etwa die Söhne ländlicher Familien, die in großen Städten oder sogar im Ausland neue Bildungselemente erwerben (vor allem an Universitäten) – und dann keine oder keine angemessenen Arbeitsplätze finden, zugleich aber nicht zurück in ihre Dörfer können oder wollen. Das politische Konfliktpotential speist sich aus sozialer Not und Verzweiflung, aber seine Organisation wird meist nicht von den Ärmsten, sondern von Vertretern der technischen Intelligenz, Ärzten oder Rechtsanwälten getragen. Die Ärmsten und Marginalisierten sind oft mit ihrem persönlichen Überlebenskampf ausgelastet, der Freiraum für kontinuierliche politische Organisationsarbeit – auch organisierten Terrorismus – ist ein »Luxus«, den sie sich selten leisten können. Zwar können die Ärmsten durchaus zu Trägern politischer Gewalt werden, etwa bei spontanen Aufständen oder als Kanonenfutter bei ethnischen oder ethno-religiösen Ausschreitungen. Als Planer oder Organisatoren kommen aber die wirklich Armen oder das Lumpenproletariat nur in seltenen Ausnahmefällen in Betracht, schon weil bei ihnen die nötigen (oder zumindest sehr nützlichen) politischen Kulturtechniken und Bildungselemente oft fehlen. Analphabeten und Menschen ohne Computerkenntnisse taugen als politische Organisatoren heute nur bedingt. Umgekehrt ist politischer Aktivismus – unter bestimmten Umständen eben auch bis zur politischen und terroristischen Gewalt – für Sektoren der Mittelschichten sowohl realistischer als eine potentielle politische Aufstiegsstrategie. Größere und dauerhafte Gewaltformen setzen darum häufig einerseits einen starken Leidensdruck unter großen Teilen der Bevölkerung, zweitens aber zusätzlich spezifische Probleme von Sektoren der Mittelschichten voraus, um beide in einen wirksamen politischen Zusammenhang zu bringen, bei dem Teile der gebildeteren Mittelschichten ihren Kampf dann mit dem Leid der gesamten Gesellschaft rechtfertigen können. Wenn in einem solchen Kontext politische und gewaltlose Mechanismen der Opposition und des Wandels fehlen, kann Gewalt zu einer breiten und wirksamen Waffe werden.

Der komplizierte Zusammenhang der tiefer liegenden Konfliktursachen einerseits und der Rolle der Kader des politischen Radikalismus und potentieller Gewalt wird also erst dann verständlich, wenn man als dritten Faktor die aufgrund der soziopolitischen Krise primär betroffenen Bevölkerungsteile einbezieht. Die Kader und Organisatoren politischer Gewalt – wie auch die des zivilen Widerstandes – beziehen sich oft ideologisch auf die am meisten leidenden unteren Gesellschaftsschichten, auch wenn sie diesen nicht angehören, und erhalten aus deren Leiden einen wichtigen Teil ihrer Motivation und Legitimität. Zugleich benötigen sie diese als (zumindest Teil ihrer) sozialen Basis. Politische Gewalt zielt ja nicht allein auf ihre eigentlichen Opfer und auf Zerstörung, sondern stellt einen symbolischen, kommunikativen Akt dar, der auf politische Einflussnahme gerichtet ist. Manche Teile der Bevölkerung sollen beeindruckt, ihre Sympathie gewonnen, andere sollen eingeschüchtert werden. Die eigene potentielle Anhängerschaft gilt es zu motivieren und zu mobilisieren, die öffentliche Meinung zu beeinflussen, die Hilflosigkeit der Regierung soll demonstriert oder diese zur Überreaktion verleitet werden, um sie in der Gesellschaft zu schwächen und ihre Glaubwürdigkeit zu untergraben. In diesem Sinne sind nicht die Organisatoren der politischen Gewalt das Hauptproblem, sondern die politische Wirkung der Gewaltakte auf benachteiligte, unterdrückte oder marginalisierte Bevölkerungssektoren, die Mittelschichten und allgemeine Öffentlichkeit. Dabei kann eine politische oder ideologische Verbindung bestimmter radikalisierter Elemente der Mittel- und z.T. sogar Oberschichten – mit ihren Bildungs- und Artikulationsmöglichkeiten wie auch finanziellen Ressourcen – mit den breiten Unterschichten entstehen, die oft an den Rand der Gesellschaft gedrängt sind, es aber allein selten zu dauerhafter politischer Wirksamkeit bringen. Deren Beeinflussbarkeit und Mobilisierbarkeit kann durchaus durch kulturelle Faktoren beeinflusst werden, hängt aber sehr stark davon ab, ob ein bestehendes System ihnen eine positive Lebensperspektive und die Hoffnung auf eine Verbesserung der eigenen Lebenslage bietet. Wer also politische Gewalt – und deren widerliche Sonderform, den Terrorismus – bekämpfen möchte, darf natürlich die Gewalttäter nicht ignorieren, aber der langfristige Erfolg einer solchen Strategie hängt davon ab, die Organisatoren und Kader der Gewalt politisch und sozial von der Gesellschaft zu isolieren. Nur der Erfolg bei dieser Aufgabe hat es in Italien und Deutschland erlaubt, den eigenen Terrorismus der siebziger und achtziger Jahre zu überwinden: die Täter wurden isoliert und resignierten oder wurden polizeilich gefasst. Und diese Aufgabe der politischen Isolation der Täter kann nicht durch Polizei, Geheimdienste oder das Militär gelöst werden, sondern durch Schaffung der begründeten Hoffnung auf positive Entwicklung, durch Arbeitsplätze, soziale Sicherheit, den Respekt vor der eigenen Bevölkerung, Aufstiegschancen, erträgliche Lebenshaltungskosten und Partizipationsmöglichkeiten. Wer diese Probleme nicht löst, kann der Hydra des Terrorismus und der Gewalt viele Köpfe abschlagen, ohne auf Dauer einen Schritt weiter zukommen.

Anmerkungen

1) Paul R. Brass: Ethnicity and Nationalism – Theory and Comparison, New Delhi 1991, S.47

2) Zum Stand politischer Freiheiten und Repression in arabischen Ländern siehe: United Nations Development Programme (UNDP): Arab Human Development Report 2004, New York 2005, S.81ff und 125ff

3) Tobias Debiel: Politische Gewalt, gesellschaftliche Konflikte und der »Faktor Kultur«, Manuskript für den Workshop »Politische Gewalt im interkulturellen Vergleich: Der Westen und muslimisch geprägte Gesellschaften«, Institut für Auslandsbeziehungen , Malta, 19. – 20. November 2004, S.6f.

4) United Nations Development Programme (UNDP): Arab Human Development Report 2004, New York 2005, S.126

5) Neil J. Kressel: Mass Hate -The Global Rise of Genocide and Terror, New York, 2nd ed., 2002, S.214

Dr. Jochen Hippler, Politikwissenschaftler und Privatdozent, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Entwicklung und Frieden (INEF) an der Universität Duisburg-Essen. Im Rahmen des Sonderprogramms Europäisch-Islamischer Kulturdialog des Auswärtigen Amtes hat Jochen Hippler eine Studie »Krieg – Repression – Terrorismus. Politische Gewalt und Zivilisation in westlichen und muslimischen Gesellschaften« mit Kommentaren von Nasr Hamid Abu Zaid und Amr Hamzawy verfasst. Der vorliegende Artikel ist ein überarbeiteter Auszug. Die Gesamtstudie ist zu beziehen über das Institut für Auslandsbeziehungen, Charlottenplatz 17, 70173 Stuttgart.

Kann die UN den Terrorismus effektiv bekämpfen?

Kann die UN den Terrorismus effektiv bekämpfen?

von David Cortright

Das Konzept des »Kriegs gegen den Terror« könnte als politische Metapher nützlich sein, aber die Bekämpfung von Al-Kaida und ähnlich gesinnter Gruppen ist vorrangig eine Aufgabe der internationalen Strafverfolgung.1 Al-Kaida ist keine Regierung, die mittels Krieg unter Kontrolle gebracht werden kann, sondern ein facettenreiches Netzwerk nicht-staatlicher Akteure, das über mehr als sechzig Länder verteilt ist. Die Bekämpfung eines solchen Gegners erfordert die Kooperation vieler Staaten, eine Aufgabe, für die die Vereinten Nationen bestens geeignet sind.

Unmittelbar nach den Anschlägen des 11. September verabschiedete der UN-Sicherheitsrat Resolution 1373, die allen 191 UN-Mitgliedsstaaten umfassende gesetzliche Verpflichtungen auferlegte. Sie verlangt von jedem Land die Finanzanlagen von Terroristen und ihren Unterstützern einzufrieren, ihnen die Durchreise oder einen sicheren Zufluchtsort zu verweigern, terroristische Rekrutierungsmaßnahmen und Waffenlieferungen zu verhindern und mit anderen Ländern bei der gemeinsamen Nutzung von Informationen sowie bei der Strafverfolgung zusammenzuarbeiten. Resolution 1373 verpflichtete die Staaten zu einer Kampagne nicht-militärischer kooperativer Strafverfolgungsmaßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus.2

Um die staatliche Einhaltung dieser neuen Anti-Terror Mandate zu überwachen, wurde mit der Resolution 1373 das »Counter-Terrorism-Committee« (CTC) ins Leben gerufen, das Generalsekretär Kofi Annan als „das Zentrum der globalen Anstrengungen zur Bekämpfung des Terrorismus“ bezeichnete.3 Die vorrangige Aufgabe des CTC ist die Stärkung der Anti-Terror Kapazitäten der UN-Mitgliedsstaaten. Das Komitee dient als eine »Schaltzentrale«, die helfen soll die Bereitstellung technischen Beistands für Länder zu erleichtern, die Unterstützung bei der Umsetzung von Anti-Terror Mandaten benötigen. Es versucht ebenfalls die Anti-Terror Anstrengungen einer großen Zahl internationaler, regionaler und subregionaler Organisationen innerhalb des UN-Systems und darüber hinaus zu koordinieren.4

Das CTC hat seitens der UN-Mitgliedsstaaten eine große Unterstützung erfahren, aber es steht trotzdem vor erheblichen Problemen: Es ist ausschließlich auf Berichte der Mitgliedsstaaten angewiesen und verfügt über keine unabhängigen Mittel um zu entscheiden, ob Länder die Anti-Terror Mandate tatsächlich umsetzen. Außerdem wurde es in seinen Anstrengungen, die Aktivitäten internationaler, regionaler und subregionaler Organisationen zu koordinieren, mehrfach behindert. Anfang 2004 entwickelte sich im Sicherheitsrat ein Konsens über die Notwendigkeit das CTC durch die Bereitstellung zusätzlicher Ressourcen und Kompetenzen wieder zu beleben. Diese Überlegungen veranlassten den Sicherheitsrat im März 2004 zur Verabschiedung der Resolution 1535.5 Mit ihr wurde ein neues »Counter Terrorism Executive Directorate« (CTED) geschaffen, das die Komiteebesetzung mit qualifiziertem Personal erheblich ausweitete und seine Kapazitäten zur Unterstützung der Mitgliedsstaaten verbesserte.

Im April 2004 wurde mit der Resolution 1540 das UN-Anti-Terror Programm weiter gestärkt.6 Die neue Resolution verbietet Staaten jegliche Form von Unterstützung für nicht-staatliche Akteure, die versuchen nukleare, chemische oder biologische Waffen zu erlangen. Es ordnet eine Reihe von Vollzugsmaßnahmen an, die Staaten umsetzen müssen um solch eine Proliferation zu verhindern und richtete ein Komitee ein, um über die Implementierung zu berichten. Im Oktober 2004 befürwortete der Sicherheitsrat – als Antwort auf das Massaker in einer Schule im nordossetischen Beslan – die Resolution 1566, die größere Zusammenarbeit bei der Bekämpfung des Terrorismus fordert und eine Arbeitsgruppe einrichtete um zusätzliche Anti-Terror Maßnahmen zu prüfen. Diese neuen Resolutionen unterstrichen die Entschlossenheit des Rates zur Bekämpfung des Terrorismus aber sie schufen auch potenzielle Überschneidungen mit den Aufgaben des CTC und Verunsicherung darüber, wie diese neuen Gremien zusammenarbeiten werden.

Die Abschätzung der Fortschritte

Annähernd drei Jahre nach Arbeitsantritt weist das CTC eine beachtliche Liste an Leistungen hinsichtlich der Förderung der Anti-Terror Kooperation auf. Unter Kapitel sieben der UNO-Charta agierend hat das CTC geholfen politische und gesetzliche Behörden für die globalen Anti-Terror Bemühungen einzurichten. Vor allem hat es die Schaffung spezialisierter Systeme für die Koordination der weltweiten Anstrengungen zur Bekämpfung der Gefahren durch Terrorismus gefördert. Der kooperative Ansatz, den das UN-Anti-Terror Programm verkörpert, hat dabei geholfen internationale Normen zu entwickeln und zu stärken. Auf diese Weise spielte das CTC eine wichtige Rolle bei der Schaffung und Aufrechterhaltung der internationalen Dynamik zur Stärkung der Anti-Terror Bemühungen.

Die Anstrengungen des Komitees, Informationen von Mitgliedsstaaten über Anti-Terror Kapazitäten und die Implementierung zu sammeln, sind außerordentlich erfolgreich gewesen. Den CTC-Ersuchen nach Berichterstattung wurde seitens der Mitgliedsländer in weit größerem Maße nachgekommen als bei jeglichen vorherigen Sicherheitsratsbeschlüssen. Alle 191 UN-Mitglieder übermittelten dem CTC Erstrundenberichte, die ihre Anstrengungen, die Resolution 1373 zu befolgen, erklärten.7 Die Komiteeexperten reagierten auf diese Berichte mit dem Ersuchen nach Klarstellungen und zusätzlichen Informationen, was zu weiteren Berichtsrunden führte. Alles in allem erhielt das CTC mehr als 550 staatliche Berichte, was es zur Lagerstätte dessen macht, was ein Beobachter den „möglicherweise größten Informationsträger über die weltweiten Anti-Terror Kapazitäten“ nannte.8 Dass die staatlichen Reaktionen auf CTC-Ersuchen auf höchster Ebene erfolgten, bestätigt die Bedeutung, die viele Staaten der Einhaltung des UN-Anti-Terror Programms beimessen. Die Berichte weisen darauf hin, dass viele Staaten konkrete Schritte unternehmen, ihre Gesetze zu überarbeiten und ihre Vollstreckungskapazitäten für die Einhaltung der UN-Anti-Terror Mandate zu verbessern.

Einer der objektivsten und verlässlichsten Indikatoren für die Zustimmung zum Anti-Terrorismus besteht in der wachsenden Zahl von Staaten, die den zwölf UN-Anti-Terror Konventionen beitreten. Diese Konventionen schaffen eine Basis zur Kooperation von Staaten bei der Verhinderung von Terrorfinanzierung, der Ausübung gemeinsamer Strafverfolgung und den geheimdienstlichen Anstrengungen gegen Terroranschläge. Sie schaffen für die Staaten ebenfalls die gesetzliche Grundlage um ihre Strafjustiz zu harmonisieren und Vereinbarungen über gegenseitige Rechtshilfe auszuhandeln. Die wichtigsten dieser Rechtsvereinbarungen sind die »International Convention for the Supression of Terrorist Bombings« (1997) und die »International Convention for the Suppression of the Financing of Terrorism« (1999). Beide erfuhren eine deutliche Steigerung ihrer Ratifikationsquote seit September 2001. Der Anstieg der Unterstützung für die anderen zehn UN-Konventionen war weniger dramatisch, teilweise weil einige der Vereinbarungen, wie die Konvention über Luftsicherheit, bereits vor dem September 2001 breite Unterstützung genossen. Konventionen die bestimmte Felder terroristischer Aktivitäten behandeln (die Verhinderung und das Bestrafen von Verbrechen gegen international geschützte Personen, Maßnahmen gegen Geiselnahme, der Schutz von Nuklearmaterialien und die Kennzeichnung von Plastiksprengstoff) erfuhren einen zwanzig bis vierzigprozentigen Anstieg der Ratifikationsquote seit September 2001.

In ihren ersten vier Jahren ratifizierten nur 28 Staaten die Konvention über terroristische Bombenattentate. Zwischen September 2001 und Mai 2004 ratifizierten weitere 87 Staaten die Konvention. In den ersten beiden Jahren ratifizierten nur fünf Staaten die Konvention über die Finanzierung des Terrorismus, aber seit September 2001 folgten weitere 102 Nationen. Diese Ergebnisse veranschaulichen, dass die Vereinten Nationen in den meisten Weltregionen bei der Mobilisierung der internationalen Gemeinschaft eine gesetzliche Grundlage für den institutionalisierten Kampf gegen den Terrorismus zu schaffen, erfolgreich gewesen sind.

Diese ganzen Aktivitäten werden von einem stetig steigenden Grad internationaler Kooperation in der Anti-Terror Kampagne ergänzt. Eine Mehrheit der UN-Mitgliedsstaaten arbeitet jetzt zusammen bei der internationalen Strafverfolgung und in dem Bemühen Al-Kaida – und Al-Kaida ähnlichen Gruppen – sichere Rückzugsgebiete, Finanzmittel und Reisemöglichkeiten zu verwehren. Durch die Handlungen einzelner Staaten und internationaler Behörden wurden Mittel in Höhe von schätzungsweise $200 Millionen zur Finanzierung von Terrorismus eingefroren.9 Durch unilaterale, bilaterale und multilaterale Strafverfolgungsanstrengungen in dutzenden von Ländern wurden mehr als 4.000 Terrorverdächtige, inklusive vieler hochrangiger Al-Kaida Funktionäre in Gewahrsam genommen.10 Obwohl Al-Kaida ein gefährliches und aktives Terrornetzwerk bleibt und es einen unerwarteten Rekrutierungsschub aufgrund des in der Folge der Invasion und Besetzung des Iraks erhöhten »Anti-Amerikanismus« erfuhr, hat das internationale Anti-Terror-Programm einige Erfolge erzielt.

Die Erleichterung technischer Unterstützung

Bei dem Treffen auf Ministerebene im November 2001 verabschiedete der Sicherheitsrat Resolution 1377 die die CTC auffordert mit internationalen, regionalen und subregionalen Organisationen zusammenzuarbeiten, um Möglichkeiten auszuloten wie Staaten technische, finanzielle, behördliche, gesetzliche und andere Unterstützung erhalten können, um die Umsetzung von Resolution 1373 zu verbessern.11 Der Rat erkennt an, dass relativ wenige Staaten über die umfassenden legalen, administrativen und behördlichen Kapazitäten verfügen, die benötigt werden, um Finanzanlagen einzufrieren, das Reisen bestimmter Personen zu verhindern, Terroristen und ihren Unterstützern »sichere Häfen« zu verwehren und die Rekrutierung und militärische Versorgung terroristischer Gruppen abzustellen.

Die Erfordernisse für die Umsetzung von Resolution 1373 beinhalten häufig ein beträchtliches Ausmaß an Training, den Aufbau neuer administrativer Systeme und den Erwerb sowie die Installation technisch anspruchsvoller Ausrüstung. Viele Staaten benötigen Hilfe um ihre Polizei- und Strafverfolgungssysteme zu verbessern sowie Finanzregulierungsmechanismen und Finanzaufklärungseinheiten zu schaffen. Unterstützung wird ebenfalls gebraucht bei der Entwicklung computerisierter Verbindungen zwischen sicherheitsbezogenen Einheiten, für verbesserte Systemen zur Identifizierung gefälschter Reisedokumente, für bessere Mechanismen zur Zoll- und Einwanderungskontrolle sowie computerisierte Ausrüstung zur Durchleuchtung von Passagieren und Frachtgütern an Grenzübergängen.

Die Kosten für den Ausbau administrativer Systeme und die Beschaffung und Wartung technischer Ausrüstung können erheblich sein.12 Viele Staaten insbesondere in der Dritten Welt benötigen deshalb bei der Beschaffung dieser Kapazitäten Unterstützung. Wie ein afrikanischer Botschafter gegenüber dem Sicherheitsrat im Juli 2003 anmerkte, verfügen viele Länder, die Anti-Terror Gesetze verabschiedet haben, nicht über die notwendigen finanziellen, technischen und menschlichen Ressourcen um diese neuen Gesetze auch umzusetzen.13 Dies löste eine Diskussion um einen multilateralen Treuhänderfonds zur Förderung solcher Anstrengungen aus. Einige Geberländer deuteten den Wunsch an, die fehlende Unterstützung bereit zu stellen, verfügen aber nicht über die menschlichen Ressourcen und die Fachkompetenzen den Unterstützungsbedarf zu ermitteln und die Lieferung nachgefragter Hilfe zu gewährleisten. Diese Staaten ziehen es vor, ihre Anstrengungen über das CTC und andere multilaterale Gremien zu koordinieren.14

Viele der Maßnahmen, die für die Einhaltung der Anti-Terror Verpflichtungen von Resolution 1373 erforderlich sind – die Schaffung effektiverer Strafverfolgungskapazitäten, die Verbesserung der Grenz-, Einwanderungs- und Zollkontrollen, die Regulierung von Banken- und Finanzinstitutionen, die Verbesserung der Sicherheit an Flughäfen und Grenzübergängen – gehen Hand in Hand mit Schritten zur Stärkung verantwortungsbewusster Regierungsführung (Good Governance). Diese Schritte werden zunehmend als unverzichtbar für die wirtschaftliche Entwicklung und die Entfaltung sozialer und ökonomischer Möglichkeiten erachtet. Technische Hilfsmaßnahmen, die Regierungskapazitäten schaffen, fördern somit auch die Perspektiven wirtschaftlicher Entwicklung.

Diese Verknüpfung zwischen technischer Unterstützung und wirtschaftlicher Entwicklung legt die Notwendigkeit integrierter Entwicklungshilfestrategien nahe, die das UN-Anti-Terror Programm berücksichtigen. Gelingt es das größere internationale Engagement zur Schaffung von Anti-Terror Kapazitäten mit der breiter gefassten UN-Entwicklungsagenda zu verknüpfen, dann könnte sich das genauso positiv auswirken auf die Modernisierung und Transparenz im Banken-, Investitions- und Finanzsektor wie auf die Bekämpfung des Terrorismus.

Die Verbesserung internationaler Kooperation

Das CTC hat die Koordination eines großen Spektrums spezialisierter internationaler Agenturen sowie regionaler und subregionaler Organisationen bewerkstelligt. Der Versuch, internationale Kooperation zu verbessern, ist immer eine große Herausforderung, aber die Aufgabe des CTC in diesem Bereich ist wahrlich gigantisch. Die Spannbreite regionaler und internationaler Organisationen mit tatsächlicher oder potenzieller Beteiligung am UN Programm zur Bekämpfung des Terrorismus ist riesig. Jede Region der Welt ist beteiligt und Anti-Terror Programme sind in vielen regionalen und subregionalen Organisationen entstanden. Die Mandate von Resolution 1373 betreffen ein weites Feld öffentlicher Aktivitäten – Finanzierung, Handel, Zölle, Strafverfolgung, die gemeinsame Nutzung von Geheimdienstinformationen, militärische Rekrutierung und Versorgung – und sie beeinflussen die Missionen dutzender spezialisierter Agenturen.

Das CTC hat bedeutende Schritte gemacht, regionale Organisationen zur Stärkung ihrer Anti-Terror Kapazitäten zu ermuntern. Viele regionale Organisationen, insbesondere in Europa, der asiatisch-pazifischen Region und Lateinamerika, haben eigene Anti-Terror Einheiten gebildet. Einige Regionen hinken dennoch hinterher. Die Region Mittlerer Osten/Nordafrika beispielsweise hat keinen adäquaten regionalen Kooperationsmechanismus entwickelt um der vollen Bandbreite der Anti-Terror Prioritäten gerecht zu werden. Eine breitere regionale Abdeckung wird ebenso in Südasien sowie in Ost- und Südafrika benötigt.

Eine verbesserte Kooperation ist auch unter den Organisationen innerhalb des UN-Systems gefragt. Das CTC war bei der Koordination mit der Expertengruppe, die die Umsetzung der Sanktionen gegen Al-Kaida und die Taliban überwacht (ursprünglich 1999 mandatiert durch Sicherheitsratsresolution 1267) langsam. Es gab Bedenken über die Notwendigkeit einer Kooperation zwischen dem CTC und den Komitees die nach den Resolutionen 1540 und 1566 eingerichtet wurden. Das Problem der Kooperation zwischen diesen verschiedenen Gremien hat nicht genügend Aufmerksamkeit erfahren. Es gibt augenblicklich vier spezialisierte Sicherheitsratsgremien die sich mit Anti-Terror Fragen beschäftigen: das CTC, das Al-Kaida und Taliban Überwachungsteam, das 1540 Komitee und die 1566 Arbeitsgruppe. Während die Mandate dieser Gremien voneinander unabhängig sind haben sie auch überlappende Pflichten und Verantwortlichkeiten.

Den politischen Herausforderungen begegnen

Während viele der Herausforderungen denen sich das UN-Programm zur Bekämpfung des Terrorismus gegenübersieht prozedural sind, sind andere mehr politischer Natur. Zu den sensibelsten Aspekten gehören diejenigen, die mit dem Schutz der Menschenrechte verbunden sind. Es gab Kontroversen um Fälle, in denen Individuen ohne Rechtsbehelf oder andere rechtsstaatliche Mittel festgesetzt oder finanziellen Restriktionen unterworfen wurden. In einigen Fällen haben Regierungsvertreter den Kampf gegen den Terrorismus als Rechtfertigung für die Unterdrückung langjähriger Dissidenten oder Minderheitengruppen benutzt, zu denen auch Verfechter von mehr Demokratie und Menschenrechten gehörten. Generell machen sich viele Beobachter Sorgen, dass Anti-Terror Maßnahmen – größere Überwachung durch die Regierung, verschärfte Strafverfolgung, verschärfte Grenzkontrollen, striktere Einkommenskontrolle – unweigerlich individuelle und soziale Rechte einschränken und grundlegende Freiheitsrechte gefährden werden.15 Indem die strikte Einhaltung menschenrechtlicher Standards im globalen Kampf gegen den Terrorismus gefordert wurde, waren UN-Erklärungen und Resolutionen eindeutig. Es gibt keinen Tauschhandel zwischen Menschenrechten und Terrorismus. Generalsekretär Kofi Annan sagte im September 2003: „Die Menschenrechte hoch zu halten widerspricht sich nicht damit, den Terrorismus zu bekämpfen: im Gegenteil, die moralische Vision der Menschenrechte – der tiefgehende Respekt für die Würde jedes Menschen – gehört zu unseren mächtigsten Waffen gegen ihn. Beim Schutz der Menschenrechte Kompromisse zu machen würde den Terroristen einen Sieg verschaffen, den sie aus eigenen Stücken nicht erlangen könnten. Die Förderung und der Schutz der Menschenrechte … sollte deshalb im Zentrum unserer Anti-Terror Strategien stehen.“16

Auf dem Ministertreffen im Januar 2003 verabschiedete der Sicherheitsrat Resolution 1456, die eine größere internationale Beachtung der UN-Anti-Terror Mandate fordert, die Staaten aber ebenso an ihre Pflichten erinnert im Einklang mit internationalen gesetzlichen Verpflichtungen zu handeln, besonders hinsichtlich den „internationalen Menschenrechten, Flüchtlingen und humanitärem Recht.“17

Es kann plausibel begründet werden, dass Menschenrechtsschutz und die Stärkung der Demokratie zentral im langfristigen Kampf gegen den Terror sind. Terroristische Bewegungen tauchen häufig in Gesellschaften auf, in denen zivile und humanitäre Rechte verwehrt werden und politische Ausdrucksmöglichkeiten fehlen.18 Menschenrechte zu schützen und die Freiheit abweichende Meinungen ohne Einmischung der Regierung äußern zu können, können dabei helfen dem Aufstieg von politischem Extremismus und Terrorismus vorzubeugen.19 Nichts wird die Unterstützung für Anti-Terror Mechanismen wie das CTC schneller untergraben als ein Eindruck unter normalen, gesetzestreuen Bürgern, dass solche Programme unweigerlich grundsätzliche Freiheiten einschränken.

Die langfristige und heikelste politische Herausforderung vor der das CTC steht, ist das Fehlen einer gemeinsam akzeptierten Definition von Terrorismus innerhalb der Vereinten Nationen. Die Definitionsfrage belastet die UN seit vier Jahrzehnten. Einige Staaten verdammen als Terrorismus alle Handlungen, die unschuldiges Leben in Gefahr bringen oder kosten, während andere versuchen zwischen dem was sie als legitime Widerstandshandlungen gegen Unterdrückung ansehen und Terrorismus zu differenzieren. Insbesondere Staaten im Mittleren Osten haben es abgelehnt Anti-Terror Initiativen zu unterstützen, die benutzt werden können, um den palästinensischen Widerstand gegen die israelische Besatzung zu verurteilen. Es ist kein Zufall, dass die Ratifizierung von Anti-Terror Konventionen und die Teilnahme an CTC-Initiativen im Mittleren Osten am niedrigsten ist.

Bislang hat sich das CTC aus diesem Dilemma herausgehalten indem es sich primär auf prozedurale Fragen und die Schaffung von Anti-Terror Kapazitäten konzentrierte. Klugerweise hat es die Meinungsverschiedenheiten über gegenläufige Definitionen ausgeklammert, indem es an den Konsens unter den UN-Mitgliedsstaaten appellierte, dass es größerer Anstrengungen bedarf, der von Al-Kaida ausgehenden globalen Gefahr des Terrorismus zu begegnen. Wie lange das CTC in der Lage sein wird, diese Balance aufrecht zu erhalten, ist Gegenstand vieler Debatten.20

Eine weitere politische Herausforderung betrifft die Frage der Vollstreckung. Das CTC hat sich entschieden nicht über UN-Mitglieder zu Gericht zu sitzen oder dem Sicherheitsrat Staaten zu melden, die es als unwillig erachtet. Es schränkt aber die Effektivität des Komitees ein, wenn es bestimmten Ländern erlaubt, sich ihrer Verantwortung für spezifische Handlungen zu entziehen.21 Wenn das CTC erfolgreich sein will, muss diese zurückhaltende Praxis überprüft werden. In der augenblicklichen »revitalisierten« Phase der UN-Bemühungen zur Bekämpfung des Terrorismus, ist die Frage, was der Sicherheitsrat mit Staaten tun soll, die es ablehnen Anti-Terror Mandate umzusetzen, drängender geworden. Wird der Sicherheitsrat gewillt sein Sanktionen gegen Staaten in Betracht zu ziehen, die technische Hilfe erhalten haben, es aber weiterhin ablehnen den Verpflichtungen aus Resolution 1373 nachzukommen?

Das sind einige der neuen Herausforderungen, vor denen die künftigen UN Anti-Terror Anstrengungen stehen.

Anmerkungen

1) Die Recherche für diesen Artikel wurde durch eine großzügig vom Royal Danish Ministry for International Affairs und dem United States Institute of Peace unterstützt. Der Autor weist auch auf die wissenschaftliche Unterstützung seitens Benjamin Rooney und Olda Bures ebenso wie der Studenten des Counter-Terrorism Research Seminar und der University of Notre Dame im Frühjahr 2004 hin. Dieser Artikel ähnelt in einigen Teilen stark einem Dokument mit dem Namen »An Action Agenda For Enhancing the United Nations Program on Counter-Terrorism« (Goshen, Ind.: Fourth Freedom Forum, October 2004).

2) Nicholas Rostow: Before and After: The Changed UN Response to Terrorism Since September 11, 35 CORNELL I.L.J., no. 3, 482, 475-490 (Winter 2002); David Cortright and George A. Lopez: Sanctions and the Search for Security: Challenges to UN Action (Boulder, Colo.: Lynne Rienner Publishers, 2002), 126-130; Edward C. Luck: Tackling Terrorism, in David M. Malone (ed): The United Nations Security Council (Boulder, Colo.: Lynne Rienner Publishers, 2004), 85-100.

3) United Nations Secretary-General Kofi Annan: Statement at Ministerial Level Meeting of the UN Security Council. Vgl. United Nations Security Council, High-level Meeting of the Security Council: Combating Terrorism, S/PV.4688, New York, 20 January 2003.

4) Rostow: Before and After, 485.

5) United Nations Security Council: Proposal for the Revitalisation of the Counter-Terrorism Committee, S/2004/124, New York, 19 February 2004.

6) Einem ähnlichen Modell folgend, das mit Resolution 1373 verabschiedet wurde, entschied Resolution 1540, dass „alle Staaten effektive Maßnahmen ergreifen und die Schaffung angemessener und effektiver Gesetze durchsetzen“, die nicht-staatlichen Akteuren die Unterstützung oder Beteiligung an bestimmten terrorbezogenen Aktivitäten verbieten.

7) Eric Rosand: Current Developments: Security Council Resolution 1373, the Counter-Terrorism Committee, and the Fight Against Terrorism, 97 American J.I.L., no. 2, 337, 332-341 (April 2003).

8) Rosand: Security Council Resolution 1373 and the Counter-Terrorism Committee, 616.

9) White House: Progress Report on the Global War on Terrorism, U.S. Department of State, September 2003. Erhältlich online auf U.S. Department of State (eingesehen 2 Februar 2004).

10) United Nations Security Council: Second Report of the Monitoring Group Established Pursuant to Security Council Resolution 1363 (2001) und Extended by Resolution 1390 (2002) und 1455 (2003) on Sanctions Against Al-Qaida, the Taliban and Individuals and Entities Associated with them, S/2003/1070, New York, 2 December 2003.

11) United Nations Security Council: Security Council Resolution 1377 (2001), S/RES/1377, New York, 12 November 2001.

12) Ward: Purposes and Scope, 14.

13) Cited in Rosand: Security Council Resolution 1373 and the Counter-Terrorism Committee, 623.

14) Ward, Purposes and Scope, 20.

15) Vgl. Neil MacFarlane: Charter Values and the Response to Terrorism, in Jane Boulden and Thomas G. Weiss (eds.): Terrorism and the UN: Before and After September 11 (Bloomington, Ind.: Indiana University Press, 2004), 43-46.

16) Kofi Annan: Conference Report (keynote address, Conference on »Fighting Terrorism for Humanity«, International Peace Academy, New York, 22 September 2003), 10.

17) United Nations Security Council: Security Council Resolution 1456 (2003), S/RES/1456, New York, 20 January 2003, para. 6

18) Analytiker haben eine signifikante statistische Korrelation zwischen Maßnahmen politischer Repression und dem Aufkommen terroristischer Bewegungen festgestellt. Vgl. Alan B. Krueger and Jitka Malesckova: Education, Poverty and Terrorism: Is There a Causal Connection?, Journal of Economic Perspectives 17, no. 4 (Fall 2003): 142.

19) Alan Krueger: Economic Scene, New York Times, 29 May 2002.

20) M.J. Peterson: Using the Security Council, in Boulden and Weiss (eds.): Terrorism and the UN, 180-187.

21) Rosand: Security Council Resolution 1373 and the Counter-Terrorism Committee, 612-13.

David Cortright ist Präsident des Fourth Freedom Forum in Goshen, Indiana und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Joan B. Kroc Institute for International Peace Studies an der University of Notre Dame. Übersetzung aus dem Englischen von Brigitte Keinath