Hochrüstung gegen den Terror

Hochrüstung gegen den Terror

Die USA nach dem 11. September

von Lars Klingbeil

Die Attentate des 11. September haben viele sicherheitspolitische Fragen in den USA neu gestellt. Doch zwei Monate später sieht es so aus, als ob die USA auf die vielzitierten »neuen Bedrohungen« nur die alten Antworten hätten: Ausbau des Überwachungsstaates nach innen und Militäreinsatz nach außen. Lars Klingbeil, als Stipendiat der Friedrich-Ebert-Stiftung und während der Attentate in New York, verfolgte die sicherheitspolitische Diskussion in der US-Administration.
Bereits einen Tag nach den Attentaten verabschiedete der Kongress in einem Schnellverfahren ein Gesetz, mit dem Präsident Bush ermächtigt wurde „alle notwendigen und geeigneten Mittel gegen jene Nationen, Organisationen oder Personen einzusetzen, die die Terroranschläge vom 11. September 2001 planten, verübten oder unterstützten, oder die solchen Personen Unterschlupf gewährten, um für die Zukunft jegliche Angriffe des internationalen Terrorismus auf die USA durch solche Nationen, Organisationen oder Personen zu verhindern.“1 Der Senat verabschiedete diesen »Blanko-Scheck« für Bush mit 98:0, der Kongress mit 420:1 Stimmen. Lediglich die Demokratin Barbara Lee (Kalifornien) votierte gegen das Gesetz, da ihr die Befugnisse des Präsidenten zu hoch und die Einbindung des Parlaments zu gering erschienen.

Innerhalb der US-Regierung gab es verschiedene Einschätzungen über Ziele und Strategien in der amerikanischen Vorgehensweise nach den Attentaten. Der Verzicht auf eine Militäroperation stand dabei allerdings nie zur Diskussion. Die Differenzen zwischen dem als moderat geltenden US-Außenminister Colin Powell auf der einen Seite und den »Falken« um den stellvertretenden Verteidigungsminister Paul Wolfowitz, Vize-Präsident Dick Cheney und Verteidigungsminister Donald Rumsfeld auf der anderen Seite bezogen sich lediglich darauf, wie schnell militärisch reagiert werden müsse, ob und wie andere Staaten einbezogen werden sollten und gegen welche Staaten Militär eingesetzt werden solle.

Es ist vor allem auf das Wirken des Außenministers zurückzuführen, dass die USA umgehend Konsultationen mit anderen Staaten aufnahmen und versuchten, eine »breite Koalition gegen den Terrorismus« zu bilden. Powell befürchtete, dass ein unkoordiniertes Vorgehen und die Nichtrücksichtnahme auf muslimische bzw. islamische Staaten wie Pakistan verheerende Folgen für die Stabilität der Region haben könnten.

Differenzen gab es in der Bush-Administration auch über die Kriegsziele und die Partner. Während das Außenministerium die Nordallianz als Bündnispartner ablehnte, heiligt für Verteidigungsminister Rumsfeld der Zweck die Mittel.

Öffentlich ausgetragen wurden auch die Auseinandersetzungen um das Kriegsziel. Für die Nationale Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice ging es von Anfang an darum die Taliban zu stürzen, was das amerikanische Außenministerium dementierte. Auch aus dem Weißen Haus hieß es am 25. September 2001, die USA würden keinen Versuch unternehmen die Taliban zu stürzen, man wolle lediglich die Regierung in Kabul für die Unterstützung der Terroristen bestrafen.

Die momentane Kriegsführung zeigt, dass sich die Hardliner mit ihren Forderungen letztendlich durchgesetzt haben. Lediglich in der Frage, ob nur gegen Afghanistan Krieg geführt werden solle oder auch gegen den Irak, gegen die im Libanon sitzende Hisbollah und gegen radikale palästinensische Gruppen, hat sich bisher noch das Außenministerium durchgesetzt.

Innere Sicherheit

Die Bush-Administration hat als Reaktion auf die Attentate des 11. September umgehend das »Office of Homeland Security« eingerichtet. Geführt wird die Behörde vom ehemaligen republikanischen Gouverneur und langjährigen Freund Bushs Tomas J. Ridge aus Pennsylvania. Der »Homeland-Sicherheitsrat« wird als das inländische Pendant zum Nationalen Sicherheitsrat unter der Leitung von Condoleezza Rice gesehen, der die Regierung in außenpolitischen Fragen berät. Konzeptionell soll er Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung koordinieren. Ridge, dem ca. 100 Stabsmitarbeiter unterstellt sind, soll dabei die Arbeit von ca. 50 inländischen Behörden koordinieren. Dem »Homeland-Sicherheitsrat« gehören auch der Direktor der Bundeskriminalpolizei FBI und der Direktor der Federal Emergency Management Agency an. Unklar blieb aber bisher, welche Kompetenzen Ridge beim Zugang zu Geheiminformationen bekommt und wie groß sein Budget ist. Bezahlt wird die neue Behörde aus Mitteln des Weißen Hauses und es bedarf daher keiner Koordinierung mit dem Kongress.

Justizminister Ashcroft legte drei Wochen nach den Attentaten ein umfassendes Anti-Terror-Paket mit dem Titel »Uniting and Strengthening America by Providing Appropriate Tools Required to Intercept and Obstruct Terrorism Act 2001« (kurz: USA PATRIOT ACT 2001) vor. Kernforderungen Ashcrofts waren die Ausweitung der Überwachungsmöglichkeiten von Personen, die mit Terrorismus in Verbindung gebracht werden, die Möglichkeit, Verdächtige unbegrenzt in Gewahrsam zu nehmen und eine verstärkte Zusammenarbeit bzw. verstärkter Informationsaustausch zwischen den Geheimdiensten und staatlichen Behörden.

Im Bereich der Kommunikationsüberwachung wird es durch ein neues Gesetz möglich, subjektbezogen abzuhören. Musste bisher für jede einzelne Telefonleitung eine Befugnis beantragt werden, wird nun die Genehmigung ausgehändigt, sämtliche Kommunikationswege eines Verdächtigen zu kontrollieren.

Die Forderung Ashcrofts, Ausländer für einen undefinierten Zeitraum in Gewahrsam nehmen zu können, wenn lediglich der Verdachtsmoment besteht, sie könnten terroristische Aktionen planen, wurde von Bürgerrechtlern und Mitgliedern beider Parteien scharf kritisiert. Die zuständigen Mitglieder des Kongresses setzten sich mit der Forderung durch, Verdächtige höchstens sieben Tage in Gewahrsam zu nehmen, bevor Beweise für ihre Schuld erbracht werden müssen. Zudem kann der Verdächtigte eine Überprüfung des Verfahrens vor dem Bundesgericht in Washington beantragen.

Einen Schwerpunkt der Diskussion bildete die Frage, wie der Informationsaustausch zwischen staatlichen Behörden, dem FBI und dem Auslandsgeheimdienst CIA geregelt sein soll. War es dem CIA bisher untersagt, im Inland zu agieren, können zukünftig geheime Unterlagen bzw. Informationen aus Gerichtsverfahren an ihn weitergeleitet werden.

Ein wichtiger Kritikpunkt an dem mittlerweile beschlossenen Gesetz der Regierung ist die Definition des Begriffes »Terrorismus« als etwas „das bewusst die Staatsführung durch Gewalt oder Einschüchterung beeinflusst oder angreift“.2 Diese Definition ist so weit gefasst, dass zukünftig alles Mögliche – vom einfachen Steinwurf eines Demonstranten bis zum Computer-Hacken – als terroristischer Akt bestraft werden kann.

Im Gegensatz zu den Plänen Ashcrofts, der die Neuregelung dauerhaft durchsetzen wollte, ist das Gesetz durch den Kongress für »nur« vier Jahren begrenzt worden, es wird dann evaluiert, um gegebenenfalls seine Verlängerung zu beschließen.

Das Repräsentantenhaus hat das »USA Patriot Act 2001« Ende Oktober mit 357 zu 66 Stimmen verabschiedet. Der Senat hatte einen Tag zuvor mit 98 zu 1 zugestimmt. Die einzige Gegenstimme kam von demokratischen Senator Russell Feingold (Wisconsin), der in der neuen Gesetzgebung einen ungerechtfertigen Eingriff in die Freiheitsrechte der amerikanischen Bürger sieht. Insgesamt lässt sich festhalten, dass das Gesetz zwar nicht soviel Macht an Justizminister Ashcroft geben wird, wie es der Entwurf forderte, es aber zu einer massiven Stärkung der Regierung und somit zur Schwächung der parlamentarischen Kontrolle kommt. Die Freiheitsrechte, die mit dem Gesetz abgebaut werden, sind erheblich. Positiv an dem Gesetz ist lediglich die stärkere Kontrolle des Bankwesens um gegen Geldwäsche und Korruption vorzugehen.

Weitere innenpolitische Maßnahmen, die diskutiert werden, sind die Verstaatlichung des Sicherheitssektors an Flughäfen (das Repräsentantenhaus lehnt den Beschluss des Senats bisher ab) und die stärkere Restriktion bei der Vergabe von Studenten-Visa.

Einsatz von Militär im Innern

Das Pentagon hat Anfang Oktober den Brigadegeneral Thomas E. White zum »Homeland-Sicherheitskoordinator« benannt. Er soll die Zusammenarbeit zwischen dem Verteidigungsministerium und dem neu geschaffenen »Homeland-Sicherheitsrat« koordinieren, da für das Pentagon zukünftig die inländische Verteidigung einer ihrer vier Schwerpunkte sein wird. „Seit den Anfangstagen unserer Nation war die Armee, sowohl der aktive Dienst wie auch die Reserve, für die Sicherheit im Inland zuständig. Die Armee verfügt dazu über enorme Erfahrung, Fähigkeiten und Einsatzmöglichkeiten.“3, so White. Anfang Oktober legte Verteidigungsminister Rumsfeld den periodischen Vierjahresbericht über die US-Verteidigungspolitik vor. Angedeutet wird in dem Bericht der anstehende Umbau der Verteidigungsstrukturen, um den Gefahren des Terrorismus zu begegnen. Laut Angaben des Verteidigungsministeriums war der Bericht schon vor dem 11. September „substantially completed“ und wurde nur an einigen Stellen nachgebessert.

Die Administration wird eine „wesentliche Erhöhung der Verteidigungsausgaben im nächsten Jahr“4 festlegen und auch in den folgenden Jahren einen erhöhten Verteidigungshaushalt aufrechterhalten. Lag der Verteidigungshaushalt für das Jahr 2001 bei 310 Milliarden Dollar, so hat ihn der Kongress jetzt einstimmig auf 345 Milliarden erhöht. Mit 11% ist das eine der höchsten Steigerungsraten seit Mitte der 80er Jahre. Hinzu kommen Anteile des 40-Milliarden-»Notpaketes«, das der Kongress unmittelbar nach den Attentaten dem Präsidenten zur freien Verfügung bewilligte und aus dem Teilbeträge sicher in den Verteidigungshaushalt einfließen werden.

Das Gesetz zum Verteidigungshaushalt enthält zudem die Forderung nach einer substanziellen Erhöhung der Gelder für die Forschung, Entwicklung und Evaluation der Raketenabwehr. Der Senat hat hierfür einen Betrag von 8,3 Milliarden Dollar vorgeschlagen, wobei es dem Präsidenten offen steht, $1,3 Milliarden stattdessen in Antiterrorismusmaßnahmen zu investieren. Zur Zukunft von NMD gibt es verschiedene Einschätzungen. Einerseits wird kritisiert, dass sich die USA auf Fragen der Raketenabwehr und auf einen »Weltraumkrieg« vorbereiteten, während auf der anderen Seite die Kontrollen an Flughäfen große Mängel aufzeigten. Während die eine Seite also dafür plädiert, Abstand von den NMD-Plänen zu nehmen und sich auf eine Verstärkung der Inneren Sicherheit zu konzentrieren, fordert die andere Seite, gerade jetzt NMD zu forcieren, da die Gefahr eines Raketenangriffs ernsthaft einkalkuliert werden müsse. Da die USA in der gegenwärtigen Lage auf die Interessen anderer Länder in der »Antiterrorfront« Rücksicht nehmen müssen, wurden zuerst einmal sämtliche Aktionen, die den ABM-Vertrag von 1972 verletzen, auf Eis gelegt. Geplante Tests zu NMD wurden von der US-Regierung zunächst verschoben. NMD wird verschiedentlich sogar als Verhandlungsmasse gesehen, um die neugewonnenen sicherheitspolitischen Beziehungen, beispielweise mit Russland, zu festigen.

So sprach sich Senator Josef Biden (Demokratische Partei), der vor wenigen Monaten – nach den Änderungen der Mehrheitsverhältnisse im Senat – Jesse Helms als Vorsitzenden des Ausschusses für Auswärtige Beziehungen ablöste, für eine stärkere internationale Kooperation im Kampf gegen den Terrorismus aus und zog den ABM-Vertrag betreffend die Schlussfolgerung, dass die USA nichts überstürzen und keine Alleingänge unternehmen dürften: „Heute haben wir die Führungsrolle im Kampf gegen den Terrorismus, aber wir werden sie in diesem Konflikt nur behalten, wenn wir andere von unserer Umsicht überzeugen können und von unserem Bemühen ihre Belange zu berücksichtigen. Aus diesem Grunde unterminieren Aktivitäten zur Raketenabwehr, wie etwa unser einseitiger Rückzug vom ABM-Vertrag, unsere Kriegsanstrengungen.“5

Parallel zu den Veränderungen, die in nächster Zeit die militärische Planung betreffen, stehen in den USA umfassende Wechsel in der Strategie und Struktur des Auslandsgeheimdienstes an. Vorgeworfen wird der Central Intelligence Agency (CIA) unter anderem, sie habe zu lange Zeit falsche Prioritäten gesetzt und den menschlichen Faktor in der Anti-Terrorismuskonzeption vernachlässigt. Ebenso habe man zu lange an die absolute Wirksamkeit moderner Technik geglaubt. Gefordert wird ein offensiverer Spionagedienst. Als eine der ersten Maßnahmen soll die Produktion der »Global Hawk«, eines unbemannten Spionageflugzeugs und Nachfolgemodells des »Predator«, beschleunigt werden. Das Pentagon hat hierfür schon erhebliche Mittelerhöhungen angekündigt. Der zuständige Ausschuss des Repräsentantenhauses hat aufgerufen, eine »Kulturrevolution« in den Behörden des FBI und des CIA in Gang zu bringen und die nationalen Sicherheitsstrukturen umzubauen. Zugleich wird es eine bisher nicht festgelegte, jedoch erhebliche Aufstockung des Budgets der Geheimdienste geben. Rechtliche Beschränkungen der CIA, die im Jahre 1995 beschlossen wurden, werden nun aufgehoben, da sie einen »negativen Einfluss« auf die Fahndung nach Terroristen hätten. Auch der politisch motivierte Mord, der der CIA in den letzten Jahren untersagt war, ist ab sofort wieder erlaubt.

Multilateralismus à la carte

Von Mitarbeitern der US-Regierung heißt es, dass heute „beinahe jeder Aspekt der US-amerikanischen Außenpolitik in einem neuen Licht gesehen wird.“ Eine der Fragen, die sich dabei jetzt deutlicher stellen, betrifft das multilaterale Agieren der USA. Durch die vielen Konsultationen der USA mit ihren Verbündeten, mit Staaten wie Russland und China und sogar mit Staaten, die früher unter die Rubrik »Schurkenstaaten« fielen, wie Iran, erwecken die Amerikaner den Eindruck, dass es ihnen um den Aufbau einer breiten Front gegen terroristische Aktivitäten geht. Offen bleibt dabei aber die Frage, wie die USA diese Koalition begreifen: Handelt es sich um eine Allianz, in der einzig die USA das Sagen haben (praktisch eine Internationalisierung US-amerikanischer Politik), in der die USA nur höchst bedingt Kompromisse eingehen und dann auch nur solange, wie sie ihrem »nationalen Interesse« nicht entgegenstehen, oder sind die USA bereit, ihre außenpolitischen Konzeptionen zu überdenken und zu einem neuen Handeln überzugehen, bei dem sie – auch als Fazit aus den Hintergründen der Anschläge – auf eine verstärkte Kooperation setzen. Viele Staaten haben den USA Unterstützung im Kampf gegen den Terror zusagt, bestehen aber verständlicherweise auf einem koordinierten Vorgehen und eben nicht auf einer Koalition unter US-Kommando.

In diesem Zusammenhang muss auch das Verhalten der USA gegenüber internationalen Strukturen gesehen werden. Die wichtigste Frage betrifft hier sicher das Verhältnis der US-Außenpolitik zur UNO. Bisher fällt die Antwort zwiespältig aus: Der UN-Sicherheitsrat wurde nur rudimentär in die Planungen der Gegenschläge der USA eingebunden und zwei Tage nach den Anschlägen haben die USA als ihren neuen UN-Botschafter John Negroponte benannt. Negroponte war Anfang der 80er Jahre US-Botschafter in Honduras und ihm wird vorgeworfen zahlreiche Menschenrechtsverletzungen und Morde an politischen Gegnern geduldet, wenn nicht sogar aktiv unterstützt zu haben. Auch das nicht gerade ein ermutigendes Zeichen. Auf der anderen Seite haben die USA unmittelbar nach den Attentaten beschlossen, 582 Millionen Dollar an die UN zu zahlen um einen Teil ihrer Schulden abzugleichen.

Exkurs: Generalversammlung der UNO

Ursprünglich hatte das Thema Terrorismus als Tagesordnungspunkt Nr. 178 auf der Generalversammlung der Vereinten Nationen nur einen geringen Stellenwert. Durch den 11. September veränderte sich das wesentlich. In der Debatte sprachen insgesamt 167 Vertreter von UN-Staaten und es handelt sich damit um die größte Debatte, die innerhalb der Generalversammlung jemals zu einem einzelnen Thema geführt wurde.

In seiner Eröffnungsrede zur fünftägigen Debatte forderte Kofi Annan die Staaten dazu auf, die Gesetze zu verschärfen, was die Exporte von Technologien und Waren anbelangt, die zur Massenvernichtung benutzt werden können. Auch sprach er sich dafür aus, den Verkauf von Kleinwaffen an nicht-staatliche Gruppen zu verbieten. Annan weiter: „Aus dem Bösen kann Gutes entstehen. (…) Paradoxerweise haben die heimtückischen Angriffe auf unsere menschliche Gemeinschaft den Effekt gehabt, unsere Gemeinschaft zu stärken.“6 Er forderte die Mitgliedsstaaten auf, gemeinsam zu handeln, die 12 Konventionen der UNO gegen den Internationalen Terrorismus zu ratifizieren und sich nicht über die Definition des Terrorismus zu streiten, schließlich gehe es darum Menschenleben zu schützen. Trotzdem war genau das eines der Reizthemen. Viele befürchten eine schwammige Definition könne staatliche Gewalt gegen politische Gegner legitimieren. Innerhalb der Generalversammlung konnte dann auch keine Einigung gefunden werden, so dass nun über eine High-Level-Konferenz nachgedacht wird.

Lediglich 83 ihrer 189 Mitgliedsstaaten hatten vor den Anschlägen die 12 UN Konventionen gegen den Terrorismus ratifiziert. Auch die USA haben die Konventionen nur unterzeichnet, jedoch nicht ratifiziert. Die Nichtratifizierung wurde bisher damit begründet, dass die Konventionen dann Einfluss auf das bestehende US-amerikanische Rechtssystem hätten und somit dem »nationalen Interesse« entgegenstehen könnten. Bush drängt den Kongress nun darauf, die Konventionen möglichst bald zu ratifizieren. Die letzten beiden Konventionen stammen aus dem Jahre 1999 mit dem Titel »International Convention for the Supression of Terrorist Financing« und aus dem Jahr 1997 mit dem Titel »Convention on the Suppression of the Terrorist Bombing«.

Zwei neue Konventionen werden momentan durch die Generalversammlung verhandelt: die von Russland eingebrachte »International Convention for the Suppression of Acts of Nuclear Terrorism« und eine umfassende »Convention on International Terrorism«, die von Indien eingebracht wurde und in der in 27 Artikeln die Schlüsselpunkte der bisherigen Konventionen zusammengefasst sind. Die UNO hat mittlerweile ein beachtliches Regelwerk gegen den internationalen Terrorismus aufgestellt, deren Ratifizierung durch viele Mitgliedstaaten, u.a. auch die USA, jedoch bisher ausblieb.

Unterdessen haben die USA den Sicherheitsrat dazu gedrängt, eine Resolution zu verabschieden, die es erlaubt Sanktionen gegen Länder zu erheben, die US-geführte Anti-Terror-Maßnahmen nicht unterstützen. Die Resolution 1373 fordert Staaten auf, Informationen über Terroristen bekannt zu geben, ihre Geldmittel einzufrieren und Personen strafrechtlich zu verfolgen, die Terroristen unterstützen. Für die Implementierung der Resolution hat der Sicherheitsrat einen Ausschuss eingesetzt, der Druck auf die Mitgliedstaaten ausübt, innerhalb von 90 Tagen die Resolution zu ratifizieren. Gleichzeitig soll er Informationen sammeln. Zum Vorsitzenden des Ausschusses wurde der Botschafter Jeremy Greenstock (GB) gewählt. Der Einfluss Großbritanniens, dem engsten Verbündeten der USA, vergrößert sich damit abermals. Gebrochen wurde hier mit der Tradition, dass die Ausschussleitung nicht an permanente Mitglieder des Sicherheitsrates vergebeben wird. Jeder der 15 Staaten im Sicherheitsrat wird Vertreter in den Ausschuss senden. Zudem ergänzen ihn unabhängige Experten aus den Bereichen Justiz, Immigration und Wirtschaft. Die letztendliche Entscheidung Sanktionen gegen Staaten zu verhängen, die sich nicht an die Resolution halten, liegt allerdings beim UN-Sicherheitsrat selbst.

Ausblick

Der Versuch der USA, eine internationale Koalition gegen den Terrorismus aufzubauen, passierte in einer Zeit, in der Washington entschlossen unilaterale Politik praktizierte. „Wie können die Vereinigten Staaten Zusammenarbeit gegen den internationalen Terrorismus erwarten, wenn sie in anderen Fragen wie Klimawandel, Kleinwaffen, B-Waffen, Landminen und der Schaffung eines Internationalen Strafgerichtshofs nicht kooperieren“7, so der Militärexperte Michael Khatana (USA). Und weiter: „Wenn die USA den Terrorismus ausrotten wollen, müssen sie mit anderen Nationen in globalen Fragen zusammen arbeiten.“

Ende September hat sich die US-Regierung für die Annahme des »American Servicemember Protection Act« ausgesprochen. Das Gesetz verbietet dem Internationalen Strafgerichtshof in den USA Ermittlungen durchzuführen. Zudem dürfen sich danach US-Bürger nicht an UN-Friedensmissionen beteiligen, wenn nicht sichergestellt ist, dass sie von Strafverfolgung verschont bleiben. Entgegen einiger positiv zu bewertender Anzeichen deutet dies auf einen weiterhin unilateralen Kurs der USA hin. Multilaterales Handeln kann aber nicht erfolgreich sein, wenn es sich nur auf Teilbereiche bezieht, es muss die Bereitschaft zur wirklichen Kooperation beinhalten. Wer den Terrorismus wirklich eindämmen will, muss zu einer Stärkung der Internationalen Gemeinschaft und vor allem der Vereinten Nationen beitragen. Der Aufbau internationaler globaler Rechtsstrukturen ist dafür unumgänglich. Das müssen auch die USA begreifen.

Anmerkungen

1) Zitiert nach Rothschild, Matthew: A Blank Check for War, The Progressive, 17 September, 2001 (Internetausgabe).

2) LA Times: Lawmakers tone down terror bill, 2. Oktober 2001.

3) The New York Times: Homeland Security in an Pentagon Post, 3. Oktober 2001 (Internetausgabe).

4) Financial Times USA: Bush seeks big defence budget boost, 25. September 2001 (Internetausgabe).

5) Biden, Josef: Biden objects loosening of congressional oversight on missile defense amid current international crises, Presse Release, 26. September 2001.

6) UN Wire: An independent news briefing about the UN, 02. Oktober 2001.

7) IPS Terra: VIVA – the inter press service daily journal, Vol. 9 No. 169, 14. September 2001.

Lars Klingbeil (IFIAS) ist Student der Politikwissenschaften und Leiter der Bundeskommission Internationales des Juso-Bundesverbandes

Zur Nahostdimension des Terrorismus Bin Ladens

Zur Nahostdimension des Terrorismus Bin Ladens

von Petra Weyland

Anders als der Begriff »Orient«, den wir im Allgemeinen mit romantischen Sehnsüchten besetzen, assoziiert das Wort »Naher Osten« in der deutschen Öffentlichkeit vielfach Gewalt. Wir denken an den endlosen Bürgerkrieg im Libanon, an Flugzeugentführungen durch palästinensische Freischärler, an Katyusha-Beschuss von Siedlungen im Norden Israels oder auch an die jüngste Welle von Selbstmordattentaten islamistischer Extremisten. Und so entsteht sehr schnell der Eindruck, der Terrorismus des Arabers und Muslims Bin Laden und al-Qaidas gehöre zur selben Kategorie wie die militanten Aktionen der schiitisch-libanesischen Hizbullah oder palästinensischer Organisationen in den besetzten Gebieten. Irrationale Gewalt und Terrorismus sind für uns »irgendwie« im Nahen Osten zuhause, scheinen »irgendwie« arabische oder islamische Ursachen zu haben. Allenfalls mit der gelegentlichen Anführung der Redewendung „Was des einen Terrorismus ist, ist des anderen Befreiungskampf“ sind wir bereit wahrzunehmen, dass es neben unserer Perspektive noch eine andere, für uns allerdings inakzeptable Position gibt.
Die Einschätzung, dass extreme, illegale Gewaltausübung ursächlich mit dem Islam oder dem Arabertum verbunden ist, dass es sich bei dem Terrorismus eines Bin Laden oder der Gewalt der afghanischen Taliban um ein und dasselbe Phänomen handelt wie in Palästina/Israel oder im Libanon, ist jedoch falsch. Sie berücksichtigt nicht die unterschiedlichen regionalen, soziopolitischen und kulturellen Problemlagen. Erst die Mechanismen der Globalisierung machen es möglich, dass Bin Laden, al-Qaida und die Taliban heute weltweite Bedeutung gewinnen und ihre spezifischen Formen des Terrors entwickeln können.

Die Krisen im Nahen Osten und besonders in Palästina/Israel haben hiermit zunächst sehr wenig zu tun. Allerdings kommt gerade der Palästinafrage eine wichtige symbolische Bedeutung zu und genau die ermöglicht es, diesen spezifischen Konflikt in den – je nach Blickwinkel – »islamistischen Befreiungskampf« oder den »islamistischen Terrorismus« einzuordnen. Wenn es das zentrale Ziel ist, den Terrorismus auszutrocknen, dann müssen wir die unterschiedlichen Ursachen und Hintergründe des Terrors untersuchen, dann dürfen wir nicht die Augen vor den Entstehungszusammenhängen dieser Entwicklungen verschließen. Das hat nichts mit der Rechtfertigung von Terror zu tun und auch nichts mit Antiamerikanismus oder Sympathiebekundungen für die Terroristen.

Bin Laden und Al Qaida

Tatsächlich verfügen wir über wenig abgesicherte Informationen über Bin Laden1 und Al Qaida. Zu wenig für eine gesicherte Einschätzung bezüglich deren Motivation und Machtbasis. Leider ist das jedoch für die öffentliche Diskussion kaum von Bedeutung. Die hier vorherrschende Betrachtungsweise lässt sich eher als Dämonisierung beschreiben. So wird es möglich, Bin Laden, al-Qaida und die Taliban herausgelöst aus ihren realen soziopolitischen und kulturellen Bezügen zu betrachten und als das Böse schlechthin darzustellen.

Zu beobachten ist dabei, dass die Öffentlichkeit in Bezug auf Saudi-Arabien, die Heimat Bin Ladens, ähnlich ignorant ist, wie dies in den siebziger Jahren bezüglich des Irans unter dem Schah der Fall war. Wir registrieren zwar, dass Saudi-Arabien ein sehr autokratisch regiertes Land ist, dabei interessiert hier aber hauptsächlich, dass dieser Staat sich trotz seiner islamischen Verfassung und trotz seiner autokratischen Herrschaft westlichen Interessen gegenüber konform verhält. Wie im Fall des Iran nehmen wir kaum wahr, dass es in diesem Land enorme gesellschaftliche und politische Spannungen gibt. Tatsächlich existiert in Saudi-Arabien seit langem ein oppositionelles geistiges Klima, eine innergesellschaftliche Opposition, die sich gegen den autokratischen, repressiven Führungsstil der Machteliten richtet, die den offensichtlichen Widerspruch aufgreift zwischen einem islamisch legitimierten Anspruch als Herrscher und Hüter der heiligen Stätten von Mekka und Medina und einer realen Herrschaftspraxis, die nicht dem islamischen Gesetz, der Scharia, entspricht. Hinsichtlich dieser Opposition sei nur daran erinnert, dass militante Islamisten schon 1979 die große Moschee in Mekka besetzten. Dass sich Opposition in einem so traditionalen Land wie Saudi-Arabien kaum anders als religiös artikulieren kann, ist dabei kaum verwunderlich.2

Bin Ladens Entwicklung zum Terroristen muss vor diesem gesellschaftlichen Hintergrund gesehen werden. Es ist anzunehmen, dass Bin Laden als junger Erwachsener von diesem islamisch-islamistischen oppositionellen Milieu zumindest Kenntnis hatte. So gesehen ist er kein Einzelgänger, der vom Bösen besessen ist. Sondern er erscheint uns als ein Vertreter jenes oppositionellen Teils einer ganzen Generation heranwachsender Saudis, eine jener Personen, die sich auf ihrem Lebensweg und den damit verbundenen einschneidenden Erfahrungen von einem wohlhabenden Spender für islamische karitative Zwecke allmählich zum Extremisten wandeln. Ein ausreichend gefestigtes Weltbild vorausgesetzt, ist es durchaus plausibel, dass er, anders als viele reiche Saudis, sein Erbe nicht in die Partizipation am Jetset der Golfaraber investiert, sondern es der »internationalen islamistischen Solidarität« mit Afghanistan widmet. Und auch als jemand, der schließlich sogar bereit ist in diesem Land aktiv am Kampf für die gemeinsame islamische Sache teilzunehmen, ist er kein Einzelfall. Damals entschlossen sich viele junge Araber dazu, in Afghanistan am Kampf gegen die sowjetischen Besatzer teilzunehmen.3

Es ist anzunehmen, dass die Erfahrung der Waffenbrüderschaft mit Glaubenskämpfern aus anderen muslimischen Gesellschaften, ihre Berichte und Diskussionen über soziale, politische und kulturelle Missstände in ihren Heimatländern, schließlich zur Etablierung von Netzwerken führte, in die Bin Laden integriert war. Erfahrungen, die dazu führten, dass er die saudische Frage in einem umfassenderen, panarabisch-muslimischen, schließlich sogar »antiimperialistischen« Kontext stellte. Hinzu kam, dass ihn – angesichts seiner afghanischen Erlebnisse – die politischen Verhältnisse, die er nach seiner Rückkehr in die Heimat vorfand, abstießen. Das saudische Regime hatte sich in seinen Augen inzwischen völlig delegitimiert. War Bin Laden gerade aus einem erfolgreichen Jihad zurückgekehrt, so musste er nun feststellen, dass die Königsfamilie nicht zuletzt mit dem Ziel der eigenen Herrschaftssicherung den USA eine massive, permanente militärische Präsenz in Saudi Arabien ermöglicht hatte.

Bin Laden nahm den Kampf auf mit dem Ziel der Beendigung der US-Präsenz in Saudi-Arabien. Insofern war sein Ziel sehr konkret – es ging ihm nicht primär darum, »den Westen«, »die westlichen Werte« oder »die Zivilisation« zu bekämpfen. Jedoch weitete sich sein Kampf von diesem sehr konkreten Ziel, die amerikanische Präsenz auf der arabischen Halbinsel zu beenden, schließlich tatsächlich auf Angriffe auf amerikanische Einrichtungen überall in der islamischen Welt aus. Seine Rückkehr nach Afghanistan, seine Integration in ein internationales islamistisches gewaltbereites Netzwerk bewirken einerseits, dass er diesen islamistischen Kräften nun als finanzkräftiger Unterstützer für deren Sache zur Verfügung steht, andererseits aber auch, dass Bin Laden diese Kanäle für sein eigenes Anliegen, US-Institutionen anzugreifen, nutzen kann.

Die Globalisierung und der Terror

Zu dieser Entwicklung haben auch unterschiedliche Aspekte der Globalisierung beigetragen. Elektronische Kommunikation, die mediale Verbreitung von Bildern, Symbolen und Definitionen des »Kampfes der Kulturen«, die Proliferation von Kleinwaffen, Drogenhandel und globale Kapitalströme nahmen im vergangenen Jahrzehnt enorm zu. Damit globalisierten sich die Möglichkeiten für den islamistischen Terror von Bin Laden und al-Qaida. Mögen die Ursprünge dieses Terrors und die anfängliche Motivation der späteren Terroristen auch noch so lokal begrenzt gewesen sein, heute ist diese Form des Terrorismus eine der vielen Facetten der Globalisierung. Genauso wie frühere Formen des Islamismus nie traditional, »vormodern« oder »halbmodern« waren, sondern nur regionalspezifische Ausprägungen einer allumfassenden Moderne, so ist auch Bin Ladens Terrorismus ein weiteres Gesicht der Globalisierung. Und es ist zu befürchten, dass sich gerade nach den monströsen Anschlägen vom 11.9. und den Maßnahmen der weltweiten Antiterrorallianz die Gewaltspirale weiter drehen wird. Denn das Ausmaß und die Dauer der Luftschläge, die steigende Anzahl der zivilen Opfer, die Schwierigkeiten, die Kriegsziele zügig zu erreichen – also Bin Laden und Al Qaida zu zerstören und das Taliban Regime mit den ergriffenen Maßnahmen zu Fall zu bringen, die Tatsache, daß auch Bewegungen, die mit militanten Mitteln gegen eine Besatzungsmacht im eigenen Land kämpf(t)en – also Hizbullah und Hamas –, auf die Liste der zu bekämpfenden Terrororganisationen gesetzt wurden, die Offensichtlichkeit, dass auch jetzt die USA nicht bereit sind, dem israelischen Vorgehen in den besetzten palästinensischen Gebieten energisch entgegenzutreten – all das wird weltweit medial verbreitet und damit vor allem in der islamischen Welt öffentlich diskutiert und kritisiert. Das führt mehr oder weniger automatisch zu einer Abfolge von Reaktionen und Gegenreaktionen. Hinzu kommt, dass beide Kriegsparteien über CNN bzw. über al-Jazira um die Durchsetzung ihrer jeweiligen Definition des Krieges in der öffentlichen Meinung kämpfen und damit dazu beitragen, dass trotz aller andersartigen US-amerikanischen Beteuerungen dieser Krieg als ein Kampf der Kulturen präsentiert wird. Für die USA ist Bin Laden der Böse schlechthin, während Bin Laden in den USA eine moderne Form der Kreuzritter sieht, die wieder einmal ausgezogen sind, die muslimische Welt zu zerstören. Mit dieser Einschätzung versucht er in dem jetzt entbrannten Krieg eine möglichst große Zahl von Muslimen aus allen Ländern zu motivieren, sich seinem Jihad anzuschließen.4 Angesichts der Spirale der Gewalt, die nach dem 11.9. in Gang gesetzt wurde, ist es nur allzu gut nachvollziehbar, dass er angesichts seiner militärischen Unterlegenheit kaum eine andere Strategie verfolgen kann, als sich als islamische Ikone im Kampf gegen die modernen Kreuzritter zu stilisieren, was ihm aufgrund seines offensichtlich vorhandenen Charismas in manchen Kreisen5 tatsächlich auch gelingen mag.

Andere Interessenlage in Nahost

Mit dem Nahen Osten und den dortigen Konflikten, besonders mit der Dauerkrise um Palästina/Israel, hat dieser Teil des internationalen islamistischen Terrorismus wenig zu tun. Weder haben sich die Menschen im Nahen Osten in Scharen nach Afghanistan begeben, noch kämpfen sie vor Ort für die Sache Bin Ladens. Und auch Bin Laden ist nie im Nahen Osten aktiv geworden. Zwar teilt eine überwiegende Mehrheit der arabischen, und so auch der nahöstlichen und besonders der palästinensischen Bevölkerung, die antiamerikanische Einstellung Bin Ladens, ohne dabei jedoch dessen Terror oder gar die Anschläge vom 11.9. gut zu heißen. Diese antiamerikanische Haltung beruht auf einer Jahrzehnte alten, durchaus sehr realen Erfahrung, die besagt, dass die USA nur an der Durchsetzung ihrer eigenen Interessen interessiert sind. Die Menschen registrieren, dass die USA, obwohl sie vorgeben die größten Verfechter von Demokratie und Menschenrechten zu sein, durchaus mit sehr unterschiedlichen, interessengeleiteten Maßstäben an die Umsetzung von UN-Resolutionen gehen; dass sie (zumindest seit dem Junikrieg von 1967) auf Kosten der Palästinenser eine sehr einseitige pro-israelische Politik verfolgen; dass viele korrupte arabische Regime sich nur mit amerikanischer Unterstützung an der Macht halten konnten. Diese US-Politik war für die Menschen vor Ort oft mit großem Leid verbunden, z.B. für die irakische Zivilbevölkerung, die seit Jahren unter dem Embargo leidet, oder für die Menschen in Gaza und der Westbank, die nach wie vor keinen Frieden haben.

Weite Teile der arabischen Bevölkerung erkennen, dass es aufgrund der enormen amerikanischen Machtfülle nicht möglich ist, eigene Interessen erfolgreich durchzusetzen. Sie verstehen dies als Arroganz der Supermacht und das führt bei vielen schließlich zu einem Gefühl der absoluten Machtlosigkeit, der Erniedrigung und Demütigung, zu einem grundsätzlichen Misstrauen, zu Abneigung und Hass. Trotzdem sind die USA für große Teile der nahöstlichen Bevölkerung aufgrund wachsender Armut und politisch-sozialer Perspektivlosigkeit das »Gelobte Land«, in das man ausreisen möchte. Auch hört man in der arabischen Öffentlichkeit immer wieder, dass angesichts der Machtlosigkeit Europas kein anderer Weg bleibe, als die USA als Partner bei Konfliktlösungen zu akzeptieren.

In eben diesem Sinnzusammenhang ist Palästina von zentraler Bedeutung. Am Palästinaproblem zeigt sich am deutlichsten die sehr einseitige, allein an nationalen Interessen ausgerichtete Nahostpolitik der USA.6 In der arabischen Öffentlichkeit ist es Konsens, dass die US-Unterstützung für Israel bisher verhindert hat, dass die Palästinenser ihre politischen Rechte erhalten, und dass die soziale Lage der Palästinenser sich deswegen seit Jahren – und besonders seit Beginn dessen, was als »Friedensprozess von Oslo« bezeichnet wurde – kontinuierlich verschlechtert. Palästina ist seit vielen Jahrzehnten überall in der arabischen Welt, und sogar in Teilen der übrigen muslimischen Welt, das zentrale Symbol für die Verweigerung des Selbstbestimmungsrechts und für den Kampf eines Volkes gegen eine übermächtige, von den USA unterstützte, als kolonialistisch betrachtete staatliche Macht. Hinzu kommt, dass sich die arabische und muslimische Bevölkerung in hohem Maße mit diesem Symbol identifiziert. Diese Identifikation existiert seit Jahrzehnten ungebrochen, auch wenn dies kaum einmal praktische Relevanz bekommen hat.

Historisch gesehen haben diese Solidarität und Identifikation ihre Wurzeln in der Zeit der arabischen Einheit und des Panarabismus der fünfziger und sechziger Jahre, also in der Zeit der Bildung junger Nationalstaaten arabisch-sozialistischer Prägung während der Phase der Entkolonialisierung. Der große, charismatische Führer der arabischen Einheit war der ägyptische Staatschef Gamal Abd an-Nasr, aber es gab auch wichtige, länderübergreifende panarabische Organisationen, wie die »Bewegung der arabischen Nationalisten«. Von ihnen erwarteten die arabischen Massen lange Zeit auch die Befreiung Palästinas. Arabische Intellektuelle und politische Aktivisten führten lange theoretische Debatten über den Zusammenhang von Panarabismus und der Befreiung Palästinas. Zwar ist diese panarabische Phase mit dem Tod Nasrs zu Ende gegangen, aber auch heute noch sieht ein beachtlicher Teil der arabischen Bevölkerung in der arabischen Einheit eine zentrale Voraussetzung für die Befreiung Palästinas.

Hinzu kommt, dass die Solidarisierung der arabischen Massen mit der Palästinafrage alle arabischen Regimes immer auch zu einer zumindest rhetorischen Solidarität mit den Palästinensern gezwungen hat. Jede offene politische oder ökonomische Annäherung dieser Staaten an Israel musste unweigerlich zu deren Delegitimierung in den Augen der arabischen Bevölkerung beitragen, musste die Kluft zwischen arabischer Zivilbevölkerung und autokratischen Machthabern vergrößern. Nicht zuletzt deswegen liegt der Bush-Regierung derzeit so viel daran, den »low intensity war« in Palästina/Israel nicht weiter eskalieren zu lassen. Von diesem innerarabischen, eher säkularen Diskurs waren islamische und islamistische Zirkel durchaus nicht ausgeschlossen, sie entwickelten ihre eigenen Varianten. Und mit dem Niedergang der panarabischen Bewegung und ihrer eher arabisch-sozialistischen Ausrichtung übernahmen islamistisch geprägte Ideologien und Bewegungen dieses Erbe – was sich nach der iranischen Revolution noch verstärkte. So wurde auch das vormals eher säkular besetzte Symbol Palästina allmählich »islamisiert«. Weil Jerusalem nicht nur als zukünftige Hauptstadt eines palästinensischen Staates gedacht war, sondern – nach Mekka und Medina – auch die drittwichtigste Stadt des Islam ist, ließ sich der Kampf um die Befreiung Palästinas von je her auch islamisch begründen. So kam der Palästinafrage immer schon eine wichtige Bedeutung am Sinnhorizont aller Muslime und der Islamisten zu.

Diesem Trend der Islamisierung des Symbols Palästina konnten sich in den letzten Jahren nicht einmal die palästinensische Autonomiebehörde und die palästinensischen politischen Bewegungen entziehen. Sie hätten andernfalls riskiert, im allgemeinen Zuge der Islamisierung der Massen als säkulare, außerdem ziemlich erfolglose politische Kräfte ihren Rückhalt in der Bevölkerung noch weiter zu verlieren. Dies hat dazu geführt, dass der Kampf gegen die Besatzungsmacht, der lange Jahre von säkularen Kräften dominiert wurde, sich zunehmend islamisierte, ohne dass sich damit jedoch Ziele und Inhalte des Widerstands wesentlich änderten.

Vor diesem historischen Hintergrund wird verständlich, warum das Symbol Palästina zwingendermaßen auch in der Argumentation Bin Ladens auftauchen musste. Hinzu kommt, dass die aktuellen Entwicklungen in der Intifada für die Plausibilität dieses Symbols täglich neue Beispiele liefern, die rund um die Uhr auf allen Fernsehkanälen vor allem in der arabischen Welt zu sehen sind.

Ein Beispiel für die Wirkung der Medien ist das Sterben des zwölfjährigen palästinensischen Jungen Muhammad ad-Durra durch die Kugeln israelischer Soldaten im Herbst letzten Jahres. Dieser viele Male im Fernsehen übertragene Tod hat sich so sehr beim arabischen Fernsehpublikum eingeprägt, dass al-Qaida das Sterben dieses Kindes sogar ein Jahr danach noch zum Symbol für das Leiden und Sterben der afghanischen Zivilbevölkerung durch amerikanische Bomben machen kann. Dieses Symbol, diese Zusammenhänge werden von jedem im Nahen Osten und in Palästina verstanden. Und so wird es verständlich, dass al-Qaida sich dieses Ereignisses bedient, um zwischen dem eigenen Kampf und dem der Palästinenser eine Verbindung zu konstruieren. Es ist diese große symbolische Bedeutung des Palästinakonflikts, die es dem islamistischen Terroristen Bin Laden und al-Qaida ermöglicht, bei beachtlichen Teilen der Araber und Muslime zumindest ein gewisses Verständnis zu erwecken.

Auswirkungen des Terrors auf die Nahostfrage

Bleibt zu fragen, welche Auswirkungen die Attentate in New York und Washington und der anglo-amerikanische Krieg in Afghanistan auf die Entwicklung der Krise in Palästina/Israel haben werden. Nach über einem Jahr Intifada ist zu konstatieren, dass vor dem 11.9. ein Ende des Konflikts in weitere Ferne denn je gerückt war. Die auf beiden Seiten ständig eskalierende Gewalt, eine immer größere Zahl an Opfern, der vom israelischen Ministerpräsident Sharon durchaus angestrebte Zerfall der palästinensischen Autonomiebehörde, deren Unfähigkeit und Korruption sind nur einige Gründe dafür, dass heute die ökonomische, politische und soziale Situation weiter Teile der palästinensischen Gesellschaft bedeutend schlechter als je zuvor und kaum noch zu ertragen ist. Vor dem 11.9. zeichnete sich weder in der israelischen und der amerikanischen, noch in der palästinensischen Politik eine Trendwende zum Besseren ab.

Die vage Hoffnung besteht, dass mit dem 11.9. und den Folgeereignissen eine weitere Eskalation vielleicht doch noch aufgehalten wird. Zwar setzte Scharon in den ersten Tagen nach den Attentaten, und besonders nach der Ermordung des israelischen Tourismusministers Zeevis, darauf, Arafat als einen zweiten Bin Laden darzustellen, gegen den das israelische Militär dann zwingend vorgehen müsse. Diese Gleichsetzung Arafats mit Bin Laden wurde aber von der Weltöffentlichkeit und auch von den USA nicht mitgetragen. Trotzdem ist es offensichtlich, dass die israelische Regierung die Situation, in der die Welt ihre volle Aufmerksamkeit auf die Entwicklung in Afghanistan richtete, für eine weitere deutliche Steigerung der Gewalt gegen die Palästinenser nutzte.

Die Bush-Regierung, die seit ihrer Etablierung keinerlei Aktivitäten im palästinensisch-israelischen Krisenmanagement entwickelt hatte, sieht sich nun allerdings gezwungen einzugreifen. Aufgrund innenpolitischer Mechanismen in den USA und aufgrund der amerikanischen strategischen und ökonomischen Interessen in der Golfregion haben sie über viele Jahrzehnte die bedingungslose Unterstützung Israels nicht in Frage gestellt. Die gewaltigen innenpolitischen Erschütterungen nach dem 11.9. und der Wille, die gemeinsame Front gegen den islamistischen Terror nicht zu gefährden, könnten jetzt erstmals zumindest ansatzweise zu einer neuen Politik gegenüber Israel führen. In der Tat haben die Amerikaner in den letzten Tagen immer wieder interveniert, um die Israelis zu einer Mäßigung ihres Krieges gegen die Bevölkerung der palästinensischen Gebiete zu bewegen. Dies ist ihnen sehr bedingt auch gelungen. Andererseits ist hier offensichtlich eine noch viel deutlichere amerikanische Politik gegenüber Palästina und Israel gefragt, um tatsächlich eine Trendwende einzuleiten. Dass die USA jetzt die Etablierung eines palästinensischen Staates befürworten, sollte jedenfalls nicht zu allzu großer Hoffnung führen. Denn nach allem, was sich in den letzten Jahren abgezeichnet hat, käme dieser Staat eher einem völkerrechtlich legitimierten Bantustan gleich als einem tatsächlich souveränen Staat. Trotz aller derzeitiger Rhetorik – größere Skepsis bleibt angebracht, was die Aussichten auf eine gerechte Beilegung dieses Konfliktes aufgrund einer neuerdings geänderten amerikanischen Haltung betrifft.

Anmerkungen

1) Siehe hierzu vor allem: Rashid, Ahmed: Taliban, Afghanistans Gotteskrieger und der Dschihad, München 2001, Droemer.

2) Siehe zur innersaudischen Opposition: Okruhlik, Gwenn: »Understanding Political Dissent in Saudi Arabia«, MERIP Press Information, Note 73, October 24, 2001, www.merip.org

3) Siehe hierzu Rashid, 2001, Kapitel 10. In diesem Kapitel beschäftigt sich Rashid außerdem mit der massiven US-amerikanischen Unterstützung für diesen Widerstand gegen die Sowjetunion. Übrigens verweist auch Huntington schon in seinem Buch »Kampf der Kulturen« darauf, dass der erfolgreiche Kampf der Mujahidin gegen die SU erheblich durch diese amerikanische Unterstützung gefördert wurde. Letztlich haben die USA also zum »Erfolg« Bin Ladens selber maßgeblich beigetragen, – eine äußerst riskante Politik, die auch in anderen Fällen (so z.B. bezüglich Saddam Husseins oder jetzt der afghanischen Nordallianz) praktiziert wurde und wird.

4) so heißt es in Bin Ladens Fernsehansprache vom 3.11.u.a.: „God says: »Never will the Jews or the Christians be satisfied with thee unless thou follow their form of religion.« It is a question of faith, not a war against terrorism, as Bush and Blair try to depict it. (…) After the US politicians spoke and after the US newspapers and television channels became full of clear crusading hatred in this campaign that aims at mobilizing the West against Islam and Musims, Bush left no room for doubts (…) that this war is a crusader war. (…) What terrorism are they speaking about at a time when the Islamic nation has been slaughtered for tens of years without hearing their voices and without seeing any action by them? But when the victim starts to take revenge for those innocent children in Palestine, Iraq, southern Sudan, Somalia, Kashmir and the Philippines, the rulers’ ulema (Islamic leaders) and the hypocrites come to defend the clear blasphemy.“ (Auszug aus dem von al-Gezira ins Englische transkribierten Text auf der BBC-homepage vom 3.11.2001, Korrekturen W&F).

5) Ich denke hier zum Beispiel an jugendliche Palästinenser im Gazastreifen, die nach jahrelangem Leben in einer Art überdimensionalem Gefängnis und enttäuschten Hoffnungen, nach über einem Jahr Intifada, also Demütigung, Verarmung, militärischer Gewalt, absoluter Perspektivlosigkeit, Korruption der eigenen Führung, natürlich in Bin Laden das zentrale Symbol für Widerstand sehen.

6) Es gibt jedoch auch Einschätzungen, die von einer nur begrenzten Macht der USA ausgehen, ihre Ziele im Nahen Osten durchzusetzen. Siehe hierzu z.B. Berg, Manfred: »Freunde und andere Feinde. Wie die USA seit einem halben Jahrhundert versuchen, in der islamischen Welt Realpolitik zu machen«, in: DIE ZEIT vom 4.10.2001.

Dr. Petra Weyland ist Islamwissenschaftlerin und Nahostexpertin. Sie lehrt am Fachbereich Sozialwissenschaften der Führungsakademie der Bundeswehr.

Religiöse Hintergründe des Terrors

Religiöse Hintergründe des Terrors

von Werner Thiede

Schon bald nach den monströsen Terrorattacken von New York und Washington, als sich der islamistische Hintergrund herauskristallisierte, wurde der Islam als solcher vielstimmig als »Religion des Friedens« beschworen. Demgegenüber betont der Autor des vorliegenden Beitrags die moralische Ambivalenz von Religion im Allgemeinen und im Hinblick auf politische Gewalt die Ambivalenz des Islam im Besonderen. Vor allem in der Gegenüberstellung zum Christentum im dritten Schritt mag diese Position weiteren Diskussionsbedarf wecken. Einen entsprechenden Folgebeitrag würde die Redaktion begrüßen.
In den öffentlichen Diskussionen über die Hintergründe der Terroranschläge vom 11. September 2001 in den USA macht sich in drei wichtigen Punkten vielfach religionswissenschaftliche bzw. theologische Unkenntnis bemerkbar. Und das ist nicht nur religionswissenschaftlich oder theologisch ärgerlich, sondern unter Umständen auch politisch folgenreich.

Religion ist nicht gleich Moral

Nicht selten wurde behauptet, die Terroranschläge hätten nichts mit Religion zu tun gehabt. So bildete einen Höhepunkt der öffentlichen Trauerfeier in New York am 23.9.2001 die energische Beteuerung eines muslimischen Geistlichen, dass die Anschläge nicht von gottesgläubigen Menschen vollbracht worden seien. Saudi-Arabien hatte bald darauf mit entsprechender Begründung die diplomatischen Beziehungen zur afghanischen Taliban-Regierung abgebrochen, die schlicht »Kriminelle« schützten. Auch Papst Johannes Paul II. sprach während seines Besuchs in Kasachstan den Terroristen die Berechtigung ab, ihre Verbrechen religiös zu begründen: „Hass, Fanatismus und Terrorismus entweihen den Namen Gottes.“ Vor dem Deutschen Bundestag hatte damals Bundeskanzler Gerhard Schröder unterstrichen, der Terrorismus von New York und Washington habe „in keiner, aber auch gar keiner Weise“ mit Religion zu tun.

Derlei Thesen gehen in der Sache rundum fehl. Den Attentätern ihre islamische Motivation abzusprechen, ist zwar ein legitimer, ja kathartisch notwendiger Akt für viele authentische Vertreter der großen Weltreligion Islam. Religionswissenschaftliche Analyse wird indessen differenziert urteilen müssen. Wer Terror und Religion apriorisch sauber trennen zu können meint, verwendet einen kaum reflektierten Religionsbegriff, wie er seit der späten Aufklärung hierzulande gängig, aber religionswissenschaftlich und auch theologisch längst nicht mehr zulässig ist (vgl. Feil, 2000). Bildhaft hat bereits der erste Sektenbeauftragte der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche in Bayern, Pfarrer Friedrich-Wilhelm Haack, vor über zwei Jahrzehnten dem verbreiteten Missverständnis einer Identität von Religion und humanistischer Moral entgegengehalten: Religion ist potenziell so ambivalent wie ein Messer; sie kann dazu dienen, Brot zu schneiden, aber auch dazu verwendet werden, Menschen zu töten. Im Umfeld von so genannten Sekten (zum Begriff vgl. Thiede, 1999, bes. Kap. I) kann diese Ambivalenz besonders augenfällig werden; man denke etwa an den verheerenden Giftgasanschlag von Tokio, an die Diskussionen um den religiösen Charakter der Scientology-Church (vgl. Thiede, 19952 ) und an die Massensuizide im Kontext sektiererischer Gruppen während des letzten Vierteljahrhunderts. Darum sind diejenigen nicht im Unrecht, die den Begriff des Sektiererischen mit den Terror-Anschlägen in den USA in Zusammenhang gebracht oder einfach von religiösem Fanatismus gesprochen haben. Damit kommen sie der Sache weitaus näher als etwa Gerhard Schröder mit seinem Versuch, den verschwommenen Begriff der Religion von jeder Vermengung mit Bösem rein zu halten.

„Sekunden vor dem Ziel sollten deine letzten Worte sein: Es gibt keinen Gott außer Allah!“1 Mit diesen Worten aus der terroristischen Handlungsanweisung haben die Flugzeuglenker am 11. September wohl ihre Untaten vollendet. Wer nach wie vor meint, jene Anschläge hätten nichts mit Religion zu tun, täuscht sich gewaltig. Illustrativ sind diesbezüglich im Einzelnen ebenso die Formulierungen des in den Printmedien veröffentlichten Testaments von Mohammed Atta, jenem Piloten, der die Boeing 757 in den Nordturm des World Trade Center steuerte: Als guter Muslim zu sterben war sein offenkundiges Bestreben.

In einer Hinsicht allerdings haben die Bestreiter des religiösen Charakters jenes Terrors recht: Es ist mitnichten die Religion pauschal, die zur Legitimation von Terrorismus herangezogen werden kann. Im Grunde gibt es »die« Religion in dieser Abstraktion gar nicht: Wie Sprache immer nur konkret im Plural, also als Sprachen, vorkommt, so gibt es nur eine Fülle konkreter Religionen in all ihrer Buntheit und Widersprüchlichkeit. Gewiss nicht jede Religion, auch nicht jede Weltreligion ist per se als Nährboden für Terrorismus geeignet. Ob es Zufall ist, dass die meisten der vom deutschen Verfassungsschutz beobachteten Gemeinschaften islamistischer Prägung sind?

Islamistisches Weltherrschaftsstreben?

Zu den Oberflächlichkeiten der einschlägigen neueren Diskussion gehört ein zu kurz greifendes Reden vom so genannten Zusammenprall der Kulturen gemäß S. P. Huntington (1998) – und zwar so, als ob dieser »Clash« gleichsam durch zwei zeitgleich aufeinander zulaufende Wellen zu Stande käme. Handelt es sich statt dessen nicht vor allem um eine einzige »Welle«, nämlich um das Erwachen des Islam in Gestalt des fundamentalistischen Islamismus, um seine Identitätsfindung als Gegenkraft gegen die ältere Säkularisierungswelle der Moderne (vgl. Kepel, 1991)? Gegen deren wachsende Aggressivität versucht sich der Westen aktuell zu verteidigen. Die zahlreichen Beteuerungen westlicher Politiker, keinen »Zusammenprall der Kulturen« zu wollen, sind glaubwürdig, weil ihrem freiheitlich-demokratischen Grundkonzept entsprechend. Womit freilich nicht gesagt sein soll, dass die abendländische Politik gegenüber islamisch geprägten Ländern stets frei von Fehlern gewesen wäre!

Der Islamismus, dessen prominentester Vertreter spätestens seit jenem Anschlag Usama Bin Laden ist, geht in seinen Aufbrüchen auf die kritische Absetzung des Islam von den geistigen und moralischen Auswüchsen der Moderne im 19. Jahrhundert zurück. Neuen Auftrieb hatte er im Gefolge der politischen Gegebenheiten seit dem Sechs-Tage-Krieg von 1967 erhalten. Damals begann mit den »68ern« zugleich eine nicht nur aufs Abendland beschränkte Teilverabschiedung der Säkularisierung; rudimentäre Spiritualisierungstendenzen in verschiedenster Gestalt – nicht zuletzt in Gestalt der Esoterikwelle (vgl. Thiede, 1995) – sind seither interkulturell zu beobachten. Der Bruch mit dem Geist der Säkularisierung aber, wie er Re-Islamisierungsbewegungen2 allenthalben kennzeichnet, stellt schon in sich ein religiöses Phänomen dar – näherhin ein fundamentalistisches.

Tatsächlich wird der religiöse Gehalt des Islam durch seine Ideologisierung ansatzweise, aber keineswegs völlig, auf den Kopf gestellt. Nüchtern gilt es wahrzunehmen, dass er als Weltreligion schon im Ansatz wie keine andere zu einer Identifizierung von Religion und Politik neigt. Seine heteronome Grundstruktur fördert die Verinnerlichung einer Gesetzlichkeit, die das gesamte Leben individuell, aber auch gesamtgesellschaftlich bestimmen soll (vgl. Zirker, 1993). Wenn heute auf der Welt ein Pluralismus von Religionen herrscht, den der Koran hinzunehmen bereit ist (Sure 2,148; Sure 5,48), so haben Muslime dennoch die Pflicht, sich um die Herstellung der universalen Herrschaft des Islam zu bemühen (vgl. Khoury, 1991, S. 268). Die Ordnungsvorstellungen, die der Islam als Ausgestaltung des göttlichen Gesetzes ausgibt, gelten als bessere Alternative zum politischen System des Ostens und zu den demokratischen Institutionen des Westens.

Nachhaltig fordert der Koran zum Dschihad auf (Sure 9,41), d.h. zum Kampf gegen Ungläubige. Dieser Begriff kommt nicht im Plural vor und ist nicht ganz korrekt mit »Heiliger Krieg« übersetzt (vgl. Colpe, 1994; Riße, 1987). Die Pflicht zum Dschihad meint vielmehr einen Dauerzustand und betrifft die rechtgläubige Gemeinschaft im Ganzen, bis die Welt insgesamt zum Gebiet des Islam oder des Friedens geworden ist. Wer ihr genügt, wird mit der Vergebung der Sünden und dem Eintritt ins Paradies belohnt werden (Sure 47,4-7). Inwieweit dieser religiöse Kampf allerdings ein gewaltsamer und nicht etwa nur mit Worten geführter sein soll, stellt sich als Interpretationsfrage dar. Das normale Ja zum Dschihad umschließt zunächst einmal die Bereitschaft zur Selbstläuterung und zur Verteidigung der Religionsfreiheit. Erst der ideologisierte Dschihadismus, der aus dem Islamismus hervorgegangen ist, zielt unzweideutig auf die Unterwerfung der Ungläubigen und auf Weltherrschaft; erst er transformiert die Bereitschaft zur Selbstläuterung in die zur Selbstaufgabe im »Märtyrertod« bei der Bekämpfung der Gegenmächte. Von daher hat Bin Laden die Verheißung des Koran auf sein totalitäres Programm gemünzt mit der rhetorischen Frage: Wie stehen wir denn am Tage des Gerichts da, wenn wir gefragt werden, ob wir unsere Aufgabe erfüllt haben?

Muslime kennen in der Regel den Respekt vor Andersgläubigen – insbesondere vor denen der Schriftreligionen. Es gibt tiefe mystische Ströme (vgl. Schimmel, 1995) und viele friedliebende Theologen im Islam. Bekanntlich hat ein Großteil der islamischen Welt die Terror-Anschläge in den USA ohne Zögern verurteilt. Nicht zuletzt gegen einen theologisch besonnenen Islam aber richtet sich der militante Islamismus: In oft antiklerikaler Haltung pflegt er das »Geblubber« (Gerede) moslemischer Gelehrter zu verachten. Da jedoch der Islam – global betrachtet – äußerst vielgestaltig ist und über dem Koran keine zentrale Letzt-Autorität kennt, kann der radikale Islamismus ein gewisses Recht auf eigenständige Interpretation der Quellen zu beanspruchen versuchen. Und das tut er denn auch mit einer Leidenschaft, die als solche viele Moslems emotional in den Bann schlägt. Dass sein religiöses Streben nach einer weltweiten Gottesordnung den Weltfrieden herausfordert und als eine »Ideologie des Zusammenpralls« regelrecht bedroht, hat der liberale Reform-Muslim Bassam Tibi bereits vor den Anschlägen vom 11. September betont.

Die schon kurz vor den Terroranschlägen von New York und Washington vorbereitete gesetzliche Streichung des Religionsprivilegs bei Vereinen zeugt von dem durchaus vorhandenen Bewusstsein in deutschen Regierungskreisen: Terror und »Religionen« schließen einander keineswegs aus. Indem Bundeskanzler Schröder und andere Vertreter der westlichen Welt angesichts der dramatischen Lage diesen Sachverhalt dennoch verkannten, begingen sie einen vielleicht noch folgenschweren Wahrnehmungsfehler. Ihre Intention liegt zutage: Sie wollten der Vermischung von Islam und Islamismus wehren, wollten die Weltreligion von ihrer terroristischen Funktionalisierung trennen. Damit verfolgten sie nicht nur das respektable Ziel weitest gehender Vermeidung von Belästigungen gegenüber Mitbürgern, die dem Islam angehören und mit Terror nichts zu tun haben wollen. Vielmehr suggerierten sie auf diese Weise, die Annahme sei abwegig, die Religion des Islam würde sich im Verlauf der bevorstehenden Ereignisse mit den »nichtreligiösen« islamistischen Extremisten identifizieren.

Ist jedoch, wie dargelegt, die Grundthese unhaltbar, der terroristische Islamismus habe mit „Religion nichts, aber auch gar nichts“ zu tun, so ist auch die genannte Folgerung falsch. Es fragt sich, ob und wieweit sich die saubere Unterscheidung zwischen der Weltreligion des Islam und islamistischem Extremismus wird durchhalten lassen.3 So wenig Religion und Fundamentalismus schlechthin zweierlei sind, so sehr könnten der Islam und seine ideologisch transformierte Gestalt sich spätestens dann als zueinander gehörig erweisen, wenn die Folge der Ereignisse Muslime auch auf der nichtradikalen Seite zu einer Identifizierung mit den bedrängten Radikalen drängt. Nach einer Überlieferung des Propheten Muhammad ist jegliches Bündnis mit dem »Feind« strikt untersagt. Gemäß islamischer Tradition halten Muslime zusammen, um gegen die »Feinde des Islam« Front zu machen. Die massiven Protestaktionen in Pakistan, im Iran, in der Türkei, in Indonesien und auf den Philippinen gegen den amerikanischen Militäreinsatz haben genau diesen Hintergrund. Die meisten islamischen Regierungen waren besonnen genug, sich angesichts der brutalen Terroranschläge nicht auf die Seite der Terroristen zu stellen. Ob sich diese Politik aber über längere Zeit durchhalten lassen wird – wer wollte dafür garantieren?

»Gottesherrschaft« – eine eschatologische Kategorie

Beteuerungen führender westlicher Politiker, keinen »Kreuzzug«, keinen Religionskrieg gegen den Islam zu beabsichtigen, lassen sich zugleich als Distanzierung von den Irrtümern der Vergangenheit im Abendland lesen. Waren das übrigens nicht auch religiöse Irrtümer gewesen? Vielfach hat man in den neueren Debatten aber das Argument zu hören bekommen, es bringe ja doch jede Weltreligion Fundamentalismus und religiös motivierten Terrorismus hervor. Diese Gleichmacherei ist aber der dritte große Fehlschluss, der derzeit zu falschen Konsequenzen führen kann. Die Fundamentalismen der verschiedenen großen Religionen sind nämlich bei näherer Betrachtung durchaus recht unterschiedlich strukturiert – je nach dem Charakter ihrer Basisreligion (vgl. Kochanek, 1991; Hemminger, 1991).

Bassam Tibi (2000) begreift Fundamentalismus als „Politisierung von Religion“ – und damit hat er mitnichten eine Aufhebung, vielmehr eine Funktionalisierung des Religiösen im Blick. Der Göttinger Professor macht insbesondere deutlich, dass sich unter den Fundamentalismen der Weltreligionen die intensive Verbindung von politischer Religion und Weltpolitik allein im Fall des Islam beobachten lässt. Im Kontext gerade dieser Weltreligion sei der Fundamentalismus neben Kommunismus und Faschismus zu einer dritten Spielart des Totalitarismus der neueren Zeit geworden, und zwar zu einer anti-westlichen.

Was das Christentum anbelangt, so wird hier gern an die Kreuzzüge des Mittelalters erinnert (vgl. u.a. Gabrieli, 1976). Man übersieht dabei aber, dass jene Kreuzzugspolitik aus dem neutestamentlich nicht gedeckten Irrglauben an das Ineinander von weltlicher und geistlicher Macht im damaligen Papstamt und an das vermeintliche Recht auf bestimmte heilige Territorien hervorging. So belastend die Hypothek aus jener Zeit der Kirchengeschichte immer noch ist, so authentisch und glaubwürdig ist die längst erfolgte Distanzierung aller christlichen Kirchen von jener dunklen Phase, die sich – noch einmal sei es unterstrichen – in keinster Weise mit der Botschaft von Jesus Christus in Einklang bringen lässt. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang der endlich 1875 erklärte Verzicht des Papstes auf den Weltherrschaftsanspruch. Im Neuen Testament ist der Weltherrschaftsanspruch Gottes selbst ein eschatologischer, d.h. ein von Gott bzw. seinem Messias allein durchzusetzender: Er wird sich im unmittelbaren Umbruch der Wirklichkeit zur vollendeten Schöpfung insgesamt vollziehen und ist bis dahin allein im Glauben gewaltlos erfahrbar.

Gern wird zudem pauschalisierend auf den Terrorismus von »Christen« in Nordirland hingewiesen. Man übersieht dabei, dass es sich zum einen um ein vergleichsweise lokales Phänomen handelt und dass zum andern in diesem Fall nicht die Religion als solche die Ursache des Konflikts ist. Mit einem Terrorismus, dem es um die Weltherrschaft seiner Religion geht, hat der nordirische Terrorismus so wenig zu tun wie mit dem Wesen des Christentums.

Mitunter geht die Pauschalisierung der Fundamentalismen im Blick auf das Christentum auch mit dem Hinweis auf die ab und an hervortretenden kriegerischen Züge des alttestamentlichen Gottes einher. Man verkennt hierbei elementar, dass es im Neuen Testament keinerlei Rückbezug auf diesen »Kriegsgott« in seiner Korrelation zu dem von ihm geführten politisch-religiösen Volk gibt – es sei denn in der transformierten Gestalt klarer Spiritualisierung, die sein Königtum eschatologisch im Heraufführen der zukünftigen, erlösten Schöpfungswelt erblickt.

Zudem sollte sich herumgesprochen haben: Die Heilige Schrift der Christenheit besteht aus Dokumenten, die in über 1000 Jahren gewachsen sind und gesammelt wurden, während der Koran innerhalb kurzer Zeit entstanden ist und radikal für sich beansprucht, als Schrift exakt von Allah inspiriert worden zu sein. Im Unterschied zur Bibel stellt er hermeneutisch gesehen also viel eher so etwas wie eine einheitliche Fläche dar. Die Bergpredigt Jesu macht deutlich, dass mit dem Messias etwas entscheidend Neues hereingebrochen ist: „Den Alten ist gesagt (…) Ich aber sage euch (…)“ Sofern christliche Fundamentalismen oder christliches Sektierertum die Bibel einflächig lesen, tun sie das sozusagen gegen ihren Strich und gegen alle hermeneutische Vernunft. Der Koran bietet sich für eine solch eindimensionale Leseweise, die nach Belieben bestimmte Stellen herausstreicht, vergleichsweise eher an, obgleich selbst er im Grunde nicht ungeschichtlich gelesen werden sollte! Jesu Reich versteht sich indessen definitiv nicht als politisches (Joh 18,36). Und so, wie der Friede Gottes nach christlicher Überzeugung höher ist als alle Vernunft (Phil 4,7), meint auch Jesu Gebot der Feindesliebe keine der säkularen Vernunft entstammende Friedensethik. Das alles bedeutet mitnichten, dass Christentum unpolitisch wäre; aber es gewinnt seine politische Dimension aus einer eschatologischen Liebesgesinnung heraus, die Terrorismus ausschließt, allerdings im Extremfall etwa Tyrannenmord bejahen kann (D. Bonhoeffer!).

Wo christliche Fundamentalisten in bestimmten Varianten apokalyptisch denken, kann es sogar innerhalb des Christentums zu wirklich gefährlichen Vermischungen von Religion und Politik kommen (vgl. Riesebrodt, 1987; Stöhr, 1991). Doch selbst hieraus, also aus der einen oder anderen „Verkehrung des biblischen Denkens“ (Stöhr, S. 111) erwächst in aller Regel4 kein Nährboden für einen sich neutestamentlich legitimierenden Terrorismus. Vom Islam lässt sich Entsprechendes so klar leider nicht sagen (vgl. Nehls, 1985)5. Umso mehr ist der Arabischen Liga zu danken, dass ihre Außenminister am 4. November 2001 sich klar von Bin Laden und seinem »gegen die Welt« gerichteten Terror distanziert haben. Im Übrigen wäre es zu begrüßen, wenn islamische Theologen und Philosophen (vgl. Lech, 2000) noch stärker und deutlicher, als sie es bisher getan haben6, mit Argumenten ihrer Religion Bin Laden und seinen Getreuen ins Wort fallen würden. Der oft gehörte Hinweis, »Islam« selbst bedeute doch schon »Frieden«, genügt hier nicht; denn sollte damit nicht ein Frieden unter den Herrschaftsbedingungen des Islam selbst gemeint sein?

Literatur

Colpe, C. (1994): Der heilige Krieg. Bodenheim: Hain.

Feil, E. (Hrsg.) (2000): Streitfall »Religion«. Diskussionen zur Bestimmung und Abgrenzung des Religionsbegriffs. Münster: Hopf.

Gabrieli, B. F. (1976): Die Kreuzzüge aus arabischer Sicht, München: Artemis.

Hemminger, H. (Hrsg.) (1991): Fundamentalismus in der verweltlichten Kultur, Stuttgart: Quell.

Huntington, S. P. (1998): Kampf der Kulturen. Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. München: Goldmann.

Kepel, G. (1991): Die Rache Gottes. Radikale Moslems, Christen und Juden auf dem Vormarsch. München/Zürich: Piper.

Khoury, A. T. (1991): Fundamentalismus im heutigen Islam. In: H. Kochanek (Hrsg.), Die verdrängte Freiheit (S. 266-276). Freiburg i. Br.: Herder.

Kochanek, H. (Hrsg.) (1991): Die verdrängte Freiheit. Fundamentalismus in den Kirchen. Freiburg i. Br.: Herder.

Lech, W. G. (2000): Denker des Propheten. Die Philosophie des Islam. Düsseldorf: Patmos.

Nehls, G. (1985): Christen fragen Moslems. Neuhausen-Stuttgart: Hänssler.

Pott, M. (1999): Allahs falsche Propheten. Die arabische Welt in der Krise. Bergisch Gladbach: Lübbe.

Riesebrodt, M. (1987): Protestantischer Fundamentalismus in den USA. Die religiöse Rechte im Zeitalter der elektronischen Medien. EZW-Texte: Information Nr. 102, Stuttgart: Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen.

Riße, G. (1987): Art. Djihad. In H. Waldenfels (Hrsg.): Lexikon der Religionen (S. 124). Freiburg i. Br.: Herder.

Schimmel, A. (1995): Mystische Dimensionen des Islam. Die Geschichte des Sufismus. Frankfurt/M.: Insel.

Stöhr, M. (1990): Denken in Beton. Protestantischer Fundamentalismus in den USA, in Südafrika und bei uns. In U. Birnstein (Hrsg.): „Gottes einzige Antwort…“ Christliche Fundamentalisten im Vormarsch. Wuppertal: Peter Hammer, S. 106-117.

Thiede, W. (19952 ): Scientology – Religion oder Geistesmagie? Neukirchen-Vluyn: Bahn.

Thiede, W. (1995): Esoterik – die postreligiöse Dauerwelle. Neukirchen-Vluyn: Bahn.

Thiede, W. (1999): Sektierertum – Unkraut unter dem Weizen? Gesammelte Aufsätze zur praktisch- und systematisch-theologischen Apologetik. Neukirchen-Vluyn: Bahn.

Tibi, B. (2000): Fundamentalismus im Islam – Eine Gefahr für den Weltfrieden? Darmstadt: Primus.

Zirker, H. (1993): Islam. Theologische und gesellschaftliche Herausforderungen. Düsseldorf: Patmos.

Anmerkungen

1) Vgl. den Abdruck der vollständigen Handlungsanweisung in: FOCUS 40/2001, S. 268; ferner den ausführlicheren Text der spirituellen Anleitung für den Selbstmordanschlag auf das World Trade Center: »Der Himmel lächelt, mein junger Sohn« in: Der Spiegel 40/2001, S. 36-38.

2) Reislamisierung bedeutet „die Rückkehr zu den politischen und wirtschaftlichen Ordnungsvorstellungen, die im islamischen Reich während des Mittelalters ausgearbeitet worden sind, oder – noch radikaler – die Rückkehr zu den gesellschaftlichen Mechanismen und den politischen Institutionen der frühen islamischen Gemeinde zu Medina“ (Khoury, 1991, S. 266).

3) Dieser Artikel wurde am 5. November 2001 abgeschlossen, als längst Tausende von Pakistanern die Grenze nach Afghanistan überschritten hatten, um in den »Heiligen Krieg« zu ziehen; es ist leicht möglich, dass manches hier Gesagte bei seinem Erscheinen durch die Fakten überholt sein wird.

4) Jede Regel kennt das Extrem(istische) der Ausnahmen: Man denke etwa an gezielte, wohl fundamentalistisch motivierte Anschläge gegen Abtreibungskliniken in den USA. Solch fanatische Taten können sich aber nicht aufs Neue Testament berufen. Enthält nicht demgegenüber der Koran Stellen, die u.U. durchaus als Aufruf zu mordender Gewalt gedeutet werden können (z.B. Sure 2,191+216; 4,89; 9,5), zumal sich das Tötungsverbot in Sure 5,32 nur auf den Herrschaftsbereich des Islam zu beziehen scheint?

5) Ein Dialog der Religionen ist jedenfalls zu begrüßen, wenn er ihre Vertreter authentisch sein lässt. Mit Gründen hat der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Manfred Kock, sich im Oktober 2001 dafür ausgesprochen, im Dialog mit dem Islam das Trennende nicht auszusparen. Ähnlich äußerten sich die römisch-katholischen Bischöfe auf ihrer Herbsttagung in Fulda, wo sie zugleich postulierten, Christen müssten in islamischen Ländern ebenso unbeeinträchtigt ihrem Glauben entsprechend leben können wie Muslime hierzulande.

6) Vgl. auch die EZW-Dokumentation »Muslimische Verbände zu den Anschlägen in den USA«. In Materialdienst. Zeitschrift für Religions- und Weltanschauungsfragen 64, 11/2001, S. 371-373.

Dr. Werner Thiede ist Privatdozent im Fach Systematische Theologie an der Theologischen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.

Reduzierung des Terrorismus auf den Islam führt in die Irre

Reduzierung des Terrorismus auf den Islam führt in die Irre

von Mohssen Massarrat

„Was ist das für eine Religion, die solche Monster hervorruft“, fragte zwei Tage nach dem Inferno in New York die Redakteurin eines liberalen und einflussreichen deutschen Rundfunksenders einen Islamexperten. Welche Naivität und welche Unwissenheit! Die Journalistin steht aber gerade für die Unwissenheit des Westens über den Islam und die tief greifenden Hintergründe des Massenmords. Die allgemeine Ahnungslosigkeit in Verbindung mit dem Vorpreschen der militärisch-geostrategischen Kreise in den USA und der Nato, die ihre Stunde für eine weitere Militarisierung der internationalen Beziehungen gekommen sehen und nicht davor zurückschrecken, die weltweite Betroffenheit und Trauer um die Opfer des Terrors in den USA für ihre Zwecke zu instrumentalisieren, droht zu einem gefährlichen Gemisch zu werden, das der Gewalteskalation einen neuen Schub mit ungeahnten Folgen geben dürfte.
Die Auswirkungen einer Gewalteskalation reichen weit über die arabisch-islamische Welt hinaus. Die menschliche Dimension des Verbrechens mahnt uns, uns mit dem Fundamentalismus zu beschäftigen. Dabei müssen wir allerdings auch fragen, wie es kommt, dass sich Milliarden Menschen, vor allem in der Dritten Welt, über die Zerstörung der Symbole des Reichtums und der Macht klammheimlich gefreut haben. Abertausende von ihnen könnten alsbald die Schwelle von passiver Zustimmung zum aktiven terroristischen Handeln überschreiten und überall in der Welt mit neuen Mitteln den gerade begonnenen globalisierten »Partisanenkrieg« weiterführen. Die Zerstörung der Legende von der Unverwundbarkeit der mit Abstand größten Militärmacht der Welt dürfte bei der großen Masse von Entrechteten und Gedemütigten dieser Welt zu einer Welle von terroristischen Nachahmern in den nächsten Jahren führen.

Nur zur Erinnerung: Die Zerstörung der Legende von der Unverwundbarkeit des durch die USA bis zu den Zähnen aufgerüsteten Schah-Regimes im Iran vor 22 Jahren hat in der islamischen Welt und darüber hinaus eine Welle von antiwestlichen Rebellionen ausgelöst.

Die Welt befindet sich jetzt in einer äußerst kritischen Situation. Durch den „ersten Krieg dieses Jahrhunderts“ (George W. Bush) wird der »Krieg der Zivilisationen« wahrscheinlicher, allerdings nicht in Huntingtons Sinne, sondern als ein Krieg, den die extremistischen Eliten der armen und der reichen Welt durch die Instrumentalisierung der jeweiligen kulturellen Werte für die eigenen Zwecke gegeneinander ausfechten. Die eigentlichen Opfer dieses Krieges sind auf beiden Seiten die Zivilbevölkerung, die Demokratie, andere zivilisatorische Errungenschaften und die Umwelt. Die Verhinderung dieses Szenarios ist daher m.E. die dringlichste politische Aufgabe. Dazu gehört die gründliche Analyse der Ursachen des globalen Terrorismus, den die Anhänger Osama Bin Ladens logistisch perfekt in New York und Washington inszeniert haben. Die Versuche in diese Richtung als Rechtfertigung des Terrorismus zu diffamieren, was dazu dient, die Komplexität des Problems auf »das Böse«, auf das »Krebsgeschwür« zu reduzieren und das politische Handeln auf die militärische Auslöschung des »Bösen« zu lenken, kommt einem Denkverbot gleich. Wir dürfen dieses Denkverbot nicht hinnehmen.

Woher aber kommt der offenbar über Jahrzehnte aufgestaute antiamerikanische Hass in der arabisch-islamischen Welt und in der Dritten Welt insgesamt? Ich möchte dazu vier fundamentale Aspekte skizzieren:

Erstens: Der Israel-Palästina-Konflikt ist zweifelsohne der wichtigste Kristallisationspunkt, aus dem alle antiwestlich arabisch-nationalistischen und islamisch-fundamentalistischen Bewegungen Kraft und Legitimation schöpfen. Israel ist die größte, auch mit Atomwaffen ausgerüstete Militärmacht im Nahen und Mittleren Osten und weigert sich, gerade wegen seiner militärischen Überlegenheit, seine Besatzungspolitik in Palästina zu beenden. Vielmehr stellt dieses Land tagtäglich seine Überlegenheit als Besatzungsmacht demonstrativ zur Schau, indem es palästinensische Häuser zerstört, palästinensischen Grund und Boden beschlagnahmt und die Palästinenser demütigt. Dadurch fühlen sich auch Millionen von Menschen in der arabisch-islamischen Welt gedemütigt. Die Palästinenser reagieren auf die von ihnen empfundene Ungerechtigkeit und Ohnmacht mit der Intifada bzw. mit terroristischen Anschlägen.1 Bei den Arabern und Moslems in der ganzen Welt verursacht die Demütigung der Palästinenser Wut und Ohnmachtgefühle, die sich im eigenen Land in Terror-Anschlägen gegen westliche Touristen (z.B. in Ägypten) entluden bzw. zu Anschlägen gegen eigene korrupte Regierungen führten, die sich mit Rücksicht auf die USA gegenüber dem Israel-Palästina-Konflikt eher in Zurückhaltung üben. Nun ist es Osama Bin Laden gelungen, die angestaute Wut durch die im Zusammenhang mit dem zweiten Golfkrieg gegen den Irak gegründete »internationale Brigade der arabischen Afghanen« und später die Al-Qaida in einen modernen »Partisanenkrieg« gegen die Weltmacht USA zu kanalisieren. Amerika gilt in den Augen der arabisch-islamischen Völker als entscheidende Schutzmacht der israelischen Besatzungspolitik und daher als mitverantwortlich für die Demütigung der Araber und Moslems. Zu den schmerzlichen Wahrheiten des auch nach dem Terroranschlag gegen die USA weiter eskalierenden Israel-Palästina-Konflikts gehört, dass Israel offensichtlich der Fortsetzung des gegenwärtigen Zustands der Besatzung auf der einen und der Intifada und des islamistischen Terrors auf der anderen Seite einen höheren Rang beimisst als der Aufgabe seiner Besatzungsmacht und der Schaffung eines dauerhaften Friedens. Die islamisch-fundamentalistische Hamas wurde ursprünglich nachweislich durch Israel unterstützt. Die Al-Fatah und Arafat sollten dadurch geschwächt und die Palästinenser gespalten werden. Nun wird Arafat für die Terroranschläge von Hamas verantwortlich gemacht, um den 1991 in Madrid begonnenen Friedensprozess zu torpedieren. Die Vereinigten Staaten haben offensichtlich auch nach dem 11. September kein ernsthaftes Interesse an einem dauerhaften Nahost-Frieden. Ich glaube seit längerem nicht an die Mär von der jüdischen Lobby in Amerika als eigentlichem Hindernis für die aktivere Rolle der USA im Friedensprozess. Vielmehr scheinen sich alle US-Regierungen hinter dieser Legende zu verstecken, weil Konflikteskalationen im Nahen Osten besser in die US-Geostrategie passen als ein dauerhafter Frieden.2

Zweitens: Die USA verfolgen seit einem halben Jahrhundert im Nahen und Mittleren Osten eine Politik der Destabilisierung und Konflikteskalation mit »kalkulierbarem Risiko« (low intensity war) – dazu gehört zentral der Israel-Palästina-Konflikt – und sie fördern und stärken durchweg nur korrupte und diktatorische Regime. Es gibt kein einziges Beispiel dafür, dass die USA demokratische Entwicklungen im Nahen und Mittleren Osten unterstützt haben, ganz im Gegenteil. Sie haben 1953 die demokratisch gewählte Regierung Mossadegh im Iran mit Hilfe von CIA und Pentagon gestürzt (vor einem Jahr bezeichnete Madeleine Albright diese Aktion als einen Fehler), den Schah an die Macht zurückgeholt, dessen Regime zu einer militärisch-regionalen Supermacht aufgerüstet und dadurch einerseits einen gigantischen Rüstungswettlauf am Persischen Golf entfesselt und andererseits den islamischen Fundamentalismus im Iran gestärkt und somit indirekt der islamischen Revolution den Weg bereitet. Der Rüstungswettlauf entlud sich 1980 und 1989 in zwei Golfkriegen. Im ersten Golfkrieg unterstützten die USA Saddam Hussein im Krieg gegen den Iran, machten den Irak zur stärksten Militärmacht am Persischen Golf und führten dann im zweiten Golfkrieg gegen das Regime von Saddam Hussein einen Krieg mit UN-Mandat, als dieser glaubte, die USA weiterhin auf seiner Seite zu wissen und daher Kuwait und dessen Ölquellen ungestraft annektieren zu können.

Nach der Befreiung Kuwaits wussten die Vereinigten Staaten nichts Besseres, als in den arabischen Staaten am Persischen Golf Militärstützpunkte zu errichten, so in Dahram und Riad (Saudi-Arabien) und in Kuwait City. Die Errichtung der Militärstützpunkte der »christlichen« Supermacht, vor allem in Saudi-Arabien als Statthalter der bedeutendsten islamischen Heiligtümer in Mekka und Medina, wird allerdings bei frommen Moslems nicht nur auf der arabischen Halbinsel, sondern in den arabischen Ländern und in der gesamten islamischen Welt als eine noch größere Demütigung empfunden als die Demütigung der israelischen Besatzungsmacht in Palästina. Osama Bin Laden und Al-Qaida haben unbestreitbar auf diesem fruchtbaren Boden des islamischen Fundamentalismus ihre furchterregende Größe und die Anhängerschaft gewonnen.3 Im Krieg Afghanistan gegen die Sowjetunion unterstützte der CIA den islamisch-afghanischen Widerstand, gewährte Partisanen, u.a. auch Osama Bin Laden, militärische Ausbildung und unterstützte später die mit pakistanischer Hilfe kreierte Talibanbewegung, als Afghanistan im geostrategischen Puzzlespiel der USA als Durchgangsterritorium zur Verlegung von Pipelines für die Erdgastransporte der Kaspischen-Meer-Region durch Pakistan bis zum Indischen Ozean als eine attraktive Option gehandelt wurde.4

Islamische Fundamentalisten im Iran, der Panarabist Saddam Hussein, das Taliban-Regime, aber auch die islamistische Bewegung um Osama Bin Laden und vor allem die Aggressivität dieser Herrschaften sind allesamt Produkte der US-amerikanischen Konflikt- und Eskalationspolitik im Mittleren Osten. Dadurch wurde die Demokratisierung in der Region um Jahrzehnte zurückgeworfen und den Völkern im Nahen und Mittleren Osten beträchtlicher Schaden zugefügt, den kurzfristigen amerikanischen und westlichen Interessen jedoch nicht geschadet, ganz im Gegenteil. Es gibt einen eindeutigen Zusammenhang zwischen den nationalistisch-fundamentalistischen Regimen, den beiden Golfkriegen, den gigantischen Rüstungsexporten in die Persische Golf-Region in den letzten 30 Jahren und den sinkenden Ölpreisen. Letztere gelten bekanntlich als wichtigster Stabilitätsfaktor für die florierenden Volkswirtschaften kapitalistischer Industrieländer. Nun hat sich durch den Terroranschlag auf das World Trade Center und auf das Pentagon das Konzept einer Destabilisierungsstrategie mit »kalkulierbarem Risiko« als Bumerang erwiesen. Die auf eigenen kurzfristigen ökonomischen und geostrategischen Interessen basierende Politik der USA und des Westens wird durch den globalisierten Terrorismus eingeholt. Wie die drohende Klimakatastrophe als Reaktion der Natur auf ein nur kurzsichtig ausgerichtetes ökonomisches Handeln der reichen Eliten in den Industrie- und Entwicklungsländern gesehen werden muss, ist der globalisierte Terrorismus die politische Reaktion auf die Art und Weise der Aufrechterhaltung und Absicherung des Systems. Insofern tragen alle westlichen Staaten, allen voran die USA, eine beträchtliche Mitverantwortung für das Desaster in New York und Washington und für Tausende Opfer unter den Trümmern des World Trade Centers.

Drittens: In der islamischen wie in der gesamten Dritten Welt vollzieht sich gegenwärtig eine historisch längst fällige gesellschaftliche Transformation und Industrialisierung, die mit tief greifenden sozialen Brüchen, mit Entfremdung, Entwurzelung und individuellen Identitätskrisen einhergeht. Der Globalisierungsdruck verstärkt diesen Prozess. Die nachhaltigste Form soziokultureller und sozialpsychologischer Aufarbeitung dieses unabdingbaren und konfliktträchtigen Prozesses, der in Europa über einen Zeitraum von zwei Jahrhunderten stattgefunden hat, ist die Demokratisierung und Selbstbestimmung. Durch Einmischung, Intervention und Unterstützung korrupter und diktatorischer Regime, so die Verhinderung der in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts begonnenen Demokratisierung, und durch Aufpfropfen eigener Industrialisierungsmuster haben die großen westlichen Industriestaaten, allen voran aber die USA, mit dazu beigetragen, dass die sozialpsychologische und soziokulturelle Aufarbeitung der gesellschaftlichen Transformation unterbrochen und verzerrt wurde bzw. überhaupt nicht stattfand. Die große Masse der Entwurzelten durch alle sozialen Gruppen hindurch empfindet so die dabei erlittene Identitätskrise als einen fremdgesteuerten Angriff auf eigene kulturelle Werte und ist daher dazu prädestiniert, Feindbildern zu folgen, ihr Heil in nationalistischen bzw. fundamentalistischen Perspektiven zu suchen und gleichzeitig das Ausland, den Westen und Amerika für das eigene Leid verantwortlich zu machen.

Viertens: Die von der reichen Elite in der Welt, den internationalen Konzernen und den ihnen nahe stehenden Finanzinstitutionen gelenkte ökonomische Globalisierung hat die ungleiche Einkommensverteilung in der Welt in den letzten Jahrzehnten vergrößert. Über eine Milliarde Menschen in der Dritten Welt kämpfen um das tägliche Brot und fristen verzweifelt ihr Dasein. Die in dieser Ungerechtigkeit schlummernden sozialen und politischen Instabilitätsfaktoren können unmöglich militärisch eingedämmt werden. Die zahlreichen amerikanischen Militärstützpunkte in der Dritten Welt befinden sich somit auf einem Pulverfass. Die bittere Armut und kulturelle Entwurzelung bei gleichzeitiger Zurschaustellung des Reichtums der Eliten in den globalisierten Kommunikationssystemen stellen den fruchtbarsten Nährboden für den neuartigen globalen Terrorismus der Zukunft dar.

Die oben dargestellten Thesen, die für den tiefen antiamerikanischen Hass nicht nur in der islamischen Welt Anhaltspunkte liefern, entspringen nicht einer verschwörungstheoretischen Sichtweise, weil sie teilweise als unvorstellbar erscheinen. Sie sind alle durch systematische Auswertung der Ereignisse und Fakten wissenschaftlich nachweisbar. Auf dieser Grundlage soll nahe gelegt werden, dass eine Reduzierung der Ursachen des internationalen Terrorismus auf den Islam in die Irre führt. Vielmehr sind es die sozioökonomischen und kulturellen Defizite, Ungerechtigkeiten und Demütigungen sowie die Missachtung politischer, ökonomischer und kultureller Selbstbestimmung der Menschen, die den Extremismus und Gewaltbereitschaft hervorrufen und im islamischen Fundamentalismus und arabischen Nationalismus im Nahen und Mittleren Osten, im serbischen Nationalismus auf dem Balkan, im hinduistischen Fundamentalismus in Indien, in religiös kanalisierten Gewaltausbrüchen in Indonesien und im christlichen Fundamentalismus in den USA selbst ihre Ausdrucksform finden.

Anmerkungen

1) Über diesen Komplex vergleiche vor allem: Langer, Felicia, 1996: Laßt uns wie Menschen leben. Schein und Wirklichkeit in Palästina, Göttingen; Said, Edward, 1997: Frieden in Nahost? Essays über Israel und Palästina 1993-1997, Heidelberg; Farhat-Naser, Sumaya, 1998: Die einen feiern, wir anderen trauern. 50 Jahre Israel, in: Frankfurter Rundschau vom 29. April 1998; Watzal, Ludwig, 2001: Feinde des Friedens. Der endlose Konflikt zwischen Israel und Palästina, Berlin.

2) Über geostrategische Hintergründe der US-Politik einer Konflikteskalation im Nahen und Mittleren Osten vgl. Massarrat, Mohssen, 1990: Die Krise am Persischen Golf. Dimensionen einer Regionalkrise nach dem Ende der Bipolarität, in: Peripherie, Nr. 39/40; derselbe: Die unheilige Allianz mit dem irakischen Diktator, in: Wissenschaft & Frieden, 1/99; derselbe: Ölpreise, Ökosteuern und das Konzept einer nachhaltigen Klimaschutzpolitik, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 12/2000; derselbe, 2000: Das Dilemma der ökologischen Steuerreform. Plädoyer für eine nachhaltige Klimapolitik durch Mengenregulierung und neue politische Allianzen. 2., stark erweiterte Auflage, Marburg.

3) Vgl. dazu Duran, Khalid, 2001: Der einen Teufel, der anderen Held, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20. September 2001.

4) Der frühere Präsidentenberater, Zbiginiew Brezeinski, beschreibt in seinem Buch »Die einzige Supermacht« (2001, Frankfurt) offen und unumwunden die geostrategischen Interessen der USA im Mittleren Osten und in Zentralasien.

Prof. Dr. Mohssen Massarrat ist Politikwissenschaftler iranischer Herkunft an der Universität Osnabrück. Schwerpunkte u.a. Friedens- und Konfliktforschung und Naher und Mittlerer Osten.

Algerien: zwei Seiten des Terrorismus

Algerien: zwei Seiten des Terrorismus

von Donata Kinzelbach

Berichte über die zielgerichtete Hinrichtung algerischer Intellektueller, über die Ermordung Hunderter Dorfbewohner durch Fundamentalisten und über die (Gegen-?)Gewalt des Staatsapparates sind aus unseren Presseorganen weit gehend verschwunden. Der Terroranschlag in den USA überlagert den »täglichen Terror« in Algerien und in vielen anderen Ländern. Donata Kinzelbach wirft einen Blick auf die Situation in Algerien und damit auf Ursachen des Terrorismus.
Durch Algeriens Geschichte ziehen sich Unterdrückung und Uneinigkeit wie ein roter Faden. Eine Vielzahl von Eroberungswellen haben ethnische Spuren hinterlassen: Römer, Vandalen, Araber verschiedener Stämme, Türken, Spanier und Franzosen. Die Geographie des Landes begünstigt den Individualismus noch: Das Land ist gekennzeichnet durch schroffe Hochgebirge mit unwegsamen Tälern, in denen Clans und Stämme sich von denen im – feindlichen – Nachbartal abgrenzen. Hinzu kommt eine Zersplitterung basierend auf vollkommen unterschiedlichen Gesellschaftsvorstellungen: Algerien wird u. a. bevölkert von islamischen Traditionalisten, arabischen Nationalisten, Muslimen unterschiedlicher Schulen und Riten, frankreich-orientierten Arabophonen, von Juden, nationalistischen Berbern, Berbern frankophoner Ausrichtung, christianisierten Berbern.

Diese Zersplitterung machte das Land von jeher anfällig für Kolonialismen, zuletzt den französischen, der auch in der unabhängigen Republik noch weiterlebt, denn trotz offizieller Arabisierung zählt ein französisches Diplom heute noch weit mehr als ein arabisches. Und es rächt sich die unüberlegte, qualitativ schlechte Arabisierungspolitik, die übereilt, mit importierten ägyptischen Lehrern dubioser Qualifizierung durchgeführt wurde, sodass die neue Generation zwar das Französische verloren, das Arabische aber noch lange nicht gewonnen hat.

Im Rahmen des neuen arabischen Nationalismus waren die Berber (eine Minderheit zwar, die aber mit weit mehr als 30% der Bevölkerung einen beachtlichen Anteil an der Gesamtbevölkerung ausmacht!) die eigentlichen Verlierer, denn ihre kulturellen Rechte wurden dem Nationalismus geopfert: Die Berbersprache wurde verboten. Erst nach langen, teils blutigen Konflikten ist Berber seit 1995 zweite offizielle Staatssprache; Beschwichtigungspolitik oder zu späte Einsicht, denn Lehrer für Berber gibt es nicht, Bücher oder Übersetzungen sind rar.

Solange der Freiheitskampf tobte, waren die Risse in der Gesellschaft zugekittet, aber mit der Unabhängigkeit brach das Konstrukt; die Vorstellungen vom neuen Algerien klafften zu weit auseinander. Die Befreiungsfront FLN kam an die Macht einer vom Militär kontrollierten Parteidiktatur. Ben Bella, erster Präsident, verlor sein Amt an General Boumediène, als er versuchte den Einfluss der Armee zu beschneiden. Boumediène war es auch, der alle wichtigen Industrie-, Finanz- und Handelszweige unter staatliche Kontrolle brachte. Die alten Seilschaften des Befreiungskrieges verstanden den Staat als ihre Pfründe – hatten sie ihn nicht mit ihrem eigenen Blut zum Leben erweckt, ja bezahlt? Die Erdölkrise 1973 arbeitete Boumediène in die Hände. Der Agrarsektor jedoch lag im Argen; 1980 wurden nur noch 30% des Nahrungsmittelbedarfs im eigenen Land erzeugt. Produkte mussten eingeführt werden, begannen zu fehlen. Schwarzmarkt und Korruption blühten als Folge auf. Das Regime, das soziale Unterschiede ausgleichen wollte, hatte das Gegenteil bewirkt: Während Funktionäre den privaten Swimmingpool voll Wasser hatten, gab der Wasserhahn in den Wohnungen der kleinen Leute oft stundenlang nichts her. Die Bevölkerung, an Eigeninitiative nicht gewöhnt, wartete ergeben, dass der Staat Lösungen böte. Der einstige Enthusiasmus verlor sich in Politikverdrossenheit, Sozialismus begann man mit Warteschlangen und Engpässen gleichzusetzen. Der tägliche Überlebenskampf tat sein Übriges: Mit durchschnittlich sieben Kindern brauchte eine Familie alle Energien um das nackte Überleben zu sichern. Im unterbezahlten Job arbeitete man halbherzig, da die Energie noch für zusätzliche Nebenjobs ausreichen musste. Allgemeine Demotivation und ein weit verbreiteter Schlendrian einerseits, hemmungslose Selbstbedienungsmentalität andererseits, vergesellschaftet mit Fehlbesetzungen in Schlüsselpositionen der Wirtschaft, führten zunehmend ins ökonomische Desaster. Fatal wirkte sich die Abhängigkeit von nur einem einzigen Produkt (Erdöl) aus, dessen Preis man nicht einmal selbst bestimmen konnte. Als 1985 der Erdölpreis drastisch fiel (von 30 auf 15 $/Barrel), galt es zu sparen, überall! Die Arbeitslosenquote stieg dramatisch.

Der Fundamentalismus gewinnt an Einfluss

1986 brachen Unruhen aus. Auf diesem Boden musste die Saat der Fundamentalisten zwangsläufig aufgehen: Mit billigen Schlagworten gewann man diejenigen, die sich sowieso ohne Zukunft sahen. 1988 kam es zum Generalstreik, in dessen Verlauf Jugendliche randalierten und plünderten. Die Ursachen lagen auf der Hand: Arbeitslosigkeit, leere Regale, Korruption, 26 Jahre verkrustetes FLN-Regime. In dieser Situation erhielt Algerien 1989 eine neue Verfassung, die für Überraschung sorgte: Mehrparteiensystem, Streikrecht, mehr demokratische Grundrechte, Wahrung der Menschenrechte, Liberalisierung der Wirtschaft. Aber die wirtschaftliche Öffnung kam unvorbereitet, es gab kaum Produkte, die im Ausland konkurrenzfähig waren. Und der Erdölpreis fiel weiter.

Gesellschaftspolitisch ungeübt, beflügelte die neue Perspektive dennoch: Vereine wurden gegründet, neue Zeitungen erschienen neben dem halbamtlichen El Moudjahid, das staatliche Fernsehen strahlte politische Debatten aus, im Radio gab es endlich Raï zu hören.

Etwa 30 neue Parteien entstanden. Neben der FLN konnten sich die Kommunisten (PAGS), die demokratisch orientierte Berberfront (FFS), die Bewegung für die Demokratie in Algerien (MDA), eine weitere Berberbewegung für Kultur und Demokratie (RCD) etablieren – und die Islamische Heilsfront (FIS). Obwohl das Gesetz ausschließlich religiös oder regional orientierte Parteien untersagte, ließ man sie zu, umso erstaunlicher, weil in den Nachbarländern Tunesien und Marokko fundamentalistische Parteien verboten waren. Verständlicherweise empörte man sich dort über die Entscheidung in Algier, gab sie doch Fundamentalisten im eigenen Land Auftrieb. Die ersten freien Wahlen 1990 waren ein Schock: Die FIS erhielt 54% der Stimmen, die FLN 28%. FIS-Chef Abassi Madani verkündete, er wolle „noch vor Ende des Jahres“ einen islamischen Staat errichten. Die FLN versuchte sich über eine Wahlrechtsänderung zu retten, die FIS reagierte mit Generalstreik, es gab Straßenschlachten, Panzer fuhren auf, es herrschte Ausnahmezustand. Dennoch gewann die FIS erneut. Zwar bemühte man sich Wahlbetrug nachzuweisen, der FIS den Sieg streitig zu machen, weil sie eine religiöse Vereinigung sei, was ihr im Ausland aber nur – unverdiente – Pluspunkte einspielte. Teils wurde ihre Gefahr unterschätzt, teils paktierte man mit dem potenziellen Machthaber von morgen. Die FIS überzog das Land mit einer Woge des Terrorismus. Besondere Zielgruppen wurden Intellektuelle und Freiberufler, die ideell und materiell das Regime unterstützten, sowie Journalisten. Immer mehr Intellektuelle sahen sich gezwungen ins Exil zu gehen oder zu schweigen, Algerien wurde intellektuell ausgeblutet. Ende 1993 wurden Ausländer Zielscheibe des Terrors. Ultimativ sollten sie bis zum 1.1.1994 Algerien verlassen. Von den wenigen, die blieben, wurden 70 »hingerichtet«. Aus Hilflosigkeit, aber auch unverhohlener Rache gingen Polizei und Armee dazu über, Terroristen direkt hinzurichten anstatt sie zu verhaften. Die Bevölkerung, ebenso hilflos, suchte sich durch private Aufrüstung zu schützen, gleichzeitig beutelte die mittlerweile galoppierende Inflation: Waren früher die Regale leer, so waren die Waren jetzt nur zu oft unbezahlbar. Die Arbeitslosenquote stieg über 25%. General Zeroual, ins höchste Amt gehievt, suchte den Dialog mit der FIS. Dieser umstrittene Weg – für die einen letzte Chance, für die anderen a priori verwerflich, weil man sich nicht mit Mördern an einen Tisch setzt und verhandelt – blieb erfolglos: Rabah Kebir, Sprecher der FIS im Ausland, stellte folgende Forderungen, die das Regime ablehnte, weil eine Beendigung des Terrorismus nicht gewährleistet schien:

  • Freilassung aller Gefangenen,
  • Wiederzulassung ihrer Partei,
  • Aufhebung der Sondergesetzgebung,
  • Aburteilung von Verantwortlichen von Staatsverbrechen,
  • ernsthafte Verhandlungen über die Zukunft Algeriens auf neutralem Boden.

Die Zunahme des Terrors

Während des traditionelles Fastenmonats Anfang 1997 häuften sich die Meldungen über grauenhafte Bluttaten. Der Westen gab sich schockiert, aber es darf an dieser Stelle nicht verschwiegen werden, dass wir in Deutschland es waren, die den Köpfen der Fundamentalisten großzügig Asyl gewährten, während England, Frankreich und Pakistan dies ablehnten.1 Das lässt unsere Tränen zu Krokodilstränen mutieren, zumal wir uns in Deutschland sicher wähnten nach dem Motto: „Lass die Unterentwickelten sich in Algerien doch ruhig die Köpfe einschlagen, zum Glück ist es ja weit genug weg, um uns nicht zu dérangieren.“2

Die deutschen Exportgeschäfte nach Algerien florierten besser denn je, was natürlich den zynischen Schluss nahe legte, dass man es sich mit dem potenziellen Machthaber von Morgen nicht verscherzen mochte.

Bendjedid trat zurück, das Parlament wurde aufgelöst, ein Hoher Staatsrat bestellt, die 1990 gewählten Kommunalvertreter der FIS durch Staatsbeamte ersetzt.

Auf ihr Verbot reagierte die FIS mit Heiligem Krieg. Man durchschnitt fünf Soldaten die Kehle – Fanal für einen Terrorismus, der ganz Algerien in Angst versetzte. Boudiaf, Symbol für nationale Versöhnung, wurde, kaum zum Präsidenten gekürt, bei einer Ansprache in Annaba ermordet. Sein Nachfolger Ex-General Zeroual begann einen undurchsichtigen Kurs zwischen Bekämpfung und Kooperation. Die demokratische Opposition sah auch in der neuen Regierung – mit je 7 Vertretern der islamistischen Bewegung für die Gesellschaft des Friedens (MSP) und der einstigen Einheitspartei Nationale Befreiungsfront (FLN) – eine gefährliche Allianz konservativ-islamistischer Kräfte.

Wer sind die Mörder?

Zwei Gruppen prägten den Krieg: die Bewaffnete Islamische Bewegung (MIA, ab 1994 unter dem Namen AIS) und die Bewaffnete Islamische Gruppe (GIA), die sich über Saudi-Arabien, Sudan und Schutzgelderpressung finanziert. Die Mitglieder dieser Gruppen rekrutieren sich aus den Reihen der ehemaligen Widerstandsgruppen, aus Angehörigen von Opfern staatlicher Gewalt, Kriminellen, jungen Arbeitslosen und Desperados, aus einem kleinen harten Kern religiöser Fanatiker, die ihre Kampferfahrungen in Afghanistan und Bosnien gesammelt haben.3 Dazu kommen in deren Windschatten kleine lokale Gruppen, die eigene Interessen unter dem gleichen Etikett verfolgen, sowie Spaltungen und Rivalitäten der als Kleinstgruppen operierenden Guerilla.

Welche Rolle spielt das Militär?

Auffällig oft fanden Massaker in unmittelbarer Nähe von Militärstandorten statt, ohne dass eingegriffen wurde, sodass gemutmaßt werden muss, dass das Militär nicht intervenieren wollte. Dieser Eindruck wird erhärtet durch die Tatsache, dass der Süden des Landes mit seiner einträglichen Erdölindustrie sehr wohl gesichert wurde. Hinweise auf eine Kollaboration zwischen Teilen des Militärs und Islamisten häuften sich. Ein nach Frankreich geflohener ehemaliger Offizier erklärte, dass die Massaker anfangs von Armee-Einheiten selbst initiiert worden seien. Die bestialische Arbeit hätten GIA-Kämpfer fortgesetzt, die zu diesem Zweck aus der Haft entlassen worden seien. Dies alles sollte einer Dialogpolitik, für die der gemäßigte Flügel der Armeeführung plädiert, den Boden entziehen und das Ausland für eine bedingungslose Unterstützung der algerischen Regierung einnehmen.4 Tatsächlich lässt manches auf einen regierungsinternen Machtkampf zwischen Versöhnungswilligen und »Hardlinern« schließen, so auch die Freilassung von Abassi Madani, dem Kopf der algerischen Fundamentalisten, die nur mit Zustimmung Zerouals geschehen konnte, und die Berufung eines Mann des Dialogs – General Tayeb Derradji – an die Spitze der sehr wichtigen Gendarmerie, statt eines »Hardliners«.

Auf eine noch engere Vernetzung von Militärs und Islamisten deuten die Aussagen des ehemaligen stellvertretenden Botschafters Algeriens in Libyen hin. Er behauptet, dass die islamistischen Gruppen in ihrer großen Mehrheit vom militärischen Sicherheitsdienst unterwandert seien: „Die über 200.000 Mann in 5.000 Gruppen rächen sich an all denen, die sie selbst für Islamisten halten (…) Der Terror soll die Islamische Heilsfront (FIS) bei der Bevölkerung in Verruf bringen, die einzige Kraft, die den Generälen hätte gefährlich werden können.“ Der vorgebliche Zeuge, der seit Jahren in London lebt, erklärt, radikale Militärs hätten die GIA ins Leben gerufen und seien mit ihr identisch.5 Dazu passt auch die Aussage des in den USA inhaftierten FIS-Sprechers Anouar Haddam, die Regierung in Algier gehe gegen die GIA vor um „lästige Zeugen“ loszuwerden, die einen „schmutzigen Job“ erledigt hätten. „Die Vorstellung eines kaltblütigen Zusammenwirkens von Militär und islamischen Terroristen scheint ungeheuerlich. Als gemeinsames Etappenziel ließe sich jedoch die weitere Destabilisierung der FIS und die Untergrabung einer politischen Lösung, die zweifelsohne den gewaltlosen islamischen Kräften eine Beteiligung an der Regierung zugestehen müsste, vermuten.“6

Aktiv gegen die Mörder

Besonders verdienstvoll waren seit Beginn der Terrorakte die algerischen Frauen im couragierten Kampf gegen den Fundamentalismus. In zahllosen Vereinen organisierten sie sich mit dem erklärten Ziel, dem Terror ein Ende zu setzen und den Frauen mehr Rechte zu erstreiten. Seit 1984 hatte sich die Anwendung des Familiengesetzbuches manifestiert, wonach z.B. im Falle einer Scheidung Unterkunft und Vormundschaft dem geschiedenen Vater zugesprochen werden, während das gleiche Gesetz die Frau für die Kinderbetreuung als zuständig erklärt. Sie »darf« betreuen, allerdings ohne jegliche Rechte, während der Mann über Bildung und Gesundheit wacht; er muss z.B. die Einschreibung in einer Schule oder einen chirurgischen Eingriff erlauben. Während die Verfassung die Frau für fähig erachtet, das Wahlrecht auszuüben und sie laut Bürgerlichem Gesetzbuch zum Abschluss von Verträgen befugt ist, spricht das Familiengesetzbuch ihr das Recht ab, ihre eigene Heirat abzuschließen. Als die Frauenvereinkommission in einen Aufruf, gerechtere Gesetze forderte, Gesetze, „die Frauen und Kinder nicht mehr auf die Straße setzen, Gesetze, die den Frauen nicht die Vormundschaft für ihre Kinder absprechen,“ reagierten die Islamisten prompt: Ihr erklärtes Ziel war die weitere Verschärfung bestehenden Gesetze. Die Unterzeichnerinnen leben seitdem in Angst vor Repressalien – und wie die aussehen, ist hingehend bekannt.

Die jüngsten Ereignisse in der Kabylei

Der Bevölkerung der Kabylei – den Maziren –, die mit an erster Stelle für Demokratie und Menschenrechte in Algerien und für die Befreiung von der französischen Kolonialmacht kämpften, wurde vom algerischen Militärregime stets ihre kulturelle und sprachlichen Identität abgesprochen. Eine gewisse Parallele zum Szenario im ehemaligen Jugoslawien oder zu den seit Jahrzehnten missachteten Rechten der Palästinenser drängt sich auf. Die Berber werden für die algerische Misere verantwortlich gemacht, sie sind Opfer staatlichen Terrors. Obwohl Algerien die Menschenrechte offiziell anerkennt, die »Convention on the Right of the Child« 1992 und die »Erklärung von Barcelona« 1995 unterzeichnete, verstößt das Regime täglich dagegen.

Seit dem 20. April 2001, dem 21. Jahrestag des »Berberfrühlings«, finden Demonstrationen in der Kabylei statt, bei denen bislang etwa 600 Menschen – meist Jugendliche – getötet wurden. Die Polizei setzt gezielt scharfe Munition ein.7 Offensichtlich gibt es die Order zum Töten.8 Auf die Frage, warum keine Munition aus Gummi eingesetzt werde, antwortet der Innenminister Yazid Zerhouni lapidar: „Weil wir keine haben!“ Und als wäre dies nicht genug, wird mittels Tränengas die Versorgung der meist Schwerverletzten vorsätzlich verhindert oder zumindest stark behindert.

Die Bevölkerung von Takrietz (Provinz Bejaia) berichtete am 20. Juli 2001, dass ein Offizier die Order gab, „ohne Rücksicht (zu) schießen“, was einen Gendarmen dazu veranlasste, gezielt den 14-jährigen Messalti Hafid zu exekutieren, der gerade auf der Treppe vor seinem Elternhaus stand. Die Bewohner erklärten, sie hätten das Gefühl von einem Fremden kolonialisiert zu sein, der lediglich das Ziel verfolge, sie zu zerstören: Telefon, Gas und Elektrizität werden willkürlich gekappt, das Fernsehen schweigt – insbesondere während der Sendezeit der Nachrichten, Zeitungen wurden seit Beginn der Unruhen nicht mehr geliefert.

Die deutsche Presse schweigt hierzu weitestgehend. Es gibt offensichtlich verschiedene Kategorien von Opfern: Die weltweite Welle der Sympathie und Anteilnahme, die Amerika zur Zeit erfährt, ist den Algeriern niemals entgegengebracht worden.

So lange Algerier Algerier bekämpfen, kann dieses Land nicht zur Ruhe kommen. Vorrangiges Ziel muss also sein, die Berber und deren Sprache ernsthaft anzuerkennen und sie als gleichberechtigte Landsleute zu akzeptieren. Im Oktober forderte deshalb die »World Amazigh Action Coalition« (Weltweite Koalition zum Schutz der Berber) in einer Petition an den Präsidenten von Algerien und die UNO die Autonomie der Kabylei. Wörtlich heißt es darin: „Um eine Wiederholung dieser Massaker zu verhindern, unsere Region unter Schutz zu stellen vor der vom Staat ausgeübten Gewalt, unserer Jugend eine Zukunft in Frieden und Wohlstand zu gerantieren, unsere Sprache, Identität und Kultur zu pflegen… verlangen (wir) für die Kabylei, (…) ein weitgefasstes Autonomiestatut mit der Perspektive eines Bundesstaates.“

Fazit

Der Weg aus der Misere ist schwierig und sicherlich lang, einige Vorraussetzungen scheinen jedoch unabdingbar. Dazu gehören: Trennung von Staat und Religion, wirtschaftliche Konsolidierung über mehr Motivation – damit weniger Schwarzmarkt und Korruption –, mehr Toleranz untereinander und ein größeres Vertrauen der Algerier in sich selbst. Letzteres kann allerdings nur dann erzielt werden, wenn die multiplen algerischen Splittergruppen sich gegenseitig mit Respekt begegnen – und wenn der Westen dies auch tut. Presse, Menschenrechtsorganisationen und NGOs sind hier gefragt. Außerdem bedarf es einer verbesserten Informationslage in den nicht-islamischen Ländern über den Islam, damit das zuweilen sehr verschwommene Bild einem detaillierteren weicht – und damit der Weg für mehr Verständnis geebnet und die weit verbreitete Xenophobie abgebaut werden kann.

Der tunesische Soziologe und Kolonialismusexperte Albert Memmi9 fordert deswegen unnachgiebig: „Europäische Demokraten sollten lauter ihre Solidarität mit den algerischen Demokraten manifestieren und offener ihre Gegner verurteilen. Der Pseudo-Respekt vor jungen Nationen darf nicht jegliche internationale Pflicht vergessen lassen. Die algerische Bevölkerung muss mit allen Mitteln gerettet werden, notfalls gegen ihren Willen.“10

Literatur:

Rachid Boudjedra: Prinzip Hass, Mainz 1993.

Christoph Burgmer: Der Islam, Frankfurt 1998.

Albert Camus: Der erste Mensch. Reinbek 1995.

Norman Daniel: Islam and the West. The Making of an Image. Edinburgh 1960.

Donata Kinzelbach (Hrsg.): Tatort: Algerien, Mainz 1998.

Anmerkungen

1) Vgl. hierzu Rachid Boudjedra: Prinzip Hass. Pamphlet gegen den Fundamentalismus im Maghreb, Mainz 1992.

2) Rachid Boudjedra in einem Interview am 26.6.1995. Das Interview führte Donata Kinzelbach.

3) Vgl. hierzu Verena Klemm: Algerien zwischen Militär und Islamismus. In: Donata Kinzelbach (Hrsg.): Tatort: Algerien, Mainz, 1998.

4) ARD-Tagesthemen, 7.1.1998, s.a. The Observer vom 11.1.1998.

5) Reiner Wandler : Algeriens Militärs kennen die Mörder. In: die tageszeitung, 3.2.1998, S. 3.

6) Verena Klemm, a.a.O., S. 157.

7) Vgl. hierzu : They Shoot with Real Bullets. In: Le Matin Newspaper, April 30, 2001. Siehe auch M.B.: Kabylia: Physicians‘ Testimonials Are Overwhelming: They Shoot to Kill. In: Liberté Newspaper, May 8, 2001.

8) Farid Alilat u. Nadir Benseba: Inquiry into the Events of Kabylia. In: Le Matin Newspaper, May 15, 2001.

9) Der tunesische Jude Albert Memmi (geb. 1920 in Tunis) lehrte als Soziologieprofessor an der Universität von Paris, wo er heute noch lebt und schreibt. Durch eine Vielzahl von Publikationen errang er sowohl auf soziologischem als auch auf belletristischem Gebiet internationalen Ruhm. Neben Frantz Fanon gilt er als der bedeutendste Kolonialismusforscher.

10) Albert Memmi: Für Algerien. Nationalismus und Internationalismus. In: Tatort: Algerien, a.a.O.

Donata Kinzelbach ist Verlegerin von Literatur aus dem Maghreb und freie Journalistin.

Terrorismus, Afghanistankrieg und westliche Feindbilder

Terrorismus, Afghanistankrieg und westliche Feindbilder

von Gert Sommer

Politisches Bewusstsein und Handeln werden stark vom Feind-Freund-Denken beeinflusst, also von den kontrastierenden Bildern, die sich Politiker und die Bevölkerung von politisch relevanten Ereignissen und Akteuren machen. Ausgeprägte Feindbilder sind regelmäßig Begleiterscheinungen von Kriegen sowie wichtige Indikatoren für Vorkrieg, also für die mögliche Eskalation eines Konfliktes hin zu einer gewaltförmigen Auseinandersetzung. Im Folgenden geht unser Autor zunächst auf psychologische Überlegungen zum Feindbildkonzept ein; anschließend untersucht er deren Relevanz am Beispiel Afghanistankrieg und Terrorismus.
Feindbilder sind sozial vermittelte Deutungsmuster (Bilder), starke negative Vorurteile, die sich auf Gruppen, Ethnien, Staaten, Ideologien, Religionen oder Ähnliches beziehen.

Ausgeprägte Feindbilder bestehen üblicherweise aus verschiedenen Komponenten:

  • Der »Feind« wird als gefährlich und (moralisch) minderwertig dargestellt; dazu komplementär wird das individuelle und kollektive Selbstbild positiv erlebt;
  • der »Feind« wird entmenschlicht und mit dem Bösen identifiziert;
  • ihm wird einseitig die Schuld für negative Ereignisse zugeschrieben;
  • es herrscht »Gruppendenken« vor, d.h., die Meinungen in der Eigengruppe sind – bezogen auf den »Feind« und damit zusammenhängende Ereignisse – stark vereinheitlicht, abweichende Meinungen werden sanktioniert.

Da sich bei der Eskalation von Konflikten beide Konfliktparteien üblicherweise zunehmend negativ wahrnehmen und bewerten, ist häufig das Spiegelbild-Phänomen zu beobachten: Beide Seiten werfen sich nahezu identisch Negatives vor und bewerten sich selbst jeweils überaus positiv.

Ausgeprägte Feindbilder haben – neben individuellen – auch eine Reihe von gesellschaftlichen Auswirkungen. Dazu gehören üblicherweise

  • Meinungsmanipulation und Verlust an Demokratie;
  • Stärkung militärischen Denkens und Handelns;
  • Emotionalisierung von Konflikten und damit Legitimation von Aggression bis hin zur Vernichtung des »Feindes«;
  • Vereinfachung von real komplexen Sachverhalten, z.B. internationalen Problemen;
  • Stabilisierung von Herrschaft im Inneren;
  • Missbrauch von Werten.

Welche Bedeutung haben diese psychologischen Überlegungen und Erkenntnisse für das konkrete Beispiel Afghanistankrieg bzw. Terrorismus?

Nach den Flugzeuganschlägen am 11. September 2001 in den USA wurden von der US-Regierung bald bin Laden bzw. mit ihm zusammenhängend Al Qaida und später die Taliban als Hauptschuldige bestimmt. Sie wurden zu zentralen Feinden der USA ernannt. Hier offenbart sich schon ein zentrales Problem: Obwohl die US-Regierung der Öffentlichkeit keine rechtlich verwertbaren Beweise für die Täter, deren Hintermänner bzw. die sie unterstützenden Organisationen oder Staaten vorlegten, erklärten sie »dem Terrorismus« ihren Krieg. Zunächst wurde vorgeblich bin Laden gesucht und anschließend ein Krieg geführt, der zwar »Krieg gegen den Terror« genannt wird, zunächst aber ein Krieg gegen die Taliban und das afghanische Volk ist.

Ist es angemessen, von einem »Feindbild« bin Laden bzw. Taliban zu sprechen? Dies kann nur eingeschränkt geschehen, denn – nach den uns vorliegenden Informationen – herrschen die Taliban äußerst brutal, überziehen Afghanistan mit Terror und unterdrücken insbesondere die Frauen; zudem werden sie für zahlreiche Terroranschläge in verschiedenen Ländern verantwortlich gemacht. Daher können sie auch als reale Feinde bezeichnet werden, z.B. von den unterdrückten afghanischen Frauen.

Trotzdem scheint es mir angemessen, von Feindbild zu sprechen, weil bin Laden von den USA (und anderen) zum zentralen Übel dieser Welt stilisiert wird. Ihm wird jegliche Rationalität abgesprochen. Dadurch werden die zentralen Mechanismen der Abwertung des Feindes bei gleichzeitiger Selbstwerterhöhung aktiviert. Eine komprimierte Zusammenstellung besonders prägnanter Zitate mag dies verdeutlichen. (Es gibt auch etliche besonnene Stellungnahmen, aber das im Folgenden ersichtliche Ausmaß an hoch emotionalen Bewertungen ist doch beeindruckend – zumal es nur einen kleinen Ausschnitt wiedergibt.)

„Der Angriff (vom 11.9.01) trägt (…) alle Züge einer Hass-Attacke“. (FR, 12.9.) „Die Terroristen (…) (hassen die) westliche Zivilisation (…) mit mörderischer Inbrunst (…) Ein vergleichbarer Zivilisationsbruch lässt sich nur an den Namen Hitler, Stalin und Pol Pot festmachen.“(ZEIT, 13.9.) „Das Böse schlechthin, Menschenverachtung und Barbarei haben (…) uns alle angegriffen.“ (CDU/CSU-Fraktionsvorsitzender Friedrich Merz; FR, 13.9.) „Die Terroristen haben uns den Krieg erklärt.“ (Bundeskanzler Schröder; FR, 20.9.) „Der Angriff auf das World Trade Center (…) ist eine Negation unserer Lebensweise und Zivilisation.“ (FR-Kommentar, 20.9.) „(…) selbstmordwillige Wahnsinnige.“ (ZEIT, 8.11.) .„We will hunt down these folks.“ (US-Präsident Bush; ZEIT, 13.9.). „US-Verteidigungsminister Wolfowitz sprach davon, »Staaten zu beseitigen«(ending states), die den Terrorismus fördern.“ (FR, 15.9.)

Diese hoch emotionale negative Bewertung u.a. von bin Laden und den Taliban und die daraus abgeleiteten Handlungen sind insofern erstaunlich, als die Taliban bis vor wenigen Jahren von den USA militärisch und politisch unterstützt wurden und als Stabilisierungsfaktor für Afghanistan vorgesehen waren.

Ergänzend hervorzuheben ist insbesondere das extrem positive Selbstbild, das als Kontrast zum Feind bin Laden bzw. Terrorismus aufgebaut wird. Die Flugzeuganschläge richteten sich gegen höchste Symbole der einzigen Weltmacht USA: gegen die Wirtschaftsmacht (World Trade Center) und gegen die Militärmacht (Pentagon). Aufgrund dieser Symbolik (Wirtschaft und Militär) hätte eine Diskussion um die Wirtschaftspolitik der USA und der anderen führenden Industrienationen sowie der Militärpolitik der USA und z.B. der NATO entstehen können. Diese findet zwar in etlichen gesellschaftlichen Gruppen statt, bislang aber nicht in der herrschenden Politik. Statt dessen wird der Anschlag auf die Symbole der Weltmacht USA uminterpretiert in einen Anschlag auf die Zivilisation und allgemeine menschliche Werte, wie sie – nach üblicher Lesart – besonders von den USA repräsentiert würden.

Komplementär zum Feindbild wird folgendes positive Selbstbild gezeichnet: Die Militäraktion erhielt von den USA zunächst die Bezeichnung »Grenzenlose Gerechtigkeit« und später »Andauernde Freiheit«. Bundeskanzler Schröder bezeichnete die Anschläge in seiner Bundestagsrede als „Kriegserklärung gegen die gesamte Welt“, „Kriegserklärung an die zivilisierte Völkergemeinschaft“ und „Kriegserklärung an die freie Welt“. Bedroht seien „die Prinzipien menschlichen Zusammenlebens in Freiheit und Sicherheit“; gefordert sei die „Solidarität aller, die für Frieden, Freiheit einstehen“ (FR, 13.9.) CDU/CSU-Fraktionsvorsitzender Merz sprach von einem „Angriff auf die Zivilisation, auf die Freiheit und Offenheit unserer Gesellschaften (…) auf die Grundwerte, die das friedliche Zusammenleben der Völker erst möglich (…) machen.“ (FR, 13.9.) „Wenn europäische Regierungschefs die Anschläge einen Angriff auf die westliche Zivilisation nennen, treffen sie den Kern der Sache.“ (FR-Kommentar, 13.9.) „(…) die Terroristen wollten nicht nur Amerika, sondern das Herz einer westlichen Zivilisation treffen.“ (ZEIT, 13.9.)

Bush sieht die Anschläge als Kriegshandlungen an; er sprach von einem „monumentalen Kampf“, den „das Gute gegen das Böse“ zu führen habe. „Der Feind hat nicht nur unsere Bevölkerung, sondern alle freiheitsliebenden Menschen in der Welt angegriffen. Amerika wurde zum Angriffsziel, weil wir in der Welt die strahlendste Fackel der Freiheit (…) sind.“ „(…) Entschlossenheit, für Gerechtigkeit und Frieden einzutreten.“ (FR, 13.9.). „Amerika ist nur das zugespitzte, weil machtvollste Symbol für die Moderne und für das, was wir westliche Zivilisation nennen.“ (Schröder im Bundestag, 11.10.) „Jedes Land (…) muss sich jetzt entscheiden – entweder es steht an unserer Seite oder an der Seite der Terroristen.“ „Das ist der Kampf (…) der Zivilisation. Das ist der Kampf aller, die an Fortschritt und Globalismus glauben, an Toleranz und Freiheit.“ (Bush; FR, 22.9.)

(Westliche) Zivilisation, Freiheit und Frieden waren die am häufigsten genannten positiven Begriffe, sie wurden geradezu als Synonyme für die USA verwendet. Die Militäraktionen der USA erhielten – weit gehend unkritisch – die Bezeichnung »Krieg gegen den Terrorismus«.

Ein solch überaus positives Selbst- bzw. Freundbild, überdies vermittelt in Demokratien mit Pressefreiheit, ist schon bemerkenswert. So hat der Medienbeauftragte der OSZE, Freimut Duve, die Einseitigkeit der Berichterstattung in den USA als „beängstigend“ bezeichnet, „der Journalismus (werde) auf nahe Null reduziert“, präsentiert werde eine „Vereinfachung der Welt, die Simplifizierung in richtig-falsch“ (dpa, 15.11.01).

Es ist hier nicht der Ort für eine kritische Analyse der Politik der USA. Es sei nur daran erinnert, dass die US-Politik häufig mit Militärdiktaturen zusammen arbeitete oder sie gar installierte; dass sie Terrororganisationen wie die UCK in Jugoslawien oder die Taliban in Afghanistan unterstütze, solange es ihnen opportun erschien; dass sie nach wie vor zahlreiche internationale Verträge, die zu Stabilität, zu Frieden und zukunftsfähiger Entwicklung beitragen können, boykottieren (z.B. B-Waffen-Vertrag; Kyoto-Protokoll; Internationaler Strafgerichtshof; Internationaler Pakt für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte). Erinnert sei auch daran, dass es diese westliche »Zivilisation« wenig zu berühren scheint, wenn täglich 100.000 Menschen verhungern, 1,3 Milliarden Menschen unterhalb der absoluten Armutsgrenze leben oder wenn durch die westliche Lebensart das weltweite ökologische Gleichgewicht ernsthaft bedroht wird. Hier werden doppelte Standards deutlich.

Und noch ein Gedankenspiel: Wie hätte wohl die Reaktion der USA und des Westens ausgesehen, wenn ein Anschlag mit vergleichbar schrecklichen menschlichen Opfern nicht in den USA, sondern in Russland, China, Indien oder Afrika geschehen wäre? Wäre dann auch übereinstimmend gefolgert worden, dass „nichts mehr so ist wie es mal war“?

Im Folgenden wird auch das »vereinheitlichte Gruppendenken« deutlich. Bezüglich der Bekämpfung des Terrorismus herrscht in den politisch führenden westlichen Kreisen Übereinstimmung, diesen mit militärischen Mitteln zu bekämpfen. Ein äußerst zweifelhaftes Konzept, schließlich lässt es außer Acht, dass der Zivilbevölkerung weiteres Leid zugefügt wird, dass Terrorismus durch Krieg nicht zu beenden ist, sondern eher noch verstärkt wird. Abweichende Meinungen werden von den Regierenden diskreditiert, z.B. als realitätsfremder Pazifismus, Anti-Amerikanismus, Gefährdung der Bündnistreue, gefährlicher Sonderweg etc. Bundestagsabgeordnete, die nicht mit der Kriegsbeteiligung Deutschlands einverstanden sind, werden stark unter Druck gesetzt bis hin zur Androhung, ihr Bundestagsmandat zu verlieren. Die rechtsstaatlich angemessene Alternative, im Rahmen der Vereinten Nationen konsequent verdächtigte Personen (Gruppen und Organisationen) zu erfassen – möglichst mit polizeilichen Mitteln –, Beweise vorzulegen und ein Verfahren vor einem internationalen Gericht durchzuführen, wird nicht ernsthaft überdacht. Die wichtige Unterscheidung zwischen Verbrechensbekämpfung und Krieg wird nicht vorgenommen.

Deutlich wird dieses »vereinheitlichte Gruppendenken« auch, wenn der Bundeskanzler Deutschlands den USA seine „uneingeschränkte Solidarität“ bekundet. Psychologisch bedeutet dies, dass der Konflikt wesentlich auf die Beziehungsebene transponiert wird (USA als Verbündete und Freunde; Vertrauensfrage im Bundestag) und damit weg von der inhaltlichen Ebene, auf der es intensiv und viel zu streiten gäbe. Damit bleiben im öffentlichen Diskurs zahlreiche Fragen weitestgehend unbeantwortet. Zum Beispiel:

  • Wer führt den Krieg: Die USA? Die Nato? Die »Staatengemeinschaft«?
  • Wer ist der Gegner in diesem Krieg: Bin Laden, die Taliban, Al Qaida? Afghanistan, Irak? Bis zu 60 Staaten, die Terrorismus unterstützt haben sollen?
  • Was sind die Ziele: Terrorbekämpfung? Welcher Terror? Kontrolle der Erdöl- und Erdgasvorkommen in der Kaspischen Region?
  • Was sind die Strategien: Wann und wie soll der Krieg »erfolgreich« beendet werden?
  • Was sind die zentralen Interessen der Bundesregierung: Ist es das so oft betonte mäßigende Einwirken auf die USA oder sind es vielmehr die angestrebte Mitsprache bei der Neuorganisation einer wichtigen Weltregion und die »Normalisierung« der deutschen Politik bis hin zur Möglichkeit militärischer Interventionen zur Durchsetzung eigener Interessen?

Durch das Feindbild werden militärisches Denken und Handeln gefestigt. In vielen kritischen Analysen werden Veränderungen u.a. in der westlichen Wirtschaftspolitik angemahnt. Es ist aber zu befürchten, dass diese notwendigen Schritte ausbleiben oder dass sie zumindest sehr viel zögerlicher vorgenommen werden als die derzeitigen Militäraktionen. Ein Indiz dafür ist z.B. der Bundeshaushalt für 2002, der eine Kürzung der Entwicklungshilfe um 2,2% vorsieht (FR, 17.11.01).

Feindbilder verändern Bewertungen: Des Feindes Feind wird zum eigenen Verbündeten, unabhängig von früheren Einstellungen. So wurde die Militärdiktatur in Pakistan ebenso zum Verbündeten der USA wie die Nordallianz in Afghanistan, die nach Ansicht von Experten kaum positiver zu bewerten ist als die Taliban.

Die Opfer der Anschläge in den USA sind »wertvolle Opfer« im Sinne der Propaganda, dass Krieg gegen den internationalen Terrorismus zu führen sei. Über die zahlreichen afghanischen Opfer aufgrund zunächst der Ankündigung und dann der Durchführung der Bombardierung von Seiten der USA wird erstaunlich wenig berichtet. Hier wird sehr deutlich, wie unterschiedlich mit Flüchtlingen politisch und in den Medien umgegangen wird: Während Flüchtlinge im Kosovo als Begründung für den Jugoslawienkrieg herhalten mussten, werden Flüchtlingsströme in Afghanistan als zwar bedauerliche, aber unvermeidbare Folgen eines gerechten Krieges dargestellt.

Zum Schluss seien einige auffällige Parallelen zwischen dem zweiten Golfkrieg und dem Afghanistankrieg aufgezeigt: Saddam Hussein sowie die Taliban wurden zunächst von den USA u.a. militärisch gestärkt und als strategische Partner angesehen – trotz der bekannten Gräueltaten gegenüber der eigenen Bevölkerung etc.; sie wurden erst dann zu Feinden der USA, als sie gegen direkte US-Interessen verstießen. Noam Chomsky (2001, S. 10) fasste dies kürzlich pointiert so zusammen: „Verbrechen werden (von der US-Regierung) nicht bestraft, nur Ungehorsam“.

In beiden Konflikten spielte der Feindbildaufbau eine entscheidende Rolle um die eigene Politik gegenüber der eigenen Bevölkerung und weltweit zu rechtfertigen. Verdeckt wurde damit, dass es in beiden Kriegen höchst wahrscheinlich primär um wirtschaftliche Interessen ging, um die Kontrolle von Erdöl und Erdgas.

Feindbilder spielen eine entscheidende Rolle bei den derzeitigen politischen Prozessen und Entscheidungen. Sie sind keine Ursachen für Kriege, auch nicht für den Afghanistankrieg. Aber sie sind wesentlicher Teil der psychologischen Kriegsführung. Gerade das Beispiel Afghanistankrieg zeigt, in welch hohem Ausmaß die Vorgaben der US-Regierung das (politische) Denken, Fühlen und Handeln in Deutschland und anderen Ländern bestimmen. Eine Emanzipation von Feindbildern ist dringend erforderlich, damit sich die Menschen mit Nachdruck der Lösung der drängenden Menschheitsprobleme widmen können: der Bekämpfung von Armut, Unterentwicklung und Umweltzerstörung; der Verwirklichung der bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte.

Literatur

Chomsky, N. (2001). War against people – Menschenrechte und Schurkenstaaten. Hamburg, Europa Verlag.

Flohr, A.K. (1991). Feindbilder in der internationalen Politik. Münster, LIT.

Sommer, G., Becker, J.M., Rehbein, K. & Zimmermann, R. (Hrsg.)(1992). Feindbilder im Dienste der Aufrüstung. Marburg, Arbeitskreis Marburger Wissenschaftler für Friedens- und Abrüstungsforschung.

Kempf, W. & Sommer, G. (1991). Feindbilder. Dossier. Informationsdienst Wissenschaft und Frieden, 3/91.

Dr. Gert Sommer ist Professor für Psychologie an der Philipps-Universität Marburg

Die Gewaltspirale wird weiter gedreht

Die Gewaltspirale wird weiter gedreht

von Jürgen Nieth

Die Gewaltspirale wird weitergedreht. Am ersten Dezember-Wochenende starben in Israel erneut zwei Dutzend vor allem junge Menschen in Folge von Selbstmordattentaten gleichfalls junger Palästinenser. Die Bilder von zerrissenen Kindern brachten das Grauen vielleicht noch nachhaltiger in unsere Wohnzimmer als die fast technisch anmutenden Bilder einstürzender Wolkenkratzer. Das Entsetzen ist verständlich und es darf keine Diskussion darüber geben: Die Hintermänner dieser Verbrechen müssen zur Verantwortung gezogen, den Terrororganisationen muss das Handwerk gelegt werden.

Die Frage ist wie? Und kein verantwortlicher Politiker, der in dieser Situation handeln muss, ist zu beneiden. »Überreaktionen« sind in solchen Momenten menschlich, deshalb manchmal auch zu verstehen und zu entschuldigen. Manchmal haben sie aber auch System, entspringen einem elitären Machtdenken und Machtinteressen, die ursächlicher Teil der Gewaltspirale sind.

{li}Präsident Bush nimmt den 11. September zum Anlass, um den Terroristen den »Krieg« zu erklären, ein Krieg von unbestimmter Dauer mit offenen Kriegszielen. Zuerst geht es um die Vernichtung Bin Ladens und von Al Qaida, nachdem hier der Erfolg ausbleibt geraten die Taliban ins Fadenkreuz. Und wer ist der Nächste? Ein offenes Geheimnis, dass ein Teil der Bush-Administration die Gelegenheit zur Endabrechnung mit Saddam Hussein nutzen möchte, auch in Somalia gilt es noch eine alte Scharte auszuwetzen. Der Sudan ist im Gespräch und selbst über Nordkorea wird spekuliert.

Es geht in diesem Krieg nicht nur um den Kampf gegen den Terrorismus, auch nicht nur um Rache, die sowieso kein Bestandteil von Politik sein sollte; die USA demonstrieren ihren Führungsanspruch in einer »Neuen Weltordnung«.

Dieser Machtdemonstration wird alles andere untergeordnet: Da werden notfalls Freund und Feind ausgetauscht, da werden vielkritisierte Diktatoren und Feudalherrscher zu umworbenen Staatsmänner, da wird auf einmal Verständnis gezeigt für Menschenrechtsverletzungen in anderen Regionen. Zerbombte UN- und Rote-Kreuz-Stationen, ungezählte tote und vertriebene Zivilisten, die vielleicht in die Hunderttausende gehende Zahl der Hunger-Toten des nächsten Winters, die Massaker an Gefangenen, das alles wird zu »Kollateralschäden« heruntergespielt.

{li}Ministerpräsident Sharon übernimmt nach dem 1. Dezember nicht nur Bushs Wortwahl. Er spricht vom Krieg gegen den Terrorismus und führt Krieg gegen die Palästinenser. Bereits unmittelbar nach dem 11.9. hatte die israelische Regierung die nachlassende Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit für den Nahost-Konflikt zielgerichtet genutzt, um die Macht der Palästinensischen Autonomiebehörde zu unterminieren. Angesichts der erschütternden Bilder getöteter Kinder eskaliert sie den Militäreinsatz weiter. Für Sharon sind Arafat und die Palästinensische Autonomiebehörde verantwortlich für die Terroranschläge, obwohl sich deren politische Konkurrenz, die Hamas, zu den Verbrechen bekennt. Die Regierung Israels fordert (zu Recht) einen schärferen und konsequenteren Einsatz der palästinensischen Polizei gegen die Hamas, aber wie vereinbart sich das mit der gleichzeitigen Zerstörung der Infrastruktur des palästinensischen Sicherheitsapparates, der Zentrale der Präsidentengarde und der Polizeistationen, dem praktischen Ausgehverbot für palästinensische Polizisten?

Trotz aller Dementis: Der israelische Militäreinsatz gilt nicht nur der Hamas und dem Islamischen Dschihad, er zielt offensichtlich auf die Zerstörung der palästinensischen Autonomie.

Vielleicht gelingt es den amerikanischen Militärs im Bündnis mit der Nordallianz Bin Laden, ein paar Hundert Al Qaida Kämpfer und ein paar Tausend Taliban zu töten. Vielleicht liquidiert das israelische Militär in den nächsten Tagen weitere Hamas-Funktionäre, wird durch das Vorgehen Israels die Palästinensische Autonomiebehörde zerstört oder Arafat weiter entmachtet. Und dann?

Die Fragen nach der Zukunft Afghanistans bleiben – die Kompromisse vom Petersberg mögen bestenfalls eine Atempause bringen. Die Probleme im Nahen Osten werden sich nach dem Bruch der Osloer Verträge weiter zuspitzen. Kaum vorstellbar, dass sich die Palästinenser mit einer Bantustan-Regelung zufrieden geben.

Tausende sind in den letzten Monaten durch Terroraktionen gestorben, Tausende aber auch durch Kriegsterror. Und wenn Präsidenten schon nach Vergeltung schreien, darf man sich nicht wundern über ein entsprechendes Echo der Kriegsgeschädigten.

Vor allem aber bleibt die Frage: Wie reagieren die Menschen im Nahen Osten und im südlichen Asien auf die Machtdemonstration der Militärgroßmächte USA und Israel? Kurzfristig vielleicht mit wegducken, aber auf weite Sicht droht die gegenwärtige Arroganz der Mächtigen den Boden zu bereiten, auf dem neue Kämpfer für Terrororganisationen gedeihen.

Nein, Bush und Sharon werden den Terrorismus nicht mit Kriegen besiegen. Es wäre gut, sie würden – statt mit an der Gewaltspirale zu drehen – aus Oslo lernen: Nie spielte der Terrorismus im Nahen Osten in den letzten Jahrzehnten eine geringere Rolle als nach den damaligen Vereinbarungen.

Jürgen Nieth

Nine-eleven: Staatlicher Terror ist die falsche Antwort

Nine-eleven: Staatlicher Terror ist die falsche Antwort

von Jürgen Nieth

Die letzte Zeile für W&F 4-2001 war geschrieben und an dieser Stelle befand sich ein Editorial zu »China im Umbruch«, als uns die schrecklichen Bilder von den Terrorangriffen auf Manhattan und Washington erreichten. Bilder, die es unmöglich machten, in der »Tagesordnung« fortzufahren. In diesem Augenblick gehört unser erster Gedanke den unschuldigen Opfern, unsere Solidarität den Angehörigen der Toten und den Menschen in den USA.

Ein Tag nach diesem unfassbaren Verbrechen liegt noch vieles im Dunkeln: Niemand kennt die Zahl der Toten und Verletzten, über die Terroristen wird noch spekuliert. Immer wieder fällt der Name Ussama Bin Laden, des Mannes, der sich in den achtziger Jahren in Afghanistan niederließ um gegen die »Rote Armee« zu kämpfen und der damals von der CIA unterstützt wurde. War es seine Terrorgruppe »al Qaida«, die für dieses schrecklichste Attentat aller Zeiten verantwortlich ist? Wenn Sie diese Zeilen lesen, werden zwei Wochen vergangen und wir vielleicht alle etwas klüger sein.

Das betrifft auch die Frage, wie die USA und die westliche Welt auf dieses Verbrechen reagieren. Erste Reaktionen aus den Regierungsetagen machen mich sehr besorgt. Da sind die starken Worte Georg Bushs vom „monumentalen Kampf zwischen Gut und Böse“, dass man nicht mehr unterscheiden will zwischen „den Terroristen ..und jenen (Ländern), die sie beherbergt“ haben. Eine Sorge, die sich auch speist aus den Erfahrungen der letzten Jahre, als z.B. Terrorakte gegen US-Botschaften in Kenia und Tansania mit Bombardements einer Pharmafabrik im Sudan und angeblicher Lager Bin Ladens in Afghanistan beantwortet wurden.

Sorge aber auch um die Situation im inneren unseres Landes, dass bei uns verstärkt Menschen wegen ihrer Religion diskriminiert, wegen ihrer Hautfarbe, ihrer Nationalität völlig ungerechtfertigt mit Terrorismus in Verbindung gebracht werden und Hass erleiden müssen. Sorge, dass auch hier Politiker absichtlich oder unbedacht Öl ins Feuer gießen; dass jetzt auch bei uns nach einer »Politik der Stärke« geschrieen und die Tendenz zur »gläsernen Gesellschaft« vorangetrieben wird.

Um nicht missverstanden zu werden: Ich hoffe aus tiefsten Herzen, dass die Verantwortlichen dieses Massenmordes gefunden und zur Rechenschaft gezogen werden; ich halte es für notwendig, dass im Kampf gegen den Terrorismus die internationale Zusammenarbeit verbessert wird. Ich fände es aber fatal, wenn der Terror extremistischer Gruppen mit staatlichem Terror beantwortet würde, wenn jetzt als »Tätigkeitsnachweis« irgendwo anders in der Welt unschuldige Menschen Opfer von sogenannten Vergeltungsschlägen würden.

So bitter die Erkenntnis auch sein mag, die Anschläge vom 11. September belegen, dass die moderne Welt sich nicht vollständig vor Terrorakten schützen kann. Es waren keine aus »Schurkenstaaten« abgefeuerten atomaren Raketen, gegen die die USA ihr milliardenschweres Raketenprogramm »NMD« planen; es waren keine Chemie- oder Biowaffen, die in so vielen Schreckenszenarien eine Rolle spielen; es war auch kein »Cyberterrorismus«, der immer mal wieder heraufbeschworen wird; es waren offensichtlich nur einfache Messer, die als Waffen eingesetzt wurden.

Wenn aber kein Hundertprozentiger Schutz möglich ist, dann bleibt die Grundsatzfrage, wie den Terrorismus bekämpfen: Mit einer Aufrüstung von Militär und Geheimdiensten oder durch eine Politik, die dem Terror die Massenbasis nimmt?

Ich denke, die Geschichte zeigt, mit Polizei, Geheimdiensten und Militär kann eine Terrorgruppe ausgeschaltet werden, nicht aber der Terrorismus. Wer den Terrorismus dauerhaft bekämpfen will, muss dort Veränderungen anstreben, wo Menschen aus Enttäuschung, Perspektivlosigkeit oder nach erlittener Gewalt zur Rekrutierungsebene für Terroristen werden. Das wird nicht von heute auf morgen möglich sein, denn dafür bedarf es einer grundsätzlichen Kehrtwende in der Politik der Industrienationen:

  • Wir brauchen eine Wirtschaftspolitik, die aufhört mit der Ausbeutung des Südens durch den Norden und einer Verelendung ganzer Regionen entgegenwirkt;
  • Es heißt Abschied nehmen von der »Arroganz der Mächtigen«, hin zu einer Politik des Ausgleichs, die die Interessen der anderen Länder – auch die religiösen und kulturellen – ernst nimmt und nicht länger diskriminiert;
  • Die zivile Konfliktbearbeitung muss stärker in den Mittelpunkt der internationalen Politik gestellt werden. Das beinhaltet auch den Druck auf »Freunde und Verbündete«, wenn diese auf eine Politik der Stärke statt auf die der Vernunft setzen.

Leider scheint die US-Regierung nach wie vor in Schwarz-Weiß zu denken, die Welt in Gut und Böse zu unterteilen (siehe oben). Bleibt zu hoffen, dass wenigstens die europäischen Regierungen mehr Besonnenheit an den Tag legen: Solidarität mit den Betroffenen, alle Hilfe bei der Suche nach Terroristen, ja – aber keine Beteiligung an militärischen Aktionen!

Jürgen Nieth

Verlierer und Gewinner im Geiselpoker

Verlierer und Gewinner im Geiselpoker

von Rainer Werning

Fünfeinhalb Monate – von Ende April bis Mitte September dauerte die Geiselnahme auf der philippinischen Insel Jolo. Doch so grell das Geiseldrama auch medial ausgeleuchtet wurde, so unterbelichtet blieben die wahren Hintergründe, der Krieg der Regierenden gegen die Bevölkerung in dieser Region und das desaströse Verhalten der Krisenstäbe in den Heimatländern der ursprünglich 21 von der ostmalaysischen Ferieninsel Sipadan Entführten. Rainer Werning mit einem Rückblick auf Gewinner und Verlierer des Geiselpokers.
Während Manilas Chefunterhändler Roberto Aventajado wochenlang lavierte und wiederholt die „alsbaldige Freilassung der Geiseln“ suggerierte, setzten die Krisenstäbe in Berlin, Paris und Helsinki auf die Friedfertigkeit und das Verhandlungsgeschick von Präsident Joseph Ejercito Estrada. Beide Rechnungen gingen nicht auf. Stattdessen schraubten die Kidnapper der Abu Sayyaf ihre Lösegeldforderungen in die Höhe, ermuntert durch die Zahlungsbereitschaft malaysischer Geschäftsleute und westlicher Verleger. »Hilfsprojekte« und »Entwicklungsgelder« – angeblich für Orangen, Mango und Kaffeeplantagen – sollten locker gemacht werden, dann, hieß es von offizieller Seite, seien die Kidnapper bereit, „schon am nächsten Tag“ weitere Geiseln freizulassen.

Eine Sprachregelung, die verschleiern sollte, dass die – zumindest zeitweilig vom philippinischen Geheimdienst durchsetzte – Abu Sayyaf-Gang Lösegelder in zweistelliger Millionenhöhe kassierte. Von Anfang an war klar, dass die Kidnapper, je länger ihr aufwendiges »logistisches Unternehmen« dauerte, Bares sehen wollten. In der Vergangenheit war das nicht anders, wollten die Opfer – meist betuchte Geschäftsleute – nicht Kopf und Kragen riskieren. Der einzige Unterschied: Solche Geiselnahmen verliefen jenseits offizieller Kanäle und Publizität und wurden nach Freilassung der Opfer von deren ausgeschickten Häschern ebenso diskret geahndet.

Damit drehte sich die Spirale der Gewalt in einer von Massenarmut geprägten Region, in der die Zentralregierung ihre Präsenz vorrangig durch Uniformierte zeigt und wo geschäftsmäßig betriebener Terrorismus zur (Überlebens-)Strategie der Marginalisierten gehört. Wer, wie die unpolitische Desperadotruppe der Abu Sayyaf, chronisch nichts besitzt und sich als nutzlos empfindet, misst seine Macht am Grad der Zerstörung, die er bewirken kann. Patronengurte, Granatwerfer und Sturmgewehre sind da begehrlicher als das Pflanzen von Orangenbäumchen.

Der für Manilas sogenannte »Flagship Projects« verantwortliche Herr Aventajado prägte das Wort vom »Geiselpoker« und traf damit, ob beabsichtigt oder ungewollt, ins Schwarze. In mehrfacher Hinsicht glich das Geiseldrama einem Poker, bei dem geblufft, unterschiedlich hoch gereizt und eine Menge verspielt wurde. Es gibt mehr Verlierer als Gewinner, wobei auch unter letzteren nicht alle zu beneiden sind.

Mehr Verlierer als Gewinner

Hauptverlierer ist die Zivilbevölkerung auf der südlichen Hauptinsel Mindanao. Während sich alle Augen auf Jolo richteten, führte die Regierung in Manila zeitgleich mit dem sich hinziehenden Geiseldrama Krieg gegen die heute bedeutsamste und stärkste muslimische Widerstands- und Unabhängigkeitsbewegung der Moro Islamischen Befreiungsfront (MILF) unter Führung des an der angesehenen Kairoer Al-Azhar Universität ausgebildeten Hashim Salamat. Seit seinem Amtsantritt vor gut zwei Jahren hat Estrada den »Moro-Separatisten« den »totalen Krieg« erklärt und, politisch verantwortungslos, bewusst die Abu Sayyaf mit der MILF gleichgesetzt. Zum einen sitzt Estrada die Angst im Nacken vor einem »Osttimor« im eigenen Land, zum anderen war seine Popularität in den Keller gesunken.1 Zahlreiche Korruptionsaffären, schlechte Wirtschaftsdaten und Kabalen in seinem Beraterstab ramponierten sein Image. Da besann sich Estrada auf die Taktiken seines einstigen Mentors: Marcos beschwor immer dann die »kommunistische Subversion« und den »MoroSezessionismus« als nationale Gefahr herauf, wenn es darum ging, seine Macht zu sichern.

Nichts anderes tat Estrada. Statt den friedlichen Ausgleich mit den Moros zu suchen, blies er am 5. März zum letzten Gefecht gegen die Hauptbastion der MILF auf Mindanao. In einem als »Top Secret« klassifizierten Papier mit dem Titel »Oplan Mindanao II/Black Rain« (Operationsplan Mindanao II/Schwarzer Regen) wird als oberstes Kriegsziel die Zerstörung des MILF-Hauptquartiers Camp Abubakar (Provinz Maguindanao) genannt. Am 9. Juli wurde das Lager von knapp 40.000 Regierungssoldaten, unterstützt von über 10.000 paramilitärischen Citizen Armed Force Geographical Units (CAFGU), eingenommen, nachdem sich die Verbände der MILF zurückgezogen hatten um zur Guerillataktik zurückzukehren.

Auf den Trümmern zerschossener Häuser hisste Präsident Estrada die Nationalflagge und um seine Soldateska bei Siegeslaune zu halten, ließ er Bier und gebratenes Schweinefleisch herankarren. Kalkulierter Nebeneffekt: Die Orgie beleidigte die religiösen Gefühle der muslimischen Bevölkerung. Hunderte von Zivilisten sind seitdem in Evakuierungszentren verhungert und bei Militärgefechten getötet worden. Sechzig Prozent der insgesamt über 500.000 Bürgerkriegsflüchtlinge sind Kinder, deren Lebensperspektive ebenso leichtfertig verdüstert wurde wie die seit 1994 gehegte Hoffnung, das an natürlichen Ressourcen überaus reiche Mindanao gemeinsam mit Nordsulawesi (Indonesien), dem ostmalaysischen Sabah sowie dem erdölreichen Sultanat Brunei in ein regionales Wachstumsdreieck einzubinden.

Zweiter Verlierer sind all jene säkularen und religiösen Bewegungen, die sich um einen dauerhaften Frieden und den so genannten Tri-People-Approach bemühten – den Ausgleich zwischen Christen, Moslems und Lumad (den indigenen Völkern Mindanaos). Gegenwärtig ist Zentralmindanao die höchstmilitarisierte Zone im Land – wie zu Marcos' Zeiten. Seitdem Estrada Mitte August auch noch Kopfgelder in Höhe von umgerechnet jeweils 250.000 US-Dollar auf die Führungskader der MILF aussetzte, erklärte diese die seit Oktober 1999 laufenden Friedensverhandlungen mit Manila endgültig für gescheitert.

Das Kabinett Estradas sattelt noch drauf: Jetzt will es Zentralmindanao mit Notstandsmaßnahmen regieren und im Rahmen eines kurzfristig aus der Taufe gehobenen Mindanao-Koordinationsrates (dem übrigens kein Politiker aus Mindanao angehört) um in- wie ausländische Wiederaufbauhilfen buhlen. Investoren scheuen jedoch Mindanao; die staatliche Investitionsbehörde (BOI) registrierte im Vergleich zum Vorjahreszeitraum einen Rückgang ausländischer Investitionen um mehr als 80 Prozent. Bereits in Aussicht gestellte Gelder, beispielsweise vier Milliarden Pesos (ca. 100 Mio. Dollar) an offizieller Entwicklungshilfe Japans, sind storniert worden. Somit ist Manila trotz seines militärischen Pyrrhussieges der dritte Verlierer; politisch und diplomatisch verlor es sein Gesicht und muss nunmehr schwere wirtschaftliche Einbußen verkraften.

Vierter Verlierer ist Nur Misuari und die von ihm geführte MNLF. Misuari war Manilas erster Chefunterhändler im Geiseldrama, den die Abu Sayyaf jedoch von Anfang an strikt als »Verräter« ablehnte. Tatsächlich ist Misuari eine schillernde Figur: Er ist Mitbegründer der Ende der sechziger Jahre entstandenen MNLF, war stets darauf erpicht, zum »Arafat der Moros« zu avancieren, schloss im September 1996 endgültig Frieden mit der Regierung und bekam, jetzt voll ins System integriert, im Gegenzug die Posten des Gouverneurs der lediglich vier Provinzen umfassenden Autonomen Region in Muslim Mindanao (ARMM) und des Vorsitzenden des Südphilippinischen Rates für Frieden und Entwicklung (SPCPD), um seit der Eskalation des Bürgerkrieges erneut zur Regierung auf Distanz zu gehen. Nach einer für Manila wenig schmeichelhaften Rede im Vorfeld der 27. Außenministerkonferenz der Organisation der Islamischen Konferenz (OIC), polterte Estrada, man werde eventuell gegen Misuari wegen Verrat und Veruntreuung von Regierungsgeldern ermitteln lassen. Jetzt hat sich Misuari, der eigentlich im nächsten Jahr Senator werden wollte, samt Familie und Tross ins Ausland abgesetzt.

Düpierte Krisenmanager

Fünfter Verlierer sind die ausländischen Krisenstäbe, die anfänglich erfolgversprechende inoffizielle Kanäle, wenn überhaupt, zu spät in Betracht zogen und ohne beziehungsweise nur mit rudimentärer Kenntnis der historischen und aktuellen Lageeinschätzung kostbare Zeit damit verplemperten, die Estrada-Regierung zu hofieren. Besonders grotesk war in diesem Zusammenhang der Vermittlungsversuch des EU-Beauftragten für die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, Javier Solana. Nicht nur wurde die Ankunft des Spaniers an Bord eines Jets der deutschen Luftwaffe durch das zeitgleiche Eintrudeln des früheren libyschen Botschafters in Manila, Rajab Assarouq, »überschattet«. Als knapp 350-jährige Ex-Kolonie Spaniens hatten die Filipinos das historische Pech, allzu lange und zu viele Spanier im Lande gehabt zu haben. Zudem wussten zahlreiche philippinische Medienleute nur zu gut um die Rolle Solanas als NATO-Generalsekretär im Krieg gegen Jugoslawien, als dass sie ihm die Rolle eines ernsthaften Friedensbrokers in Manila abgenommen hätten. Solana fühlte sich mehrfach brüskiert, gar bespöttelt ob der aus Europa mitgeschleppten Decken für die Geiseln in Jolo. Der beharrliche »Kein Kommentar«-Gestus von Bundeskanzler Schröder und Vertretern des Auswärtigen Amtes am Tag der Freilassung von Frau Wallert (17. Juli) tat ein Übriges, um die bis dahin kategorisch bestrittene Zahlung von Lösegeldern noch vehementer anzunehmen. Kurz darauf gaben in Manila Polizeichef Panfilo Lacson und Estradas Executive Secretary Ronaldo Zamora unumwunden zu, dass Lösegelder geflossen seien, und heute pfeifen es die Spatzen von den Dächern.

Schließlich fand sich neben den Geiseln auch das Gros westlicher Medien auf der Verliererseite. Viele ihrer Vertreter, darunter einige als Kriegsberichterstatter über den Kosovo und aus Tschetschenien in die Südphilippinen geeilt, inszenierten ihre Ereignislosigkeit oder schwadronierten über den Gesundheitszustand weißer Geiseln, ohne auch nur mit einem Hinweis der tatsächlich und massenweise traumatisierten Kriegsopfer in Zentralmindanao zu gedenken. Da geriet Recherche zur Reklame für erhöhte Einschaltquoten und Auflagen, wurde Plattitüde zum Programm und verkam vordergründige Anteilnahme zu hinterhältigem »Big Brother«-Voyeurismus.

Pluspunkte für Libyen

Ein Gewinner ist Libyen, dessen Emissär Rajab Assarouq Pluspunkte sammeln und sein Land wenigstens teilweise vom Makel eines »Schurkenstaates« befreien konnte. Dass die zunächst sechs und am 9. September nochmals vier freigekauften westlichen Geiseln an Bord eines eigens in die Philippinen geschickten libyschen Jets ausgerechnet in Tripolis Zwischenstation machten, um erst nach einer zeremoniellen Danksagung von dort aus in ihre Heimatländer zu fliegen, war für Staatschef Muammar al-Ghadafi ein Selbstgeschenk zum 31. Jahrestag der Revolution. Mittlerweile lobte selbst der stellvertretende Missionschef der US-amerikanischen Botschaft in Manila, Michael Malinowski, ausdrücklich Libyens Engagement auf Jolo.

Libyen spielte schon deshalb eine gewichtige Rolle, weil es Pate beim ersten Abkommen zwischen Manila und der MNLF gestanden hatte. Das am 23. Dezember 1976 in der libyschen Hauptstadt Tripolis unterzeichnete Abkommen war insofern bedeutsam, als darin die MNLF erstmalig von ihrer maximalistischen Forderung, der Schaffung eines unabhängigen Staates, Abschied nahm und sich stattdessen mit dem Autonomiestatus im Rahmen der territorialen Integrität und nationalen Souveränität der Republik der Philippinen begnügte. Die OIC und Libyens Regierung haben mit Blick auf befürchtete zentrifugale Tendenzen im eigenen Lager nie die Unabhängigkeitsbestrebungen der Moros, wohl aber deren kulturelle und wirtschaftspolitische Anliegen unterstützt.

Gewinner und Verlierer zugleich ist die Abu Sayyaf. Sie hat mit Hilfe eines Teils des Staatsapparates und durch zivile Unterstützung bewiesen, dass sie als Subunternehmer staatlichen Terrors »wirtschaftlich« überaus erfolgreich agierte. Es verwunderte nicht, wenn sich schon bald herausstellte, dass am »Geiselbusiness« regionale Politiker – vor allem Provinzgouverneur Abdusakur Tan – und Militärs/Polizisten nicht schlecht verdienten. Die Hinhaltetaktiken in der Endphase des Geiseldramas hatten mit Sicherheitsgarantien für die Kidnapping-Bosse, der Höhe des Lösegeldes und Aufteilung der Beute zu tun.2

Aufreibende Beuteteilung

Für die Estrada-Regierung war die Abu Sayyaf vorzüglich zu instrumentalisieren, diskreditierte sie doch die gesamte Moro-Unabhängigkeitsbewegung vor den Augen der Weltöffentlichkeit. Hatte damit der Mohr seine Pflicht und Schuldigkeit getan, mochte er nunmehr von der Bühne abtreten? War ein Militärschlag jetzt unausweichlich? In Manila selbst war man geteilter Meinung: Im Senat überwogen die Gegner, im Abgeordnetenhaus hingegen die Befürworter einer militärischen Lösung des Problems. Bereits vor Beginn der militärischen Großoffensive auf Jolo am 16. September (genau eine Woche nach Freilassung der letzten westlichen Sipadan-Geiseln) war abzusehen, dass letztlich die Strategie des »lutong makaw« – wörtlich: vorgekocht – oder die Chopsuey-Diplomatie zum Zuge kommen würde. Demnach war ein abgekartetes Spiel zu erwarten, wobei jede Partei etwas abbekommt: Angesichts der fraktionierten Sicherheitskräfte praktizierte ein Teil von ihnen großräumige »search & destroy«-Aktionen und riegelte die Insel von der Außenwelt ab, um zu demonstrieren, dass man Terroristen nicht ungeschoren davonkommen lässt. Doch da bekanntlich Blut dicker als Wasser ist und zwischen den Kidnappern und anderen Militärverbänden enge, mitunter verwandtschaftliche Bande bestehen, ging von dieser Seite für die Spitzen der Abu Sayyaf keine ernsthafte Gefahr aus. Das erklärt auch, warum sich die meisten von ihnen schnell und unbehelligt auf benachbarte Inseln (Basilan und Tawi-Tawi) absetzen konnten. Die lokalen politischen und wirtschaftlichen Eliten haben gewiss mit klammheimlicher Bewunderung das »Akquirieren« beträchtlicher Beutegelder konstatiert. Schließlich operierten die Kidnapper in einem Gebiet, das eigentlich ihre Domäne ist. Leidtragende war auch hier die Zivilbevölkerung, die seit Mitte September nunmehr eine Geisel des Staatsterrorismus wurde. Projektpartner und Beobachter vor Ort sprechen unumwunden von einer Invasion Jolos, wie dies auf dem Höhepunkt des Bürgerkrieges (Mitte der 70er Jahre) schon einmal geschehen ist.

Das Phänomen Abu Sayyaf läst sich angesichts dieser Entwicklung nur unter zwei Bedingungen als gebändigter Geist in die Flasche zurückbannen. Die weiche Variante: Die Bevölkerung erfährt tatsächlich eine spürbare Verbesserung ihrer Lebenssituation. Die harte Variante: Das im Sommer 1999 zwischen Manila und Washington ausgehandelte Visiting Forces Agreement (VFA) wird realisiert. Das VFA gestattet es US-amerikanischen Streitkräften unter anderem, sämtliche Häfen auf dem Archipel anzulaufen und dort auf unbestimmte Zeit zu verweilen. Nach der endgültigen Übergabe der Panama-Kanalzone an Panama ist Jolo von den USA als eine Alternative avisiert, für Counterinsurgency-Trainingsprogramme unter Dschungelbedingungen.

Anmerkungen

1) Seit Mitte Oktober wächst wegen erneuter Korruptionsvorwürfe der innenpolitische Druck auf Estrada, gegen den ein Amtsenthebungsverfahren (impeachment) im philippinischen Abgeordnetenhaus im Gange ist.

2) Inzwischen mehren sich auch die Indizien für eine Lösegeldzahlung – zumindest im Falle von Frau Wallert – seitens der Bundesregierung – siehe: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21.10.00, S. 1/2. In demselben Beitrag heißt es ferner, Manilas Chefunterhändler Aventajado habe mit dem Hochschrauben der Lösegeldsumme die Verhandlungen mit den Kidnappern hinausgezögert, gar gefährdet und einen beträchtlichen Teil davon schließlich unter sich und politische Freunde aufgeteilt.

Dr. Rainer Werning, Politikwissenschaftler und (Süd-)Ostasienexperte, ist Geschäftsführer der schwerpunktmäßig in den Südphilippinen engagierten Stiftung für Kinder (Freiburg i.Br.) und Vizepräsident des International Forum for Child Welfare (Genf/Brüssel).

Mediengestammel anlässlich eines Geiseldramas

Mediengestammel anlässlich eines Geiseldramas

Abu Sayyaf als Subunternehmer staatlichen Terrors

von Rainer Werning

So viel hochdotierte und zelebrierte Konfusion war selten, wie während der bewegten und bewegenden Tage des Geiseldramas auf der südphilippinischen Insel Jolo. Doch kaum ein Vertreter der mit modernstem technischen Gerät ausgestatteten, omnipräsenten und häufig live geschalteten Medienschar fühlte sich bemüßigt, den interessierten ZuschauerInnen das eigentlich nahe Liegende auch nur ansatzweise zu erklären: Wieso gelingt es ein paar geiselnehmenden Desperados immer wieder, mit einem Großaufgebot von bis zu 5.000 philippinischen Militärs Katz und Maus zu spielen und gebetene sowie ungebetene Vermittler mühelos auflaufen zu lassen? Wer und was steckt hinter Abu Sayyaf?

Der Medientross gefiel sich darin, Statements und Infohäppchen zu paraphrasieren, die ihm aus zivilen und militärischen Regierungsstellen in Manila und vom SouthCom, dem in Zamboanga beheimateten und für die Region zuständigen Südkommando, gesteckt wurden. Einige der vor Ort anwesenden JournalistInnen waren zuvor im Kosovo und in Tschetschenien und lechzten offensichtlich nach spektakulären Bildern, zu denen ihnen, so sie diese schließlich von philippinischen KollegInnen zugespielt bekamen, meistens nur Spruchblasen einfielen. Bevor auch nur Genaues über den Tathergang bekannt war, waren bereits die Täter ausgemacht und lief die Feindbildprojektion auf Hochttouren. „Islamistische Terroristen“, „Moro-Sezessionisten“ und „moslemische Rebellen“ seien dafür verantwortlich. Hartmut Idzko sprach am 25. April in der 20-Uhr-Tagesschau vom „Rebellenführer Abu Sayyaf“, was so präzise ist, als begrüßte im Gegenzug ein Moro den guten Korrespondenten mit »Hartmut Tagesschau«. Schließlich ist Abu Sayyaf der Name der Organisation, als ihr Chef gilt Khaddafy Janjalani. Unzählige Male wurde aber in den westlichen Medien der Vorsitzende der Moro Islamischen Befreiungsfront (MILF), Hashim Salamat, als Abu Sayyaf-Chef ausgegeben. Der Geheimdienstgeneral José Calimlim wird sich ob seiner famos geglückten Desinformation mächtig gefreut haben. Salamat, den Vorsitzenden der heute bedeutsamsten und größten Moro-Widerstandsbewegung, in einen Topf mit Abu Sayyaf zu werfen, ist nicht nur gefährlicher Unfug – das hat Methode. Schließlich hat Präsident Joseph Estrada höchstpersönlich mehrfach öffentlich den „Moro-Rebellen den totalen Krieg“ erklärt und ihnen Anfang Mai unterschiedslos mit ihrer „Pulverisierung“ gedroht.

Günter Ederer, von 1985 bis 1990 ZDF-Korrespondent in Ostasien, gelang in einem Beitrag für Die Welt (4. Mai) ein nachgerade müheloser Rückfall hinter Karl May. Darin heißt es u.a.: (…) fasziniert mich am meisten, wie der wilde und unzivilisierte Stamm der Tausugs (…) es geschafft hat, seine Räuberei und Piraterie international als islamischen Aufstand hoffähig zu machen. (…) Die Stunde von Nur Misuari schlug unter Präsident Ramos. Die Pfründe wurden neu verteilt. Seine bewaffneten Krieger übernahmen die Rolle der Ordnungsmacht und seit er im Palast der autonomen Verwaltung in Zamboanga Platz nehmen durfte, sitzt er an den Einnahmequellen. Prompt entstand eine neue »Befreiungsarmee«, die Abu Sayyaf.„ Da verschränken sich rassistische Versatzstücke mit purem Unsinn. Die autonome Verwaltung, die Herr Ederer meint, ist die »Autonomous Region of Moslem Mindanao« (ARMM), deren Gouverneur Misuari ist, die aber ihren Sitz in Cotabato City (Maguindanao) hat. Seinen Frieden schloss Misuari mit Ex-Präsident und Ex-General Fidel V. Ramos am 2. September 1996. Demnach ist laut Ederer das Geburtsdatum der Abu Sayyaf nicht vor September 1996 festzumachen. Da muss er, dessen Beitrag mit einem postkolonialem Charme ausstrahlenden Privatfoto (zusammen mit waschechten Piraten) versehen wurde, fast ein Jahrzehnt dieser trüben Truppe übersehen oder vergessen haben.

Ähnliche »Qualität« im Kölner Stadt-Anzeiger (8.5.), der in völliger Verkehrung der Realität seinen Philippinen-Beitrag mit „Moslems führen gegen Manila Krieg“ betitelte! Sympathischer wirkten da schon zwei Beiträge von Tilmann Bünz und Uwe Kröger. Erstgenannter meldete sich am 8. Mai in der Nachmittagsausgabe der Tagesschau zu Wort, um als Neuigkeit das Ende der Vermittlerrolle des philippinischen Chefunterhändlers Nur Misuaris zu verkünden – was zu dem Zeitpunkt überhaupt nicht stimmte! Sein Resümee: Die ganze Lage sei verwirrend und chaotisch, man blicke kaum noch durch. Einen Tag später (9. Mai) meldete sich sein ZDF-Kollege Kröger im heute journal mit einem Feature aus Basilan, jener Insel, auf der Abu Sayyaf eine ganze Schulklasse als Geiseln genommen und der Provinzgouverneur Wahab Akbar im Gegenzug Verwandte und Freunde des Abu Sayyaf-Chefs Khaddafy Janjalani gekidnappt hatte. Dort sprach er wenigstens mit Kindern dieser Schulklasse, denen die Flucht geglückt war und ließ sie selbst zu Wort kommen.

Im Zeitalter schneller Bilder und rasanter Globalisierung gerät offensichtlich die seriöse Recherche immer stärker unter den Hammer. Unter dem Zwang, in höchstens drei Minuten Substanzielles zu sagen, wird Plattitüde zum Programm.

Metamorphosen des Terrors

Abu Sayyaf (wörtlich: »Vater des Schwertes« oder »Vater des Scharfrichters«) ist ein komplexes Phänomen, das überdies einige Metamorphosen erlebte. Ihre Ursprünge reichen zurück in die Ära der Marcos-Nachfolgerin Präsidentin Corazon Aquino, mit der der Gründungsvorsitzende der Moro Nationalen Befreiungsfront (MNLF) und langjährig im libyschen Exil weilende Nur Misuari 1986/87 Friedensgespräche führte. Sie scheiterten auf der ganzen Linie und führten vor allem auf der Insel Basilan – später auch auf Jolo und Tawi-Tawi – zur Desillusionierung einstiger Weggefährten. Misuari war dieser Gruppe von Ex-MNLF-Kämpfern suspekt geworden und hatte seine Führungsrolle verspielt. Als neue Leitbilder galten fortan Ayatollah Khomeini (Riesenposter von ihm prangten in Dschungelcamps, vermittelt von iranischen Missionaren) und die hauptsächlich von Pakistan aus operierenden Widerstandskämpfer gegen das Kabuler Regime und die sowjetischen Besatzertruppen. Einige Abu Sayyaf-Mitglieder erhielten dort ebenso eine militärische Ausbildung wie später unter den Taliban-Milizen.

Zu Beginn der 90er-Jahre kam eine neue Komponente ins Spiel, die für das philippinische Militär und den Geheimdienst des Landes wenig schmeichelhaft ist. Ich beschränke mich hier auf den Fall von Edwin Angeles. Dieser, ein Agent der Sicherheitskräfte, trat zu der Zeit zum Islam über, avancierte alsbald zu einem der Feldkommandeure von Abu Sayyaf und war für mehrere deren Militäroperationen verantwortlich. 1995 kehrte Angeles der Abu Sayyaf den Rücken, tauchte unter, um im Januar 1999 von Sicherheitskräften erschossen aufgefunden zu werden. Einen Monat zuvor hatte es den Gründer von Abu Sayyaf, Abdurajak Abubakar Janjalani erwischt, der während eines Feuergefechts mit Armeeeinheiten ums Leben kam. Seitdem hat sein Bruder Khaddafy Janjalani die Führung der zirka 800 Mann starken, militaristischen Gruppe übernommen, deren Mitglieder überwiegend auf Yakan rekrutiert wurden. Auch er eine schillernde Person: Khaddafy diente einst in der Philippinischen Nationalpolizei (PNP) und stand zeitweilig unter Aufsicht der Streitkräfte (AFP) in Manilas Camp Crame. Bis heute bleibt unklar, ob er auf freien Fuß gesetzt wurde, entfliehen konnte oder in bestimmter Mission tätig ist. Jedenfalls gehörten Kidnapping (zumeist reicher Geschäftsleute), Lösegelderpressungen und Terroranschläge gegen zivile Einrichtungen zum Repertoire dieser Gruppe. Die aus diesem »Business« erzielte Beute, auch das gilt es im Detail zu klären, kam nach Einschätzungen zuverlässiger Quellen vor Ort teilweise lokalen und regionalen Politikern und Militärs direkt oder indirekt zugute. Diese revanchierten sich, indem kaum eine Aufklärung – von einer rechtskräftigen Verurteilung ganz zu schweigen – spektakulärer Abu Sayyaf-Aktionen stattfand. Bei ihrem Angriff auf den Ort Ipil starben 1995 über 50 Menschen und vor Weihnachten 1998 machten sie durch Granatenanschläge gegen Kirchen und ein Einkaufszentrum in Zamboanga City von sich reden, bei denen 60 Personen zum Teil schwer verletzt wurden.

Am 8. Mai hielt Senator Aquilino Pimentel in seinem und im Namen der anderen beiden aus Mindanao stammenden Senatoren Teofisto F. Guingona und Robert Z. Barbers im philippinischen Senat eine bemerkenswerte Rede. Erstens handelte es sich um eine parteiübergreifende Stellungnahme. Zweitens attackierte sie scharf die neuerliche Entfesselung des Krieges in Zentralmindanao, der bis zum 10. Mai bereits 160.000 Menschen zu Vertriebenen machte und Hunderte von Toten forderte. Schließlich enthielt sie Pikantes zur Abu Sayyaf. In dieser mit »Stop Hostilities for the People`s Sake« betitelten Stellungnahme heißt es beispielsweise: „(…) Die MILF und Abu Sayyaf ständig zusammenzuwürfeln, als handele es sich um ein und denselben Hund mit unterschiedlichen Halsbänden, ist unstatthaft. Die MILF hat eine politische Agenda. Die Abu Sayyaf ist eine durch und durch kriminelle Vereinigung. Die MILF kämpft dafür, die eigene Kultur, Religion und Identität zu wahren. Abu Sayyaf kämpft hingegen, um ihre Verbrechen in ein Business zu verwandeln, von dem einzig diese Gruppe profitiert. Abu Sayyaf-Kämpfer wurden ursprünglich als freiwillige Moujahedeen rekrutiert, um im amerikanischen Stellvertreter-Krieg in Afghanistan in den frühen 90er Jahren zu dienen. (…) Finanzielle und logistische Unterstützung erhielt Abu Sayyaf von US-Undercover Agents – mit eventueller Verbindung zur CIA. Osama Bin Laden könnte dabei den Hauptkurier gespielt haben, was entweder die finanzielle Unterstützung oder Waffenlieferung an Abu Sayyaf oder gar beides betrifft.“ Sollte sich dies bewahrheiten, hieße das Fazit: Widerstandskämpfer werden von einflussreichen politischen Kräften zuerst kreiert und politisch instrumentalisiert, um im Bedarfsfall zu Terroristen abgestempelt und in den Orkus verbannt zu werden.

Misuaris zum Scheitern verurteilte Mission

Die Entwicklungen lassen vermuten, dass es »Koordinationsschwierigkeiten« und Kompetenzgerangel zwischen zentralen und regionalen/lokalen Instanzen gibt – sozusagen ein Zentrum-Peripherie-Konflikt auf anderer Ebene. Im Vorfeld der seit 1993 hauptsächlich in Indonesien geführten Gesprächsrunden zwischen der MNLF und der Ramos-Regierung, die am 2. September 1996 zur Unterzeichnung des endgültigen Friedensvertrages führten, war Abu Sayyaf ein wesentliches Destabilisierungselement, von sämtlichen reaktionären Kräften als eine Art Subunternehmen instrumentalisiert, um Chaos und interreligiöse Konflikte gezielt zu schüren und Misuaris »Kapitulation« (Hashim Salamat) zu beschleunigen. Ein halbes Jahr vor Unterzeichnung des Friedensabkommens, im März 1996, hatte Misuari in einem langen Gespräch mit dem Autoren in Jolo noch die Hoffnung gehegt, ein »Arafat der Moros« zu werden. Ein fataler Trugschluss: Sein Schulterschluss mit dem Korea- und Vietnamkriegsveteranen und an US-amerikanischen Militärakademien in PsyOp (psychologische Kriegsführung) geschulten Ramos ließ ihn schrittweise und unaufhaltsam zur Fußnote (einige seiner Weggefährten setzen das Adjektiv »lächerlich« hinzu) des Moro-Widerstandes herabsinken. Der Friede blieb brüchig und die Performance des als ARMM-Gouverneur vollständig ins System integrierten Misuari grotesk. Kein Wunder, dass Manila nunmehr alles daran setzt, die bereits 1978 von der MNLF abgespaltene MILF als Pfahl im Fleisch zu betrachten und sie, die nach wie vor für Unabhängigkeit einsteht, zu »befrieden«. Und gleichsam ist es nicht erstaunlich, dass Misuari als Vermittler im Geiseldrama von Anfang an strikt abgelehnt und selbst unter seinen Tausug-Gefolgsleuten als »parenta« eingestuft wurde. Was frei übersetzt so viel bedeutet wie »Der hat denselben Stallgeruch wie die Regierung«. Die allererste Forderung der Geiselnehmer war denn auch die sofortige Absetzung Misuaris als Chefunterhändler – ein Zeichen dafür, dass zentralen Vermittlungsinstanzen weniger Gewicht als regionalen/lokalen zukommt.

Es sind zu Misuari auf Distanz gegangene Ex-MNLFler, die direkt oder indirekt mit Abu Sayyaf kooperieren. Damit aber kommt nolens volens die Staatsmacht auf peripherer Ebene ins Spiel. Das am 2. September 1996 zwischen der MNLF und Manila geschlossene Friedensabkommen sieht als einen wesentlichen Bestandteil die Integration 7.500 früherer MNLF-Kämpfer in die Streitkräfte (AFP) und Nationalpolizei (PNP) vor. Dieser Prozess ist noch nicht ganz abgeschlossen. Doch die bereits Integrierten pflegen enge Kontakte zu ihren Weggefährten, einschließlich der Abu Sayyaf – wichtiger noch: Sie sind oftmals verwandtschaftlich mit ihnen verbunden. Bekanntlich ist Blut dicker als Wasser. Da saßen denn Burschen, die Kidnapping als Einkommen schaffende Maßnahme betrachten, in mehreren Barangays (Barrios) von Talipao und Patikul mit ihren Geiseln und ließen andere Segmente/Fraktionen des Militärs im Dunkeln tappen. Talipao und Patikul aber sind seit langem einige der zahlreichen Domänen der MNLF, die sich von Misuari verschaukelt fühlen, da dieser sie nach September 1996 wie eine heiße Kartoffel fallen ließ.

Als Hauptverantwortlicher der Geiselnahme gilt Galib Andang alias Kommandeur Robot. Andang ist ein notorischer Krimineller, der seit längerem im Sulu-Archipel sein Unwesen treibt und als Drahtzieher in mehreren Erpressungs- und Kidnapping-Fällen gilt. Was Misuaris Verhandlungsrolle und die der wegen ihrer Nähe zu ihm ebenfalls scheiternden Unterhändler erschwert(e) ist die Tatsache, dass hinter Andang mit Mujib Agga Susukan, Said Suaib und Abu Pula Jumdail drei Kommandeure stehen, die alte Rechnungen mit Misuari, mithin also mit dem Staatsapparat, zu begleichen haben. Der Vater von Mujib beispielsweise, ein alter Kampfgefährte Misuaris und MNLF-Provinzkommandeur, kam vor einigen Jahren in einem Feuergefecht mit Regierungstruppen ums Leben. Und Mujib selbst, der Misuari nach der Unterzeichnung des Friedensabkommens 1996 um politische und finanzielle Unterstützung bat, fühlte sich maßlos brüskiert, als dieser ihn einfach links liegen ließ.

Ablenkung vom Krieg in Zentralmindanao

Der von den westlichen Medien anfänglich so hoch geschätzte Friedensmakler Misuari blockierte letztlich eine sensible und diskrete Verhandlung mit unkonventionellen Mitteln. Das heißt, die Kanäle waren blockiert für solche Avancen, die jenseits des Scheinwerferlichts hätten genutzt werden können, aber aufgrund der auf eine Kriegslogik eingeschworenen Regierung nicht zum Zuge kamen. So verhandelte Misuari tagelang mit seinem eigenen Schatten. Gleichzeitig aber waren nur wenige erpicht, in diesen Schatten zu treten. So ist denn die Zentralregierung Opfer und Täter zugleich einer Politik, die auf zentraler Ebene aus den Fugen gleitet und regional/lokal tatkräftig den Geiselnehmern zuarbeitet.

Natürlich verdienen die 21 Geiseln Mitgefühl, aber es ist skandalös, wenn nur über die Geiseln und nicht auch über die 160.000 zwangsevakuierten Opfer staatsterroristischer Aktionen in Zentralmindanao informiert wird. Unweit Zamboangas, im Hochland von Maguindanao, den beiden Lanao-Provinzen und selbst in Städten wie Davao und General Santos führt das Militär seit März Großoffensiven gegen die MILF durch und wiegelt von ihr kurzerhand aus dem Boden gestampfte paramilitärische Banden auf, interreligiösen Hass zu säen. Seit Anfang Mai haben Marine- und andere Eliteeinheiten der philippinischen Armee ihren Belagerungsring um das MILF-Hauptquartier Camp Abubakar, in den beiden Lanao-Provinzen und in Maguindanao enger gezogen. Gleichzeitig wurden über 1.000 frisch rekrutierte Paramilitärs, Mitglieder der sogenannten CAFGU (Citizen Armed Forces Geographical Units), zur Unterstützung der Armee in das Gebiet abkommandiert. Gut die Hälfte der Kampfverbände ist somit im Süden des Archipels konzentriert. Der Narciso Ramos Highway, der die Provinzen miteinander verbindet, wurde für den öffentlichen Verkehr gesperrt. Elektrizitätsmasten wurden vielerorts in die Luft gesprengt, Banken ganz oder zeitweilig geschlossen, Flüge zwischen Manila und Cotabato City und General Santos City kurzerhand eingestellt. Willkürliche Verhaftungen nehmen zu und erinnern fatal an die bleiernen Marcos-Jahre. Sollte ein Großangriff auf Camp Abubakar erfolgen, wäre das der Beginn eines neuerlichen offenen Bürgerkrieges! Manilas Regierung scheint die Eskalation der Gewalt billigend in Kauf zu nehmen. Der von zahlreichen Skandalen und Korruptionsaffären lädierte Präsident folgt mit seinen Militärs einer Kampf- und Kriegslogik, die der Ex-Schauspieler früher bevorzugt in Billigproduktionen zelebrierte. Verantwortlich ist letztlich er, den das Auswärtige Amt und die EU (vertreten durch Javier Solana) noch immer hofieren. Das vertrackt die Lage und verheißt wenig Gutes.

Als Geste des guten Willens erklärte die MILF am Abend des 5. Mai eine einseitige Feuerpause, die ab dem 6. Mai morgens in Kraft trat. Die Regierung hat jedoch zum Entsetzen zahlreicher NROs und namhafter Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens – darunter Erzbischof Orlando Quevedo und der rührige Friedensadvokat Fr. Eliseo Mercado aus Cotabato City – diese Geste missachtet. Verteidigungsminister Orlando Mercado und Generalleutnant a.D. Edgardo Batenga, Chefunterhändler Manilas bei den zwischenzeitlich geplatzten Friedensgesprächen mit der MILF, spielten die Ahnungslosen und verschanzten sich hinter der Ausrede, weder der eine noch der andere hätte die Order zur neuerlichen Offensive gegeben. So desolat deren Informationspolitik ist, so draufgängerisch gebärdet sich weiterhin Estrada. Der Mann hat, wenn immer er ausgerechnet den Süden seines Archipels besucht, die Chuzpe, im Kampfanzug zu erscheinen – ein famose Geste gegenüber den Moros. Das wagte nicht einmal die rechte Hand von Marcos und dessen Kriegsrechtsverwalter und Ex-Präsident Ramos. Der General a.D. war wenigstens so sensibel, während seiner Amtszeit stets in Zivil zu erscheinen.

Eigentlich genügend Stoff für qualitative Hintergrundberichte im Umfeld eines Geiseldramas.

Anmerkung

Das vorliegende Manuskript wurde am 10. Mai abgeschlossen.

Dr. Rainer Werning, Geschäftsführer der Stiftung für Kinder (Freiburg i.Br.) und Vizepräsident des International Forum for Child Welfare (Genf/Brüssel), befasst sich seit 1970 u.a. intensiv mit der Mindanao- und Moro-Problematik. Erst kürzlich kehrte er von einer neuerlichen Reise nach Mindanao, Sabah (Ostmalaysia) und Jolo zurück.