Rückblick »nine-eleven«

Rückblick »nine-eleven«

von Jürgen Nieth

Präsident Bush nahm den 11. September zum Anlass, den
Terroristen den Krieg zu erklären, einen Krieg von unbestimmter Dauer,
verbunden mit dem Versprechen, den Terrorismus endgültig zu vernichten. Drei
Jahre später – und nach zwei Kriegen – fällt die Bilanz eher düster aus.

Al Qaida zum 11.9.

Pünktlich zum Jahrestag hat sich der Stellvertreter Bin
Ladens, Aimann al-Sawahiri, per Video-Botschaft zurückgemeldet und die
Niederlage der USA in Afghanistan und im Irak vorausgesagt: Sie haben nur die
Wahl „auszubluten“ oder sich zurückzuziehen und „alles zu verlieren“.
(»Spiegel« 13.09.04, S. 109).

Tatsächlich haben weder die Besatzungstruppen noch die
eingesetzten Regierungen in Kabul und Bagdad das Land unter Kontrolle.

Karzai verhandelt mit dem Teufel

Der Lage in Afghanistan vor den Wahlen nimmt »Der Spiegel«
unter die Lupe (13.09.04, S. 126 ff.) und schildert wie (Ex-)Terroristen und
grausame Despoten im Wahlkampf nach oben gespült werden. „Die US-Amerikaner
jagen … die Hisb-i-Islami Kämpfer als Mitglieder einer terroristischen
Organisation und schicken sie ins US-Gefängnis nach Guantanamo Bay, … (doch
ihr) Spitzenmann Faruki sieht nicht aus wie ein Verlierer. Er steht unter dem
persönlichen Schutz von Präsident Karzai, deshalb werden ihn die Amerikaner
auch nicht verhaften … Um die jetzige Wahl zu gewinnen, verhandelt Karzai
sozusagen mit den Teufeln, selbst mit den Taliban, dort konkret mit Mullah
Omars ehemaligem Außenminister Wakid Ahmed Muttawakil. »Sie sind Söhne dieser
Erde und uns bis auf ein paar wenige hochwillkommen«, bot der Paschtune Karzai
den Koranschülern jüngst bei seinem Besuch in Pakistan an.“

Generäle gegen erweiterten Afghanistan Einsatz

18.000 Soldaten der USA und ihrer Verbündeten stehen derzeit
in Afghanistan. Die Bundeswehr ist in Kabul und in Kundus. Die jetzt von
Verteidigungsminister Struck angeordnete Verlegung von 85 Soldaten nach
Faisabad – zur Wahlsicherung – stößt nach einem Bericht der »Rheinzeitung«
(13.09.04) auf Widerstand bei Generälen: Struck wird vorgeworfen „eine
»Entscheidung ohne Konzept« getroffen zu haben. Die Niederländer, die
ursprünglich mit den Deutschen mitmachen wollten, nahmen wie mehrere andere
Nationen – unter ihnen die Skandinavier und Spanier – »Abstand vom Gang nach
Faisabad«.“ Die Rheinzeitung weist darauf hin, dass die deutschen Soldaten „in
Faisabad keine von der Bundesregierung geförderten zivilen Hilfsprojekte
schützen können … (und) die Soldaten … möglichen Kämpfen der afghanischen
Warlords um die Drogen-Einnahmequellen ausgeliefert (seien). Die Provinz gehört
zu den bedeutendsten Mohnanbaugebieten.“

Über 1.000 tote US-Soldaten

Vom Frieden ist auch der Irak weit entfernt. Seit dem
offiziellen Kriegsende sind dreimal mehr US-Soldaten gefallen als im Krieg. Die
Zahl der getöteten US-Soldaten hat Anfang September die 1.000 überschritten,
mehr als 7.000 Verwundete wurden seit Kriegsbeginn zurückgeholt. Amnesty
international schätzt die Zahl der getöteten Iraker auf über 10.000
(FR.09.09.04). Die US-Soldaten haben weite Teile des Iraks nicht unter
Kontrolle.

Späte Kriegskritik

Der Irakkrieg habe gegen die UN-Charta verstoßen, erklärte
der UN-Generalsekretär, Kofi Annan, im einem Interview der britischen BBC
(15.09.04). Für ihn sei die Invasion der USA und ihrer Verbündeten ein „illegaler
Akt“.

Kritik am Krieg auch US-intern. Die »Frankfurter Rundschau«
(12.09.04) zitiert aus dem Abschlussbericht des US-Untersuchungsausschusses zum
11.09., ein Gremium, dem fünf Republikaner und fünf Demokraten angehörten: „Die
pauschale Feinddefinition »Terrorismus« sei zu »diffus und vage«.“
Die
Bedrohung „besteht nach Ansicht der Kommission nicht nur in möglichen neuen
Anschlägen durch Al Qaeda, sondern auch in der »radikalen ideologischen
Bewegung« hinter dem Terrornetzwerk … (Darauf) habe man noch keine Antwort
gefunden. Vielmehr gewinne diese Bewegung in der islamischen Welt an Kraft,
während die USA an Ansehen verlören.“

Die FR zitiert weiter das US-Magazin »Atlantic Monthly«, das
zahlreiche Terrorismus-Experten befragt hatte und deren Meinung zusammenfasste:
„»Sie neigen dazu Amerikas Reaktion auf den 11.September als Katastrophe zu
sehen« … Statt der ideologischen Herausforderung Al Qaedas etwas
entgegenzusetzen, sei den Terroristen mit dem Irak-Krieg ein Geschenk gemacht
worden. Mit dem Krieg habe sich die (terroristische) Bedrohung der USA erhöht
und gleichzeitig hätten sich die militärischen, finanziellen und diplomatischen
Mittel, darauf zu reagieren, reduziert.“

Weiterhin schlechte Aussichten

Die »New York Times« vom 16.09.04 berichtet unter Berufung
auf US-Regierungsvertreter über ein Papier von Geheimdienstexperten, das der
Bush-Regierung Ende Juli übergeben wurde. Dazu die FR (17.09.04): „Darin
werden drei mögliche Entwicklungen bis Ende 2005 skizziert. Im schlimmsten Fall
drohe ein Bürgerkrieg, im besten Fall entwickle sich ein Staat, dessen
Sicherheitslage und politische wie wirtschaftliche Stabilität stark gefährdet
seien. Die Geheimdienstanalyse ist den Angaben zufolge die erste über den Irak
seit Oktober 2002. »Da steckt eine erheblich Menge Pessimismus drin«, zitiert
die Zeitung einen Regierungsmitarbeiter.“

Über Ursachen des Terrors nachdenken

Befragt nach der Bedeutung der Entwick­lungshilfe angesichts
des Terrorismus, antwortet der Präsident der Weltbank, James Wolfensohn, in der
FAZ (09.09.04): „Ich bin überzeugt, dass man auf keinen Fall die
Entwicklungsfrage verschieben kann, unabhängig davon, ob wir es mit dem
Terrorismus zu tun haben oder nicht. Das Geld, das dafür im Gespräch ist, kommt
nicht annähernd an die 900 Milliarden Dollar heran, die auf der Welt für Verteidigung
ausgegeben werden … Man muss den Menschen schon eine Hoffnung geben. Es ist
schwer, einem jungen Muslim in den Palästinensergebieten, der nie eine Arbeit
gehabt hat, davon zu überzeugen, sich an einen Friedensschluss zu halten … Die
Bekämpfung von Armut allein setzt dem Terrorismus kein Ende. Aber sie beseitigt
Instabilitäten und Kriege in vielen Teilen der Welt.“

UCK – Zur Karriere einer terroristischen Vereinigung

UCK – Zur Karriere einer terroristischen Vereinigung

von Erich Schmidt-Eenboom

Den Nährboden für militante Separatisten im Kosovo schuf die fatale Entscheidung von Slobodan Milosevic, der Provinz im Januar 1989 ihre Autonomie zu rauben und an die Stelle der strukturellen Benachteiligung der kosovo-albanischen Bevölkerung eine massive Repression zu setzen. So bildeten sich zum Anfang der 90er Jahre zunächst regionale Widerstandsgruppen, die jedoch erst mit einem Bekennerschreiben zu einem terroristischen Anschlag im Februar 1996 als UCK die Medienbühne der Weltöffentlichkeit betraten. Zunächst und bis 1997 bestand die UCK nur aus einem schmalen Kern von etwa 2.000 professionellen Kämpfern – darunter etwa 250 ehemalige Offiziere der jugoslawischen Bundesarmee – und den zahlenmäßig dominierenden Dorfmilizen, die aus den traditionellen tribalen Clanstrukturen gebildet wurden.

Die militärische Taktik der Terror-Gruppe bestand von vornherein darin, mit ihren Kernverbänden serbische Polizeistationen und -konvois aus dem Hinterhalt anzugreifen und sich anschließend in die Berge zurückzuziehen, so dass die schlecht bewaffneten Dorfmilizen anschließend den Counter-Guerilla-Operationen der serbischen Sicherheitskräfte hilflos ausgeliefert waren. Bei ihren militärischen »Nadelstichen« gegen Regierungstruppen und Sonderpolizeieinheiten setzte die UCK – inzwischen verstärkt durch islamische Kämpfer aus Afghanistan, Tschetschenien und dem Iran – zunehmend auch auf Angriffe gegen die serbische Minderheit im Kosovo.

Die Amtliche Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 28. Dezember 1996 an das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht spiegelt die Lage und die Ziele der Parteien im Bürgerkrieg zwischen UCK und serbischen Verbänden: „Nach Erkenntnis des Auswärtigen Amts sind die Maßnahmen der Sicherheitskräfte in erster Linie auf die Bekämpfung der UCK gerichtet, die unter Einsatz terroristischer Mittel für die Unabhängigkeit des Kosovo, nach Angaben einiger ihrer Sprecher sogar für die Schaffung eines »Groß-Albanien« kämpft.“ Am Frieden wenig interessiert eskalierte die rapide anwachsende UCK den Bürgerkrieg und kontrollierte im September 1998 40 Prozent des Kosovo. Die jugoslawischen Streitkräfte schlugen zurück und massakrierten dabei vielfach unbewaffnete Zivilisten. Die Drohung mit Luftschlägen führte im Oktober 1998 zu einer Waffenstillstandsvereinbarung, aber die hielt nur bis zum Januar 1999. Die UCK nahm ihre Operationen wieder auf und die jugoslawischen Streitkräfte ermordeten im Gegenzug 45 Zivilisten.

Neun Tage vor Beginn des NATO-Luftkriegs hatte das AA am 15. März 1999 dargelegt: „Wie im Lagebericht von 18.11.1998 ausgeführt, hat die UCK seit dem Teilabzug der (serbischen) Sicherheitskräfte im Oktober 1996 ihre Stellungen wieder eingenommen, so dass sie wieder weite Gebiete im Konfliktgebiet kontrolliert. Auch vor Beginn des Frühjahrs 1999 kam es weiterhin zu Zusammenstößen zwischen UCK und Sicherheitskräften, auch wenn diese bislang nicht die Intensität der Kämpfe vom Frühjahr/Sommer 1996 erreicht haben… Es handelte sich bei den jugoslawischen Gewaltaktionen und Gewaltexzessen seit Februar 1998 um ein selektives gewaltsames Vorgehen gegen die militärische Untergrundbewegung (insbesondere der UCK) und deren Umfeld in deren Operationsgebieten. Ein staatliches Verfolgungsprogramm, das sich auf die gesamte ethnische Gruppe der Albaner bezieht, besteht nach wie vor nicht.“

Die UCK selbst bezifferte im Vorfeld von Rambouillet die Zahl der Toten in dem bis dahin elfmonatigen Kampf im Februar 1999 auf 2.000.

CIA-Chef George Tenet warnte zu dieser Zeit, dass es beim Ausbleiben einer Friedenslösung nach dem Winter zu einer massiven Verschärfung der militärischen Auseinandersetzungen im Kosovo kommen werde, da die UCK inzwischen weit besser ausgebildet und ausgerüstet sei als zuvor. Die Lage sei auch deshalb viel gefährlicher als im Bosnien-Krieg, weil die Kriegsparteien hier nicht erschöpft seien. Dem Armed Services Committee des US-Senats erklärte der CIA-Chef Anfang Februar 1999, Belgrad werde versuchen, die UCK ein- für allemal auszuschalten, während die Rebellen die Fähigkeit gewonnen hätten, den serbischen Streitkräften größere Verluste zuzufügen. Beide Seiten würden voraussichtlich die Zivilbevölkerung angreifen und es würde weit mehr als die 250.000 Flüchtlinge der vergangenen Jahre geben. Hintergrund dieser Warnungen waren u.a. die Hinweise des österreichischen Heeresnachrichtenamtes, das die Operation »Hufeisen« der jugoslawischen Streitkräfte aufgeklärt hatte.

Finanziert wurde die UCK seit Mitte der 90er Jahre durch Millionenbeträge, die sie vor allem von ExilalbanerInnen aus der Schweiz und der Bundesrepublik Deutschland erhielt. Im Sommer 1998 bezifferte der Verantwortliche Ibrahim Kelmendi die Tageseinnahme auf 300.000 DM. Neben den »Spenden« erhielt die UCK auch zwangseingetriebene »Kriegssteuern« und – ausweislich der Ermittlungen von Europol – große Summen aus dem von Albanern kontrollierten Bereich der organisierten Kriminalität. Serbische Schätzungen beziffern die Gesamteinnahmen bis März 1999 auf etwa 900 Millionen DM, der BND spricht von 500 Millionen DM.

Die militärische Stärke der UCK betrug 1997 etwa 15.000 Mann. Durch Rekrutierungen im Ausland, im Kosovo und in Flüchtlingslagern wuchs sie 1998 deutlich an und konnte insbesondere ihren Bestand an »hard core fighters« von 2.000 bis 1999 auf 12.000 steigern. Nach einem Kriegsmonat des NATO-Luftkriegs reklamierte der UCK-Sprecher am 20. April 1999 in der Tageszeitung Die Welt eine Armee von 50.000 bewaffneten Kämpfern sowie weiteren 50.000 Rekruten, die noch bewaffnet und ausgebildet werden müssten. Das Gebiet, das die Untergrundarmee kontrolliere, beherberge 700.000 KosovarInnen. Diese Angaben mögen übertriebene Propaganda sein. Doch während die NATO das Kriegsgeschehen im Kosovo auf die Darstellung einer serbischen Vertreibungs- und Vernichtungskampagne gegenüber einer wehr- und schutzlosen Zivilbevölkerung verkürzt, findet zugleich ein blutiger Bürgerkrieg zwischen UCK und serbischen bewaffneten Kräften statt. Nach jugoslawischen Angaben wurden allein an der Grenze zu Albanien Anfang April 1999 ca. 150 UCK-Kämpfer getötet.

Zur Bewaffnung der kosovarischen Untergrundarmee zählen überwiegend moderne Handfeuerwaffen vom Typ Kalaschnikoff. Darüber hinaus verfügt sie über Gewehrgranaten und wenige panzerbrechende Waffen, beispielsweise über die Panzerfaust Armbrust, die in deutscher Lizenz in Singapur gefertigt wird. Quelle des militärischen Rüstzeugs sind in Albanien seit dem Lotterieaufstand vom März 1997 vagabundierende Waffen deutscher und türkischer Herkunft sowie von NATO-Geheimdiensten unterstützte Waffenkäufe. Die aus dem Ausland aufgebrachten Mittel zur Aufrüstung der UCK sind für die Erstausstattung der Untergrundarmee mit Tarnanzügen, Handfeuerwaffen und Fernmeldemitteln weitgehend verbraucht worden. Seit dem Frühjahr 1999 bemüht sich die UCK auf dem internationalen Waffenmarkt um den Ankauf schwerer Waffen, die ihr ein Vorgehen gegen gepanzerte serbische Einheiten erlaubt. Das bestätigt auch eine dpa-Meldung, nach der die italienische Polizei am 12. April ein umfangreiches Waffenlager ausgehoben hat, „das für die UCK bestimmt war. Etwa 30 Tonnen Kriegsgerät, darunter Luft- und Panzerabwehrraketen, Granatwerfer und Maschinengewehre.“ Die Waffen waren nach derselben Meldung in aus Deutschland stammenden Lastwagen mit bosnischen Kennzeichnen versteckt und als Caritas-Hilfslieferung für Kriegsflüchtlinge in Albanien deklariert. Unklar blieb, wo die LKW die Waffen – unter denen sich über 1.000 aus einem NATO-Arsenal in Deutschland entwendete Granaten befanden – geladen hatten. Trotzdem kann davon ausgegangen werden, dass der UCK von den Waffenhändlern offensichtlich nicht das angeboten wird, was sie sich wünscht. Nachdem in Albanien im Oktober 1998 Majko seinen Kontrahenten Berisha als Regierungschef abgelöst hatte, setzte Tirana alles daran, aus den konkurrierenden und notorisch zerstrittenen Fraktionen des albanischen Widerstandes eine Einheitsfront zu schmieden, die den serbischen Streitkräften durch ihre Geschlossenheit Paroli bieten könnte. Unter den Fittichen der Regierung in Tirana wurde die UCK im Norden des Landes zu einer modernen Streitmacht mit politischer Komponente aufgebaut – assistiert vom albanischen Geheimdienst SIKH und dessen wichtigstem Partner, dem türkischen Militärnachrichtendienst MIT. Ihre höheren Weihen als gleich- oder sogar übergewichtiger Partner neben Rugova am Verhandlungstisch von Rambouillet verdankt die UCK wesentlich dem albanischen Patronat.

Die Frankfurter Rundschau berichtete im September 1998 erstmals über eine Unterstützung des Bundesnachrichtendienstes für die UCK. Die serbische Seite selbst hat in einem ausführlichen Dossier vom 8. März 1999 ihre Sicht der deutschen Unterstützung für die terroristische Vereinigung dargelegt und dieses Papier auch dem deutschen Außenminister Joschka Fischer übermittelt. Die Palette der serbischen Vorwürfe reicht von der „Gastfreundschaft für Separatisten und Terroristen“ – beispielweise für Bujar Bukoshi, den Exil-Ministerpräsidenten, oder für Sali Xhelcaji, den Organisator der militärischen Ausbildung in Albanien – über die Unterstützung bei der Rekrutierung in albanischen Clubs wie »Skanderberg« in Ludwigshafen oder »Emil Duraku« in Düsseldorf bis hin zu illegalen Waffenlieferungen, die von deutschen Nachrichtendiensten gesteuert worden seien. Der BND war seit dem Ende der 80er Jahre sichtlich bemüht, den wachsenden türkischen Einfluss in Tirana auszupendeln und dürfte auch bei der Kooperation mit der UCK maßgeblich von dem Motiv geleitet worden sein, den Einfluss der Türkei auf dem Balkan zu begrenzen.

Die nachrichtendienstliche Hauptrolle in Albanien spielt spätestens mit der Regierungsübernahme durch Majko die Central Intelligence Agency, die die UCK unter ihre Fittiche genommen hat, sie politisch aufwertet und als Reservoir für Agententätigkeiten und die Zielaufklärung im Kosovo einsetzt. Den Beginn der CIA-Aktivitäten zugunsten der UCK datieren Eingeweihte bereits auf das Jahr 1992. Zur Waffenbrüderschaft der NATO mit der UCK zählt seit mindestens März 1999 auch, dass in Zwei-Mann-Teams operierende französische Fernaufklärer sowie die etwa 80 im Kosovo eingesetzten Briten des Special Air Service Scout-Dienste der UCK in Anspruch nehmen, nachdem sich zuvor US-amerikanische und britische Special Forces unter der Tarnung von OSZE-Kontrolleuren im Kosovo bewegt hatten.

Offiziell hat US-Außenministerin Madeleine Albright die an sie herangetragenen Wünsche, der UCK schwere Waffen aus den USA zu liefern, am 13. April 1999 abgelehnt, um das UN-Waffenembargo nicht zu verletzen. Am 22. April 1999 berichtete Newsday, dass die Clinton-Administration ernsthaft die Möglichkeiten zur verdeckten Bewaffnung und Ausbildung der UCK prüfe. Auf Weisung des Nationalen Sicherheitsberaters Sandy Berger hatte die CIA bereits vor Monaten mit der Ausarbeitung von Plänen begonnen, wie die UCK zu einem ernsthaften Gegner der jugoslawischen Armee aufgerüstet werden könne. Das bereits entwickelte Konzept des US-Auslandsnachrichtendienstes war im April 1999 zwischen CIA und Nationalem Sicherheitsrat umstritten und wurde mehrfach überarbeitet. Fraglich war offensichtlich, wer die UCK ausbilden solle und ob sie die geforderten panzerbrechenden Waffen bekäme.

Der US-Senator James A. Traficant hat im April 1999 einen Gesetzesvorschlag, den »Kosova Independence and Justice Act 1999«, unterbreitet, die UCK in einem Umfang von zunächst 25 Mio. Dollar auf zu rüsten und seinen Vorstoß hemdsärmelig damit begründet, die Untergrundarmee bekämpfe schließlich denselben Gegner wie die US-Luftstreitkräfte.

Die französische Regierung hatte vor Beginn der NATO-Luftangriffe davor gewarnt, dass die westliche Allianz mit dem Beginn des Bombardements in die Rolle der schweren Artillerie und der Luftstreitkräfte der UCKschlüpfen würde. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass die UCK als leichte Infanterie der NATO – sei es in einem angelsächsisch geführten Bodenkrieg oder sei es am Boden nur auf sich gestellt – in die Offensive geht. Vordergründig hat dies den militärischen Vorteil, dass die ortskundigen und im Partisanenkampf erfahrenen UCK-Kämpfer dem serbischen Militär schwerere Schäden zufügen können als es die Luftschläge der NATO vermögen. Überdies würde ein hoher Blutzoll bei der UCK als »Kanonenfutter« der NATO in keinem westlichen Land zu innenpolitischen Turbulenzen führen. Diese Option birgt jedoch zwei dramatische Gefahren: Einerseits würde die UCK grausame Rache an den serbischen ZivilistInnen im Kosovo nehmen und die NATO damit zur Unterstützerin neuer Greueltaten machen. Andererseits würde die UCK aus ihrem militärischen Engagement den politischen Anspruch ableiten, bei den Verhandlungen zur Nachkriegsstruktur des Kosovo mit einem Monopolanspruch auf der kosovarischen Seite des Verhandlungstisches zu sitzen.

Für die Nachkriegsordnung auf dem Balkan entsteht dadurch neues Konfliktpotenzial, das sich an mindestens drei Gefahrenpunkten festmachen lässt: Erstens hat der israelische Außenminister Sharon am 7. April 1999 nachdrücklich vor einem Großalbanien als einem Hort des internationalen Terrorismus gewarnt und damit die Parallelen aufgezeigt, die zwischen der CIA-gestützten Schaffung von europäischen Mujaheddin und dem Desaster der US-Politik in Afghanistan bestehen. Auch Phyllis Oakley, stellvertretende US-Ministerin für Geheimdienstangelegenheiten, äußerte im April 1999 die Sorge, die muslimisch dominierte UCK könne ebenso radikalisiert und unkontrollierbar werden wie die heute für zahllose Terrorakte verantwortlichen Glaubenskämpfer, die die USA der Sowjetunion in Afghanistan einst entgegengesetzt hatten.

Zum Zweiten verweist Makedonien aus gutem Grunde darauf, dass der Machtanspruch der UCK und ihres Paten in Tirana auch einen beträchtlichen Teil seines Staatsgebiets in das angestrebte Großalbanien einbezieht. Mit großer Sorge sieht die Regierung in Skopje, wie die UCK in den Flüchtlingslagern rund um Tetovo bereits ihre Fahne aufgepflanzt hat und in welchem Umfang sie unter den makedonischen Albanern Propaganda für den Separatismus entfaltet.

Zum Dritten fürchtet die Regierung in Athen, dass ihr in dem latenten Dauerkonflikt mit dem »Erzfeind« Türkei nunmehr nicht nur die Front in der Ägäis droht, sondern dass Griechenland über ein von der Türkei nachhaltig unterstütztes Großalbanien geostrategisch in die Zange genommen wird. Symptomatisch ist die Gründung einer Schwesterorganisation der UCK im Frühjahr 1999, die sich die »Befreiung« der AlbanerInnen im Nordzipfel Griechenlands auf die Fahne geschrieben hat.

Über die Rolle der UCK

Zwangsrekrutierung

„Die Rekrutierungskommandos der Untergrundarmee UCK erscheinen stets am Abend. Ihre Botschaft… ist stets dieselbe:»Die Heimat braucht uns, wir müssen kämpfen.« Feierlich wird der »Gestellungsbefehl des Generalstabs der Befreiungsarmee« verlesen. Die »Anordnung Nr. 98« vom 31. März gilt für alle wehrfähigen Männer zwischen 18 und 50 Jahren und verpflichtet sie, sich binnen eines Monats als Kämpfer zur »Bewältigung der serbischen Offensive und zur endgültigen Befreiung Kosovos« registrieren zu lassen.“ (Der Spiegel Nr. 15/99, S. 40: Patriotische Pflichten)

Freikaufen erlaubt

Auf die Frage Süddeutschen Zeitung nach Druck bei der Registrierung antwortet der UCK-Auslandssprecher Kicmari: „Die Entscheidung des Generalstabs gilt nur für Freiwillige. Es gibt sogar eine Anordnung, dass diejenigen, die hier arbeiten und bereit sind, der UCK finanziell zu helfen, nicht dorthin zu gehen brauchen.“ Und auf die Zusatzfrage, nach der in Nordalbanien zu sehen war, wie Flüchtlinge aus dem Bus geholt worden sind, um für die UCK zu kämpfen, antwortet derselbe Kicmari: „Ja gut, es kann da ein paar Fälle gegeben haben. Wir sind in einer Kriegssituation, und das kann man nicht anders machen. Da muss die junge Generation kämpfen.“ (SZ, 12.04.99: Die Rekrutierung läuft gut)

Zusammenarbeit UCK-NATO

Bereits zu Beginn des Krieges bestätigte der UCK-Auslandssprecher, dass „es eine Koordination zwischen den Luftangriffen der NATO und der Tätigkeit der UCK“ gibt. (taz, 01.04.99: Die UCK wartet darauf einzugreifen) Zwei Wochen später erklärt der seit neun Jahren in Bochum lebende UCK-Sprecher: „Es gibt ständige Kontakte (zwischen NATO und UCK), es gibt auch Verständnis auf beiden Seiten… Die NATO braucht natürlich die UCK. Sie informiert sie darüber, wo sich die serbischen Einheiten befinden.“

(UCK-Auslandssprecher Sabri Kicmari in der SZ vom 12.04.99: Die Rekrutierung in Deutschland läuft gut)

Erzfeind der USA als UCK-Ausbilder

Osama Bin Laden, Terrorist Nr. 1 in den Augen der US-Regierung, ihm galt im letzten Jahr der US-Raketenangriff auf Afghanistan, hat nach einem Bericht der Washington Times in seinen Lagern UCK-Kämpfer ausgebildet. Die Ausbildungslager lagen dem Bericht zu Folge in Bosnien-Herzegowina und in Afghanistan. (SZ, 05.05.99: UCK-Kämpfer bei Bin Laden ausgebildet)

UCK-Alleinvertretungsanspruch

Es gibt im Kosovo derzeit drei Gruppen, die die Führung übernehmen möchten: den gewählten Präsidenten Ibrahim Rugova und seine Demokratische Liga des Kosovo (LDK), die Exilregierung unter Bujar Bukoshi und die Exilregierung der UCK unter Hashin Thaci. Befragt nach einer möglichen Zusammenarbeit der drei Gruppen erklärt der Deutschland-Vertreter der UCK-Exilregierung, Muje Rugova: „Eine Zusammenarbeit ist unmöglich. Rugova hat acht Jahre lang behauptet, er habe die Unabhängigkeit des Kosovo in der Tasche. Bukoshi sagte, er habe eine Armee. Nichts davon ist wahr… Im übrigen haben Rugova und die LDK mittlerweile die Unterstützung des Volkes verloren… (Rugova hat) uns verraten. Er ist auch keine Geisel der Serben, wie es in den Medien berichtet wurde.“ (taz, 03.05.99: Gemeinsam das Kosovo befreien)

Erich Schmidt-Eenboom ist Vorsitzender des Forschungsinstituts für Friedenspolitik e.V. in Weilheim.

Staatszentriertes Völkerrecht und nicht-staatliche Gewaltakteure

Staatszentriertes Völkerrecht und nicht-staatliche Gewaltakteure

von Hans-Joachim Heintze

Angesichts der immer wieder geäußerten Befürchtung, dass nichtstaatliche Terroristen-Netzwerke Anschläge mit Massenvernichtungswaffen durchführen könnten, stellt sich die Frage, ob die bestehenden Regeln des Völkerrechts für den Antiterrorkampf ausreichen oder ob die neuen Bedrohungen durch nicht-staatliche Akteure auch neue Auslegungen des Rechts erfordern? Die Antworten darauf sind sehr unterschiedlich. Der Autor analysiert im folgenden ob und wieweit die reale Politik der USA mit der Beschlusslage der UN übereinstimmt.

Die USA ließ in ihrer nationalen Sicherheitsstrategie (NSS)1 erstmals 2002 eine Abkehr von der bisherigen Auslegung des völkerrechtlichen Gewaltverbots erkennen, indem sie argumentierte, auch die präventive Selbstverteidigung sei durch Art. 51 der UN-Charta gedeckt. Begründet wurde diese Neuorientierung mit zwei Bedrohungsszenarien: Einerseits seien die USA durch geheim operierende, multinationale und global agierende Terrororganisationen – also nicht-staatliche Akteure – gefährdet, die vermittels Hochtechnologie und Selbstmordattentätern Menschen angreifen und die moderne Infrastruktur zerstören. Andererseits sehen sich die USA durch kriegslüsterne Potentate in »Schurkenstaaten« – also staatliche Akteure – gefährdet, die mit atomaren, chemischen und biologischen Massenvernichtungswaffen agieren und diese zur Durchsetzung radikaler politischer Ziele anwenden würden. Der »worst case« wäre, wenn Terrororganisationen vermittels der »Schurkenstaaten« in den Besitz von Massenvernichtungswaffen kämen.

Die NSS geht weiterhin davon aus, dass gegenüber Terroristen und fanatisierten Staatsführern die herkömmliche Politik der Eindämmung, Abschreckung und Rüstungskontrolle nicht erfolgversprechend sein kann, weshalb vorbeugende militärische Abwehrmaßnahmen zu ergreifen sind. Letztlich wird damit ein Selbstverteidigungsrecht gegen unkalkulierbare Sicherheitsrisiken konstatiert. Je größer das Risikopotenzial, aus dem sich eine echte Bedrohung entwickeln könnte, desto wichtiger werden die in amtlicher amerikanischer Diktion »preemptive measures« genannten vorbeugenden Abwehrmaßnahmen: Einsatz von Kommandotruppen, gezielte Luftschläge oder militärische Invasion bzw. Besetzung eines Landes.2 Der US-Völkerrechtler Glennon bringt die Position folgendermaßen auf den Punkt: „In dieser Phase des Übergangs zu einer neuen Weltordnung gehören die Werkzeuge – wie Napoleon einmal sagte – dem Mann, der sie auch benutzen kann. Gewalt ist ein Mittel, um die nationalen Interessen durchzusetzen.“3

Die NSS wurde 2006 überarbeitet, enthält aber nach wie vor das Konzept der präventiven Selbstverteidigung. Es stimmt bedenklich, dass auch die Europäische Sicherheitsdoktrin das präventive Recht auf Selbstverteidigung nicht ausschließt.4

Art. 51 UN-Charta wie bisher auslegen

Die präventive Selbstverteidigung steht im Widerspruch zum Selbstverteidigungsrecht des Art. 51 UN-Charta. Entsprechend den Tatbestandsvoraussetzungen verlangt die Ausübung des Selbstverteidigungsrechts die Gegenwärtigkeit eines bewaffneten Angriffs. Erforderlich ist zudem eine gewisse Angriffsintensität, d.h. grenzverletzende Truppenbewegungen, Blockaden von Häfen und Küsten oder militärische Luftschläge.5 Liegen solche Angriffe vor, so kann der Angegriffene selbst militärische Gewalt anwenden, um den Angreifer daran zu hindern, seinen Angriff fortzusetzen. Folglich steht einer Militäraktion, die einem gegnerischen Angriff zuvorkommen soll, der Wortlaut des Art. 51 VN-Charta entgegen.

Das bestehende Völkerrecht bietet einen hinreichenden Rahmen, um den aktuellen Herausforderungen durch einerseits von Staaten und andererseits von nichtstaatlichen Akteuren verursachtem Terrorismus gerecht zu werden.

Bereits die UN-Charta verbietet den Terrorismus durch die Verankerung des Gewaltverbots in Art. 2 Abs. 4. Das ergibt sich aus der Interpretation des Gewaltverbots in der »Friendly Relations«-Deklaration [Res. 2625 (XXV) von 1970] der UN-Generalversammlung. Dort heißt es: „Jeder Staat hat die Pflicht zur Unterlassung der Organisation, Anstiftung, Unterstützung von oder Teilnahme an Bürgerkriegshandlungen oder terroristischen Handlungen in einem anderen Staat oder zur Unterlassung der stillschweigenden Duldung organisierter Aktivitäten auf seinem Hoheitsgebiet, die auf die Begehung solcher Handlungen gerichtet sind, wenn die Handlungen, … eine Androhung oder Anwendung von Gewalt umfassen.“ Nach dem in der UN-Charta ebenfalls niedergelegten Grundsatz der Nichteinmischung darf kein Staat „subversive, terroristische oder bewaffnete Aktivitäten, die auf einen gewaltsamen Umsturz des Regimes eines anderen Staates abzielen, organisieren, unterstützen, schüren, finanzieren, anstacheln oder dulden …“6

Diese allgemein akzeptierte Auslegung der UN-Charta bedeutet, dass der von Staaten ausgehende grenzüberschreitende Terrorismus völkerrechtswidrig ist, unabhängig davon, ob er von staatlichen oder nicht-staatlichen Akteuren ausgeht.

Diese klare Rechtsposition wurde wiederholt seitens der UN-Generalversammlung bekräftigt, so insbesondere durch die grundsätzliche »Erklärung über Maßnahmen zur Beseitigung des internationalen Terrorismus« (Res. 49/60 vom 9. Dezember 1994). Hiermit unterstreicht die Weltorganisation das Ziel, den internationalen Terrorismus in allen Ausprägungen zu beseitigen. Dies sei namentlich hinsichtlich solcher Handlungen, an denen Staaten mittelbar oder unmittelbar beteiligt sind, für die Wahrung des Weltfriedens unabdingbar. Festgestellt wird weiterhin, dass alle terroristischen Handlungen, Methoden und Praktiken unmissverständlich als kriminell und nicht zu rechtfertigen einzustufen sind.

Über die grundsätzliche Ächtung des internationalen Terrorismus durch das moderne Völkerrecht kann es somit keinen Zweifel geben.

Gleichwohl gibt es bezüglich des konkreten Inhalts des Terrorismusverbots eine ganze Reihe rechtlicher Grauzonen und offener Fragen, da es keine allgemeinverbindliche Definition des Terrorismus gibt. Bezeichnend ist, dass selbst UN-Experten die Ausarbeitung einer Terrorismusdefinition für ein »too ambitious aim«halten.7 Die Staatengemeinschaft hat sich folglich entschieden, auf eine allgemeine Begriffsbestimmung zu verzichten und die internationalen Anstrengungen auf die Ächtung einzelner Akte des Terrorismus und die Trockenlegung ihrer materiellen Grundlagen zu richten. Je enger allerdings das Geflecht der einzelnen Übereinkünfte wurde, desto mehr näherte man sich auch einer pragmatischen Umschreibung des Terrorismus.

Terrorismusbekämpfung durch internationale Abkommen

Die zahlreichen internationalen Übereinkommen zur Bekämpfung des Terrorismus knüpfen an dem Gedanken der generalpräventiven Wirkung des Strafrechts an und sollen sicherstellen, dass Täter in Grenzbereichen staatlicher Hoheitsausübung der Bestrafung zugeführt werden können. Letztlich wird eine weltweite Strafzuständigkeit nach dem Universalitätsprinzip begründet. Daher folgen die Übereinkommen dem gleichen Grundmuster: die Straftaten werden definiert und die Staaten verpflichtet, die Straftäter entweder angemessen zu bestrafen oder auszuliefern.

Der Terrorismus manifestiert sich stets als kriminelle Gewalt. Dies ist zu unterstreichen, da sich der Terrorismus selbst als politische Gewaltanwendung versteht, die nicht unmittelbar im persönlichen Interesse des Täters liegt, sondern auf die Veränderung der sozialen und politischen Ordnung zielt.8 Als kriminelle Taten müssen terroristische Akte durch die nationale Rechtsordnung geahndet werden. Die einschlägigen völkerrechtlichen Verträge beziehen sich auf die Luft- und Schifffahrt, die Verhütung, Verfolgung und Bestrafung von Straftaten gegen völkerrechtlich geschützte Personen einschließlich Diplomaten, auf die Geiselnahme und auf den physischen Schutz von Kernmaterial.

Das Übereinkommen zur Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus wurde mit der Res. 54/109 (1999) von der Generalversammlung angenommen. Die Vertragsstaaten verpflichten sich, das Sammeln und Bereitstellen von Geldern für terroristische Aktivitäten unter Strafe zu stellen sowie Möglichkeiten zu schaffen, diese Gelder beschlagnahmen und einziehen zu können. Das Vertragswerk geht insofern über andere einschlägige Dokumente hinaus, als ein terroristischer Akt im Sinne des Abkommens definiert wird, nämlich als Handlung, „die den Tod oder eine schwere Körperverletzung einer Zivilperson oder einer anderen Person, die in einem bewaffneten Konflikt nicht aktiv an Feindseligkeiten teilnimmt, herbeiführen soll, wenn diese Handlung auf Grund ihres Wesens oder der Umstände darauf abzielt, eine Bevölkerungsgruppe einzuschüchtern oder eine Regierung oder eine internationale Organisation zu einem Tun oder Unterlassen zu nötigen.“

Weitere Besonderheiten dieses Übereinkommens folgen aus dem Umstand, dass es sich nicht mit einzelnen terroristischen Akten beschäftigt, sondern mit den dahinterstehenden Organisationen und Netzwerken der Terroristen. Damit werden weitere Verbrechenskategorien, die oftmals mit dem Terrorismus in Verbindung stehen, erfasst: Drogen- und Waffenhandel, Geldwäsche sowie Schmuggel von potentiell gefährlichem Material. Das Abkommen bezieht sich somit nicht nur auf die Finanzierung des Terrorismus an sich, sondern auf jegliche materielle Unterstützung.9 Damit können sich Überschneidungen mit anderen völkerrechtlichen Verträgen auftun, insbesondere zur Bekämpfung der grenzüberschreitenden organisierten Kriminalität.10 Es steht außer Zweifel, dass die genannten Abkommen eine hinreichende Rechtsgrundlage für die Abstrafung terroristischer Akte nicht-staatlicher Akteure darstellen.

Terrorismus und der UN-Sicherheitsrat

Terrorakte können eine solche Intensität haben, dass sie eine Bedrohung des internationalen Friedens darstellen und deshalb vor den UN-Sicherheitsrat gebracht werden. Dabei kann es sich um Akte sowohl staatlicher als auch nichtstaatlicher Akteure handeln. So verurteilte der Sicherheitsrat mit der Res. 1160 (1998) unter Kap. VII nicht nur die exzessive Gewaltanwendung der serbischen Polizei gegen Zivilisten im Kosovo, sondern auch „acts of terrorism by the Kosovo Liberation Army“. Er sprach ein Waffenembargo gegen die Bundesrepublik Jugoslawien einschließlich des Kosovo aus. Es folgten die Resolution 1199 und 1203 (beide 1998). Bekanntlich erreichten die nichtmilitärischen Zwangsmaßnahmen im Kosovo ihr Ziel nicht, so dass sich die NATO schließlich – chartawidrig – zum militärischen Eingreifen entschloss. Insofern ist Kosovo ein Misserfolg der UN-Sanktionspolitik.

Dieselbe Einschätzung ist hinsichtlich Afghanistan vorzunehmen. Mit der Situation in diesem Staat sah sich der Rat bereits 1996 konfrontiert, weil der anhaltende Konflikt in diesem Land einen fruchtbaren Boden für den Terrorismus und den Drogenhandel darstelle und so die gesamte Region destabilisiere. Die Führer der verschiedenen afghanischen Kriegsparteien wurden mit der Res. 1076 (1996) aufgefordert, völkerrechtswidrige Aktivitäten einzustellen.

Im Zusammenhang mit den Bombenattentaten von Nairobi und Daressalam vom 7. August 1998 wurde dann in der Res. 1189 (1998) festgestellt, dass sich derartige Akte schädlich auf die internationalen Beziehungen und die Sicherheit der Staaten auswirken. Zugleich zeigte sich der Rat entschlossen, „den internationalen Terrorismus zu beseitigen.“

Sind diese Aussagen noch recht schwammig, so wurden sie infolge der zunehmenden Verwicklung afghanischer Bürgerkriegsparteien in den internationalen Terrorismus eindeutiger. Bereits in der Res. 1214 (1998) verlangte der Rat, „dass die Taliban aufhören, internationalen Terroristen und ihren Organisationen Zuflucht und Ausbildung zu gewähren, und dass alle afghanischen Bürgerkriegsparteien bei den Anstrengungen, angeklagte Terroristen vor Gericht zu stellen, kooperieren.“ Diese Resolution verzichtet allerdings noch darauf, Kapitel VII der Charta zu nennen. Das bedeutet, dass damit noch keine Zwangsmaßnahmen beschlossen wurden. Folglich hatten die US-Angriffe auf Ziele in Afghanistan und Sudan, die als Reaktion auf die Anschläge von Nairobi und Daressalam gedacht waren, keine Rechtsgrundlage, da sie weder vom UN-Sicherheitsrat angeordnet waren, noch als Selbstverteidigungsmaßnahme angesehen werden konnten.11

Das änderte sich mit der Res. 1267 (1999), womit gemäß Kapitel VII ein Luftverkehrs- und Finanzembargo gegen die afghanischen Taliban ausgesprochen wurde. Begründet wurde dies mit der Ausbildung und Beherbergung von Terroristen in Afghanistan, was als Bedrohung des Weltfriedens eingestuft wurde. Mit seiner Res. 1333 (2000) vom 19. Dezember 2000 bekräftigte der Rat diese Position und ergänzte sie insofern, als nun auch die Verweigerung der Auslieferung Osama bin Ladens als eine Bedrohung des internationalen Friedens charakterisiert wurde. Zugleich erfolgte eine Verschärfung der bereits bestehenden Sanktionen durch ein Waffenembargo.

Aus den genannten Resolutionen des Sicherheitsrates ergibt sich, dass terroristische Akte ebenso wie die Ausbildung, Beherbergung und Verweigerung der Auslieferung von Terroristen bereits vor dem 11. September 2001 als Friedensbedrohung nach Art. 39 UN-Charta eingestuft werden konnten. Auf dieser Grundlage verhängte der Rat nichtmilitärische Zwangsmaßnahmen.

Die Abfolge der einzelnen Sanktionen weist auf eine ständige Verschärfung des internationalen Drucks auf die den Terrorismus veranlassenden oder unterstützenden Staaten sowie auf nichtstaatliche Akteure hin. Gleichwohl reichten in den Fällen Kosovo und Afghanistan die Sanktionsmaßnahmen nicht aus, um die Konfliktparteien von ihrem rechtswidrigen und friedensgefährdenden Tun abzubringen. Zu fragen ist deshalb, ob der Rat angesichts der fortdauernden Friedensbedrohung nicht verpflichtet gewesen wäre, auch militärische Maßnahmen nach Art. 42 UN-Charta zu ergreifen. Schließlich trägt der UN-Sicherheitsrat die Verantwortung für die Aufrechterhaltung des Weltfriedens und kann nicht hinnehmen, dass dieser dauerhaft gefährdet wird. Die Antwort kann gleichwohl nur lauten, dass der UN-Sicherheitsrat ein politisches Organ ist, das in seiner Entscheidungsfindung einen großen Spielraum hat.12 Der Rat war folglich nicht rechtlich verpflichtet, mit militärischen Mitteln vorzugehen. Zudem stellt sich die Frage, ob es erfolgversprechend ist, militärisch gegen Terroristen vorzugehen.

Internationale Terrorakte sind Friedensbedrohungen

Nach dem 11. September 2001 kam es zu einer deutlichen Neubewertung des Terrorismus durch den UN-Sicherheitsrat, denn mit der Res. 1368 (2001) werden „alle internationalen terroristischen Handlungen“ als Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit eingestuft. Diese Formulierung stellt eine beachtliche Verschärfung dar: Danach können alle terroristischen Handlungen Zwangsmaßnahmen auch militärischer Art gegen Staaten auslösen. Dass es sich bei dieser Einschätzung nicht um einen »Schnellschuss« unter der Schockeinwirkung des New Yorker Geschehens (die Resolution wurde am 12. September angenommen) handelt, wird daran deutlich, dass auch die später unter ausdrücklicher Nennung des Kapitels VII verabschiedete Res. 1373 (2001) diese Einschätzung wiederholt.

Angesichts fehlender Definitionen schuf der Rat mit dieser Formulierung allerdings eine beachtliche rechtliche Grauzone. Sie wird noch erweitert, weil damit nicht nur staatliches Handeln, sondern auch das von nichtstaatlichen Akteuren erfasst wird.13 Auch nichtstaatliche Akteure können internationale terroristische Handlungen ausführen, die in jedem Falle eine Friedensbedrohung darstellen. In der Konsequenz macht sich nach dieser Konstruktion der Staat verantwortlich, von dessen Territorium der Anschlag ausging. Bekräftigt und vertieft wird diese Einschätzung durch die Res. 1377 (2001), die „Akte des internationalen Terrorismus (als) eine der schwerwiegendsten Bedrohungen des Weltfriedens“ bezeichnet, welche eine „Herausforderung aller Staaten und der gesamten Menschheit darstellen“. Der Wortlaut macht deutlich, dass der Sicherheitsrat gemäß dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auch »schwerwiegendste« Antworten auf derartige terroristische Akte – und zwar der gesamten Staatengemeinschaft – im Grundsatz für angemessen hält.

Bereits in der Vergangenheit sahen die USA, Israel und Südafrika terroristische Attacken als indirekte Aggressionen an, gegen die ein Selbstverteidigungsrecht in der Form von »armed reprisals« zulässig gewesen sei. Von der Staatengemeinschaft wurde diese Argumentation überwiegend abgelehnt.14 Nach dem 11. September 2001 stellt sich die Frage, ob diesbezüglich eine Fortentwicklung des Völkerrechts stattfand.

Terrorakte als Angriffshandlungen?

Der Sicherheitsrat geht mit seinen Resolutionen 1368 und 1373 über die ohnehin sehr unspezifische Einschätzung der generellen Friedensgefährdung durch den internationalen Terrorismus hinaus. Er bekräftigt nämlich nicht nur seine Entschlossenheit, die durch terroristische Handlungen verursachten Bedrohungen des Weltfriedens – wie es seine chartagemäße Aufgabe ist – zu bekämpfen. Vielmehr verweist er in den Präambeln auf das Selbstverteidigungsrecht gemäß Art. 51 der UN-Charta. Diese Bezugnahme ist rechtlich nicht bedeutungslos, da in den Präambeln »Interpretationsrichtlinien«15 gegeben und Grundlagen des Tätigwerdens des Rates niedergelegt werden. Die ausdrückliche Erwähnung des Selbstverteidigungsrechts muss also „dahingehend interpretiert werden, dass der Sicherheitsrat … Verteidigungsmaßnahmen gegen die Urheber der terroristischen Akte für rechtmäßig hält“.16

Wenn der Sicherheitsrat das Selbstverteidigungsrecht ausdrücklich hervorhebt, kann dies prima facie nur bedeuten, dass er der Darstellung der USA folgt, und die Anschläge vom 11. September 2001 als Angriffshandlung betrachtet.17 Die Resolutionen 1368 und 1373 unterstreichen zudem, dass die Selbstverteidigung ein naturgegebenes Recht ist. Daraus ergibt sich, dass für Verteidigungsmaßnahmen gegen den Aggressor keine Ermächtigung erforderlich ist. Allerdings bekundet der Rat auch seine Bereitschaft, auf die Terroranschläge vom 11. September 2001 »zu antworten«.

Die Bezugnahme auf das unilateral auszuübende Selbstverteidigungsrecht und die Bereitschaft des Kollektivorgans Sicherheitsrat, auf die Anschläge »zu antworten« sind keine Widersprüche. Es ist nämlich keineswegs so, dass er die Bekämpfung dieser Bedrohung des Weltfriedens mit der Nennung des Selbstverteidigungsrechts völlig aus der Hand gegeben und nur in die Verantwortung des angegriffenen Staates übertragen hätte. Vielmehr gibt es umfassende Informationspflichten des sich verteidigenden Staates gegenüber dem Rat, der zudem nach der Einleitung von Selbstverteidigungsmaßnahmen auch entscheiden muss, was weiter getan werden soll, um die Bedrohungssituation zu überwinden.

Staaten müssen gemäß Art. 51 dem Rat die ergriffenen Selbstverteidigungsmaßnahmen sofort anzeigen. Dieser Pflicht folgten die USA, indem sie dem Präsidenten des Sicherheitsrates am 7. Oktober 2001 nach dem Beginn der Bombardierung Afghanistans die Geltendmachung des Selbstverteidigungsrechts umgehend mitteilten. Begründet wurden die amerikanischen Bombenangriffe mit klaren Beweisen dafür, dass die Al-Qaida-Organisation für die Anschläge vom 11. September 2001 verantwortlich sei und diese vom Taliban-Regime unterstützt werde.18 Die von Bruha/Bortfeld geäußerte Befürchtung, dass es sich hier um eine Überdehnung des Art. 51 handle, da schließlich nichtstaatliche Akteure – die Al-Qaida – agiert hätten,19 kann nicht geteilt werden, da der Krieg nicht gegen die Al-Qaida an sich geführt wurde, sondern gegen einen Staat.

Insgesamt vermag die gesamte Argumentation über die sogenannten asymmetrischen Kriege aus der Sicht des Völkerrechts nicht zu überzeugen, da letztlich auch das Handeln von nichtstaatlichen Akteuren immer Staaten zurechenbar ist.20 Schließlich sind es nämlich die Staaten, die sicherstellen müssen, dass von ihren Territorien keine Aktionen ausgehen, die die souveräne Gleichheit anderer Staaten untergraben. Dabei spielt die Rechtmäßigkeit der jeweiligen Regierung und die Verfasstheit des Staatswesens keine Rolle. Entscheidend ist die effektive Hoheit über das Staatsgebiet. Die Aktionen, so der USA-Präsident Bush, „zielen darauf ab, die Verwendung Afghanistans als Operationsbasis für die Terroristen zu unterbinden.“21 Durch die Unterstützung von Terroristen haben sich die Taliban selbst zum Ziel des Anti-Terror-Kampfes gemacht, weshalb ihre Beseitigung nicht unverhältnismäßig und durch das Selbstverteidigungsrecht gedeckt war.

Hinzu kommt, dass das Talibanregime schon 1999 mit nichtmilitärischen Zwangsmaßnahmen belegt worden war, weil seine Handlungen eine Bedrohung des Weltfriedens darstellten. Da sich die Taliban weigerten, die vom Rat geforderte Unterstützung des Terrorismus einzustellen, hätte der Sicherheitsrat über kurz oder lang nach der Logik der Charta und seiner Verpflichtung, alles zur Friedenssicherung Notwendige zu tun, ohnehin weitere – auch militärische – Zwangsmaßnahmen zur Beseitigung dieser Gruppierung ergreifen müssen, da sie deutlich gemacht hatte, nicht von ihrer friedensgefährdenden Politik abzulassen.

Die weitere Entwicklung im Winter des Jahres 2001 stützt diese Auffassung. Nach dem Sieg über die Taliban in Kabul übernahm der Sicherheitsrat wieder die Verantwortung für die weiteren Schritte bezüglich der Entwicklung in und um Afghanistan. Mit der Res. 1383 (2001) vom 6. Dezember 2001, in der er die Ergebnisse der Bonner Afghanistan-Konferenz unterstützt, und der Res. 1386 (2001) vom 20. Dezember 2001, mit der er die Entsendung einer internationalen Sicherheitstruppe beschloss, wurde er seinen Aufgaben gerecht. Letztlich billigte der Rat in der Präambel der letztgenannten Resolution auch die US-britische Militäraktion, wenn er dort ausdrücklich seine „Unterstützung der internationalen Bemühungen zur Ausrottung des Terrorismus“ und seine „Genugtuung über die Entwicklung in Afghanistan“ erklärt. Für die unabhängig davon fortgeführte Ächtung der Taliban spricht schließlich, dass der Sicherheitsrat mit der Res. 1390 (2002) Boykottmaßnahmen fortsetzte.

Bedenklich an den Resolutionen 1368 und 1373 ist allerdings, dass sie nicht dem Erfordernis der Bestimmtheit entsprechen, so dass Autoren von einem »Blankoscheck« für die USA sprachen.22 Diesen lösten die USA auch ein, denn sie unterbreiteten der Weltöffentlichkeit keinerlei Beweise für die Verwicklung der Taliban in die Anschläge vom 11. September 2001. Angeblich wurden sie dem UN-Sicherheitsrat vorgelegt, aber bekannt gemacht wurde nur das Schreiben der USA an den Präsidenten des Sicherheitsrates vom 7. Oktober 2001, so dass die Tatsachengrundlagen unklar bleiben.23

Freilich könnte gegen eine derart kritische Bewertung des US-Vorgehens eingewendet werden, dass die Taliban schon zuvor der Unterstützung des Terrorismus bezichtigt wurden und insofern dahingehende Tatsachen bekannt waren. Bedenklicher waren allerdings die schon 2001 vernehmbaren und mittlerweile partiell Realität gewordenen Drohungen der USA, auch gegen Irak, Iran und Nordkorea einen Antiterrorkrieg zu führen.24 Sie gaben Anlass zur Befürchtung, die Unbestimmtheit der Resolutionen 1368 und 1373 könnte als Rechtfertigungsgrundlage für weitere Militärschläge der USA unter Umgehung des Sicherheitsrates herhalten.

Offensichtlich sah die Mehrheit im UN-Sicherheitsrat dies ähnlich, denn die nachfolgenden Resolutionen zum Antiterrorkampf, so z.B. die Res. 1455 (2003), enthalten keine Bezugnahmen auf das naturgegebene Selbstverteidigungsrecht und schränken damit Missbrauchsgefahren ein. Hinzu kommen zunehmend kritische Äußerungen in der Literatur, die in Frage stellen, dass die militärische Gewaltanwendung tatsächlich als die beste und einfachste Antwort auf den Terrorismus angesehen werden kann.25

Multilaterale Antworten auf den Terrorismus notwendig

Insgesamt ist einzuschätzen, dass das bestehende Völkerrecht einen tragfähigen rechtlichen Rahmen für die Bekämpfung terroristischer Akte von Staaten und nichtstaatlicher Akteure zur Verfügung stellt. Mehr noch, die Ereignisse des 11. September 2001 und ihre Folgen haben gezeigt, wie wichtig eine gemeinsame Grundlage für den Widerstand der rechtstreuen Staatengemeinschaft gegenüber der Herausforderung ist. Das unilaterale Vorgehen der USA und der Koalition der Willigen gegen den Irak 2003 hat gezeigt, wie gefährlich es ist, das bestehende Rechtssystem in Frage zu stellen. Herausgekommen sind chaotische Zustände, die zahllose Menschenleben fordern und geradezu eine Brutstätte für internationalen Terrorismus darstellen. Es zeigt sich, wie verwundbar moderne Gesellschaften sind und wie eng sie miteinander verbunden sind. Folglich kann es keine unilaterale Antwort auf den Terrorismus geben, sondern nur eine der in einem System kollektiver Sicherheit organisierten Staatengemeinschaft.

Anmerkungen

1) Präsident Bush hat an diesem Tag das Dokument beiden Kammern des amerikanischen Kongresses vorgelegt. Internetabruf unter www.whitehouse.gov/nsc/nss.html.

2) Frhr. v. Lepel, O. M.: Die präemptive Selbstverteidigung im Lichte des Völkerrechts, in: Humanitäres Völkerrecht – Informationsschriften 16 (2003), S.77 f.

3) Glennon, M. J.: Pro & Contra – Bricht Amerika das Völkerrecht? Nein, in: Ambros, K./J. Arnold, Der Irak-Krieg und das Völkerrecht, Berlin 2004, S.259.

4) Die EU-Sicherheitsstrategie, EU-Doc. SO230/03, abrufbar unter http://ue.eu.int/solana.

5) Die Mehrheit der Völkerrechtler verlangt für die Qualifizierung militärischer Gewaltmaßnahmen als bewaffnete Angriffe eine gewisse Angriffsintensität. Einmalige schlichte Grenzverletzungen geringeren Umfangs liegen unterhalb der Schwelle eines bewaffneten Angriffs und sind deshalb von dem betroffenen Staat hinzunehmen. Damit sollte der Missbrauch des Selbstverteidigungsrechts verhindert werden. Vgl. dazu Fischer in: Ipsen, K., Völkerrecht, Ein Studienbuch, 5. Aufl., München 2004, § 59.

6) Abgedruckt in: Schweitzer, M./ W. Rudolf: Friedensvölkerrecht, 3. Auflage, Baden-Baden 1985, S.696.

7) UN-Doc. E/CN.4/Sub.2/1999/27, para. 43.

8) Münkler, H.: Gewalt und Ordnung, Frankfurt/M. 1992, S.147 ff.

9) Lavalle, R.: The International Convention for the Suppression of the Financing of Terrorism, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 60 (2000), S.497.

10) Dammann, B./D. Vlassis: Stärkung des internationalen Strafrechts, in: Vereinte Nationen 49 (2001), S.222

11) Nolte, G.: Die USA und das Völkerrecht, in: Friedenswarte 78 (2003) 2-3, S.127.

12) Frowein, J. A. zu Art. 39, in: B. Simma (Hrsg.): Charta der Vereinten Nationen, Kommentar, München 1991, S. 567 f.

13) Schmahl, S./A. Haratsch: Internationaler Terrorismus als Herausforderung an das Völkerrecht, in: WeltTrends 32 (2001), S.112.

14) Cassese, A., Terrorism is also disrupting some crucial categories of international law, in: European Journal of international law 12 (2001), S.996.

15) Wolfrum, R. zur Präambel, in: Simma, B. (a.a.O.), S.5.

16) Frowein, J. A., „Terroristische Gewalttaten und Völkerrecht“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15.9.2001, S.10.

17) So selbst der ansonsten sehr US-kritische Schrijver, N. J., „Responding to International Terrorism: Moving the Frontiers of International Law for ‘Enduring Freedom’“, in: Netherlands International Law Revue 68 (2001), S.284.

18) UN-Doc. S/2001/946.

19) Bruha T./M. Bortfeld: Terrorismus und Selbstverteidigung, in: Vereinte Nationen 46 (2001), S.166.

20) Eine andere Auffassung vertritt Bruha, T.: Neuer internationaler Terrorismus: Völkerrecht im Wandel?, in: Koch H.-J. (Hrsg.): Terrorismus – Rechtsfragen der äußeren und inneren Sicherheit, Baden-Baden 2002, S.65. Er sieht eine Rechtsfortbildung dahingehend, dass ein bewaffneter Angriff auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen könne.

21) Archiv der Gegenwart (2001), S.45244.

22) Williams, I.: Amerikas Krieg gegen den Terrorismus, in: Vereinte Nationen 49 (2001), S.210.

23) Wolf, J.: Terrorismusbekämpfung unter Beweisnot – Völkerrechtliche Informationsanforderungen im bewaffneten Konflikt, in: Humanitäres Völkerrecht – Informationsschriften 14 (2001), S.210.

24) Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 31.1.2002, S.1.

25) Nachweise bei Quénivet, N.: The Legality of the Use of Force by the United States and the United Kingdom Against Afghanistan, in: Austrian Review of International and European Law 6 (2003), S.238.

PD Dr. Hans-Joachim Heintze, Völkerrechtler am Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht an der Ruhr-Universität Bochum

Annäherungen an eine Psychologie des Terrorismus

Annäherungen an eine Psychologie des Terrorismus

von Karin Weis und Andreas Zick

Journalistische und politische »Erklärungen« des Terrorismus, insbesondere des internationalen Terrorismus, geraten fast unweigerlich in die Sackgasse standortbedingter Perspektivendivergenz: Was für die einen i.W. eine Reaktion ist auf die Aggressivität, mit der der Kapitalismus die letzten Rohstofflager ausbeutet und sich auch die kleinsten Märkte unterwirft, stellt für die anderen ein Epiphänomen eines aus endemischen, letztlich irrationalen (Ab-) Gründen gespeisten politischen und kulturellen Zerfallsprozesses dar, der unbedingt eine Regulierung seitens der »internationalen Gemeinschaft«, nicht zuletzt mit militärischen Mitteln, erfordert. Die folgenden »Annäherungen an eine Psychologie der Terrorismus« lassen sich kaum einem dieser »weltsystemischen« Ansätze zuordnen. Was immer auf dieser Ebene Terrorismus stimulieren oder begünstigen mag, letztlich sind Personen und Gruppen die Akteure und man kann dementsprechend mit Fug und Recht von Individual- und Sozialpsychologie klärende Beiträge erwarten. Die Überlegungen der AutorInnen lassen allerdings erkennen, dass seitens der Psychologie die Voraussetzungen für eine kritisch-integrative Auseinandersetzung mit den angesprochenen Deutungsrichtungen noch lange nicht gegeben sind.

Den Realitätsgehalt der terroristischen Bedrohung katapultierte »9/11« der westlichen Welt ins Bewusstsein. Der Terrorismus trat nicht nur mit unerwarteter Zerstörungskraft auf, er zeigte auch ein unbekanntes Gesicht, indem er sich nicht mehr als bloß lokales Problem erwies. Mit 9/11 wurde deutlich, dass sich der Terrorismus zunehmend neuer Mittel bedient, andere Zielgruppen hat und eine »asymmetrische Kriegführung« verfolgt. Dieser »neue Terror« ist durch eine Reihe von Merkmalen charakterisiert: Die Zahl potenzieller Täter und Unterstützer ist enorm; der Terror hat viele religiöse und ideologische Gesichter; er nutzt moderne Medien und schafft transnationale Netze; zivile Opfer werden in Kauf genommen oder sind beabsichtigt; er zielt auf die Verbreitung von Angst und Schrecken, und in nie dagewesenem Ausmaß töten sich die Attentäter selbst bei Anschlägen.

Prävention und Intervention gegen diese Gefahr hängen mit einer zuverlässigen Ursachenanalyse zusammen: Was bewegt Individuen und Gruppen dazu, das Erreichen ihrer Ziele über das Leben anderer zu stellen? Obgleich unzählbare Analysen vorliegen, meinen die meisten Experten, dass schlüssige Antworten fehlen (Lia & Skjølberg, 2004). Das ist nicht allein auf eine fehlende gemeinsame Definition des Phänomens zurückzuführen (Laqueur, 2004). Die komplexe Frage nach den Ursachen ist nur aus unterschiedlichsten Perspektiven zu beantworten. Bedenkt man, dass Terrorismus von individuellen, sozialen, gesellschaftlichen und historischen Bedingungsfaktoren und ihren Wechselwirkungen beeinflusst ist, sind einfache Ursachenangaben von vornherein verfehlt. Mit dem vorliegenden Beitrag konzentrieren wir uns auf die psychologische Perspektive, das heißt eine Perspektive, die das »terroristische Individuum« im Kontext der sozialen Umwelt zu verstehen sucht. Indem wir andere Zugänge ausblenden, reduzieren wir den Erklärungsansatz explizit.

Schlüssige, hinlänglich empirisch gestützte psychologische Theorien über den Prozess, wie eine Person zu einem Mitglied einer Terrorgruppe wird und sich an Anschlägen beteiligt, liegen u.E. nicht vor. Das ist darauf zurückzuführen, dass Terrorismus bislang kaum als wesentliches psychologisches Thema beachtet wurde, aber auch darauf, dass empirische psychologische Analysen kostspielig und gefährlich sind. Dies vorweggenommen, werden wir zunächst prominente psychologische Erklärungsansätze skizzieren, die in die Terrorismusforschung Eingang gefunden haben, und dann unsere »Annäherungen an eine Psychologie der Terrorismus« thesenartig präzisieren.

Erklärungsansätze

Wir betrachten zwei Theoriegruppen näher: Solche, die nach personalen Ursachenfragen, und solche, die nach dem Einfluss der Einbindung von Individuen in Gruppen fragen.

Die personbezogene Sicht: Devianz, Disposition, Emotion

Die These ist verbreitet, dass Terroristen psychisch auffällig sind und spezifische »Störungsbilder« aufweisen. Das kann kurz zurückgewiesen werden: Es gibt bis heute keine validen Hinweise, dass Terroristen psychisch krank sind (vgl. Hudson, 1999). Selbstverständlich können Einzeltäter auch unter psychischen Krankheiten leiden, aber wenn man den organisierten Terrorismus betrachtet, wird schnell klar, dass solche Organisationen es sich kaum leisten könnten, auffällige Personen aufzunehmen. Wenn Personen in eine Terrorgruppe aufgenommen werden, verringert sich ihr Kontakt zu etablierten sozialen Netzen (Freunde, Familie etc.) nach und nach, und die Gruppe wird Lebensmittelpunkt. Wer isoliert lebt, muss sich anpassen können und gruppeninterne Kommunikations- und Interaktionskompetenzen entwickeln. Die Operationen müssen geheim gehalten werden, und nach außen muss der Anschein der Normalität gewahrt bleiben. Dies berücksichtigt, erstaunt es nicht, dass Interviews mit Terroristen keine Hinweise auf psychische Krankheiten geben (McCauley, 2002), auch nicht bei Selbstmordattentätern (vgl. z.B. Atran, 2003). Selbst wenn man annimmt, dass Terroristen eine antisoziale Persönlichkeitsstörung aufweisen (z.B. Psychopathie), also intelligent und leistungsfähig, aber nicht empathisch und manipulativ gewaltbereit sind, würde das die Kooperation und Koordination in Gruppen stören oder unmöglich machen. Empirisch belegt ist auch nicht die »schwächere« These von Post (1990), dass Terroristen eine spezifische Form des Überlegens (terrorist psychologic) annehmen, die z.B. durch Hass geprägt ist. Zudem erklärt der Psychopathie-Ansatz nicht, warum sich einige Personen mit entsprechendem Profil Terrorgruppen anschließen und andere nicht. Crenshaw (1981) kommt sogar zum Gegenteil: Relativ »normale« Personen seien eher anfällig, sich Terrorgruppen anzuschließen. Sie müssen sich vielfach sogar besonders gut in der Normalität auskennen, um in der Öffentlichkeit nicht aufzufallen (vgl. auch Corrado, 1981; Stahelski, 2004).

Ein weiterer Ansatz, der nach Persönlichkeitsmerkmalen fragt, verweist auf spezifische Dispositionen, die im Verlauf der Sozialisation entwickelt werden. Berücksichtigt man, dass terroristische Handlungen – selbst Selbstmordanschläge – Gruppenhandlungen sind, liegt es nahe, die individuelle Terrorneigung auf einen Autoritarismus zurückzuführen, der die Konformität befördert. Studien dazu liegen kaum vor. Ferracuti & Bruno (1981) identifizieren in Fallstudien Merkmale autoritär-extremistischer Persönlichkeiten wie Autoritätsambivalenz, Einsichtsschwäche, Konventionalismus, emotionale Ablösung von den Konsequenzen ihrer Handlungen, sexuelle Identitätsstörung mit Rollenunsicherheit, Aberglaube, Magie und stereotypes Denken, Destruktivität, Fetischisierung von Waffen und Festhalten an gewalttätigen subkulturellen Normen. Eher rechtsextreme Terroristen seien psychopathologisch zu beschreiben, auch weil ihre Ideologie »leer« (realitätsfern) sei. Bezieht man die Konflikt- und Rechtsextremismusforschung ein, dann liegt die Annahme nahe, dass Terroristen macht- und dominanzorientiert oder rigide und dogmatisch sind. Empirisch ist das nicht geprüft und solche dispositionalen Ansätze können nicht erklären, wie und warum sich so disponierte Individuen zu Terrorgruppen finden. U.E. sind Dispositionen eher Folge eines kulturellen Sozialisationsprozesses, der in sozialen Netzwerken stattfindet, und keine Ursache.

Vielversprechender erscheint uns die Frage, welche EmotionenMenschen dazu veranlassen, gewalttätig zu werden. Zu den zentralen Emotionen zählen Wut und Hass sowie Kränkungen und Frustration. Im Falle muslimischer Selbstmordattentäter kommt oftmals auch eine religiöse Hingabe dazu, sowie eine »freudige« Vorwegnahme des späteren Lebens im Paradies. Nicht jede Emotion muss in jedem Fall vorhanden sein, aber u.E. spielen Emotionen eine gewichtige Rolle. Wut und Hass auf andere Gruppen oder Nationen können Menschen dazu veranlassen, diese und die wahrgenommenen Ungerechtigkeiten und Bedrohungen zu bekämpfen. Ein Unterscheidungsmerkmal von Wut und Hass besteht darin, dass Wut auf Verletzung und Zerstörung, Hass auf die Nichtexistenz oder Zerstörung des Zielobjektes abstellt. Wut ist eine »heiße Emotion«, wohingegen Hass auch »kalt und berechnend« sein kann. Daraus resultieren unterschiedliche Handlungstendenzen. Wut führt zu einer Annäherung an das Zielobjekt (Weis, submitted). Dies beruht oft auf einer gewissen Irrationalität. Würde jeder Mensch rational handeln, würden stärkere Gruppierungen nie von schwächeren angegriffen werden, weil rein vernunftmäßig von vornherein klar ist, dass der Stärkere gewinnt, auch wenn er Verluste erleidet. Wut lässt Menschen irrational handeln und das Zielobjekt trotzdem angreifen. Hass hingegen kann die Emotion Wut sowie weitere Emotionen wie Angst, Ekel oder Verachtung beinhalten. Die Duplex-Theorie des Hasses von Sternberg (2003) postuliert, dass Hass aus drei Komponenten besteht, Negation von Intimität, Leidenschaft und Commitment. Je nachdem, welche der Komponenten zu welchem Ausmaß bedeutsam ist, sind die Hassqualität und resultierende Handlungstendenzen andere (s.a. Weis, 2006). Je mehr Komponenten des Hasses vorhanden sind, desto mehr steigt auch die Gefahr des Terrorismus.

Aber nicht nur negative Emotionen können Terrorismus motivieren. Handlungsgründe, die oft von muslimischen Attentätern angeführt werden, betonen die Hingabe an Gott oder die Aussicht auf ein Leben im Paradies und die Bindung an ihre Gruppe (z.B. Cole, 2003). Insgesamt halten wir einen psychologischen Ansatz, der die Emotionen von Tätern fokussiert, für unabdingbar, wenn auch empirische Studien dazu fehlen. Dabei ist zu beachten, dass die Emotionen in einen Gruppenkontext eingebettet sind.

Die Gruppenperspektive: Deprivation, Identität, Interaktion

Eine weit verbreitete These besagt, dass Terroristen Kränkungen und Frustrationen erfahren haben; der Terrorakt im weitesten Sinn ein Ruf nach Anerkennung ist. Dabei müssen Terroristen nicht unbedingt selbst widrige Umstände oder Kränkungen erleben. So stammten die meisten der Terroristen des 11.9. aus der gebildeten Mittelschicht und wuchsen relativ behütet auf. Krueger & Maleèkova (2003) zeigen in einer umfassenden Studie, dass Bildungsdefizite und nicht ökonomische Deprivation Terrorneigung und die Partizipation in Terrorgruppen erklären. Wesentlich ist u.E., dass Frustrationen (wie auch autoritäre Orientierungen, Emotionen etc.) v.a. dann die Terrorneigung erhöhen, wenn sie die soziale Identität und den damit verbundenen Selbstwert bestimmen; also jenen Teil des Selbstkonzepts, der aus der Mitgliedschaft zu Gruppen resultiert (Tajfel & Turner, 1986). Die Gruppenidentität ruft Emotionen hervor, wenn der Gruppe oder Mitgliedern etwas widerfährt und die anderen das empfinden, als wenn es ihnen selbst zugestoßen wäre. Erfolge der Gruppe führen zu einer Selbst-Aufwertung, Niederlagen und Demütigungen zur Abwertung der sozialen Identität; unabhängig von individuellen Erfahrungen. Propaganda kann diesen Effekt hervorrufen und verstärken. Blickt man auf die Situation vieler muslimischer Länder, so sehen diese sich unrechtmäßig vom Westen dominiert, unterdrückt, und sie bezichtigen den Westen, an ihrem Ungemach schuld zu sein. Zudem fühlen sie sich vielfach nicht ernst genommen, was dazu führen kann, dass junge Muslime sich aus Frustration einer Terrororganisation anschließen, selbst wenn sie ungefährdet aufgewachsen sind. Eine besondere Frage dabei ist, wie die Opferbereitschaft von Selbstmord-Attentätern zu erklären ist.

Eine Antwort gibt die Terror Management Theory von Greenberg, Salomon & Pyszczynski (1997). Sie befasst sich mit Reaktionen, die resultieren, wenn Menschen ihre Sterblichkeit bewusst wird. In Studien wurde festgestellt, dass sich Menschen im Zustand der Mortalitätsbewusstheit (selbstverständlich) fürchten. Sie möchten sich daher zur Angstreduktion an etwas festhalten, das den Eindruck der Unsterblichkeit bietet, bzw. der Nachwelt etwas von Wert hinterlassen. Die Zustimmung zu Werten und Normen der Kultur kann Mut machen, Sinn und Sicherheit geben. Erinnert man Menschen an ihre Sterblichkeit, dann identifizieren sie sich stärker mit Werten und Weltanschauungen. Relevant sind dabei länger existente Werte, die vermeintlich überdauern. Terrororganisationen sehen sich meist selbst nicht als Terroristen. Sie sind prosozial, kämpfen für ihre Kultur; leben und sterben für deren Essenz und können sich daher sicher sein, dass sie durch ihre Gruppe selbst nach dem Tod weiterleben werden, indem sie Essenz und Werte der Gruppe beispielhaft verkörpern und so zum Überdauern beitragen.

Thesen

Fasst man gegenwärtige psychologische Erkenntnisse zusammen, sprechen u.E. die Befunde für vier Thesen.

1. Grundsätzlich muss Terrorismus auf der Grundlage der Interaktion von personalen und gruppalen Faktoren verstanden werden. Im Besonderen ist dabei von den folgenden Annahmen auszugehen.

2. Terrorismus ist ein Gruppenphänomen, das auf einer starken Identifikation mit Terrorgruppen basiert, die auch die Gruppendynamik bestimmt. Da sich die Mitglieder einer terroristischen Vereinigung mehr und mehr von ihren herkömmlichen sozialen Gruppen fern halten und die Terrorzelle zur zweiten Familie wird, stehen sie mehr und mehr unter ihrem Einfluss. Da die Mitglieder von der Außenwelt isoliert sind, wird der Einfluss an einem bestimmten Punkt so stark, dass die Mitglieder mehr Angst davor haben, ihre Mitgenossen oder den Ringführer zu enttäuschen als zu sterben (McCauley, 2002). Dabei kann es zum Phänomen des »Gruppendenkens« (groupthink) kommen. Besonders anfällig dafür sind Gruppen, in denen die Kohäsion sehr hoch ist und deren Mitglieder sich von außen bedroht und unter Druck fühlen, Entscheidungen treffen zu müssen. In dieser Situation fühlen sie sich unverwundbar und moralisch überlegen und rationalisieren Entscheidungen, die auf einer schwachen Faktenbasis beruhen. Zudem teilen die Mitglieder Stereotype gegenüber Nicht-Gruppenmitgliedern und Fremdgruppen. Da innerhalb der Gruppe Druck ausgeübt wird, sich der allgemeinen Meinung anzupassen, trauen sich die Mitglieder kaum mehr, ihre individuellen Überzeugungen zum Ausdruck zu bringen und es entsteht die Illusion uniformer Entscheidungen. Dazu kommt, dass es Personen gibt, die Informationen aktiv fernhalten, die nicht dem Meinungsbild der Gruppe entsprechen oder ihm widersprechen. Daraus resultiert, dass die Gruppe weniger Handlungsalternativen berücksichtigt, Risiken ihrer Entscheidungen nicht genügend abwägt, Experten- oder abweichende Meinungen verwirft oder gar nicht anhört, und keine Alternativpläne zur Zielerreichung entwirft.

3. Die Aktion wird durch gruppenbezogene Legitimationen ermöglicht. Oftmals sehen Terroristen die Mittel durch den Zweck gerechtfertigt (deviante Legitimierung). Terroristen glauben, dass es entweder gerechtfertigt war, die Opfer umzubringen, oder dass sie moralisch verpflichtet waren, ihren Anschlag zu verüben. Dazu muss aber die Bedrohung unmittelbar bevorstehen und darf auch nicht mit anderen Mitteln verhinderbar erscheinen. Die entscheidende Frage ist: Wie kommt es dazu, dass Personen Bedrohungen und Hass in einer solchen Weise empfinden, dass sie den Terror als gerechtfertigt ansehen? Zu vermuten ist, dass bei Terroristen durch bestimmte Ereignisse der Glaube in die Funktionsfähigkeit des Systems, in dem man sozialisiert ist, erschüttert wurde. Erklärungen werden gesucht, die oft auf Sündenböcke rekurrieren. Wenn der genannte Eindruck hinzukommt, dass die Bedrohung ganz unmittelbar bevorsteht und mit anderen Mitteln nicht abzuwenden ist, wird die Tötung von anderen als »Selbstverteidigung« akzeptabel (Drummond, 2002). Indem Terroristen für ihre eigene Kultur und Weltanschauung kämpfen, leben sie nach ihrem Selbstverständnis auch über ihren eigenen Tod hinaus in den kulturellen Werten fort, für die sie gekämpft haben (s.o.).

4. Terrorismus ist als Steigerungsprozess zu verstehen. Um den Prozess plausibel zu machen, warum viele Menschen unter ungleichwertigen Bedingungen leben, aber nur einige wenige zu Terroristen werden, zieht Moghaddam (2005) eine Treppenhaus-Metapher heran. Das Treppenhaus besteht aus fünf Stockwerken und wird von unten nach oben hin immer schmaler. Ist eine Person im obersten Stockwerk des Gebäudes angekommen, verübt sie einen Terroranschlag. Ob eine Person in einem Stockwerk verbleibt oder sich einen Stock weiter nach oben begibt, hängt von den Alternativen und Möglichkeiten ab, die sie für sich auf dem jeweiligen Stockwerk wahrnimmt; ob sie z.B. viele Türen sieht, durch die sie gehen könnte, und ob sie den Eindruck hat, dass diese Türen ihr offen stehen. Je weiter sie sich jedoch nach oben begibt, desto weniger Handlungsalternativen hat sie. Im ersten Stockwerk befindet sich eine Vielzahl von Personen, die sich ungerecht behandelt oder depriviert fühlen; dabei kommt es auf die persönliche Wahrnehmung an. Diejenigen Personen, die andere für ihre unglückliche Situation verantwortlich machen, begeben sich damit ins zweite Stockwerk. Dort findet eine Zuschreibung der Aggressionen auf Fremdgruppen statt. Dieser Prozess wird unterstützt durch Organisationen und Führungspersonen, die ihre Ideologie und Beschuldigungen anderer für Missstände kundtun und auf der Suche nach neuen Mitgliedern sind. Im dritten Stockwerk findet eine moralische Bindung an die terroristische Vereinigung statt. Die Personen kommen zur Einsicht, dass zur Erreichung der »idealen Gesellschaft« der Einsatz aller Mittel zu rechtfertigen und entsprechendes Handeln moralisch legitim ist, selbst wenn dabei andere zu Schaden kommen. Zusätzlich versuchen Terrororganisationen, die neuen Rekruten mit Mitteln der Isolierung, Angst und Verschwiegenheitspflicht zu binden. Das Endziel ist der Aufbau eines geheimen Parallellebens und ein Gefühl vollkommener Zugehörigkeit. Im vierten Stockwerk werden die Wahrnehmungen der neuen Mitglieder durch Engagement in kleinen Gruppen weiter verändert: Sie kommen mehr und mehr zur Einsicht, dass die Welt auf einfache Weise in Eigengruppe und Fremdgruppen eingeteilt werden kann. Wer nicht zur Eigengruppe gehört, ist Feind. Die Bindung an die Terrorzelle wird gestärkt und die neuen Mitglieder werden an die Bräuche, Traditionen, Handels- und Denkweisen der Gruppe herangeführt. Ungehorsam und mangelnde Konformität führen zu negativen Konsequenzen, und allgemein gibt es kaum mehr eine Möglichkeit, die Terrorzelle lebendigen Leibes zu verlassen. Der fünfte Stock führt dann zur Vorbereitung und Durchführung des Terroraktes. Die Mechanismen der vorherigen Stockwerke unterstützen die Fähig- und Willigkeit, andere Menschen zu töten. Die Einteilung der Welt in Gut und Böse erhöht die Bereitschaft, den Feind zu töten. So können auch Zivilisten ohne schlechtes Gewissen getötet werden. Des Weiteren geschehen Attentate aus einem Überraschungsmoment (zumindest für die Opfer) heraus, sodass die Opfer gar keine Möglichkeit bekommen, um ihr Leben zu flehen, Unterwürfigkeit oder andere Verhaltensweisen an den Tag zu legen, die den Tötungswillen des Attentäters unterlaufen könnten.

Zusammenfassung und Ausblick

Unsere Skizze versucht, eine Perspektive zu entwickeln. Leider hat die psychologische Forschung weiterhin kaum Daten zur Verfügung, mit denen Hypothesen und Theorien überprüft werden könnten. Die Zuverlässigkeit der Thesen ist also noch gering. Berücksichtigt man, dass terroristische Anschläge im Kontext von Gruppen und Netzwerken und unter bestimmten strukturellen, politischen und historischen Bedingungen geplant und ausgeführt werden, ist evident, dass psychologische Theorien nicht hinreichen. Der Fokus auf die Psychologie begrenzt diesen Analyseansatz unweigerlich. Selbst Führungspersonen sind nur Masterminds hinter den Kulissen, die sich mit Strategien von Gruppen beschäftigen, während andere die Details der Anschläge planen und wieder andere, die im Extremfall erst 24 Stunden vor Ausführung des Anschlags angeworben werden, die Durchführung übernehmen. Zudem spricht vieles dafür, dass Terrorakte dann nahe liegen, wenn das soziale »Klima« günstig ist, das heißt die Täter auf eine weit reichende soziale Unterstützung treffen oder Terrorakte Erfolg versprechend zur Markierung der Vormachtstellung einer Gruppe scheinen (Bloom, 2005). Des Weiteren müssen wir unterscheiden zwischen den wenigen Terroristen und den vielen, die den Terrorismus unterstützen oder zumindest stillschweigend dulden und damit auch zu einem »System des Terrors« beitragen. Grundsätzlich ist aber zu bedenken, dass die Analyse von Gruppenprozessen und Ideologien notwendig ist. Der Wunsch vieler Politiker, ein psychologisches Profil potentieller Terroristen zu entwickeln, kann bislang nicht erfüllt werden. Sicherlich spielen Dispositionen eine Rolle, aber wir meinen, dass ein adäquates Erklärungsmodell komplexer sein muss, um die Wechselwirkungen von Persönlichkeit und Umfeld, Einstellungen, Anreizsystemen und Emotionen zu berücksichtigen. Wir meinen ferner, dass die Psychologie auf Nachbardisziplinen angewiesen ist und letztendlich nur ein interdisziplinärer Forschungsansatz sinnvoll sein kann.

Ebenso umfassend und komplex wie die Gründe eines Menschen, sich zum Terrorismus zu entscheiden, sind dann auch die Interventionsmöglichkeiten. Gerade junge Menschen werden als Terroristen rekrutiert und unterstützen Terrorismus eher als ältere Personen (Haddad & Khashan, 2002), und daher macht es Sinn, auch hier mit Präventionsmaßnahmen anzusetzen (vgl. auch Benard, 2005). Auch wenn das der akuten Bekämpfung des Terrorismus fern scheint, erinnern wir an Studien, die zeigen, dass Konfliktbewältigungsprogramme dazu führen können, dass Kinder und Jugendliche weniger gewaltbereit und aggressiv sind. Vermittlung und Übung von Kommunikationsfähigkeit, Toleranz gegenüber Differenzen und von Gewaltpräventionsfertigkeiten können dazu beitragen, dass Kinder lernen, Konflikte nicht auf der Basis von Gewalt auszutragen (vgl. z.B. Sexton-Radek, 2005). Des Weiteren ist es sinnvoll, Kindern beizubringen, nicht nur für sich selbst und Mitglieder ihrer Bezugsgruppen zu sorgen, sondern sich um das Wohlergehen anderer Menschen zu kümmern, die nicht der Eigengruppe angehören (Staub, 2003). Das vermindert die Tendenz von Individuen, sich »gegen die anderen« zu stellen. Ein drittes Konzept, das die Wahrscheinlichkeit von Gewalt und Terrorismus verringern könnte, ist, Kindern beizubringen, »weise« Entscheidungen zu treffen. Sternberg (2001) zufolge ist Weisheit die Anwendung von Intelligenz, Kreativität und Wissen zum Allgemeinwohl, wobei die eigenen Interessen mit denen anderer lang- und kurzfristig unter Zuhilfenahme von Werten abgewogen werden. Hierbei ist es wichtig, die Perspektive von anderen zu übernehmen, einen langfristigen Blickwinkel zu haben, und Werte wie Aufrichtigkeit, Integrität, Mitleid etc. als Grundlage des Handelns zu vermitteln.

Literatur

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Benard, C. (Ed.) (2005): A future for the young: Options for helping Middle Eastern youth escape the trap of radicalization. Rand National Security Research Division.

Bloom, M. (2005): Dying to kill: The allure of suicide terrorism. Columbia University Press, New York.

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Weis, K. (submitted): Explorations of the nature and structure of hate.

Karin Weis promovierte an der Universität Heidelberg zum Thema Hass. Sie ist Stipendiatin der Alexander von Humboldt-Stiftung und gegenwärtig als Postdoktorandin an der University of Connecticut in den USA tätig. Andreas Zick vertritt derzeit die Professur für Sozialpsychologie an der TU Dresden. Er forscht vor allem zu den Themen: Vorurteile, Konflikte und Gewalt zwischen Gruppen, Akkulturation von Minderheiten.

9/11 und die Folgen

9/11 und die Folgen

von Peter Strutynski, Ingar Solty, Elke Steven und Albert Fuchs

Beilage zu Wissenschaft und Frieden 4/2011
Herausgegeben von der Informationsstelle Wissenschaft und Frieden

Zehn Jahre danach

Unmittelbar nach dem 11. September 2001 kristallisierte sich heraus, dass die US-Regierung unter George W. Bush auf die Anschläge in New York und Washington militärisch antworten wird. Der Auftrag lautete: Krieg gegen Osama bin Laden und al Kaida, mangels eigenem Staatsgebiet im »host country« Afghanistan, und Sturz der dort herrschenden Taliban. Die NATO rief den »Bündnisfall« aus und schloss sich dem »war on terror« an. Anschließend standen der Krieg gegen Irak und der Sturz Saddam Husseins auf dem Programm, diesmal mit einer »coalition of the willing«. Längst wurde die militärische Logik mit dem Drohnenkrieg auch auf Pakistan ausgedehnt. Die US-Regierung sprach schon vor fünf Jahren von „the long war“.1

Die Folgen von »9/11« umfassen aber viel mehr als Krieg – sie zielen auch nach innen, ins Mark der Gesellschaften und des (Völker-) Rechtssystems. Es seien hier nur einige Beispiele genannt: das Unrechtsystem von Guantanamo und Foltergefängnisse in Afghanistan, Entführung und Überstellung Verdächtiger zum Verhör an Folterstaaten, jahrelange Inhaftierung ohne Anklage und Rechtsvertretung, bis dato politisch nicht durchsetzbare Beschränkungen der Bürgerrechte, wachsender Rassismus bzw. Anti-Islamismus usw. usf. Und all das, obwohl so viele Fragen zu 9/11 bis heute unbeantwortet bleiben.

Anmerkungen

1) So beginnt z.B. der Quadrennial Defense Review Report des U.S. Department of Defense (6. Februar 2006) mit dem Satz: „The United States is a nation engaged in what will be a long war.“

Regina Hagen

9/11 – keine historische Zäsur

von Peter Strutynski

Auch zehn Jahre nach den erschütternden Anschlägen auf die Twin Towers des World Trade Center in New York am 11.9.2001 ist der herrschende Diskurs in den Mainstream-Medien, aber auch in der Politikwissenschaft, geprägt von der Vorstellung, hier habe es sich um eine welthistorische Wende gehandelt – vergleichbar mit den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts oder mit der französischen Revolution 1789. Festgemacht wird dies an der urplötzlich erfahrenen »Verwundbarkeit« der westlichen Führungsmacht USA bzw. der »zivilisierten« Welt insgesamt und an der Wahrnehmung der Verletzlichkeit hochkomplexer technologischer Strukturen durch vergleichsweise »einfache« Aktionen fanatisierter Selbstmordattentäter. Peter Struynski argumentiert in seinem Beitrag, dass die Attentate nicht das wirklich Neue in der Geschichte der Neuzeit waren und dass sie vor allem keinen historischen Umbruch verursacht, sondern eher eine bereits in Gang befindliche Wende bestätigt und allenfalls bestärkt haben.

Vor kurzem erschien ein erhellendes Buch über Flugzeugentführungen. Annette Vohwinkel zeigt in »Flugzeugentführungen: Eine Kulturgeschichte«, dass Flugzeugentführungen zu terroristischen Zwecken nicht nur beinahe so alt sind wie die moderne Zivilluftfahrt – das erste Hijacking fand 1931 in Peru statt –, sondern dass sie in der Zeit des Kalten Kriegs fast zum Alltag gehörten. Von 1947 bis 1990 sind nach ihrer Zählung weltweit 821 Fälle von Flugzeugentführungen registriert worden. So wundert es auch nicht, dass Hijacking ein beliebtes Thema und Motiv für Krimis, Fernsehserien, Action-Filme und so genannte Blockbuster geworden ist. Weniger bekannt ist, dass sich auch der UN-Sicherheitsrat seit den frühen 1960er Jahren mehrfach mit dem Phänomen befasst und einschlägige Antiterror-Resolutionen verabschiedet hat. Erwähnenswert sind neben der Antiterror-Konvention von Tokio aus dem Jahr 1963 drei weitere Konventionen, die sich auf Luftpiraterie und Angriffe auf die Zivilluftfahrt beziehen (aus den Jahren 1970,1971 und 1988). Daneben gab es diverse internationale Vereinbarungen etwa zum Schutz von Diplomaten (1979), zur Ächtung von Geiselnahmen (1979), zur Verhinderung der Weitergabe von nuklearem Material (1980), zur Verhinderung ungesetzlicher Akte gegen die Sicherheit der Seeschifffahrt (1988), zur Kennzeichnung von Plastiksprengstoffen (1991), zur Verhinderung von Bombenterror (1997) und zur Unterdrückung der Finanzierung von Terrorismus durch Geldwäsche u.ä. (1999).

Von den vielen Vorgängerattentaten unterscheidet sich 9/11 allerdings durch seine Monstrosität und durch eine veränderte Zielrichtung. Bei »herkömmlichen« Flugzeugentführungen ging es meistens um irgendeine Art von Erpressung politischer oder rein krimineller Art. Jetzt wurden die gekaperten Flugzeuge offenbar gezielt als Mittel eingesetzt, um bestimmte Objekte zu zerstören. So wurde später etwa von der NATO begründet, warum die Attentate als „bewaffnete Angriffe“ auf die USA einzustufen seien, um auf dieser Grundlage erstmals in der Geschichte dieser Organisation den »Verteidigungs-« bzw. »Bündnisfall« nach Art. 5 des NATO-Vertrags zu beschließen.

»War on terror«: eine verheerende Antwort

Es gehört zu den zugleich größten wie zweifelhaftesten Leistungen des damaligen US-Präsidenten George W. Bush, den Kampf gegen den Terror dem Rechtsstaat entwunden und dem Kriegshandwerk übereignet zu haben. »Terrornetzwerke« werden seit 2001 mit Militär bekämpft, Länder, in denen Terroristen vermutet werden, mit Krieg überzogen. Und dieser Krieg hört nicht auf, weil er selbst immer neuen Terror hervorbringt. Die Nationale Sicherheitsstrategie der USA vom März 2006 beginnt mit dem Satz: „America is at war“„Amerika befindet sich im Krieg“. Dieser Ansatz war und ist bis zum heutigen Tag verheerend, und zwar aus drei Gründen:

1. Er negiert, dass Terrorismus in all seinen Schattierungen zuvörderst ein Verbrechen darstellt. Verbrechen und die dazugehörigen Täter werden aber von zivilen Ermittlungsbehörden, Polizei und Justiz verfolgt, die Taten nach rechtsstaatlichen Prinzipien geahndet. Die Resolution 1373 (2001) des UN-Sicherheitsrats, die bis heute dazu herhalten muss, den Einsatz im Rahmen der Operation Enduring Freedom in Afghanistan, am Horn von Afrika und im Mittelmeer zu legitimieren, hat bei genauerem Hinsehen die Staaten zur rechtsstaatlichen Behandlung des Terrorismus-Phänomens aufgerufen. So fordert die Resolution die strafrechtliche Verfolgung, gerichtliche Untersuchung und Aburteilung von Terroristen, die Zusammenarbeit bei der Beschaffung von Beweisen, bei effektiven Grenzkontrollen und bei der strengen Überwachung der Ausgabe und Fälschung von Pass- und Reisedokumenten. Die Resolution fordert die Staaten auf, ihre Zusammenarbeit bei der wechselseitigen Information über alle Fragen, die den Terrorismus betreffen, zu verstärken und durch multilaterale Abmachungen sowie durch Unterzeichnung der oben genannten Anti-Terrorismus-Konventionen und Umsetzung der Resolutionen des UN-Sicherheitsrats zu ergänzen. Außerdem sollten die Staaten darauf achten, dass der Flüchtlingsstatus nicht von Terroristen missbraucht werde, wobei allerdings die anerkannten Standards der Menschenrechte und des Völkerrechts zu berücksichtigen seien. Aus dieser Resolution ein Mandat zur Kriegführung herauszulesen, ist schlicht nicht möglich.

2. Militärische »Antworten« auf den Terrorismus sind aber nicht nur rechtlich eine Unmöglichkeit. Sie sind auch nicht effektiv im Sinne der Befürworter einer solchen Strategie. Jahrelang bediente sich z.B. die Bundesregierung zur Führung des OEF-Einsatzes dieser Resolution. Das Ziel bestand darin, „Führungs- und Ausbildungseinrichtungen von Terroristen auszuschalten, Terroristen zu bekämpfen, gefangen zu nehmen und vor Gericht zu stellen sowie Dritte dauerhaft von der Unterstützung terroristischer Aktivitäten abzuhalten“. (Bundestags-Entscheidung vom 15.11.2007 zur Verlängerung des OEF-Einsatzes in Afghanistan) Wie aber sieht nach zehnjährigem »Krieg« die Bilanz aus? Wie viele „Führungs- und Ausbildungseinrichtungen von Terroristen“ sind durch den OEF-Einsatz nachprüfbar „ausgeschaltet“ worden. Und wenn tatsächlich welche ausgeschaltet wurden, wie viele andere sind neu entstanden? Wie viele Terroristen sind im bisherigen Verlauf des OEF-Einsatzes gefangen genommen und vor Gericht gestellt worden? Inwieweit wurde das Ziel auch nur annähernd erreicht durch den so genannten Antiterrorkrieg? Nun, die spürbare Zunahme terroristischer Gewalt und die wie Pilze aus dem Boden wachsenden neuen terroristischen Gruppierungen (in Pakistan, Usbekistan, im Irak oder in Somalia) sprechen eine eindeutige Sprache: Der »Krieg gegen den Terror« ist auf der ganzen Linie gescheitert.

3. Militär und Krieg sind strukturell unfähig, Terrorismus von anderen Formen widerständiger Gewalt zu unterscheiden. In Irak und Afghanistan wurde jeder Widerstand dem Terror zugeordnet, und die anschwellenden Terrorlisten der Europäischen Union führen Hamas in Gaza/Palästina genauso auf wie die Hisbollah im Libanon, die PKK in der Türkei/im Irak oder die FARC in Kolumbien. So wie die Fatah (im Westen) einst als Terrororganisation geächtet und verfemt war und heute geradezu zum Verbündeten gegen die »terroristische« Hamas umgewidmet wurde, so wurden bis vor drei Jahren noch von Äthiopien und den USA die »terroristischen« Islamischen Gerichtshöfe in Somalia bekämpft, deren stabilisierende Funktion im Bürgerkrieg erst später – zu spät – erkannt wurde; heute nimmt die »Terror«-Organisation al-Shabaab ihren Platz ein. Offen bleibt, welches Urteil einst die Geschichte über die heutigen »Terrororganisationen« fällen wird. Bis dahin aber bleibt die Politik unfähig, auf die Gewaltverhältnisse, die hinter all diesen bewaffneten Konflikten stehen, politisch zu reagieren, d.h. nicht nur die Symptome der Gewalt, sondern ihre Ursachen zu bekämpfen. Zu letzterem jedenfalls ist das Militär untauglich.

Wenn Politik noch einen Funken Rationalität enthält, dann muss deren Akteuren die Erfolglosigkeit der militärisch gestützten Antiterrorstrategie klar sein. Der »Krieg gegen den Terror«, für US-Präsident Bush eine lang währende Aufgabe, der sich heute auch sein Amtsnachfolger Obama annimmt – auch wenn er den Begriff nicht mehr verwendet –, ist in Wahrheit zu einer Chiffre geworden zur Legitimierung von Aufrüstung, Militär, Krieg, Abbau von Freiheitsrechten im Inneren und Bekämpfung all derer, die sich in der täglichen Hysterie noch ein vernünftiges Urteil erlauben. Wenn der Antikommunismus, wie seinerzeit kritische Zeitgenossen wie Thomas Mann oder George Bernhard Shaw diagnostizierten, die „Grundtorheit“ des 20. Jahrhunderts war, dann werden künftige Generationen vielleicht einmal vom nicht endenden und so viel Unheil anrichtenden »Antiterrorkrieg« als der Grundtorheit des 21. Jahrhunderts sprechen.

Ungerechte Weltwirtschaft – die wahre Bedrohung

Der Antiterrorkrieg ist aber nicht nur töricht, er lenkt auch von den wesentlichen Herausforderungen der Menschheit ab. Vieles von dem, was seit dem 11. September 2001 als »Terrorismus« wahrgenommen oder politisch und medial kommuniziert wird, stellt für die Menschheit keine besondere Bedrohung dar. Dies gilt jedenfalls dann, wenn wir die Schäden und Wirkungen terroristischer Verbrechen in Beziehung setzen zu anderen Beeinträchtigungen und Schädigungen von Menschen etwa infolge von Unterentwicklung, Hunger, pandemischen Krankheiten, Massenarbeitslosigkeit, Armut und Umweltzerstörung. Hierzu nur ein Beispiel: 100.000 Menschen sterben täglich an Hunger oder seinen unmittelbaren Folgen, meist in den 122 Ländern der Dritten Welt, in denen fünf Milliarden Menschen leben. Nach Jean Ziegler, dem ehemaligen UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, ist Hunger zu einer „Massenvernichtungswaffe“ geworden. Er spricht daher heute nicht mehr davon, dass ein Kind an Hunger stirbt, sondern dass solche Kinder „ermordet“ werden. Seit dem Millenniumsgipfel 2000, bei dem die Vereinten Nationen feierlich die Halbierung der Armut bis zum Jahr 2015 verkündeten, sind wir keinen Schritt voran gekommen. Zwar gab es, wie eine Reihe seither erschienener Entwicklungsberichte von Weltbank, UNDP, Welthungerhilfe oder terre des hommes zeigt, auf globaler Ebene vorübergehend durchaus »positive Trends«, etwa bei der Reduzierung der Zahl der Menschen, die in extremer Armut leben. Sie sank von 1,2 Milliarden 1990 auf 0,9 Mrd. 2009. Grund dafür war allerdings vor allem die positive wirtschaftliche Entwicklung in China, während in Afrika die Zahl der Armen selbst nach den optimistischen Prognosen der Weltbank bis zum Jahr 2015 weiter steigen wird. Insgesamt muss heute fast die Hälfte der Weltbevölkerung von weniger als zwei US-Dollar pro Kopf und Tag leben.

Die seit zwei Jahren grassierende Weltwirtschaftskrise, die mittlerweile auch ganze Staaten in die faktische Insolvenz treibt, macht aber auch um das bevölkerungsreichste und dynamischste Land der Erde keinen Bogen, weil die Volkswirtschaft Chinas in vielerlei Hinsicht in die Weltwirtschaft integriert ist, insbesondere über seine starke Abhängigkeit von den Märkten der führenden Industrieregionen wie Nordamerika und Westeuropa. In noch viel dramatischerer Weise wirkt sich die weltweite Rezession auf die schwach entwickelten Länder und deren Bevölkerungen in der Dritten Welt aus, ein Prozess, der sich weiter beschleunigen kann, trotz einiger Wachstumskathedralen wie Brasilien oder die Türkei. Schuld an der Katastrophe sei unter anderem der „unfaire internationale Handel“, der die erforderlichen Investitionen in die Landwirtschaft seit drei Jahrzehnten vielerorts verhindert habe. Der Präsident der UN-Vollversammlung 2009, Miguel d’Escoto Brockmann, warnte in einer Plenarsitzung davor, dass das Heer der Hungernden unter der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise sowie den Auswirkungen des Klimawechsels noch mehr zu leiden habe als alle anderen. Da mittlerweile auch Grundnahrungsmittel zu einem Spekulationsobjekt für internationale Broker geworden sind, sind exorbitante Preissteigerungen auf diesem Sektor zu beobachten; so haben sich etwa in Ruanda die Preise für Lebensmittel und Energie seit 2008 vervierfacht. Andere Länder wie Benin, Burundi, Liberia, Mosambik und Niger stehen laut Kindernothilfe vor dem Staatsbankrott.

Ohne das Ausmaß und die Folgen terroristischer Anschläge verharmlosen zu wollen – die Blutspur von New York über London und Madrid bis nach Mumbai und Oslo ist schlimm genug –, muss doch festgestellt werden, dass die »normale« Kriminalität weltweit wesentlich mehr Menschen Leben und Gesundheit kostet als der internationale Terrorismus. Doch mit dieser normalen Kriminalität, mit Mord und Totschlag also, Menschenhandel, Vergewaltigungen und Kinderschändungen lassen sich keine Horrorszenarien und politische Strategien ableiten. Im Gegenteil: US-amerikanische Politikberater werten eine hohe Kriminalitätsrate sogar als einen Indikator für einen besonders hohen Grad an Entwicklung, als organischen Bestandteil der Wohlstands- oder Konsumgesellschaften sozusagen. Auch ein anderer Vergleich wäre anzustellen: Wie groß sind die zerstörerischen Wirkungen terroristischer Handlungen verglichen mit denen planmäßig verübter Militäraktionen im Rahmen des »Krieges gegen den Terror«? Wie viele Zivilpersonen wurden z.B. in Afghanistan seit Oktober 2001 oder in Irak seit März 2003 getötet? Da es offizielle Zahlen hierüber nicht gibt, sind wir auf Schätzungen unabhängiger Quellen angewiesen. Und die sprechen von mehreren hunderttausend Todesopfern in beiden Ländern. Selbst in dem nur sechs Monate dauernden NATO-Krieg gegen Libyen sind nach Angaben des Nationalen Übergangsrats 30.000 bis 50.000 Menschen getötet worden – auf beiden Seiten des Bürgerkriegs und trotz des vermeintlichen »Schutzes« durch die Lufthoheit der NATO.

1990/91 – die weltpolitische Zäsur

So sehr die politische Klasse in den Hauptstädten der großen Mächte den 11. September 2001 als historische Zäsur hinzustellen versucht und daraus eine politische und moralische Legitimation zu weltweiten Interventionen ableitet, so sehr muss demgegenüber darauf hingewiesen werden, dass die Zäsur zehn Jahre früher stattfand, als das realsozialistische (Halb-) Weltsystem sich aus der Geschichte verabschiedete. Die bipolare Welt hatte aufgehört zu existieren und wich zumindest vorübergehend einer unipolaren Welt unter der unumstrittenen Suprematie der USA. US-Präsident George Bush (der Ältere) präsentierte am 11. September 1990 der Weltöffentlichkeit ein verheißungsvolles Programm für eine »Neue Weltordnung«. In seiner Rede vor dem Kongress und der Nation sagte er u.a.:

„In dieser schwierigen Zeit kann unser fünftes Ziel hervorgehen. Eine neue Ära, freier von Bedrohung durch Terror, stärker in der Durchsetzung von Gerechtigkeit und sicherer in der Suche nach Frieden. Eine Ära, in der die Nationen der Welt im Osten und im Westen, Norden und Süden prosperieren und in Harmonie leben können. 100 Generationen haben nach diesem kaum auffindbaren Weg zum Frieden gesucht. Heute kämpft diese neue Welt, um geboren zu werden, eine Welt, die völlig verschieden ist von der, die wir kannten, eine Welt, in der die Herrschaft des Gesetzes das Faustrecht ersetzt, eine Welt, in der der Starke die Rechte der Schwachen respektiert.

Nichts von dem, was Bush in dieser programmatischen Rede versprach, ist wahr geworden. Schon der bald darauf folgende zweite Golfkrieg 1990/91, den die USA mit einer »Koalition der Willigen« gegen den Irak geführt haben und der nur vordergründig die Befreiung Kuwaits zum Ziel hatte, konfrontierte die politische Lyrik mit der rauen Wirklichkeit. Dieser Krieg, obwohl ihm ein Mandat des UN-Sicherheitsrats zu Grunde lag, läutete in Wahrheit eine neue Ära in den internationalen Beziehungen ein, in denen mitnichten die „Herrschaft des Gesetzes das Faustrecht ersetzt[e]“, sondern in der die Welt vielmehr zum Faustrecht zurückkehrte.

Stationen dieser Erosion des internationalen Rechts waren die Intervention der USA und anderer Staaten (darunter die Bundesrepublik Deutschland, die nach der deutschen Vereinigung eine größere »Verantwortung« in der Welt übernehmen wollte) in Somalia (1992), der Krieg der NATO gegen das damalige Rest-Jugoslawien 1999 – wozu keinerlei UN-Mandat vorlag –, der Krieg gegen Afghanistan 2001, der sich zu Unrecht auf Resolutionen des UN-Sicherheitsrats berief (es ging um die Resolutionen 1368 und 1373 vom September 2001) und dem sich Deutschland bereitwillig anschloss, und der US-amerikanisch-britische Krieg gegen Irak 2003, der alle Normen des Völkerrechts, des humanitären Kriegsvölkerrechts (Haager Landkriegsordnung und Genfer Konventionen) und z.B. der Folterkonvention unter sich begrub. Der UN-mandatierte Krieg gegen das Libyen Gaddafis bildet den bisherigen Schlusspunkt des kriegerischen Treibens der NATO, nachdem sich die westlichen Mächte aus der anfänglichen Schockstarre angesichts der nicht vorhergesehenen und zunächst auch nicht gewollten Revolten in Tunesien und Ägypten gelöst hatten.

Es ist auch daran zu erinnern, dass seit dem Beginn des »Kriegs gegen den Terror« – er datiert mit dem Überfall auf Afghanistan vom 7. Oktober 2001 – im Grunde genommen nur das praktisch umgesetzt wurde, was in der 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts schon in Ansätzen begonnen hatte und was vor allem in den einschlägigen Dokumenten der NATO, der USA, der EU und der Bundesrepublik Deutschland, um nur einige zu nennen, unmissverständlich formuliert worden war. Von der Römischen Erklärung des NATO-Gipfels 1991 über die Verteidigungspolitischen Richtlinien der Bundesregierung 1992 bis zur Nationalen Sicherheitsstrategie des US-Präsidenten von 2002 (erneuert 2006), der Neuauflage der Verteidigungspolitischen Richtlinien 2003 und 2011, der Europäischen Sicherheitsstrategie vom Dezember 2003 und dem in Lissabon 2010 verabschiedeten neuen NATO-Konzept ziehen sich wie ein roter Faden die wesentlichen strategischen Ziele der imperialen Mächte: Die (militärische) Bekämpfung des internationalen Terrorismus, der Kampf gegen die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen, die Aufrechterhaltung des »freien Welthandels« und der »freie Zugang« zu den lebenswichtigen Rohstoffen der Welt (worunter die fossilen Energieressourcen eine besondere Bedeutung haben). Zu dieser Agenda des westlichen Imperiums gesellten sich unter Federführung George W. Bushs noch das usurpierte »Recht« auf »Regimewechsel« und auf den Export von Freiheit, Menschenrechten und Demokratie. Das »Responsibility to Protect«-Konzept einer hochrangigen Kommission aus dem Jahr 2001 war auch keine Antwort auf 9/11, sondern reflektierte auf eine ganz spezifische Art und Weise das »Versagen der Weltgemeinschaft« auf die Gräuel der Balkankriege.

Nicht mit 9/11, sondern mit dem Ende des »klassischen« Ost-West-Konflikts in Europa vor 20 Jahren haben sich die Koordinaten der Weltpolitik entscheidend verändert. Wir befinden uns seither in einer Übergangszeit, in der drei verschiedene Konstellationen nebeneinander existieren. Ich möchte das zu drei Thesen zuspitzen: Erstens hat der »Kalte Krieg« nicht wirklich aufgehört, zweitens stehen wir an der Schwelle eines neuen »Kalten Kriegs« und drittens befinden wir uns auf der Rückkehr in die Zeit vor dem Kalten Krieg.

1. Zur ersten These: Der Kalte Krieg, der in den 40 Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg der ganzen Welt seinen Stempel aufgedrückt hatte, ist nur aus einer eurozentrischen Perspektive beendet worden. In Ostasien und im pazifischen Raum hat der Kalte Krieg in Wirklichkeit nie aufgehört. Dies hat damit zu tun, dass in Asien der große Antipode der USA, die Volksrepublik China, von der Auflösung der Sowjetunion und des Warschauer Pakts nicht betroffen war und nicht in den Strudel des Zerfalls des Realsozialismus geriet. Unabhängig davon, wie sich die ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in China entwickeln werden, stellt das Land für die Supermacht USA eine große Herausforderung dar – auch wenn sich Peking Mühe gibt, nicht als Supermacht zu erscheinen. China ist in eine Reihe von Konflikten involviert, die über die Region hinaus weisen und die pazifische Hegemonialmacht USA auf den Plan rufen: Der Streit um Inseln im Chinesischen Meer etwa oder – vor allem – Pekings Anspruch auf Taiwan zählen genauso dazu wie das Aufeinandertreffen der beiden Mächte in Afrika. Hier geht es den USA ähnlich wie dem Hasen in der Geschichte vom Hasen und dem Igel: Überall wo die USA Fuß zu fassen versuchen, stellt sich heraus, dass China bereits hier ist. Auch die koreanische Halbinsel spielt eine herausragende Rolle in der Kontinuität des Kalten Kriegs. Und auch wenn wir den Blick nach Europa wenden, scheinen die alten Muster des Kalten Kriegs, insbesondere im Verhältnis zwischen NATO und Russland, wieder aufzuleben. Der kurze georgisch-russische Krieg um Südossetien im August 2008 war fast so etwas wie ein »Stellvertreterkrieg«: Die NATO wusste nun, wann für Russland die Grenze des Zumutbaren erreicht ist. Und Russland sollte wissen, welche Absichten die NATO und ihre Führungsmacht USA in der kaukasischen Region im Schilde führen.

2. Meine zweite These lautet: Bestehen einerseits noch überkommene Strukturen des Kalten Kriegs fort mit der Tendenz sich wieder zu verfestigen, so ziehen gleichzeitig neue Strukturen eines »Kalten Kriegs« am Horizont auf. Diese sind zweifacher Natur. Einmal geht es um die hochgradig ideologisch ausgetragene Konfrontation zwischen der »zivilisierten« und der »nicht zivilisierten«, der christlich-abendländisch-modernen Welt und der islamisch-»mittelalterlichen« Welt. Der unvermeidbare Zusammenstoß der Kulturen, den Samuel Huntington schon Anfang der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts kommen sah, scheint mit den Angriffen auf die Twin Towers eingeläutet worden zu sein. Schon lange vor Huntington, nämlich 1991, brachte Reinhard Schulz in einem lesenswerten Beitrag in der Zeitschrift »Peripherie« (Heft 41) die neue Weltsituation auf den Begriff:

„Folglich bedeutete der Zusammenbruch des Ost-West-Systems 1989/90 einen tiefen Einschnitt in die Selbstlegitimation. Fehlte nun das »Andere« als Projektionsfläche für die faktische Antithese in der eigenen Gesellschaft, drohte ein Defizit, ja eine Lücke in der Beschreibung des »Wir«. Der Kuwait-Krieg, der propagandistisch schon seit Ende August 1990 geführt wurde, konnte innerhalb kürzester Zeit diese Lücke wieder schließen. Aus dem Osten wurde der Orient, aus dem Kommunismus der Islam, aus Stalin Saddam Hussein. Die Antithetik, die für den Westen bestimmend ist, wirkte nur noch radikaler […] Der Islam wurde als Prinzip des Orients ausgemacht, als Bewahrheitung des irrationalen, gegenaufklärerischen Fundamentalismus, als Universalie, die nicht nur Ideologie ist, sondern allumfassend Gesellschaft, Kultur, Staat und Politik beherrschen will. Der Islam wird nun nicht nur als ideologische Antithese begriffen, sondern als gesamtkulturelle Antithese zum Westen und seiner universalistischen Identität. Der Islam gerät so zur Begründung des Gegen-Westens, zur Gegen-Moderne, ja zur Gegen-Zivilisation.“

Was die Situation heute von dem alten Kalten Krieg unterscheidet und so gefährlich macht, ist die Tatsache, dass die USA aufgrund ihrer militärischen Stärke diesen Kalten Krieg nach Belieben auch heiß führen können und das in Irak, Afghanistan und in Pakistan auch tun. Kompliziert wird die Situation noch dadurch, dass sich dem »Antiterrorkrieg« zum Teil auch Mächte verschrieben haben, die in anderen Zusammenhängen zu den erklärten Gegnern der USA gehören. Ich nenne hier als Beispiel die Schanghai-Organisation für Zusammenarbeit, die 1996 von China und Russland sowie den zentralasiatischen Republiken Kasachstan, Kirgistan und Tadschikistan ins Leben gerufen wurde. Die Schanghai-Organisation versteht sich nicht nur als regionaler Wirtschaftsraum, sondern sie verfolgt auch die Absicht, der zunehmend als Bedrohung empfundenen Unipolarität der USA in Zentralasien entgegenzutreten und den Anspruch auf eine »multipolare« Welt zu unterstreichen. Hinzu kommt die gemeinsame Furcht vor dem Anwachsen islamistischer Bewegungen. Im August vor vier Jahren führte die Organisation ein achttägiges Manöver mit dem bezeichnenden Titel »Friedensmission 2007« durch. Etwa 5.000 Soldaten und Offiziere mit 500 »technischen Einheiten«, größtenteils aus Russland und China, haben dabei den »antiterroristischen« Kampf geübt.

3. Meine dritte These lautet: Die westlichen Industriestaaten (einschließlich Japans), die den Kalten Krieg in relativer transatlantischer Geschlossenheit verbracht haben, gewinnen an außenpolitischer Bewegungsfreiheit zur Durchsetzung dessen, was sie selbst als nationale Interessen definieren. Die Risse, die periodisch immer wieder zwischen den USA und den EU-Staaten, aber auch innerhalb der EU sichtbar werden, deuten auf langfristige strategische Widersprüche hin, die über den Weg des politischen Kompromisses nicht endlos zu kitten sein werden. Das Interessante dabei ist, dass die Hauptakteure wieder dieselben sind, die schon vor hundert Jahren den Kampf um die Vorherrschaft in der Welt ausgetragen haben. Nach dem bekannten Sozialwissenschaftler und Philosophen Immanuel Wallerstein waren dies seit 1873 Deutschland und die Vereinigten Staaten. Sie repräsentierten bis 1913 die erfolgreichsten Ökonomien und lieferten sich von 1914 bis 1945 einen „dreißigjährigen Krieg“, der – in der Zwischenkriegszeit – nur von einem Waffenstillstand unterbrochen war. Deutschland hat nun im Rahmen der EU Verstärkung erhalten – die USA sind weiter auf sich gestellt und im Moment dabei, trotz weltweiten Engagements politisch in die Isolation zu geraten. Wallerstein gibt den USA nur noch wenige Jahre für den unabwendbaren Abstieg als eine entscheidende Macht in der Weltpolitik. Schon heute (Wallersteins Aufsatz stammt aus dem Jahr 2002) sei es so, dass die USA lediglich auf militärischem Gebiet eine Weltmacht darstellen, ökonomisch seien sie es längst nicht mehr. Für Wallerstein stellt sich deshalb nicht mehr die Frage, „ob die US-Hegemonie schwindet, sondern ob die Vereinigten Staaten einen Weg finden in Würde abzudanken, mit einem Minimum an Schaden für die Welt und für sie selbst.“

Die verlogenen Kriege des Westens

Die relativ einfache und gut durchschaubare Weltordnung der Bipolarität und des Systemwettstreits zwischen einem gezähmt und attraktiv erscheinenden Kapitalismus auf der einen und einem ökonomisch ineffizient und demokratisch defizitär erscheinenden Sozialismus auf der anderen Seite ist also heute von einem höchst explosiven Gemisch dreier sich überlagernde Konfliktkonstellationen abgelöst worden.

Sie finden in einem einzigen Krieg ihren konzentrierten Ausdruck, nämlich in Afghanistan. Das Land am Hindukusch hat neben seinen zahlreichen Bodenschätzen (die aber schwer zu fördern sind) nicht viel mehr zu bieten als eine für den Westen interessante geostrategische Lage. Dabei geht es nicht nur um die Kontrolle eines Territoriums, in dem bzw. durch das hindurch ein wichtiges Ölpipeline-Projekt realisiert werden soll: die Verbindung zwischen der öl- und erdgasreichen Kaspi-Region und dem Indischen Ozean, gleichsam ein Bypass, um russisches Gebiet zu umgehen. Es geht auch um die strategische Lage Afghanistans: Das Land am Hindukusch grenzt im Süden an Pakistan (dahinter im Südosten folgt Indien) und im Westen an Iran. Russland im Norden ist nur durch die zentralasiatischen ehemaligen Sowjetrepubliken Turkmenistan, Usbekistan und Kasachstan getrennt. Und im Osten reicht ein schmaler Landkorridor bis an die Grenze Chinas, des großen Antipoden der USA und der Europäischen Union im Kampf um die knapper werdenden Energieressourcen der Erde. Afghanistan liegt also inmitten »Eurasiens«, einer Region, in der nahezu die Hälfte der Menschheit lebt und die über zwei Drittel der weltweiten Öl- und Gasvorkommen verfügt. Afghanistan ist somit eine der begehrtesten strategischen Regionen der Erde, geradezu prädestiniert als eine Art terrestrischer Flugzeugträger und Stationierungsort für Radaranlagen und Raketenabschussrampen.

Die Konsequenz, mit der die USA in der Zeit der sowjetischen Besatzung Afghanistans alle Aufständischen mit Waffen und Logistik unterstützt haben, und die Unerbittlichkeit, mit der die heutigen Besatzer um die Kontrolle des Landes kämpfen, weisen darauf hin, dass der Westen die Empfehlung des großen Strategen Zbigniew K. Brzezinski aus den 1990er Jahren beherzigt: Für die „globale Vormachtstellung und das historische Vermächtnis Amerikas“ werde es „von entscheidender Bedeutung sein“, so können wir in seinem Buch »Die einzige Weltmacht« (1997) lesen, „wie die Macht auf dem eurasischen Kontinent verteilt wird“. Der »eurasische Kontinent« – darunter verstand Brzezinski vor allem die Region vom Schwarzen Meer, dem Kaukasus und dem Kaspischen Meer bis nach Zentralasien – ist also das „Schachbrett, auf dem sich auch in Zukunft der Kampf um die globale Vorherrschaft abspielen wird“. Daher rührt das Interesse Russlands, in Afghanistan zumindest indirekt einen Fuß in der Tür zu behalten. Auch nach dem Zerwürfnis mit der NATO wegen der Georgienkrise teilte der Generalstab in Moskau mit, die Afghanistan-Kooperation mit Brüssel „stehe nicht zur Diskussion“. Diese Haltung nimmt Russland heute noch ein und erlaubt den NATO-Fliegern Überflugsrechte.

Kurz bevor US-Außenministerin Hillary Clinton 2009 zu einem Europatrip aufbrach, um der NATO in Brüssel einen Besuch abzustatten, verkündete sie in einer Pressekonferenz, dass die neue Administration den Begriff »war on terror« aus ihrem Vokabular gestrichen habe (Wall Street Journal, 31.03.2009). Im Grunde folgt sie damit einer Empfehlung der RAND Corporation, die in einer Studie vom Juli 2008 nachgewiesen hatte, dass sich der »Krieg gegen den Terror« als kontraproduktiv herausgestellt habe. Das wichtigste Ergebnis aus der Studie, die 268 Terrorgruppen im Zeitraum von 1968 bis 2006 unter die Lupe genommen hatte: In den allermeisten Fällen wurde den Terrorgruppen eine Ende bereitet durch polizeiliche und geheimdienstliche Tätigkeiten oder dadurch, dass die Gruppen mit den jeweiligen Regierung Arrangements getroffen haben hinsichtlich der Durchsetzung ihrer politischen Ziele. Die US-Außenministerin und ihr Präsident haben bisher aber nichts unternommen, um den unter Bush eingeleiteten »Krieg gegen den Terror« real zu beenden. In Afghanistan und Pakistan wurde der Krieg sogar ausgeweitet. Hier geht es aber nicht mehr um einen Krieg gegen den Terrorismus, sondern – wie es in der speziellen Afghanistan-Erklärung des Straßburger NATO-Jubiläumsgipfels 2009 heißt – darum, „Sicherheit für das afghanische Volk zu schaffen, unsere Bürger zu schützen und die Werte, nämlich Freiheit, Demokratie und Menschenrechte, zu verteidigen“.

Die kommenden Kriege um Energie, Rohstoffe und Einflusssphären werden also künftig im Namen von Freiheit und Demokratie geführt werden. Das ist aber noch verlogener als der »war on terror«.

Peter Strutynski, Kassel, ist Politikwissenschaftler und Friedensforscher und verantwortlich für die friedenspolitische Website www.ag-friedensforschung.de; außerdem ist er Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag.

Innenansichten eines Empire in der Krise

Die USA zehn Jahre nach 9/11

von Ingar Solty

Die barbarischen Terroranschläge vom 11. September 2001 trafen das Zentrum und die Symbole der Macht der USA. Dies geschah nicht zum ersten Mal. Schon zweihundert Jahre zuvor, im Krieg von 1812 zwischen den USA und Kanada, war es der kanadischen Seite gelungen, das Weiße Haus in Brand zu stecken. Und bei dem oft als Vergleich herangezogenen Angriff der japanischen Luftwaffe auf den Stützpunkt der amerikanischen Flotte in Pearl Harbor 1941 wurde nicht nur eine wichtige Basis der US-Welthandelsmacht getroffen, sondern schon damals auch ein Symbol der militärischen Überlegenheit über die anderen westlich-kapitalistischen Staaten. Die Terroranschläge vom 11. September jedoch trafen das American Empire auf dem Höhepunkt seiner Macht, als übrig gebliebene Supermacht am Ende einer vermeintlichen Neuerfindung des Wirtschaftszyklus im Rahmen der »New Economy«. Zehn Jahre später befinden sich die USA in einer tiefen Krise, wobei die Reaktion des Landes auf 9/11 die weltwirtschaftlichen und weltpolitischen Verschiebungen der Gegenwart noch einmal beschleunigten.

Es liegt in der Natur der USA als Imperium, dass die größten Auswirkungen von 9/11 außerhalb der Landesgrenzen zu spüren waren. Dennoch sind die Folgen von 9/11 aber natürlich innenpolitisch von großer Bedeutung, nicht zuletzt, weil sich die Politik des American Empire nur begreifen lässt, wenn die Wechselwirkungen zwischen »innen« und »außen« bedacht werden.

Die Anschläge vom 11. September waren monströse kriminelle Akte, eine Kriegserklärung waren sie allerdings nicht. Im Gegensatz zu Pearl Harbor handelte es sich bei den Drahtziehern nicht um Soldaten, die im Auftrag eines souveränen Staates handelten. Stattdessen handelte es sich um eine Gruppe von global agierenden terroristischen Einzeltätern aus den verschiedensten arabischen Ländern (insbesondere aus Saudi-Arabien), die Teil eines losen Netzwerkes bildeten. Die Verfolgung und Bestrafung der Anschläge wäre also eine Aufgabe für die internationalen Strafverfolgungsbehörden in Zusammenarbeit mit den US-Gerichtsbehörden gewesen. Dass eine Umdeutung der terroristischen Anschläge zu einem »Krieg« erfolgte, ist eine Wendung, deren innen- und außenpolitischen Folgen wir als geschichtliche Zeitzeugen wohl noch nicht ermessen können.

Den »Neocons« vom rechten Flügel des American Empire boten die Anschläge die Gelegenheit, in die Zeit des Zusammenbruchs der Sowjetunion zurückreichende Pläne zur US-Imperialpolitik und zur Umstrukturierung des Mittleren Ostens zu verwirklichen. Im Rahmen der Präemptivkriegsdoktrin von US-Präsident George W. Bush wurden nach 9/11 die außenpolitischen Weichen in Richtung einer offensiven Politik des permanenten Krieges gestellt. Wie sehr sich die Einstellung gegenüber westlichen Kriegseinsätzen und die Sensibilität gegenüber der Erosion von Rechtsstaatlichkeit und Völkerrecht geändert hat, lässt sich nicht nur anhand der gezielten Tötung von politischen Gegnern in formal souveränen Staaten ablesen, sondern auch anhand des gegenwärtigen Libyenkriegs, der ohne große Friktionen in kürzester Zeit von der UN-mandatierten Einrichtung einer Flugverbotszone zum Schutz der Zivilbevölkerung in eine Politik des Regime-Change qua Bombardement gegen einen (wieder) in Ungnade gefallenen Diktator übergegangen ist. Die breite gesellschaftliche Akzeptanz dieser Entwicklung ist ohne die innenpolitischen Konsequenzen der Anschläge vom 11. September nicht zu verstehen.

Permanenter Krieg und Burgfrieden

Das eigentliche Ziel des »permanenten Kriegs« war der Irak. Der zurückgetretene Sicherheitsberater der Bush-Administration, Richard Clarke, legte in seinem Buch »Against All Enemies« offen, dass man ihn schon am 12.9. dazu drängte, eine Verbindung zwischen den Anschlägen und dem diktatorisch regierenden irakischen Staatsoberhaupt Saddam Hussein herzustellen. Dass diese Propaganda Wirkung zeigte, belegen Statistiken, denen zufolge bis heute konstant zwischen 35% und 45% der US-Bevölkerung davon überzeugt sind, dass Saddam Hussein die Anschläge vom 11. September plante, finanzierte oder selber durchführen ließ. Während die Kriege im Irak und in Afghanistan weltweit zu einem dramatischen Ansehensverlust der USA führten, von dem diese sich erst 2008 – dem Jahr der Obama-Wahl – einigermaßen erholten, erlangte der in Afghanistan und im Irak geführte »War on Terror« in den USA selbst jahrelang breite Zustimmung, weil es der Bush-Regierung hervorragend gelang, die verschiedensten Klaviaturen der Kriegslegitimation zu spielen und die eigene Aggression als einen defensiven oder wenigstens altruistischen Akt darzustellen: Die Begründungslinie zog sich vom scheinbar defensiven »Antiterrorkampf« gegen den Laizisten Saddam Hussein (der die islamistische Opposition in seinem eigenen Land in Wirklichkeit brutal unterdrückt hatte) über die Beschwörung einer unmittelbaren Bedrohungslage (Massenvernichtungswaffen) bis zur humanitären Intervention (Modelldemokratie Irak im Mittleren Osten).

Angesichts einer starken rechtspopulistischen Bewegung mit ausgeprägten autoritären und ultranationalistischen Zügen entfesselte der 11. September 2001 im Lande ein Klima der Angst und der Einschüchterung. Nachdem Fernsehmoderatoren wie Bill Maher für kritische Äußerungen zur Bewertung der Anschläge entlassen worden waren, wurde die Frage nach der Ursachenerklärung weitgehend tabuisiert. Der Unterschied zwischen einer Erklärung und einer Rechtfertigung wurde verwischt, und es waren nur vereinzelte Stimmen wie die des altkonservativen ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Patrick J. Buchanan, die auf den infantilisierenden Umgang mit den Anschlägen in Regierung und Öffentlichkeit hinwiesen. So kritisierte Buchanan in seinem Buch »Where the Right Went Wrong« von 2004, dass die Formeln „They hate our freedom“ und „Freedom itself is under attack“ die Intelligenz eines Zweijährigen beleidigten, weil sie eine Diskussion über einen Zusammenhang zwischen US-Imperialpolitik (Militärpräsenz im arabischen Raum, US-Sanktionspolitik gegen den Irak etc.) und den Anschlägen unterbanden.

So erklärt sich ein zeitweiliger Burgfrieden zwischen den Klassen als Folge der Terroranschläge. Das Streikniveau ging merklich zurück, das Spektrum der veröffentlichten Meinung wurde enger und die autoritär-nationalistische Einschüchterung erstreckte sich bis auf die populäre Kultur (man denke z.B. an die Aufregung über kriegskritische Äußerungen der Country-Gruppe Dixie Chicks auf einem Konzert kurz nach Kriegsbeginn in London). Dabei spielte für den Burgfrieden auch eine Rolle, wie es gelang, den 11. September sowohl als einen Anschlag auf den wie als ein Heldenstück des einfachen amerikanischen Arbeiters darzustellen, der in der Figur des heroischen New Yorker Feuerwehrmanns sein Symbol fand. Kurzum: Nachdem die USA in den 1990er Jahren noch von einem Anschwellen der anti-neoliberalen (Arbeiter-) Bewegungen gekennzeichnet gewesen war, überlagerte die so genannte »nationale« zunehmend die soziale Frage. Die USA gingen sozusagen von der »Battle of Seattle« nahtlos zum »War on Terror« über.

Rechtspopulismus und Islamfeindlichkeit

Die unmittelbarste Folge der Anschläge aber war die Entstehung und Verfestigung eines verschärften rassistischen Klimas, das zumindest logisch mit der Idee des Burgfriedens verknüpft ist. Die islamischen Verbände in den USA distanzierten sich zwar laut und unmissverständlich von den Anschlägen. Trotzdem folgte unmittelbar nach 9/11 eine medial relativ wenig beachtete Welle von Gewalttaten gegen muslimische und vermeintlich muslimische Amerikaner sowie von (Brand-) Anschlägen auf islamische Einrichtungen. Das FBI gab die Anzahl der unmittelbar nach dem 11. September registrierten, rassistisch motivierten Straftaten mit 350 an. Bis 2011 wurden rund 800 Vorfälle offiziell als solche Taten registriert und verfolgt, darunter mehrere islamfeindlich motivierte Morde wie demjenigen an einem New Yorker Taxifahrer, den sein Fahrgast fragte, ob er Muslim sei, und ihn danach erstach. Die Bush-Regierung reagierte auf diese Gewaltwelle mit halbherzigen Appellen an die Bevölkerung, in denen immerhin der Versuch gemacht wurde, der Gleichsetzung von Islam und Islamismus entgegenzuwirken. Gleichzeitig bediente sich die Bush-Administration traditioneller und neuer Vorurteilsstrukturen zur Forcierung ihrer Kriegsagenda im Mittleren Osten. Erst gegen Ende der Regierungszeit von Bush wurde interveniert, so z.B. als Condoleeza Rice die Verwendung von islamfeindlicher Terminologie wie »Islamfaschismus« in den US-Militärapparaten zu unterbinden versuchte.

Die Islamfeindlichkeit zeigte dabei die Anpassungsfähigkeit rechtspopulistischer Vorurteilsdenkweisen und verschmolz relativ reibungslos mit den Kulturkampf-Themen der Christlichen Rechten der 1980er und 1990er Jahre. Besondere Bedeutung hatten hierfür alte und neue Intellektuelle der Rechten wie z.B. der extreme Radiomoderator Michael Savage, der Fox-News-Kommentator Sean Hannity oder die rechte Provokateurin Ann Coulter, die ihre Quote machende Volksverhetzung unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit in mehreren Millionen amerikanischen Wohnzimmern verbreiteten.

Die rechtspopulistische Islamfeindlichkeit schlug sich jedoch nicht nur »zivilgesellschaftlich« nieder, sondern ging und geht weiter Hand in Hand mit der Innenpolitik des Staates. Die Erosion der Rechtsstaatlichkeit auf der internationalen Ebene ist eine der entscheidendsten Folgen des 11. September 2001. Flankiert wird sie von einer beispiellosen Illiberalisierung im Innern. Denn während direkte, islamfeindlich-rassistisch motivierte Gewalttaten im Laufe der Jahre 2002 und 2003 abebbten, bleibt die Politik der rassistischen Stereotypisierung und Rasterüberwachung im Rahmen des »Patriot Act« auf hohem Niveau virulent und beeinflusst so wiederum die gesellschaftliche Wahrnehmung.

Die unter dem Stichwort »Patriot Act« zusammengefassten Gesetze zur inneren Sicherheit knüpften dabei an traditionelle Methoden des McCarthyismus an. Dazu gehören so unterschiedliche Maßnahmen wie das Abhören und Überwachen von Telefon- und Email-Kommunikation auch ohne richterlichen Beschluss, die Internierung auf Verdacht, die jahrelange Inhaftierung ohne Gerichtsverfahren, die Verurteilung allein aufgrund von Verbindungen zu realen oder mutmaßlichen Straftätern (guilt by association) und Folter. Hierzu stützten und stützen sich die USA auf ein System von Geheimgefängnissen, von denen Guantanamo nur das berüchtigtste ist. So entstand ein System verschiedener Rechtssphären: von rechtsfreien Räumen über Grauzonen bis zum verfassungsgemäßen US-Rechtssystem. Erst unter Obama wurden die gröbsten Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit aufgehoben, und den Terrorverdächtigen wurde wenigstens in Guantanamo die Möglichkeit der Rechtsvertretung vor US-amerikanischen Gerichten eingeräumt. Die meisten Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit setzen sich aber ungehindert fort. Die Zahl der von Telefon- und Email-Überwachung, FBI-Befragungen und Ermittlungsverfahren betroffenen amerikanischen Muslime und politisch unliebsamen Gegner geht mittlerweile in die Hunderttausende. Dabei sind die Muslime vor allem Opfer: 2011 gaben 48% der befragten Muslime in einer US-Umfrage an, im vergangenen Jahr von »rassistischer oder religiöser Diskriminierung« betroffen gewesen zu sein – das sind deutlich mehr als bei allen anderen Religionsgruppen in den USA.1

Die anhaltende Diskriminierung der amerikanischen Muslime und »Gefährder« fand und findet in den Medien kaum Beachtung. Jenseits von vereinzelten Bürgerrechtsorganisationen wie der American Civil Liberties Union oder muslimischen Interessensorganisationen wie CAIR hat sich eine Normalität der Ausnahmegesetzgebung etabliert. Beflügelt wird sie durch eine Mischung von Unkenntnis über »den Islam«, aus der Vorurteile und Fremdenfeindlichkeit entstehen, und aktiver Befürwortung rassistisch begründeter Repressionspolitik. So heißt inzwischen fast die Hälfte aller nicht-muslimischen Amerikanerinnen und Amerikaner gesonderte Repressalien gegenüber amerikanischen Muslimen gut. Meinungslagen wie diese gedeihen auf dem Boden des großen rechtspopulistischen Spektrums und der signifikanten islamfeindlichen Minderheit. Verschiedenste Studien haben gezeigt, dass ungefähr ein Drittel der US-Bevölkerung islamfeindlich eingestellt ist. Zu den zentralen Überzeugungen der islamfeindlichen Bewegung und ihres Dunstkreises gehört die Annahme, »der Islam« sei an sich eine gewaltorientierte politische Ideologie, monolithisch und nicht-anpassungsfähig, grundsätzlich von anderen Religionen verschieden, teile von daher nicht dieselben Werte wie die anderen Religionen und sei archaisch-barbarisch. Dabei artikuliert sich dieses Umfeld nicht nur in Bezug auf pauschal ablehnende Aussagen. Es schlägt sich auch in Umfragen mit konkreterem Inhalt nieder, z.B. solchen, die belegen, dass rund ein Drittel der Amerikaner ihren muslimischen Mitbürgern das Recht absprechen, für den Obersten Gerichtshof oder das Präsidentenamt zu kandidieren.

Die rege islamfeindliche Bewegung in den USA ist dabei mit ihren Kampagnen durchaus hegemoniefähig. Zwei drastische Beispiele hierfür sind zum einen die absurde verfassungsrechtliche Verankerung einer Unvereinbarkeitsklausel zwischen bürgerlichem Gesetz und Scharia in der Staatsverfassung von Oklahoma 2010 oder in New York die Kampagne gegen den Bau einer Moschee und einer (inter-) kulturellen Begegnungsstätte in der Nähe von »Ground Zero« im selben Jahr, den etwa eine Drei-Fünftel-Mehrheit ablehnte.

Autoritarismus nach dem 11. September

Die Erosion der Bürgerrechte und demokratischen Freiheiten geht jedoch weit über den Umgang mit der islamischen Minderheit in den USA hinaus. Die Tendenzen zu einem autoritären Kapitalismus in den USA sind weniger konjunkturell als mancher Beobachter vielleicht vermuten würde. Es ist weithin anerkannt, dass der Hurrikane Katrina und das Versagen der Bush-Regierung in ihrem Krisenmanagement als das geschichtliche Ereignis gesehen werden kann, das der zeitweiligen Ausblendung der gesellschaftlichen Klassenwidersprüche unter den Bedingungen des nach außen gerichteten Kriegs ein Ende setzte. Seit Katrina richtete sich der Fokus der gesellschaftlichen Debatte zunehmend wieder nach innen. Die Bush-Regierung geriet in die Kritik des marktradikalen Rechtslibertarismus, die Spaltungspotenziale innerhalb der Republikanischen Partei entfalteten sich, und die gemäßigte Linke erholte sich von ihrer politischen Paralyse nach dem 11. September 2001.

Aber auch wenn der Krieg zunehmend unpopulärer geworden ist, kann daraus nicht geschlossen werden, dass die USA zum Status quo ante zurückkehren. Der Autoritarismus seit 9/11 ist ein hartnäckigeres gesellschaftliches Phänomen, das von zahlreichen Umfragen immer wieder bestätigt wurde und neue ideologische Denkmuster produziert hat, mit denen in Zukunft zu rechnen sein wird und auf die künftig zurückgegriffen werden kann. Die wahrscheinlich einschneidendste Entwicklung ist dabei die breite gesellschaftliche Zustimmung zu Elementen des Ausnahmestaats. So hält sich der Bevölkerungsanteil, der Folter als politisches Mittel ausdrücklich und pauschal befürwortet, konstant bei etwa 50%. Auch andere Aspekte der Ausnahmegesetzgebung und des offenen Bruchs mit der Rechtsstaatlichkeit stützen sich nach wie vor und zum Teil sogar verstärkt auf breite gesellschaftliche Zustimmung. So spricht sich beispielsweise eine Mehrheit der US-Amerikanerinnen und US-Amerikaner gegen eine Schließung des Gefangenenlagers in Guantanamo aus, die Barack Obama in seinem Wahlkampf 2008 noch versprochen hatte (schon damals war diese Forderung durchaus umstritten). Auch die Verlängerung zentraler Gesetzesteile des kurz nach dem 11. September 2001 von der Bush-Regierung verabschiedeten Patriot Act, der eine weitreichende Einschränkung der Bürgerrechte mit sich brachte, konnte von Obama weitgehend reibungslos und ohne große gesellschaftliche Debatte verabschiedet werden.

Die politischen Auswirkungen des 11. September 2001 und der »War-on-Terror«-Dekade sind also verheerend. Dabei kam es – wie Frances Fox Piven in ihrem Buch »The War at Home« für die ersten zwei Kriegsjahre analysiert hat – durchaus zu einer Verschränkung von innenpolitischer und außenpolitischer Agenda der Bush-Administration. So ermöglichte der politische Ausnahmezustand des »War on Terror« die Durchsetzung einer radikalen Agenda des »starving of the beast«, d.h. der systematischen Unterfinanzierung der staatlichen Sozialdienste zur Schaffung von (Ausnahme-) Bedingungen, unter denen populäre Sozialprogramme gekürzt und im Idealfall nach finanzmarkt-kapitalistischen Vorgaben umstrukturiert und ihre Leistungen für die profitorientierte Privatwirtschaft in Wert gesetzt werden können. (Allerdings scheiterten die Bestrebungen der Bush-Administration, die staatliche Renten- und Alterskrankenversicherung zu privatisieren.)

Die Rezession, die die USA zwischen 2001 und 2003 erfasste, war allerdings nicht vom 11. September 2001 verursacht, 9/11 verstärkte lediglich die Rezessionstendenzen und erschwerte die Erholung der Wirtschaft. Die eigentlichen Ursachen für die wirtschaftliche Krise lagen in der finanzgetriebenen Akkumulation, die mit dem Platzen der Dot-Com-Blase in die Rezession mündete. Das erste von zwei gigantischen Steuersenkungspaketen der Bush-Regierung, das den unter Clinton ausgeglichenen Staatshaushalt ins Ungleichgewicht brachte, wurde in Reaktion auf die Rezession schon im März 2001 verabschiedet. Die Verabschiedung des zweiten Pakets 2003 jedoch wurde durch die Bedingungen des »War on Terror« immens erleichtert.

Fiskalische Zwangsjacke

Die Steuersenkungen wurden von der Bush-Regierung als Sondergesetze mit einer begrenzten Laufzeit deklariert. Nachdem sich die rechtspopulistische Tea-Party-Bewegung bei den Zwischenwahlen 2010 als Jungbrunnen für die Republikanische Partei erwiesen hatte, ging der unverhohlene Plan der republikanischen Strategen auf, die neoliberalen Steuersenkungen dauerhaft zu verankern. Im Gegenzug für die Zustimmung der Republikaner zur Verlängerung der Arbeitslosenbezugsdauer, die nach Clintons Zerstörung der Arbeitslosenversicherung dem Ausmaß der (Welt-) Wirtschaftskrise 2008ff. in keinster Weise mehr gewachsen war, stimmte Präsident Obama der Verlängerung der Bush-Steuersenkungsgesetze zu. Im August 2010 schätzte das Haushaltsbüro des US-Kongresses (Congressional Budget Office) die zu erwartenden Steuerausfälle für den Zeitraum 2011-2020 auf 3,3 Billionen US-Dollar. Das »gigantische« Konjunkturpaket der Obama-Administration 2009 belief sich lediglich auf 787 Mrd. US-Dollar. In diesem Sinne beschränkten die Steuersenkungen vor und nach dem 11. September 2001 nicht zuletzt den Spielraum des Krisenmanagements der neuen Regierung für eine post-neoliberalisierende Green-New-Deal-Politik.

Zu den dramatischen Ausfällen auf der Einnahmenseite kommen die ebenso dramatischen Kosten auf der Ausgabenseite hinzu. Die Bush-Regierung steigerte den Anteil der Rüstungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt 2008 auf das Niveau der Reagan-Ära. Gleichzeitig förderte die Teilprivatisierung des Sicherheitsapparats der USA zugunsten von im staatlichen Auftrag handelnden Profitunternehmen auf der Grundlage von zumeist unausgeschriebenen Verträgen die Kostenexplosion für den Staat. Die Gesamtkosten der US-Kriegspolitik im Irak wurde vom Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz mit drei Billionen US-Dollar veranschlagt. 2011 errechnete eine sorgfältige Studie der Brown University für die Kosten aller Kriegsaktivitäten im Irak, Afghanistan und Pakistan eine Gesamtsumme von vier Billionen US-Dollar.2

Es sind diese beiden Momente (die Bush’schen Steuersenkungen und die Kosten der beiden Kriege), die als direkte oder indirekte Folgen von 9/11 für die Verwandlung der alljährlichen Haushaltsüberschüsse der Clinton-Administration in die Schulden der beiden Nachfolgeregierungen ursächlich verantwortlich sind. Dabei zeigt sich noch einmal eindrucksvoll, dass die gesamte Schuldenkrise, die die strukturellen Ursachen der gegenwärtigen Weltwirtschaftskrise verdeckt, nicht nur Folge einer Verlagerung der Krise vom Banken- über den Industriesektor auf die Staaten, sondern auch der jahrzehntelangen neoliberalen Steuersenkungen und damit der Schwächung der Staateseinnahmen ist.

In den beiden Amtsperioden George W. Bushs vom Januar 2001 bis Dezember 2008 steigerte sich die Gesamtverschuldung der USA von 5,7 Billionen US-Dollar auf 10,7 Billionen US-Dollar. Unter Obama wuchs der Schuldenberg in Folge der krisenbedingten Steuerausfälle und des staatlichen Krisenmanagements – sprich: der Sozialisierung der Krisenkosten – um weitere 3,5 Billionen US-Dollar an. Nun tobt eine Debatte zwischen austeritätspolitisch orientierten Monetaristen und ihren keynesianischen Kritikern wie Paul Krugman, James K. Galbraith und Jared Bernstein, ob durch staatliche Konjunkturprogramme die Gefahr der Geldentwertung oder des »Vertrauensverlusts« der internationalen Kapitalmärkte und damit des Kapitalabzugs aus den (US-) Staatsanleihen real ist oder nicht. Fest steht, dass die Politik des »starving of the beast« ihre Wirkung nicht verfehlt hat, denn real oder imaginiert bedeutet das US-Haushaltsdefizit Fesseln für jeden Ansatz einer den Interessen der Wall-Street-Finanzakteure entgegenstehenden, reformorientierten Krisenpolitik, die über die Wiederherstellung des neoliberalen status quo per (»keynesianischer«) Staatsintervention hinausgeht.

Von 9/11 zu »Occupy Wall Street«?

Die US-Gesellschaft befindet sich zehn Jahre nach dem 11. September 2001 in einem Zustand relativer Unregierbarkeit und Paralyse. Der »War on Terror« stand als Chiffre für das, was Rainer Rilling in seinem 2008 erschienenen Buch »Risse im Empire« als das Projekt des „rechtsimperialen Flügels“ der herrschenden Klasse in den USA bezeichnet hat. Dazu gehörte der Versuch, den erschwerten Bedingungen der US-Hegemonialpolitik nach 1991 durch ein aggressives, neoimperialistisches Projekt der Dominanz und der Kontrolle zu begegnen. Der Versuch, den relativen weltwirtschaftlichen Bedeutungsverlust auf diese Weise abzuwenden oder wenigstens zu verlangsamen, ist gescheitert. Eines der Hauptergebnisse der 9/11-Dekade ist, dass die USA heute schwächer dastehen als jemals, seitdem sie die Rolle des Hegemons unter den entwickelten kapitalistischen Ländern übernahmen.

Die 9/11-Dekade ist also nicht spurlos an den USA vorbeigegangen. Eine entscheidende Folge der Politik, die durch die Anschläge vom 11. September ermöglicht wurde, ist die Verfestigung der sozialen Deutungsmuster der rechtspopulistischen Bewegungen und Kreise, die von der gesellschaftlichen Ohnmacht und den Abstiegsängsten wachsender Teile der unter prekären Bedingungen beschäftigten (weißen) Mittelschichten profitieren. Befördert und materiell gefördert werden deren soziale Deutungsmuster nicht nur von Strategen der Republikanischen Partei, denen diese als subalterne Massenbasis dient, sondern auch von einflussreichen großkapitalistischen Akteuren, die mit ihrer Hilfe zu verhindern gewusst haben, dass sie im Rahmen eines etwaigen Green New Deals zur Finanzierung der Krisenkosten und zum grünkapitalistischen Umbau der US-Ökonomie herangezogen werden.

Eine der wesentlichen Erfolgsbedingungen scheint sich damit plötzlich als Hemmschuh der Erneuerungsfähigkeit des US-Kapitalismus zu erweisen: Die Schwäche derjenigen gesellschaftlichen Oppositionsbewegungen, ohne die der Kapitalismus reformunfähig ist. Die brisante Mischung jedenfalls aus tendenzieller sozialer Krise, gesellschaftlichen Verteilungskämpfen, politischer »Unregierbarkeit« und einer starken rechtspopulistischen Bewegung verheißt nichts Gutes. Zehn Jahre nach 9/11 und drei Jahre nach Ausbruch der Weltwirtschaftskrise in Folge der Lehman-Pleite sind im Kontext der austeritätspolitischen Wende zwar durchaus Anzeichen einer Wiederbelebung des sozialen und politischen Protests gegen staatliche Austeritätspolitik zu beobachten. Von den Wisconsin-Protesten vom Frühjahr 2011 bis zur New Yorker Occupy-Wall-Street-Bewegung mit ihren Ablegern in Chicago, Boston und San Francisco vom Herbst 2011 reihen sich die USA prominent in die Reihe der Länder ein, in denen gesellschaftliche Widerstandsbewegungen gegen die Abwälzung der Krisenkosten auf die Lohnabhängigen entstehen. Die Proteste in Wisconsin und das Bündnis zwischen Staat und Tea-Party-Bewegung gegen die Gewerkschaften im öffentlichen Dienst erinnern aber auch an dunkle Kapitel in der Geschichte der US-Arbeiterbewegung, die eine entsprechende Wiederholung denkbar werden lassen.

Anmerkungen

1) Vgl. ausführlicher: Goodstein, Laurie (2011): Muslims Are Loyal to U.S. and Hopeful, Poll Finds. In: New York Times, Ausgabe vom 8. März 2011.

2) Die in den unterschiedlichen Quellen sehr variierende Anzahl der im »War on Terror« insgesamt Getöteten wurde in derselben Studie mit 225.000 Menschen angegeben. Dazu gehören fast 5.000 im Irak und rund 1.750 in Afghanistan gefallene US-Soldaten, von denen viele Opfer des »Economic Draft« wurden, d.h. der Tatsache, dass die US-Armee für viele junge Menschen aus den unteren sozialen Schichten die einzige realistische Karrieremöglichkeit darstellt. Neben den getöteten Soldaten hat der »War on Terror« fast 50.000 Verwundete US-Soldaten hervorgebracht (33.000 im Irak, 14.000 in Afghanistan) – eine Zahl, die im Vergleich zu früheren Kriegen in ihrem Verhältnis zu den »Gefallenen« aufgrund der medizinischen Fortschritte besonders hoch ausfällt.

Ingar Solty ist Politikwissenschaftler und Doktorand an der York University in Toronto. Seit 2005 ist er Redakteur bei »Das Argument«, außerdem ist er Gründungsmitglied des »North-Atlantic Left Dialogue«. Er ist Mitverfasser und Autor von »Der neue Imperialismus« (Distel Verlag, 2004), »Das Obama-Projekt« (VSA, 2008) und »Imperialismus« (Papy Rossa Verlag, 2011).

Mit Sicherheit gegen Sicherheit und Freiheit

von Elke Steven

Aktuell stehen in Deutschland die Sicherheitsgesetze auf dem Prüfstand, die in Folge von 9/11 erlassen worden sind. Nach einigen Auseinandersetzungen haben sich die Koalitionspartner letztlich auf eine Verlängerung des Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetzes (TBEG) geeinigt, die im Januar 2012 in Kraft tritt. Erneut findet keine gründliche und unabhängige Prüfung statt. Die Befugnisse der Geheimdienste werden sogar noch erweitert, und es wird nur auf solche Befugnisse verzichtet, die sowieso kaum oder gar nicht genutzt worden sind. Mit der Diskussion um die Verlängerung stand jedoch nur ein kleiner Teil all der Sicherheitsgesetze, die im letzten Jahrzehnt erlassen wurden, auf dem Prüfstand. Und in den Jahrzehnten davor wurden die Sicherheitsgesetze ebenfalls schon ständig erweitert und neue Eingriffsbefugnisse geschaffen.

Blick zurück

Seit den Ereignissen von 9/11 wird an erster Stelle das Feindbild »Islamismus« gepflegt. Dies hat folgenschwere Auswirkungen für alle Ausländer, insbesondere aber für die muslimischen Glaubens. Zugleich wurden weitreichende Möglichkeiten der Überwachung geschaffen, die prinzipiell alle betreffen können, von denen aber bestimmte Gruppen – und wiederum an erster Stelle MigrantInnen muslimischen Glaubens – besonders betroffen sind.

Der Staat hat das Monopol auf legitime physische Gewaltsamkeit (Max Weber). Im demokratischen Rechtsstaat, der an die Menschenrechte gebunden ist, muss dieses Gewaltmonopol jedoch demokratischer Kontrolle unterliegen. Staatliches Handeln muss berechenbar und rechtlich überprüfbar sein. In seinen Institutionen und Verfahren muss der Rechtsstaat an den Menschen- und Bürgerrechten ausgerichtet sein. Insofern der Staat die Freiheitsrechte des Bürgers garantiert, stellt sich die Frage, wie weit er diese einschränken darf, um die Sicherheit des Staates oder der Bürger zu gewähren. Wird ein Staat wirklich sicherer, wenn die Bürger ihrer Freiheitsrechte beraubt werden? Ab wann hört er auf, ein demokratischer Rechtsstaat zu sein?

Ist der 11. September 20001im Hinblick auf die gesellschaftliche Militarisierung, die Entdemokratisierung, das Zurückdrängen von Menschenrechten, die Ausweitung staatlicher Befugnisse zur Überwachung wirklich ein grundlegender Einschnitt? Müssten nicht eher die Kontinuitäten beschrieben werden, für deren Begründung nur ein neues Damoklesschwert gefunden wurde?

Im Namen der Inneren Sicherheit werden die Möglichkeiten der Datenspeicherung und -verarbeitung, der Überwachung und der Eingriffe in die Freiheitsrechte der Bürger und Bürgerinnen schon seit Jahrzehnten immer weiter ausgedehnt. Vom Kampf gegen die Bedrohung durch die Rote Armee Fraktion und Revolutionäre Zellen über den Kampf gegen die Organisierte Kriminalität und gegen Sexualstraftaten bis hin zur aktuellen Terrorismusbekämpfung reichen die Begründungen. Geändert haben sich im Verlauf der Zeit vor allem die technischen Möglichkeiten.

Schon lange vor 9/11 war die Rede vom Polizeistaat,1, Sicherheitsstaat oder Präventionsstaat. Schon 1995 schrieb der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG), der Überwachungsstaat sei nicht fern, wo die Freiheit als Gefährdung und die Sicherheit als ein Rechtsgut erscheinen.2 Von einem »Recht auf Sicherheit«, das es als Bürger- oder Menschenrecht nicht gibt, ist erst seit 9/11 immer wieder die Rede.

Im »Grundrechte-Report 2008« hat Burkhard Hirsch die Entwicklungen im Kontext staatlicher Sicherheitsproduktion kurz, prägnant und erschreckend zusammengefasst:

„Dem Anti-Terrorismus-Gesetz von 1976 folgten das Gesetz zur Bekämpfung des Terrorismus von 1986, das umfangreiche Gesetz zur Bekämpfung der Organisierten Kriminalität von 1992, das Verbrechensbekämpfungsgesetz von 1994, das Gesetz zur Verbesserung der Bekämpfung der Organisierten Kriminalität von 1998 mit der Einführung des so genannten Großen Lauschangriffs, die Terrorismusbekämpfungsgesetze von 2002 und 2003 und das Terrorismusbekämpfungsgesetz von 2006 mit jeweils umfangreichen Änderungen des Straf- und Strafprozessrechts und des Passgesetzes, mit äußerst rücksichtslosen Verschärfungen des Ausländerrechts und vor allem mit immer weitergehenden Eingriffsbefugnissen der Nachrichtendienste im Inland. Das wurde ergänzt durch Änderungen der Polizei- und Verfassungsschutzgesetze, das Telekommunikationsgesetz von 1996 und dessen Novellierung, das Zuwanderungsgesetz von 2004, das Luftsicherheitsgesetz von 2005 und das im Bundestag anhängige Gesetz über heimliche Ermittlungen und die so genannte Vorratsdatenspeicherung [9. November 2007 verabschiedet, Anm. d. Verf.], die insofern eine neue Qualität darstellt, als sie die Telekommunikationsverbindungsdaten aller Art von jedermann ohne jeden Anlass erfassen soll [und um die der Streit noch währt, weil das BVerfG dieses zum Teil für rechtswidrig erachtet hat, Anm. d. Verf.].“3

Einige Entwicklungen vor und nach 9/11

Der große Lauschangriff

Der große Lauschangriff wurde durch eine schwarz-gelb-rote Grundgesetzänderung am 6. März 1998 möglich – er wurde erst im März 2004 vom Bundesverfassungsgericht als grundgesetzwidrig eingestuft. 2005 verabschiedete der Bundestag ein neues Gesetz zum Lauschangriff, der mit Recht noch immer als groß beschrieben und als Eingriff in die Grundrechte eingestuft werden kann.

Das DNA-Identitätsfeststellungsgesetz

Das DNA-Identitätsfeststellungsgesetz wurde am 7.9.1998 beschlossen, um die vorausgegangene Errichtung einer solchen Datei beim BKA zu legitimieren. Am 30.6.2005 wurde eine Gesetzesänderung verabschiedet, die den Katalog der Anlassstraftaten ausweitet und die »Freiwilligkeit« einführt, mit der der Richtervorbehalt umgangen wird.

Das Passgesetz

Im Mai 2000 wurde das Passgesetz geändert, um die Möglichkeit von Ausreiseverboten zu schaffen. Nach dem Angriff auf einen französischen Polizisten war das Gesetz ursprünglich explizit gegen Hooligans gerichtet. Schnell wurde es gegen Globalisierungskritiker eingesetzt. Einige Monate später beschlossen die Innenminister, neue Verdachtsdateien über »Gewalttäter« zentral anzulegen. Im Januar 2001 wurden entsprechende Dateien beim BKA eingerichtet.

Terrorismusbekämpfungsgesetze

Eine Menge Maßnahmen, die schon lange gefordert worden waren, denen aber grundrechtliche Bedenken entgegenstanden, konnten nach 9/11 schnell eingeführt werden. Gefragt wurde nicht, ob sie die Anschläge hätten verhindern oder zukünftige werden vereiteln können. Gefragt wurde auch nicht nach den demokratisch-rechtsstaatlichen Kosten. „Datenschutz ist in Ordnung. Aber Datenschutz darf nicht zu Behinderung von Kriminalitäts- oder Terrorismusbekämpfung führen“, erklärte der damalige Innenminister Otto Schily im Bundestag.

Im September 2001 wurde bereits das erste Anti-Terror-Paket erlassen, das am 1. Januar 2002 in Kraft trat. Zum 9. Januar 2002 wurde dann das zweite Terrorismusbekämpfungsgesetz beschlossen. Mit diesem Gesetz wurde in 17 verschiedene Gesetze und fünf Verordnungen eingegriffen.

Insbesondere wurden auch mit diesen Gesetzen die Befugnisse der Geheimdienste erweitert, das Grundrecht auf das Post- und Fernmeldegeheimnis wurde weiter eingeschränkt, die Voraussetzungen für die Einführung von Ausweisdokumenten mit biometrischen Merkmalen wurden geschaffen und die Vorschriften des Ausländerrechts verschärft.

Die Befristung der Gesetze führte bei ihrer Überprüfung im Januar 2007 nur zu der lapidaren Feststellung: Sie seien „gleichermaßen erfolgreich wie zurückhaltend und verantwortungsvoll genutzt worden“.4 Durch das »Gesetz zur Ergänzung der Bekämpfung des internationalen Terrorismus« (Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz) vom 5. Januar 2007 wurden die Gesetze für weitere fünf Jahre beibehalten. Aufgaben und Befugnisse der Nachrichtendienste (MAD und BND) und des Bundesamts für Verfassungsschutz wurden in diesem Zug zugleich ausgeweitet. Zu den durch das Gesetz geänderten Rechtsnormen gehören:5

Bundesverfassungsschutzgesetz

MAD-Gesetz

BND-Gesetz

Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses

Sicherheitsüberprüfungsgesetz

Bundespolizeigesetz

Passgesetz

Vereinsgesetz

Bundeskriminalamtgesetz

Ausländergesetz

Asylverfahrensgesetz

Ausländerzentralregistergesetz

Arg-Durchführungsverordnung (Ausländerzentralregister)

Bundeszentralregistergesetz

Luftverkehrsgesetz

Energiesicherungsgesetz 1975

Elektrizitätslastverteilungs-Verordnung

Gaslastverteilungs-Verordnung

Der generelle Verdacht wird zum Prinzip

Rasterfahndung: Obwohl die Rechtslage fragwürdig und in den Bundesländern unterschiedlich war, wurde fast überall sofort nach »Schläfern« gesucht. Es wurde also nach unauffällig lebenden Menschen islamischer Religionszugehörigkeit gesucht. Jedem müsste sofort klar sein, dass die Rasterfahndung ein ungeeignetes Instrument ist, um »normal« lebende Menschen zu entdecken. Und es müsste klar sein, dass diese Art der Verdächtigung aller Muslime Ausländerfeindlichkeit fördert. Aus sechs Millionen Personendaten landeten über 19.000 Personen in der Treffer-Datei des BKA. Diese sollten dann näher überprüft werden.

Erst 2006 entschied das Bundesverfassungsgericht (BvR 518/02 vom 4.4.2006), dass die Rasterfahndung rechtswidrig war. Vorher hatte es mehrere unterschiedliche Urteile der untergeordneten Gerichte gegeben. Die Entscheidung des BVerfG hatte bundesweite Bedeutung, obwohl nur die nordrhein-westfälische Regelung beklagt worden war, denn die Rasterfahndungen sind in den Ländergesetzen geregelt.

Das BVerfG urteilte: „Eine präventive polizeiliche Rasterfahndung der in §31 PolG NW 1990 geregelten Art ist mit dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG) nur vereinbar, wenn eine konkrete Gefahr für hochrangige Rechtsgüter wie den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes oder für Leib, Leben oder Freiheit einer Person gegeben ist. Im Vorfeld der Gefahrenabwehr scheidet eine solche Rasterfahndung aus.“ Das BVerfG kam zu dem Ergebnis, dass eine allgemeine Bedrohungslage, wie sie im Hinblick auf terroristische Anschläge seit dem 11. September 2001 durchgehend bestanden habe, oder außenpolitische Spannungslagen für die Anordnung der Rasterfahndung nicht ausreichten. Das Vorliegen weiterer Tatsachen, aus denen sich eine konkrete Gefahr, etwa für die Vorbereitung oder Durchführung terroristischer Anschläge, ergebe, sei für die Anwendung einer solchen, weit in die Rechte der Bürger eingreifenden Maßnahme notwendig.

Eine zentrale Fingerabdruckdatei von Asylbewerbern – das Fingerabdruckindentifikationssystem (AFIS) – wurde eingeführt. Die Zugriffsmöglichkeiten auf diese Daten wurden erweitert.

§129b, mit dem ausländischer »Terrorismus« inländisch verfolgt werden kann, wurde eingeführt. Wie schon §129 a ermöglicht er vor allem weitreichende Ermittlungen und führt kaum zu Verurteilungen. Allerdings werden bereits die Ermittlungsverfahren wegen der §§129 ins Ausländerzentralregister eingetragen. Somit bleibt in jedem Fall »etwas« hängen.

Dies hängt auch mit dem EU-Beschluss zur Terrorismusbekämpfung zusammen, der die Länder zwingt, die »Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung« als Straftatbestand aufzunehmen. Und die Aufzählung terroristischer Straftaten lässt hellhörig werden, wenn die „widerrechtliche Inbesitznahme oder Beschädigung von öffentlichen Einrichtungen, Regierungsgebäuden oder -anlagen, öffentlichen Verkehrsmitteln, der Infrastruktur, allgemein zugänglicher Orte sowie (öffentlichem und privatem) Eigentum“ darin enthalten ist. Immerhin schien es den Verantwortlichen geboten, in der Präambel zumindest darauf hinzuweisen, dass das Versammlungsrecht, das Streikrecht und das Recht auf freie Meinungsäußerung dadurch nicht beschnitten werden sollen.

Die Veränderung des Sicherheitsüberprüfungsgesetzes ermöglicht dem Verfassungsschutz zusätzlich, einen weit größeren Kreis von Beschäftigten als bisher durch Abfrage einer Vielzahl von persönlichen Daten auf ihre Zuverlässigkeit zu überprüfen. Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) entschied am 11.11.2004, dass die Entlassung eines Angestellten durch den Flughafen München rechtswidrig sei. Nach einer »Sicherheitsüberprüfung« war U. entlassen worden, weil er zeitweise bei Milli Görüs aktiv gewesen war. Dies reichte dem Arbeitgeber aus – und die untergeordneten Gerichte bestätigten dies –, um ihn als Sicherheitsrisiko einzustufen. Das BVerwG entschied, dass statt der pauschalen Zuschreibung eine konkrete Überprüfung notwendig sei.

Im Dezember 2004 nahm das »Anti-Terror-Lagezentrum« in Berlin-Treptow seine Arbeit auf. Es entstand also eine informationelle Zusammenarbeit von Diensten, die grundgesetzlich getrennt gehören: von Polizeien und Geheimdiensten.

Das BKA darf nun ebenfalls auf Daten zugreifen, die bisher dem Sozialgeheimnis unterlagen, z.B. auf Informationen der Kranken-, Renten- und Arbeitslosenkassen. In anhängigen Strafverfahren steht dem Bundeskriminalamt diese Befugnis nur im Einvernehmen mit der zuständigen Strafverfolgungsbehörde zu.

Den Nachrichtendiensten ist gestattet worden, ihre Ausforschungen im Vorfeld konkreter Gefahrenindizien in den Bereich des Vorfeldes eines potentiell strafbaren Verhaltens auszudehnen.

Der Verfassungsschutz darf nun Aktivitäten beobachten, die sich gegen die Völkerverständigung und das friedliche Zusammenleben richten. Diese Formulierung ist auch ein Beispiel für die Nutzung von unbestimmten Rechtsbegriffen, die den Behörden einen großen Spielraum in der Auslegung ihrer Befugnisse geben.

Kein Ende abzusehen?

Schleichend schreitet die Demontage des Rechtsstaats auch nach dem ersten und zweiten Terrorismusbekämpfungsgesetz weiter. Einige Beispiele seien auch hier noch genannt:

Das Luftsicherheitsgesetz vom 11.1.2005 sollte den Abschuss von Flugzeugen, die zur terroristischen Waffe umfunktioniert würden, erlauben. Das Bundesverfassungsgericht urteilte am 15.2.2006, dass dieses Gesetz unvereinbar ist mit zentralen Artikeln des Grundgesetzes. „Es ist unter der Geltung des Artikel 1 Absatz 1 GG schlechterdings unvorstellbar, auf der Grundlage einer gesetzlichen Ermächtigung unschuldige Menschen (…) vorsätzlich zu töten.“ (BVerfG, 1 BvR 357/05)

Mit dem »Gemeinsame-Dateien-Gesetz« von 2006 wurde die Zusammenführung von polizeilichen und geheimdienstlichen Datenbeständen ermöglicht. An der »Anti-Terror-Datei« sind beteiligt: Bundeskriminalamt, Bundespolizei, Zollkriminalamt, alle Landeskriminalämter, Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder, der Militärische Abschirmdienst sowie der Bundesnachrichtendienst. Es werden also auch geheimdienstliche Erkenntnisse den anderen Behörden zugänglich gespeichert!

Mit dem BKA-Gesetz von 2008 erhielt das BKA fast alle Rechte, die auch die Länderpolizeien haben. Diese aber wenden viele potentielle Maßnahmen nicht an, weil ihnen die Ausstattung und das Geld fehlen. Es ist damit zu rechnen, dass das BKA diese Möglichkeiten intensiver nutzen wird (z.B.: kurzfristige Freiheitsentziehung, Wohnungsdurchsuchung, längerfristige Observation, Einsatz von Verdeckten Ermittlern, Rasterfahndung, Telekommunikationsüberwachung, Lausch- und Spähangriff, Online-Durchsuchung).6

2009 wurden die §§89a, 89b neu ins Strafgesetzbuch (StGB) eingeführt. Die Ausbildung in einem »Terrorcamp«, bzw. der Versuch, hierfür Kontakt aufzunehmen, steht nun unter Strafe. Typisch ist diese Vorverlagerung von Straftatbeständen und die gleichzeitige unbestimmte Kategorisierung. Das Besondere hier ist, dass solche Taten Einzelner unter Strafe gestellt werden, denn Gruppen, die sich zu terroristischen Taten verabreden, standen schon vorher unter Strafe. §89a Abs. 2 StGB verbietet, bestimmte gefährliche Stoffe herzustellen, sich zu verschaffen, zu verwahren oder andere in der Herstellung dieser Stoffe oder sonstigen Fertigkeiten zu unterweisen oder sich unterweisen zu lassen, wenn sie der Begehung einer terroristischen Straftat dienen. Die Unbestimmtheit des Gesetzes wird u.a. daran deutlich, dass auch Flugunterricht zu einer solchen Vorbereitung gezählt werden kann. Nicht die Tat ist der Ausgangspunkt, sondern die Absicht, die aber in der Person begründet und nicht von außen erkennbar ist. §89b StGB regelt das strafrechtliche Verbot der Aufnahme von Beziehungen zu einer terroristischen Organisation in der Absicht, sich in der Begehung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat unterweisen zu lassen. Nach §91 StGB kann das Verbreiten oder Sich-Verschaffen einer Anleitung als schwere staatsgefährdende Gewalttat bestraft werden.7

Bei Verdacht sind in diesem Kontext weitgehende Ermittlungsbefugnisse vorgesehen – also Lauschangriff und Telekommunikationsüberwachung. Ähnlich wie bei den §§129 geht es also zentral auch um Ermittlungsbefugnisse.

Weitergabe der Daten von Fluggästen an die USA: Ab Ende Oktober 2005 sollten Touristen nur dann ohne Visum in die USA einreisen dürfen, wenn sie einen »sicheren« Reisepass mit biometrischen Daten vorweisen können. Daraufhin einigten sich die Innenminister der 25 EU-Staaten im Dezember 2004, dass die Pässe einen Speicherchip mit digitalisiertem Foto und Fingerabdruck erhalten sollten. Der Bundesrat stimmte dem dann nur noch für die Reisepässe zu. Der neue Personalausweis wird erst jetzt eingeführt – mit eher sanften Regelungen im Verhältnis zu anderen Staaten: Die Speicherung von Fingerabdrücken erfolgt freiwillig und nur auf dem Ausweis selbst. Es entsteht also keine zentrale Datenbank. Allerdings ist mit den neuen Personalausweisen die technische Grundlage zur Speicherung der Fingerabdrücke geschaffen, und die Freiwilligkeit kann leicht abgeschafft werden.

SWIFT (belgischer Bankendienstleister): Um die Finanzierungsströme des Terrorismus aufzuspüren, ließen die USA sämtliche Daten von internationalen Geldtransaktionen in ein Rechenzentrum in die USA übermitteln und auswerten. Es gab keine wirksame Kontrolle der Datenverwendung, keine Zweckbindung, keine Ansprüche auf Auskunft und Transparenz, keine unabhängige Kontrollinstanz.8 Das SWIFT-Abkommen, dem das Europäische Parlament letztlich zugestimmt hat, regelt diese Weitergabe der Daten. Transparenz wurde mit dem Abkommen nicht hergestellt. Europol genehmigt die Anfragen der US-Behörden, obwohl sie meist völlig unspezifisch gestellt werden.

Auswirkungen

Vor allem und an erster Stelle hat sich die Lage der Flüchtlinge massiv verschärft. Alle Muslime leiden unter dem allgemeinen Verdacht, unter den sie gestellt sind. So stehen die ca. 23,7 Millionen personenbezogene Datensätze des Ausländerzentralregisters (AZR) nicht nur den Polizeien, sondern sämtlichen Geheimdiensten zur Verfügung. Mit dem Zuwanderungsgesetz vom 1.1.2005 wurde das Ausweisungsrecht massiv verschärft. Der Terrorismusverdacht kann zur Ausweisung ausreichen. Eine rechtliche Überprüfung muss nicht abgewartet werden. Die Unschuldsvermutung gilt für Ausländer nicht mehr. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vertritt die Auffassung, dass selbst ehemalige Angehörige terroristischer Organisationen von dem Asylrecht und dem Flüchtlingsschutz ausgeschlossen sind. Ausgangspunkt für die Einordnung sind die Terrorismuslisten, die höchst umstritten sind. Das Oberverwaltungsgericht NRW folgt dagegen dem Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen und betrachtet »nur« diejenigen Flüchtlinge als asylunwürdig, die sich erhebliche Verbrechen zuschulden kommen ließen.9

Vor jeder Einbürgerung werden Regelanfragen beim Verfassungsschutz durchgeführt. Permanent finden Razzien gegen muslimische Gruppen oder Gemeinden statt, denen keine strafrechtliche Erfolgsbilanz gegenübersteht: Von September 2001 bis Juli 2004 registrierte der Zentralrat der Muslime 70 Razzien in Moscheen und 1.400 Durchsuchungen in zugehörigen Büros oder Wohnungen.10

Dieser allgemeine Verdacht gegen Muslime konkretisiert sich am deutlichsten in den Terrorismuslisten.11 Solche Listen gibt es schon seit den Anschlägen von al Kaida im Jahr 1999. Gelistet sind größtenteils nur des Terrorismus verdächtige Personen, die nicht über ihre Erfassung informiert werden und sich kaum dagegen wehren können. Inzwischen haben einige wenige erfolgreich dagegen geklagt. Daraufhin ist auch das Verfahren der Erstellung der Listen etwas verändert worden (Betroffene werden nun manchmal informiert und angehört). Aufgrund der Auswirkungen, die die Listung hat, hat der Schweizer Europarats-Abgeordnete Dick Marty von der „zivilen Todesstrafe“ gesprochen.

Allgemeiner lässt sich feststellen, dass Prävention zum zentralen Begriff geworden ist. Gefahren sollen schon erkannt, Menschen durchschaut werden, bevor es auch nur den Anfang der Idee einer Tat gibt. Das klingt auf den ersten Blick gut und einleuchtend. Aber dies setzt einen allgemeinen Verdacht voraus und bewirkt den Wechsel von der prinzipiellen Unschuldsvermutung zum generellen Verdacht. Dieser setzt bei der »falschen« Gesinnung an und führt weg vom Tatstrafrecht zu einem Gesinnungsstrafrecht.

Ermittlungen im Vorfeld von Straftaten führen zur Abkehr von den rechtsstaatlichen Kategorien des Tatverdachts in der Strafprozessordnung. Auch die Polizei erhält immer mehr Eingriffsrechte auf Verdacht und mit unbestimmten Klauseln. Datensammlungen basieren immer häufiger auf Verdachtskonstruktionen. Die europäische Zusammenarbeit und Weitergabe solcher Datensammlungen verstärkt noch die grundrechtswidrigen Wirkungen.

Eine der schlimmsten Auswirkungen ist die Aufweichung des Folterverbots. Das Verbot der Folter gilt unbedingt! Der Streit darum, die Infragestellung der unbedingten Geltung begann bei uns mit der Folterdrohung durch den Polizeipräsidenten Daschner im Fall des Kindesentführers Magnus Gäfgen im Jahr 2002. Inzwischen ist die Zusammenarbeit Deutschlands mit Folterstaaten bekannt geworden und die Verwertung von Informationen, die im Ausland unter Folter gewonnen wurden. „Weder die Bundeswehrsoldaten, die Murat Kurnaz im afghanischen Kandahar begegneten, noch die deutschen Nachrichtendienstler, die ihn später im Folterlager Guantánamo vernahmen, noch die deutschen Beamten, die Mohammed Haydar Zammar in syrischer Haft befragten, bekamen klare Verhaltensmaßstäbe an die Hand. In allen diesen Fällen stellt sich nach Abschluss der Arbeit der Untersuchungsausschüsse die Frage einer möglichen Strafbarkeit deutscher Beamter wegen (psychischer) Beihilfe zu den Straftaten der Folterer.“12

Auch diejenigen, die den politischen Protest tragen, haben zunehmend mit Formen verdeckter Ermittlungen zu rechnen. „Verdeckte Ermittler werden eingesetzt, um Terror und Kriminalität zu bekämpfen“, schreibt die Frankfurter Rundschau am 4.2.2011, um dann aufzuzeigen, dass es inzwischen üblich geworden ist, in Europa, über die innerstaatlichen Grenzen hinweg, verdeckte Ermittler einzusetzen. Ziel sind politische Gruppierungen. „In Deutschland geht das bereits so weit, dass ausländische verdeckte Ermittler, die eindeutig Polizisten sind, juristisch wie V-Leute behandelt werden, also wie Informanten aus dem zu überwachenden Milieu.“ Dies ermöglicht den Ermittlern eine Menge mehr an Operationen, zum Beispiel das Eingehen von Beziehungen. So ist auch die geheimdienstliche Unterwanderung politischer Strukturen verschiedentlich bekannt geworden: Sozialforum Berlin (2003-2006), Uni Hannover, Heidelberger Antifa und Studentenszene. Ein britischer Spitzel ist europaweit im Kontext diverser Proteste eingesetzt worden.

Nach all diesen Aufzählungen darf jedoch auch nicht übersehen werden, dass eine Menge weiterer Formen der Überwachung und Datensammlung ebenfalls in den letzten Jahren ausgeweitet oder hinzugekommen sind: Videoüberwachungen, der inzwischen wieder aufgehobene Elektronische Entgelt-Nachweis (ELENA), lebenslang gültige Steuernummer seit 2008, elektronische Gesundheitskarte, lebenslang gültige Krankenversichertennummer, Überprüfung von Journalisten bei Großereignissen (WM, Gipfeltreffen …), flächendeckende Handydatenspeicherung (Anti-NPD Demo in Dresden 2011). Überdies übernehmen immer mehr kommerzielle Sicherheitsdienste Kontrollaufgaben.

Militarisierung im Inneren

Dieses letzte Jahrzehnt ist auch durch die fortschreitende innere Militarisierung, durch den Einsatz der Bundeswehr im Inneren gekennzeichnet. Beim G8-Gipfel in Heiligendamm ist der Einsatz der Bundeswehr gegen die Demonstrationen öffentlich bekannt und diskutiert worden. Ein solcher Einsatz ist grundgesetzwidrig, aber das wird unter dem Namen der Amtshilfe verschleiert. Auf eine Kleine Anfrage der Fraktion der Linken bestätigte die Bundesregierung, dass 2010 bei insgesamt 71 Amtshilfemaßnahmen die Bundeswehr eingesetzt wurde. Im Jahr zuvor waren es 44 und 2008 31 Einsätze. Ende der 1990er Jahre hatte noch eine einzige Amtshilfemaßnahme jährlich ausgereicht. Hinzu kamen im letzten Jahr noch 28 Unterstützungseinsätze für nichtbehördliche Dritte wie beispielsweise Sportvereine und Rüstungsunternehmen.

Ausblick

Mit der Verlängerungsdebatte um das Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz (TBEG) hätten einige der Gesetze zur Disposition stehen sollen, die vor allem den Geheimdiensten Befugnisse sichern. Die Chance scheint schon wieder verpasst. Gerade das inzwischen entstandene Ausmaß der Befugnisse der Geheimdienste, die machtvolle Zusammenarbeit der verschiedenen Dienste, die dem Trennungsgebot von Polizei und Geheimdiensten widerspricht, ist in Deutschland jedoch kaum thematisiert worden. Mit dem TBEG wurden Verfassungsschutz, Bundesnachrichtendienst und Militärischer Abschirmdienst ermächtigt, bei Institutionen wie Banken, Fluggesellschaften, Post- und Telekommunikationsdienstleistern Auskünfte über Personen einzuholen, die eine „schwerwiegende Gefahr“ darstellen. Ein richterlicher Beschluss ist hierfür nicht notwendig. Von diesen Befugnissen haben die Geheimdienste Gebrauch gemacht, kontrollieren lassen sie sich dabei kaum.

Diese Entwicklungen gefährden die Demokratie. Geheimdienste handeln im Geheimen und fordern immer noch mehr Befugnisse. Sie entziehen sich jedoch jeder demokratischen Kontrolle, so dass wir heute nicht wissen können, was sie entdeckt und was sie inszeniert haben. Es ist zu bezweifeln, dass die Bürger und Bürgerinnen sicherer geworden sind. Im Gegenteil ist zu befürchten, dass die Spaltung der Gesellschaft und die Ausgrenzung von Menschen islamischen Glaubens das Zusammenleben negativ beeinflussen.

Anmerkungen

1) Fredrik Roggan (2000): Auf legalem Weg in einen Polizeistaat. Bonn: Pahl-Rugenstein Nachfolger.

2) Bukhard Hirsch: Terror und Antiterror. In: Grundrechte-Report 2002. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag. S.18.

3) Burkhard Hirsch: »Action!« – Das Ritual des machtvollen Leerlaufs. In: Grundrechte-Report 2008. Frankfurt am Main: Fischer Taschebuch Verlag. S.15.

4) Internetseite des Bundesministerium des Inneren, zitiert nach; Gustav Heinemann-Initiative und Humanistische Union (Hrsg.) (2009): Graubuch Innere Sicherheit – Die schleichende Demontage des Rechtsstaates nach dem 11. September 2001. Berlin: Books on Demand.

5) Gesetze im WWW (Internetseite): Terrorismusbekämpfungsgesetz; rechtliches.de/info_Terrorismusbekaempfungsgesetz.html.

6) Frederik Roggan: Zentralisierter Anti-Terror. In: Grundrechte-Report 2009. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag. S.176-180.

7) Jens Puschke: Anti-Terrorcamp-Gesetzgebung. In: Grundrechte-Report 2010. Frankfurt am Main: Fischer Taschebuch Verlag. S.220-224.

8) Thilo Weichert: Kontodaten für die CIA. In: Grundrechte-Report 2007. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag. S.46-50.

9) Sönke Hilbrans: Asyl unter »Terrorismusvorbehalt«. In: Grundrechte-Report 2010. op.cit. S.152-156.

10) Anja Lederer: Terrorwarnungen und was davon blieb. In: Cilip 80, Nr. 1/2005, S.32-36.

11) Wolfgang Kaleck: Terrorismuslisten: Definitionsmacht und politische Gewalt der Exekutive. In: Kritische Justiz, Heft 1-2011.

12) Wolfgang Kaleck: Das Folterverbot und der Umgang mit vergifteten Informationen. In: Grundrechte-Report 2009. op.cit. S.27-31. Siehe auch: Dieter Schenk: Jemand muss das Schweigen brechen. Über die Zusammenarbeit des BKA mit Folterstaaten. In: Jahrbuch Öffentliche Sicherheit, 2010/2011. Frankfurt am Main: Verlag für Polizeiwissenschaft.

Elke Steven ist Soziologin und arbeitet beim Komitee für Grundrechte und Demokratie. Sie ist Mitherausgeberin des jährlich erscheinenden Grundrechte-Reports.

Zu 9/11 – nur politisch-mediale Konstruktionen?

von Albert Fuchs

Wie bestellt zum bevorstehenden zehnten Jahrestag der Terroranschläge vom 11. September 2001 rauschte Anfang Mai dieses Jahres, im Zusammenhang mit der extralegalen Tötung – sprich: der Ermordung – Osama bin Ladens in Pakistan, wieder einmal die offizielle Lesart der 9/11-Geschichte durch Printmedien und TV-Kanäle. Danach handelte es sich um einen spektakulären, aus einer Höhle am Hindukusch gesteuerten Angriff einer kleinen islamistischen Gruppe um den besagten Gründer und Chef des Terrornetzwerks al Kaida, dem rund 3.000 Menschen unmittelbar zum Opfer fielen. Aus gegebenem Anlass wurde gelegentlich das Fahndungsplakat des FBI reproduziert,1 doch schien sich hierzulande kaum ein Repräsentant der viel beschworenen »Vierten Gewalt« daran zu stören, dass nach bin Laden bis zuletzt – bis zu dem »verstorben« unter seinem Konterfei auf diesem Plakat – wegen anderer Straftaten gefahndet wurde als wegen 9/11. Und auch um den Jahrestag selbst überboten sich die »Leitmedien« in ihrer Treue zum offiziellen Narrativ bei ihrem Feuerwerk der Gedenkbeiträge.

Doch bereits die »Geburt« dieses Narrativs gibt allen Anlass zu Skepsis. Mitten im Geschehen, als sich US-Präsident Bush am 11. September 2001 nach dem Einschlag der zweiten Maschine in einen der »Türme« des World Trade Center (WTC), gegen 9:30 Uhr Ortszeit, von einer Schule in Sarasota/Florida aus an die amerikanische Bevölkerung wandte und von einem „offensichtlichen terroristischen Angriff gegen unser Land“ sprach (Bush, 2001a), wurde die Offizielle Verschwörungstheorie in die Welt gesetzt. Bushs Interpretation beinhaltet im alltagssprachlichen Sinn natürlich eine Verschwörung: eine geheime Abmachung zwischen wenigsten zwei sozialen Akteuren, mit vereinten Kräften in verdeckter Weise eine kriminelle, jedenfalls Dritte schädigende Handlung zu begehen (vgl. Bröckers, 2010; Ganser, 2006). »Unbesetzt« blieb in diesem Schema zunächst die Akteursrolle; auch das wurde jedoch noch am Tag des Geschehens »geklärt«. Am Abend des 11. September lag die Offizielle Verschwörungstheorie bei Bush und seiner engeren Umgebung »ausgereift« vor und wurde öffentlich und quasi regierungsamtlich vertreten (für Details s. Wood & Thompson, 2002).2 Vor jedem Ermittlungsergebnis »wussten« also Bush und die übrigen Mitglieder des »Kriegskabinetts«: Das war bin Laden, das war al Kaida – mit Unterstützung der Taliban. Diese »Erkenntnis« diente zur Durchsetzung einschneidender außen- wie innenpolitischer Maßnahmen innerhalb weniger Wochen, ja weniger Tage. Die späteren amtlichen Untersuchungen konnten daher unmöglich ergebnisoffen durchgeführt werden – zumal regierungsnahe Persönlichkeiten und Behörden die Prozess-Hoheit hatten.

Das Aufkommen nicht-offizieller Erklärungen zu 9/11 lässt sich weniger genau datieren. Präsident Bushs Warnung vor „frevelhaften Verschwörungstheorien“ in einer Rede vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10. November 2001 (Bush, 2001b) dürfte aber besagen, dass bereits sehr bald kritische Fragen und Kommentare zum offiziellen Narrativ kursierten. Die sich daraus entwickelnden Alternativen Verschwörungstheorien sind in einer sich im Wesentlichen schon im ersten Jahr formierenden Graswurzelbewegung verankert.3 Zunächst erreichte man, dass Senat und Repräsentantenhaus eine National Commission on Terrorist Attacks upon the United States (im Weiteren: National Commission) einrichteten. Deren im Juli 2004 veröffentlichter »9/11 Commission Report« wurde wenig später mit einem »Omission Report« (Griffin, 2004) kritisiert; repräsentative Umfragen ergaben hohe Zustimmungsraten für eine neue, unabhängige Untersuchung. Seither ist dieser »heiße Brei« immer noch nicht abgekühlt. Mit Unterstützung renommierter Persönlichkeiten aus den involvierten professionellen Milieus (Piloten, Architekten und Ingenieure, Physiker, Geheimdienstexperten, Polizisten …), aus der akademischen Welt, aber auch von Überlebenden und Opfer-Angehörigen hat sich inzwischen eine respektable Aufklärungsbewegung, das so genannte »9/11 Truth Movement« (auch Truther oder Truthseeker) entwickelt (vgl. Lietz, 2006).

Hierzulande haben immerhin Staats- und Völkerrechtler schon bald die juristische Problematik des »Anti-Terror-Kriegs« zur Sprache gebracht (z.B. IALANA, 2001; Mandel, 2005; Paech, 2001) oder akribisch die Beweisnot dieser Art der Terrorismusbekämpfung analysiert (Wolf, 2001). In jüngster Zeit hat der Bundesverwaltungsrichter Dieter Deiseroth wiederholt sehr deutlich darauf hingewiesen, dass eine angemessene Aufarbeitung des 11. September noch aussteht (Deiseroth, 2009; 2010; Deiseroth & Klöckner, 2009). Seiner Profession entsprechend betont auch Deiseroth die grund- und völkerrechtliche Problematik, skizziert aber auch – vor allem in einem »Hintergrund«-Interview (2010) – gravierende Tatbestandsprobleme. Im Folgenden geht es ausschließlich um diesen Problemkomplex, eingeschränkt auf das Geschehen vom 11. September.

Je eingehender man sich mit der Grundtatbestandsproblematik befasst, desto stärker mag man der im Titel des vorliegenden Beitrags anklingenden These von G. Palm (2002) zuneigen: „Es gibt keine einsinnige Wahrheit über diesen Tag, […] nur Medienkonstruktionen.“ Diese etwas resignativ-agnostische These soll im Folgenden vertieft werden, allerdings nicht, um sich damit abzufinden, sondern um Deiseroths Forderung nach einer umfassenden unabhängigen Aufarbeitung von 9/11 zu substantiieren. Der fragliche »Konstruktionismus« scheint ebenso der informationellen Komplexität der Situation geschuldet wie (kommunikations-) politischen Verstrickungen. Beide Aspekte erörtere ich zunächst getrennt und lediglich beispielhaft; in dem bilanzierenden Ausblick fließen sie zusammen.

Informationelle Komplexität und Interpretationsermessen

Zunächst sei an die grundlegende Unterscheidung von Fakten (empirischer Evidenz) und Interpretationen (Theorien) erinnert. Tatsache und als solche kaum zu bestreiten ist beispielsweise der Zusammensturz der drei WTC-Türme (1, 2 und 7) in etwa 7-12 Sekunden (d.h. fast mit Freifall-Geschwindigkeit), Interpretation (Theorie) dagegen, dass dieses Geschehen unmittelbar oder mittelbar Folge des Einschlags der Flugzeuge und der dadurch in Gang gesetzten Verbrennung des Flugzeugbrennstoffs (im Falle von WTC 1 und 2) bzw. von Trümmerflug und Bränden (bei WTC 7) gewesen ist. Im Besonderen stellt die Zusammenfassung der drei oder vier Haupt-Geschehenskomplexe (Zwillingstürme, Pentagon, Shanksville und WTC 7) zu einem als »Terroranschlag« oder dagegen als »Aktion unter falscher Flagge« o.ä. qualifizierten Gesamtgeschehen eine Interpretationsleistung dar, die zweifelsohne über das Gegebene hinausgeht.4 Die Differenzierung von Fakten und Interpretationen ist in funktionaler Hinsicht allerdings relativ zur Betrachtungsebene.

Zumindest drei Ebenen sind zu unterscheiden: Zwischen der abstrakten, im engeren Sinne (verschwörungs-) theoretischen Ebene und der Fakten-Ebene ist die vermittelnde Ebene des Geschehens an den Schlüsselkomplexen in Rechnung zu stellen. Gegenüber den (relativ) unstrittigen Fakten hat diese mittlere Ebene ihrerseits theoretischen Charakter, soll aber andererseits die kritische Evidenz für die Bewertung der konkurrierenden Theorien darstellen. Hauptansatzpunkte für kontroverse Deutungen stellen im Wesentlichen auf diese mittlere Betrachtungsebene bezogene Fragen zum »wirklichen« Geschehen dar. Hier kann nur exemplarisch der Konstruktcharakter der gegensätzlichen Antworten auf zwei ausgewählte Fragen dieses Typs verdeutlicht werden.

Wer waren die Drahtzieher?

Wie geschildert, stand für die Bush-Leute die Antwort auf die Frage der Drahtzieher spätestens am Abend des Geschehens fest: Osama bin Laden und seine al Kaida. Bin Laden war bereits Ende der 1990er Jahre, noch in der Clinton-Ära, zum Staatsfeind Nummer 1 der USA aufgestiegen. Seit Juni 1999 rangierte er auf Platz 1 der »Most Wanted«-Listen des FBI, gesucht im Zusammenhang mit den Bomben-Anschlägen auf die US-Botschaften in Kenia und Tansania im August 1998 und einem Sprengstoffanschlag auf den Zerstörer der US Navy »USS Cole« im Hafen von Aden/Jemen wegen Mordes an US-Bürgern im Ausland, wegen Mordverschwörung und wegen Angriffs auf eine US-Behörde mit Todesfolge. Für zweckdienliche Hinweise zur Ergreifung wurden fünf Millionen Dollar ausgelobt. Nach Präsident Bushs Aufruf vom 17.09.2001 zur globalen Jagd auf Terroristen und auf bin Laden im Besonderen, „dead or alive“,5 wurde das Kopfgeld auf 25 Millionen erhöht – ohne die Anschläge von 9/11 in die Anschuldigung einzubeziehen oder auch nur als Grund für die Erhöhung zu erwähnen. Dazu passt, dass der damalige britische Premier Tony Blair seinem seinerzeit zur Belastung bin Ladens zusammengestellten Dossier (2001) vorausschicken musste, es sei nicht darauf angelegt, eine gerichtsverwertbare Beweislast zusammenzutragen, könne das auch nicht sein. Des allen ungeachtet trat die Regierung Obama in Sachen bin Laden die gesamte Bush-Erbschaft mit anscheinend fragloser Beflissenheit an – bis hin zu der eingangs erwähnten Tötung des mehr oder weniger diffus Beschuldigten und hin zu dem öffentlich zelebrierten Triumph ob dieses »Erfolgs«.

Der seltsame Sachverhalt, dass bin Laden weder auf der »Most Wanted Fugitives»-Liste noch auf der »Most Wanted Terrorists«-Liste des FBI mit 9/11 in Verbindung gebracht wurde und »lediglich« davon die Rede war, er sei noch anderer Anschläge weltweit verdächtig, bedeutet für 9/11-Skeptiker, dass sich die US-Fahndungsbehörden keineswegs der Hauptverantwortung bin Ladens (und von al Kaida) für 9/11 sicher waren (und sind) (z.B. Wisnewski, 2011, S.21 ff.). Ein dem Truth Movement nahe stehender Reporter berichtete im Juni 2006, ihm sei auf hartnäckiges Nachfragen von dem Pressesprecher des FBI beschieden worden, man habe (immer noch) „keine gerichtsverwertbare Evidenz“ (no hard evidence) für bin Ladens Beteiligung an 9/11 und könne ihn nicht wegen dieses Vergehens steckbrieflich verfolgen (Haas, 2006). Ein paar Wochen später, vor dem fünften Jahrestag, stolperte auch die Washington Post über den fraglichen Sachverhalt. Man ließ sich von demselben FBI-Sprecher belehren, man hätte durchaus auch 9/11 den Anschuldigungen hinzufügen können, aber das sei zur Zeit nicht erforderlich; die angeführten Beschuldigungen reichten zu Festnahme und Anklage und könnten gegebenenfalls ergänzt werden (Eggen, 2006).

Wie auch immer der merkwürdige Umgang mit der Causa bin Laden im Hinblick auf 9/11 durch das FBI erklärt bzw. rationalisiert wird, der Widerspruch zur Unterstellung genügender Evidenz für einen Krieg – (angeblich) vor allem, um des Verdächtigen wegen 9/11 „tot oder lebendig“ habhaft zu werden – liegt auf der Hand. Kritikern erscheint dieser Widerspruch aus verschiedenen Gründen keineswegs salvierbar durch die diversen »Selbstbekenntnisse« zur Täterschaft (vgl. Wikipedia, 2011a) – nicht zuletzt deshalb nicht, weil das FBI selbst diese Bekenntnis-Evidenz offensichtlich nicht für hinreichend »hart« hielt (z.B. Haas, 2006). Die Anfang April dieses Jahres bekanntgegebene Entscheidung der Obama- Regierung, auf den 2009 angekündigten Prozess vor einem zivilen New Yorker Strafgericht gegen Chalid Scheich Mohammed, den vermeintlichen Chefplaner der Anschläge von 9/11, und vier weitere mutmaßliche Hauptbeteiligte zu verzichten und sie statt dessen im Militär-Gefangenenlager Guantánamo Bay auf Kuba vor eins der umstrittenen Militärtribunale zu stellen,6 kann aus der Skeptiker-Perspektive als Eingeständnis verstanden werden, dass auch die Beweislage gegen diese Gruppe fragwürdig (geworden) ist. Und natürlich ist auch die Ermordung eines Verdächtigen – Osama bin Ladens – keine Überführung.

Wie kam es zum Einsturz des dritten Wolkenkratzers, des WTC 7?

Das 47-stöckige Gebäude WTC 7 war von keinem Flugzeugeinschlag betroffen, befand sich etwa 100 m entfernt nördlich des WTC 1 (Nordturm); dazwischen stand das Gebäude WTC 6. WTC 7 wurde beim Zusammensturz des Nordturms durch umher geschleuderte Trümmer getroffen, geriet in Brand und stürzte rund sieben Stunden nach dem Kollaps des Nordturms ebenfalls in sich zusammen, dank rechtzeitiger Evakuierung jedoch ohne Personenschäden zu verursachen. Es kann kaum wundernehmen, dass die Frage, wie es zu diesem dritten großen Einsturz kommen konnte, von Vertretern der Offiziellen und der Alternativen Verschwörungstheorien unterschiedlich bzw. gegensätzlich beantwortet wird (siehe Tabelle 1).

Phänomene / Erklärung Offizielle Perspektive Alternative Perspektive
Schadenswirkung auch strukturell gravierend zu gering für Auslösung des
Zusammenbruchs
Innenbrände ausgedehnt und lang anhaltend isoliert, in wenigen Teilen des Gebäudes
Einsturz erwartet seit etwa 15 Uhr,
in ca. 30 Sek., über 150 m Durchmesser
plötzlich, ungebremst,
senkrecht auf Standfläche
Larry Silversteins
„[…] pull it“
bezogen auf Kontingent der Feuerwehrleute („abziehen“) bezogen auf das Gebäude
(„niedergehen lassen“)
Verbleib der
Stahlsäulen und -träger
kein geschmolzener,
nur geschwächter Stahl
geschmolzener Stahl unter den Trümmern, noch mehrere Wochen nach Kollaps
Leithypothese / Erklärung strukturelle Schädigung durch anhaltende starke Brände kontrollierte Sprengung
Tabelle 1:
Unterschiedliche »Beobachtungen« und Erklärungen zum Einsturz von WTC 7

Der Dissens beginnt beobachtungsnahe, bei der Größe der Schadenswirkung des Trümmerflugs von WTC 1 und dem Ausmaß und der Dauer der Brände, verläuft über die Art und Schnelligkeit des Zusammensturzes, die Deutung einer merkwürdigen Äußerung des langjährigen Pächters Larry Silverstein („[…] maybe the smartest thing to do is just pull it“, zit. nach Wikipedia, 2011a) sowie über den Verbleib der Stahlsäulen und -träger und mündet einerseits in der offiziellen Hypothese, (allein) die strukturelle Schädigung durch „anhaltende und ausgedehnte Innenbrände“ (Wikipedia, 2011a) seien die Ursache (auch) dieses Einsturzes, andererseits in der alternativen Hypothese einer kontrollierten Sprengung (so u.a. der Physiker S. Jones, 2006, s.u.).

Der erste amtliche Bericht zum Einsturz des WTC 7 wurde im September 2002 von der Federal Emergency Management Agency (FEMA), der US-Koordinationsbehörde für Katastrophenhilfe, vorgelegt; er ließ zahlreiche Fragen ausdrücklich offen. Mit weiteren Untersuchungen wurde das National Institute of Standards and Technology (NIST) betraut, die für Standardisierungsfragen zuständige Behörde des US-Handelsministeriums. Der Bericht der National Commission von 2004 schweigt sich zum gesamten WTC 7-Komplex aus. Erst im November 2008 lag der Abschlussbericht des NIST vor. Er hatte insofern eine besonders tiefe Kluft zwischen realem Geschehen und offizieller Lesart zu überbrücken, als das WTC 7, wie offen konstatiert wird, bisher das einzige Gebäude dieser Art in der Geschichte der Architektur sein soll, das allein aufgrund von Brandschaden eingestürzt ist. Auch wird in einem ergänzende Frage-und-Antwort-Katalog (NIST, 2009) unumwunden eingeräumt, dass die zentrale Hypothese – die Hitze von anhaltenden unkontrollierten Bränden habe zur Ausdehnung der Stahlsäulen und -träger geführt bis hin zum Versagen einer strukturkritischen Säule und von da zum progressiven Kollaps des ganzen Gebäudes – nicht auf „physikalische Evidenz“ (wie Proben der Stahlstruktur) zu stützen ist, da die Trümmer längst weggeschafft waren, als die Untersuchungen begannen. Im Wesentlichen operierte man mit indirekten Verfahren, insbesondere mit, wie es heißt, „rigorosen, nach den Regeln der Kunst durchgeführten Computer-Methoden“ (NIST, 2009), die durch relevante Beobachtungen validiert worden seien. Ausgenommen davon waren aber offensichtlich die qualifiziert bezeugten Tümpel von geschmolzenem Metall (Stahl?) unter dem Gebäudeschutt, über die der Bericht keinen Satz verliert. Andererseits sind auch Truther wie S. Jones auf indirekte Verfahren angewiesen.

Beim Fragenkomplex »Einsturz des WTC 7« wird eine Verschwimmen der Grenze zwischen Interpretation und Fakten bzw. der Einfluss der theoretischen Interpretation auf Wahrnehmung und Einschätzung des faktisch Gegebenen deutlich. Bei allen Fragen zur mittleren Ebene der Sachlage scheint es grundsätzlich ähnlich auszusehen. Im Zwischenergebnis bleibt es damit bei Palms (2002) These: „Keine einsinnige Wahrheit […], nur Konstruktionen“ – und bei anhaltender Skepsis gegenüber jedem Anspruch, »die Wahrheit gepachtet« zu haben und autoritativ verkünden zu können. Von dem folgenden Einbezug der (kommunikations-) politischen Verstrickungen beim Streit um die Wahrheit von 9/11 ist nicht zu erwarten, dass dadurch eine wesentliche andere Bilanz möglich wird. Diese Erweiterung des Diskussionshorizonts mag aber Anhaltspunkte liefern, wie ein Erstarren in purer Skepsis politisch-praktisch zu überwinden ist.

Streit um die Wahrheit von 9/11 als politischer Kampf

Was auch immer man von einer eventuellen Beteiligung der Bush-Regierung am 9/11-Geschehen selbst hält, die Instrumentalisierung für hoch problematische außen- wie innenpolitische Zwecke (Stichworte: Afghanistan- und Irak-Krieg, Abbau von Grund- und Freiheitsrechten, Auftrieb des politisch-militärisch-wirtschaftlichen Komplexes, etc.) ist kaum zu bestreiten (vgl. Greiner, 2011). Hier geht es vor allem um die kommunikationspolitische Seite dieser Instrumentalisierung.

Auf Linie mit den Machteliten

Aufnahme, Verarbeitung und Bewertung von Information sind in hohem Maße kontextabhängig; vor allem hängt die Beurteilung als wahr oder falsch, wichtig oder unwichtig, anziehend oder abstoßend entscheidend davon ab, wer die zu übermittelnde Information bei welcher Gelegenheit wie glaubwürdig mitteilt und sie in welchen Zusammenhang stellt. Die Gestaltung bzw. Umgestaltung des Rahmens einer Botschaft, das so genannte Framing bzw. Reframing, ist demnach ein entscheidendes Mittel der Propaganda und gilt als wesentlicher Aspekt von politischer Kommunikation überhaupt (Heurig et al., 2010). Durch umgehende und scheinbar passgenaue Einordnung des Geschehens vom 9. September 2011 in den etablierten Rahmen des (Anti-) Terror- und insbesondere des Anti-bin Laden- und Anti-al Kaida-Diskurses seitens der Bush-Mannschaft – in Verbindung mit der fast gleichzeitigen Erweiterung dieses Rahmens um die Kriegsoption – erlangte die offizielle Lesart einen kaum einholbaren Vorsprung in der »veröffentlichten Meinung«. Der mediale Mainstream folgte dieser Rahmensetzung praktisch unbesehen und trug damit zu deren Stabilisierung bei, übernahm zudem nicht nur im Wesentlichen die offiziellen Erklärungen, ohne Antworten auf die offenen Fragen einzufordern, sondern weigerte sich auch weitgehend, den Kritikern der offiziellen Lesart ein Forum einzuräumen (Heurig et al., 2009). Diese mehrfache Einbettung der Mainstream-Medien in das Machtspiel der Regierenden läuft auf eine Selbstaufhebung als »Vierte Gewalt« in punkto 9/11 hinaus – und auf kaum verhohlene Komplizenschaft mit dem Regierungshandeln.

Die anhaltende Wirkung scheint am deutlichsten greifbar, wo alternative Sichtweisen einfach ignoriert werden und man von jeder Auseinandersetzung mit ihnen absieht (z.B. Greiner, 2011). Doch auch wenn eine Auseinandersetzung mit der alternativen Lesart erfolgt, werden weder der etablierte Bezugsrahmen noch bestimmte Inhalte der offiziellen Lesart hinterfragt. Die Argumentation ist in der Regel gekennzeichnet durch eine Mixtur von sachlicher (und streckenweise meines Erachtens durchaus ernst zu nehmender) Kritik, polemischen Angriffen und Unterstellungen gegen einzelne Repräsentanten der Alternativen Verschwörungstheorie(n) oder die gesamte »Sippschaft« und eher naiv-psychologischen Spekulationen über psychische Hintergründe ihrer Perspektive (vgl. Klöckner, 2011). Ein Musterbeispiel einer solchen Mixtur stellt eine viel zitierte »Spiegel«-Titelgeschichte vom 08.09.2003 dar (Cziesche et al., 2003).

Ein Wert einer derartiger Ad-hominem-Argumentation für die Klärung der strittigen Sachverhalte oder gar der gesamten Sachlage erschließt sich allenfalls auf Umwegen. Primär geht es augenscheinlich um »Eskalationsdominanz« beim Kampf um Interpretationshoheit. Doch ist damit das zur Verfügung stehende Eskalationspotenzial nicht ausgereizt. Sich als Truther zu exponieren, kann Freischaffende Aufträge kosten und Wohlbestallten die Berufsbiographie verpfuschen. So kündigte beispielsweise der Westdeutsche Rundfunk (WDR) dem Journalisten Wisnewski (und seinem Koautor Brunner) die Zusammenarbeit auf, nachdem der »Spiegel« in der besagten Titelgeschichte den Vorwurf vorgebracht hatte, insbesondere in dem Film »Aktenzeichen 11.9. ungelöst« (Brunner & Wisnewski, 2003) werde u.a. eine Aussage des Interviewpartners Ernie Stull, seinerzeit Bürgermeister von Shanksville, manipuliert (vgl. Schmid, 2003). Noch aufschlussreicher scheint die Erfahrung zu sein, die der Physiker Steven Jones mit seinem Arbeitgeber, der Brigham Young University (BYU), machte. Jones vertrat zunächst in einem Seminar an seiner Universität, dann auf der Internetseite der Fakultät für Physik und schließlich in dem bereits erwähnten Artikel die These, der Einsturz der WTC-Gebäude sei auf kontrollierte Sprengung zurückzuführen (Jones, 2006). Die Universität distanzierte sich wegen dieses Artikels von ihrem Mitarbeiter, veranlasste die Löschung des Beitrags von ihrer Internetseite und stellte den Autor ab September 2006 bis zu seiner (vorzeitigen) Emeritierung Anfang 2007 von seiner Lehrertätigkeit frei (Wikipedia, 2011b).

Bei einem so brisanten, Regierungshandeln direkt betreffenden und in Frage stellenden Problemkomplex wie 9/11 muss auch die Regierung ein besonderes Interesse daran haben, dass die Bevölkerung mehrheitlich denkt und fühlt, wie sie, die Regierung, es für richtig bzw. für zweckmäßig hält, und muss zu diesem Zweck eine geeignete Öffentlichkeitsarbeit betreiben. Doch nicht nur im Kern repressive Maßnahmen gegen Truther wie die der Arbeitgeber von Wisnewski und Jones würden – so befürchten regierungsnahe PR-Berater – staatliche Instanzen erkennbar ins Unrecht setzen und die bekämpfte Position eher bestärken und befördern als schwächen. Auch jede direkte diskursive »Widerlegung« der Alternativen Verschwörungstheorien stehe in Gefahr, als Vertuschungsversuch verstanden zu werden und das Gegenteil von dem zu bewirken, was man bezweckt. Längst haben sich Thinktanks des staatlichen Propagandadilemmas angenommen und nach raffinierten, hier nicht näher zu diskutierenden Auswegen gesucht (Bartlett & Miller, 2010; Sunstein & Vermeule, 2008).

Im Dickicht von (inszenierten) Gegenmacht-Bestrebungen

Das Truth Movement hat (bisher) keinen Rahmen für seine Botschaft zu bieten, der es an Plausibilität mit dem amtlichen Narrativ aufnehmen könnte. Vielfach wird die in den 1960er Jahren im Vorfeld der Kuba-Krise vom US-Generalstab projektierte »Operation Northwoods« herangezogen (z.B. Avery, 2007; Wisnewski, 2011). Danach sollte »unter falscher Flagge« eine Serie von Terroranschlägen gegen den zivilen Luft- und Schifffahrtsverkehr der USA in der Karibik sowie in US-Städten durchgeführt werden, für die man Fidel Castro verantwortlich machen wollte, um einen Vorwand für eine Invasion Kubas zu haben. Die Existenz dieses Plans belegt, dass der Gedanke an eine Inszenierung von Terroranschlägen gegen das eigene Land und die eigene Bevölkerung durch Regierungsbehörden der USA nicht per se abwegig ist. Allerdings versagte Präsident J.F. Kennedy 1962 seine Zustimmung (s. National Security Archive, 2001). Diese Tatsache beeinträchtigt zweifelsohne die Eignung als Bezugsrahmen für einen regierungs- und mainstream-kritischen 9/11-Diskurs. Doch dieser „korrupteste Plan, den jemals eine US-Regierung in die Welt gesetzt hat“ (J. Bamford, zit. nach Ruppe, 2001) eignet sich auch deswegen kaum zum Gegen-Framing, weil er dem idealen kollektiven Selbstbild der USA, Hort und Wächter demokratischer Werte und einer demokratischen Gesellschaftsordnung zu sein, eklatant widerspricht und so nur allzu leicht Wahrnehmungsabwehr provozieren dürfte.

Es wäre im Übrigen blauäugig anzunehmen, der gesamten Truther-Szene gehe es ihrer schmeichelhaften Selbstbezeichnung entsprechend um nichts als die Wahrheit. Aufgrund der regierungsamtlichen Instrumentalisierung von 9/11 für eine problematische außen- wie innenpolitische Agenda hat das Truth Movement (auch) den Charakter einer Widerstandsbewegung, die über fatale Prozesse in Politik und Gesellschaft aufklären will, um dagegen anzukämpfen. Entsprechend polemisch wird auch von dieser Seite vielfach die Auseinandersetzung geführt. Mancher Beitrag von Truther-Seite kann es mit der aggressiven Tonlage vieler Mainstreamer und Debunker7 durchaus aufnehmen – vermutlich mit ähnlich fragwürdigem Wert für eine Klärung der Sachlage. Das braucht hier nicht nochmals ausgebreitet zu werden.

Ein drittes Problem beschreiben Heurig et al. (2009) treffend als Informations-Kontamination. Es besteht im Kern in einer Vermischung oder Kombination fundierter kritischer Information zur offiziellen 9/11-Lesart mit fehlerhaften, nicht nachvollziehbaren oder abstrusen, jedenfalls unglaubwürdigen oder emotional geächteten Thesen. Eine solche Vermischung kann innerhalb einzelner Beiträge erfolgen oder in Form der Platzierung inhaltlich fundierter Information neben Beiträge (absichtlich) des-informativen oder (im Effekt) fehl-informativen Charakters. Spontane Skepsis gegen solche Beitragskomponenten auf der Empfängerseite überträgt sich aufgrund des Pars-pro-Toto-Mechanismus auf das Informationsgesamt und damit auch auf die fundierten Komponenten und führt u.U. zu einer Art Immunisierung, die eine unvoreingenommene Auseinandersetzung mit dem Thema überhaupt verhindert. Die Problematik resultiert aus der heterogenen Zusammensetzung der TrutherSzene einerseits und andererseits aus den behördlichen Anstrengungen, diese Szene offen oder verdeckt zu infiltrieren (s. Bartlett & Miller, 2010; Sunstein & Vermeule, 2008).

Zusammenfassend ist festzuhalten: Mainstreamer und Truther sind offenbar zumindest ansatzweise in einen Konflikt zweiten Grades verstrickt, in eine Gegenspielermimese im Sinne von R. Girard (z.B. 1983). Das heißt, der eigentliche Konfliktgegenstand – Was geschah wirklich am 11. September 2001? – tritt zurück; stattdessen werden politische Ambitionen und Loyalitäten, das gegnerische Konfliktverhalten oder die psychische Ausstattung der Kontrahenten wechselseitig und imitatorisch skandalisiert. Diese Konfliktverlagerung trägt nichts zur Klärung der Sache bei, untergräbt aber die Glaubwürdigkeit beider Parteien. Dass die offizielle Lesart gleichwohl die »veröffentlichte Meinung« (hierzulande) beherrscht, ist weder auf solide(re) sachliche Fundierung zurückzuführen noch auf höhere Glaubwürdigkeit der Protagonisten, sondern auf eine effizientere Kommunikationsstrategie, insbesondere auf die umgehende politisch-mediale »War on terror«-Rahmung der Botschaft. Das unterstreicht Deiseroths (2010) These: „Eine juristisch-rechtsstaatliche Aufarbeitung des 11. September hat nicht stattgefunden“ – sowie die Dringlichkeit einer umfassenden, unabhängigen und rechtskonformen Neuverhandlung der Angelegenheit.

Ausblick

Wie dringlich dieses Anliegen ist oder wäre, war unlängst auch der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage im Bundestag zu ihrer Haltung zur Tötung von Osama bin Laden zu entnehmen (Deutscher Bundestag, 2011). Aus gegebenem Anlass wollte Die Linke von der Bundesregierung u.a. wissen, ob ihr Beweise für eine Beteiligung Osama bin Ladens an den Anschlägen vom 11. September 2001 vorliegen, um welche Beweise es sich im Einzelnen gegebenenfalls handelt und warum eventuell Osama bin Laden für diese Anschläge gleichwohl weder angeklagt noch verurteilt wurde. Die Bundesregierung verwies auf die Resolutionen 1267 (vom 15. Okt. 1999), 1390 (vom 16. Jan. 2002) und 1904 (vom 17. Dez. 2009) des UN-Sicherheitsrates, einen „einschlägigen internationalen Haftbefehl“ sowie darauf, dass sich „Osama Bin Laden nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in Video- und Audiobotschaften wiederholt als Verantwortlicher bekannt“ habe (ebd., S.4 f.). Der 11. September 2001 aber kommt in den betreffenden Resolutionen nicht vor bzw. konnte noch gar darin vorkommen, zwei irgendwie relevante internationale Haftbefehle sind ebenfalls vor 9/11 wegen anderer Terrordelikte ergangen, und die Echtheit der angesprochenen Video- und Audiobotschaften ist höchst umstritten (und selbst wenn dem nicht so wäre, wären diese Selbstbekenntnisse kaum beweiskräftig, u.a. mangels Hinweisen auf Täterwissen). Die Antwort der Bundesregierung läuft insoweit auf das implizite Eingeständnis hinaus, über keine handfesten Beweise für eine Verantwortung bin Ladens für die Anschläge von New York und Washington zu verfügen, Deutschland also aufgrund von Mutmaßungen und Gerüchten in den Afghanistan-Krieg verwickelt zu haben.

Damit aber politische Entscheidungsträger auch nur die Spur eines selbstkritischen Problembewusstseins oder gar Interesse an einer ergebnisoffenen Neuverhandlung des Fragenkomplexes erkennen lassen, bedarf es einer ganz anderen Mobilisierung, als sie bisher hierzulande erreicht wurde. Diese wiederum erfordert vor allem ein kommunikatives Reframing, eine Ersetzung des »war on terror«-Rahmens durch einen Strafverfolgungsrahmen. Eine dezidierte Strafverfolgungsperspektive dürfte aufgrund des immer offensichtlicheren Versagens des »War on terror«-Rahmens eine reelle Chance haben, den verbindlichen Bezugsrahmen für die weitere Diskussion abzugeben. Immerhin betonen viele Debunker ähnlich emphatisch wie die meisten Truther, letztlich und zutiefst an einer wahrheitsgemäßen Aufklärung der Vorgänge im Zusammenhang mit 9/11 interessiert zu sein (z.B. Molé, 2006; Sperling, o.J.).

Das impliziert, dass die Konfliktparteien auf jede Attitüde, im Besitz der Wahrheit zu sein, verzichten und sich kritisch-kooperativ, nach bestem Wissen und Gewissen und unter Einbezug externer Fachkompetenz, um Wahrheitsannäherung bemühen. Zehn Jahre nach 9/11 ist es in der Tat „höchste Zeit, dass sich sowohl Skeptiker als auch Vertreter von Leitmedien Schwachstellen in ihren eigenen Darstellungen […] eingestehen, um endlich gemeinsam die Hürden, die offensichtlich einer kritischen publizistischen Aufarbeitung des 11. Septembers im Wege stehen, aus dem Weg zu räumen“ (Klöckner, 2011). Im Besonderen kann es dem erklärten Anliegen der Truther-Szene nur dienlich sein, wenn sie seriöse Gegenkritik ernst nimmt. In dieser Szene scheint da und dort ein entsprechender Reflexionsprozess in Gang gekommen. So wurde die oben geschilderte Kontaminationsproblematik im Wesentlichen von einer mit dieser Szene augenscheinlich sympathisierenden Arbeitsgruppe herausgearbeitet (Heurig et al., 2009). Bemerkenswert ist meines Erachtens auch, dass die Forschergruppe um den Physiker und Truther S. Jones bereits 2008 den vom US-Kongress mit der Untersuchung der Zerstörung der WTC-Hochhäuser betrauten Wissenschaftlern (von FEMA und NIST) auf der Grundlage der einvernehmlichen Einschätzung zahlreicher kritischer Punkte und der von FEMA und NIST eingestandenen Lücken und offenen Fragen so etwas wie ein Arbeitsbündnis anbot (Jones et al., 2008).

Ob ein Zuwachs an Versachlichung der Debatte von den Hearings ausgehen wird, die zum zehnten Jahrestag von 9/11 gesponsert vom International Center for 9/11-Studies vom 8.-11. September dieses Jahres in Toronto stattfanden, bleibt abzuwarten. Die Veranstaltung wurde an einer Universität durchgeführt, sollte einen ausgesprochen wissenschaftlichen Bezug haben und hauptsächlich Sachverständigen zu bestimmten Themengebieten ein Diskussionsforum bieten. Die zu erörternde Evidenz wollte man nach den Kriterien Sicherheit, Wichtigkeit und Konsens auswählen, d.h. unter Konzentration auf nachweisbare Fakten, auf für die regierungsamtliche Erklärung kritische Elemente und auf innerhalb der Aufklärungsbewegung am wenigsten umstrittene Positionen.8

Trotzt der positiven Ansätze müssen anhaltende Widerstände gegen die Aufklärungsarbeit und Schwächen und Schwierigkeiten im Blick bleiben – um fatale »illusionäre Verkennungen« zu vermeiden.

Anmerkungen

1) Beispielsweise im Bonner General-Anzeiger vom 03.05.2011, S.4.

2) Im deutschen Fernsehen entwickelte sich diese Interpretation – mit der geradezu zwanghaften Konsequenz eines kriegerischen Zurückschlagens – in einem beängstigend reibungslosen Zusammenspiel von Medienleuten, »Experten« und Vertretern des politischen Klasse anscheinend noch rascher als bei der Bush-Mannschaft (vgl. Weller, 2002).

3) Den Alternativen Verschwörungstheorien zufolge ist es (in der schwächsten Version) ebenso gut möglich, dass die Terroranschläge von amerikanischen Behörden geduldet oder gar inszeniert wurden, wie dass al Kaida dafür verantwortlich war (vgl. Ganser, 2006). In augenscheinlich diffamierender Absicht werden sie meist als Verschwörungstheorie(n) zu 9/11 schlechthin etikettiert und der offiziellen Version gegenübergestellt (z.B. Wikipedia, 2011a).

4) Mit der Gegenüberstellung von Fakten und Interpretationen, von Evidenz (oder Gegebenem) und Theorie(n), soll keineswegs einem naiven wissenschaftstheoretischen Dualismus das Wort geredet werden. Zur Klärung der epistemischen Situation, insbesondere in einem forensischen Kontext, ist diese Unterscheidung jedoch nicht nur hilfreich, sondern wohl auch unerlässlich.

5) The Telegraph, 18.09.2001.

6) Hamburger Abendblatt, 04.04.2011.

7) Als Debunker – von engl. »to debunk« = entzaubern, den Nimbus nehmen –, als Entzauberer also verstehen sich gerne die Kritiker der Truther-Szene.

8) Siehe torontohearings.org.

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Albert Fuchs ist Kognitions- und Sozialpsychologe, Mitherausgeber und -autor eines Handbuchs der Konflikt- und Friedenspsychologie (2004) und war bis 2009 Mitglied der Redaktion von W&F.

B- und C-Waffen Potenziale und die Gefahr eines Einsatzes durch Terroristen

B- und C-Waffen Potenziale und die Gefahr eines Einsatzes durch Terroristen

von Kathryn Nixdorff, Nicola Hellmich und Jiri Matousek

Da biologische und chemische Waffen heute prinzipiell für »Interessierte« zugänglich sind, trotz aller Sicherheitsmassnahmen, besteht auch die reale Gefahr des Einsatzes durch terroristische Organisationen. Das heißt, diese Kampfstoffe bedürfen heute einer größeren Aufmerksamkeit.

Zu diesem Zeck hat die Kooperationsgemeinschaft INES – International Network of Engineers and Scientists for global responsibility (www.INESglobal.com und www.INESglobal.org) und NATWISS – NaturwissenschaftlerInnen-Initiative, Verantwortung für Frieden und Zukunftsfähigkeit (www.natwiss.de) unter Förderung der Berghofstiftung für Friedens- und Konfliktforschung die vorliegende Studie in einem zweijährigen Projekt erarbeitet. Ziel der Studie ist es, zu einer Versachlichung der Diskussion beizutragen und den Politikern sowie der Öffentlichkeit Argumente für notwendige Präventionsstrategien zu geben. Das Projekt wurde in Zusammenarbeit zwischen ExpertInnen aus Deutschland und den USA sowie der OPCW, dem internationalen Büro zur Überprüfung der Chemiewaffenkonvention in Den Haag, durchgeführt. Die Projektleitung liegt bei Prof. Kathryn Nixdorff, IANUS-Gruppe, TU Darmstadt. Mitglieder des Advisory Boards sind: Dr. Kai Bester (Chemiker, Dortmund), Reiner Braun (Geschäftsführer NATWISS und INES bis Juni 2002), Dr. Andrea Hädicke (NATWISS Vorstand), Dipl.-Ing. Nicola Hellmich (Projektdurchführung), Dr. Hanny Nover (Chemikerin), Dr. Ralf Trapp (Abteilungsleiter der OPCW, Den Haag), Dr. Jan van Aken (Sunshine-Projekt, Hamburg), Dr. Paul Walker (International Global Green Cross, USA), Prof. Dr. Dieter Wöhrle (Chemiker, Universität Bremen).

Reiner Braun und Nicola Hellmich

Terrorismus kann betrachtet werden als ein Gewaltakt oder eine Bedrohung mit Gewalt durch Individuen bzw. Gruppen, die als Basis nationale, rassistische, ethnische, politische, religiöse, ökonomische oder geschlechtsspezifische Ideologien haben. Gerade beim Übergang des 20. ins 21. Jahrhundert erlebte man die Eskalation der Gewalt in einem Wechsel der Verwendung klassischer Mittel (Feuerwaffen, Explosivstoffe, Brandstiftung) hin zur Aufnahme von tödlichen Giften und Mikroorganismen in die Arsenale der Terroristen.

Am markantesten sind die Einsätze durch die Rajneeshees 1984 und die Aum Shinrikio-Sekte 1995, sowie die Milzbrand-Anschläge 2001. Beim Rajneeshee-Zwischenfall handelte es sich um die Aussetzung des Bakteriums »Salmonella enterica Serotyp typhimurium«, dem Verursacher einer Enteritis (Darmentzündung) oder Lebensmittelvergiftung, in Salatbars von Restaurants in The Dalles, Oregon durch Anhänger des Bhagwan Shree Rajneesh. Bei diesem Einsatz erkrankten 751 Menschen. Darüber hinaus ist der Zwischenfall besonders signifikant, da dies der erste terroristische Anschlag war, der eine Infektionskrankheit verursacht hat [Carus, 2000].

Die apokalyptische Sekte Aum Shinrikio hat 1995 das Nervengift Sarin in einigen Zügen der Tokioter U-Bahn eingesetzt. Dabei wurden 12 Menschen getötet und mehr als eintausend verletzt. Mehrmals hatte die Sekte auch vergeblich versucht, verschiedene Biowaffen einzusetzen [Kaplan, 2000]. Auf jeden Fall haben ihre Aktivitäten zu der erhöhten Wahrnehmung geführt, dass die Anwendung von biologischen und chemischen Waffen für terroristische Zwecke eine aktuelle Bedrohung darstellt.

Durch die Milzbrandanschläge in den USA ist diese Bedrohung noch bewusster geworden, vielleicht weil die Ereignisse so bald nach dem 11. September 2001 passiert sind. Obwohl diese Attacken im relativ kleinem Umfang ausgeübt wurden (11 Infektionen durch Einatmung des Erregers, davon 5 Todesfälle), haben sie in der Tat viel Angst und Chaos ausgelöst und »Biodefense« ist eine nationale Imperative in den USA geworden [Miller et al., 2002].

Im folgenden Bericht haben wir die Bedrohung durch biologische und chemische Waffen analysiert, auch im Hinblick auf die mögliche Verwendung dieser Agenzien für terroristische Zwecke. Durch die hohe Relevanz der Entwicklungen in der Biotechnologie wurde besonders auf Fragestellungen zu Biowaffen eingegangen. Im Vergleich wurden ebenfalls Aspekte der Chemiewaffen behandelt, wenn auch nicht im selben Umfang.

1. Analyse des Gefahrenpotenzials der vorhandenen biologischen und chemischen Waffen

Die meisten Mikroorganismen sind gutartig; sie bereichern unser Leben und manche sind sogar für die Gesundheit und das Wohlbefinden essentiell. Einige Mikroorganismen können jedoch Infektionskrankheiten verursachen und werden daher als pathogen bezeichnet. Pathogenität ist definiert worden als die Fähigkeit, Krankheit zu verursachen. Potenzielle biologische Waffen sind unter den pathogenen Mikroorganismen zu finden, aber auch giftige Produkte (Toxine) von Mikroorganismen und anderen Lebewesen werden als biologische Waffen betrachtet. Beispiele sind in Tabelle 1 dargestellt.

1.1. Die Eigenschaften biologischer Waffen

Die infektiösen Erreger in der Tabelle (Bakterien, Rickettsien und Viren) sind in erster Linie humanpathogene Agenzien, die für biologische Waffen-relevant sind [United Nations, 2001a]. Es soll aber gleich an dieser Stelle betont werden, dass biologische Kriegsführung ebenfalls gegen Pflanzen und Tiere gerichtet werden kann. Die Toxine sind toxische (giftige), nicht-lebende Produkte von Mikroorganismen, Pflanzen oder Tieren. Da diese Stoffe zwar eine toxische, aber keine infektiöse Wirkung haben, sind sie den chemischen Kampfstoffen sehr ähnlich. Toxine werden ebenfalls als potenzielle chemische Waffen charakterisiert, die den Regelungen der Chemie-Waffen-Konvention (CWC) [United Nations, 1993] sowie der Biologischen-Waffen-Convention (BWC) [United Nations, 1972] unterliegen.

Es muss allerdings erwähnt werden, dass einige pathogene Pilze und Protozoen (Einzeller wie Amoeben) ebenfalls potenzielle biologische Waffen sein können. Sie werden von Experten jedoch nicht als besonders relevante humanpathogene Biowaffen betrachtet [United Nations 2001a] und erscheinen deshalb nicht in Tabelle 1.

Unter bestimmten Gesichtspunkten sind die biologischen den chemischen Waffen sehr ähnlich. Der Einsatz beider Waffentypen bewirkt starke psychologische Effekte, insofern als sie nahezu unsichtbar sind und große Ängste hervorrufen. Gleichwohl besitzen die Erreger infektiöser Krankheiten charakteristische Eigenschaften, die sie von chemischen Kampfstoffen unterscheiden und gleichzeitig ihre Anwendbarkeit als Waffen einschränken [Rosebury & Kabat, 1947]:

Die Inkubationszeit: Es verstreicht eine bestimmte Zeitspanne zwischen dem Kontakt mit dem Erreger und dem ersten Auftreten von Symptomen. Diese Inkubationszeit kann mehrere Tage dauern und hängt u.a. vom Mikroorganismus und vom gesundheitlichen Zustand des Betroffenen ab. Bei dem Einsatz chemischer Waffen ist der Zeitraum sehr viel kürzer.
Das Epidemierisiko: Die meisten infektiösen Erreger haben die Eigenschaft, sich von einem Träger aus über ein weites Gebiet zu verbreiten. Die präzise Eingrenzung auf einem bestimmten geographischen Raum ist damit entsprechend erschwert.
Die Infektivität: Die Infektivität ist definiert als die Frequenz innerhalb derer ein Erreger den Ausbruch von Krankheitssymptomen in einer Gruppe von Individuen bewirkt. Sie schränkt so die Anwendung solcher Erreger als Waffen in hohem Maße ein, denn sie ist abhängig von Bedingungen, die außerhalb des Labors nicht präzise zu bestimmen sind. Hinzu kommt, dass Umweltbedingungen die Infektivität eines Erregers stark beeinflussen können, aber auch die unterschiedlichen Gesundheitszustände der Individuen spielen eine große Rolle. Ferner soll an dieser Stelle erwähnt werden, dass die Infektivität eines Mikroorganismus von Stamm zu Stamm sehr unterschiedlich sein kann. Dies hängt von der Virulenz eines bestimmten Stammes ab. Die Virulenz wird als der Grad der Pathogenität definiert. Zum Beispiel gibt es Stämme von »Bacillus anthracis« (dem Verursacher von Milzbrand), die hohe Virulenz besitzen, während andere Stämme weniger virulent sind.
Die Persistenz (Lebensdauer): Einige wenige infektiöse Erreger besitzen eine lange Lebensdauer in der natürlichen Umwelt. Dazu gehören Mikroorganismen, die Endosporen (Dauer- bzw. Ruhe-Formen) bilden können. Eine solche Dauer-Form gestattet es dem Erreger, lange Zeitphasen unter ungünstigen Bedingungen zu überleben; in dieser Form kann er bei Nahrungsmittelknappheit existieren und ist außerdem weniger empfindlich gegenüber Hitze, Austrocknung, UV-Licht und Desinfektionsmitteln. Diese Eigenschaft erleichtert die Produktion, Lagerung und Verbreitung des Erregers als biologische Waffe. Dies ist einer der Hauptgründe für das Interesse an »Bacillus anthracis« als potenzielle biologische Waffe, da dieses Bakterium Endosporen bilden kann. Andere Krankheitserreger (z.B. einige Bakterien, Rickettsien und Viren) werden durch tierische Überträger verbreitet, sie können in diesen Zwischenwirten auch lange in der Umwelt überleben. Auf der anderen Seite ist jedoch die lange Lebensdauer potenzieller Infektionserreger aus militärischer Sicht nicht unbedingt vorteilhaft; die Gegend, die erobert wird, ist für eine unbestimmte Zeitspanne verseucht (s. unten, Milzbranderreger).
Die Instabilität: Mit Ausnahme der gerade genannten – wenigen – Mikroorganismen sind die meisten Erreger sehr instabil. Außerhalb des Wirtes verlieren diese labilen Organismen sehr schnell ihre Infektivität. Sie besitzen eine nur kurze Lebensspanne. Auffällig ist das Wechselverhältnis zwischen Lebensdauer und Instabilität: stabile Erreger sind sehr leicht zu verbreiten, ihre Lebensdauer kann aber auch leicht einen gewünschten Zeitraum übersteigen. Dieses Problem stellt sicht nicht bei instabilen Erregern, die dafür wiederum schwer zu verbreiten sind.
Die Retroaktivität: Dank des von ihnen ausgehenden Epidemierisikos, ihrer Infektivität und ihrer Lebensdauer können biologische Waffen, im übrigen eher noch als chemische Kampfstoffe, leicht auf den Anwender selbst zurückwirken. Staaten, die eine biologische Kriegsführung erwägen, müssen über ein entsprechendes Gegenmittel verfügen oder in Kauf nehmen, dass kontaminierte Gebiete über einen bestimmten Zeitraum nicht besetzt werden können.

Wenngleich manche der genannten Eigenschaften die Verwendung infektiöser Erreger zur Kriegsführung erheblich einschränken, sind einige Mikroorganismen aus militärischer Sicht offenbar nach wie vor interessant (Table 1). Aus militärischer Sicht sollen B-Waffen folgende Charakteristika aufzeigen [Patrick, 1994]:

  • infektiös sein über den Aerosolweg (in der Luft suspendierte Partikel),
  • stabil bleiben während der Lagerung, des Einsatzes und der Verbreitung,
  • in großen Mengen herstellbar sein,
  • die verursachte Krankheit soll therapierbar sein,
  • nicht ansteckend sein.

Aus der Sicht von Terroristen würde möglicherweise die Ansteckbarkeit eines Erregers als eine positive Eigenschaft gesehen werden. Betrachtet man die Anforderungen, die von militärischer Seite aus an biologische Waffen gestellt werden, so wird deutlich, dass die potenziellen B-Waffen in Tabelle 1 diese Voraussetzungen nicht in allen Fällen erfüllen können. Eine kurze Beschreibung der Erreger von Milzbrand (»Bacillus anthracis«) und Pocken (»Variola major«), sowie des jeweiligen Krankheitsbildes mag dazu beitragen, die Ursachen des militärischen Interesses an einer solchen Waffe und die mit ihrem Einsatz verbundenen Risiken zu beleuchten.

1.1.1. »Bacillus anthracis« (Milzbrand-Erreger)

Seit Beginn der Entwicklung von biologischen Agenzien für die Kriegsführung ist der Erreger von Milzbrand, »Bacillus anthracis«, von besonderem Interesse gewesen. Der Hauptanteil des Engagements der Alliierten des Zweiten Weltkrieges in punkto biologischer Waffen konzentrierte sich auf die Entwicklung und Herstellung von sogenannten Milzbrand-»cattle cakes«, aber auch kleiner Milzbrandbomben [Carter & Pearson, 1999]. Solche Bomben wurden auf der Gruinard Insel (einer unbewohnten, kleinen Insel, 2 km lang und 1 km breit, vor der Nordwestküste Schottlands), zwischen 1941 und 1943 getestet. Hierzu wurden die Bomben, die eine flüssige Masse von Milzbrand-Endosporen enthielten, auf den Boden gestellt und elektronisch gezündet. Schafe, die eine entsprechende Anzahl von Milzbrandsporen in der Wolke eingeatmet hatten, sind an Lungenmilzbrand gestorben. Bodenproben, die 1943, 1944, und 1946 entnommen wurden, enthielten hohe Mengen von Milzbrandsporen. In Folge dieser Tests war die Insel bis 1987 wegen Seuchengefahr als unbetretbar deklariert. Allerdings zeigten Proben, die 1979 entnommen wurden, dass Milzbrandsporen lediglich in der Nähe der Detonationsstelle zu finden und nicht über die ganze Insel verbreitet waren. Ein Dekontaminierungsprogramm wurde daraufhin eingeleitet, und 1986 wurden die betroffenen Flächen erfolgreich mit Formaldehyd-Lösungen behandelt [Manchee & Stewart, 1988].

Die Milzbrand-Krankheit selbst ist in hohem Maße infektiös und hat eine vergleichsweise kurze Inkubationszeit von 2-3 Tagen, obwohl bei Lungenmilzbrand die Zeit bis zum ersten Auftreten von Symptomen bis zu 60 Tagen dauern kann. Eine der markantesten Eigenschaften dieses Bakteriums ist seine Fähigkeit, bei Nährstoffknappheit Endosporen zu bilden. Eine solche Dauer-Ruhe-Form gestattet es dem Erreger, lange Zeitphasen unter ungünstigen Bedingungen zu überleben; in dieser Form ist er weniger empfindlich gegenüber Hitze, Austrocknung und Desinfektionsmitteln. Zudem sind es die Endosporen und nicht die Bakterien, die infektiös wirken.

Eine Infektion mit dem Milzbranderreger erfolgt über drei verschiedene Wege: über die Haut (durch Hautabschürfungen), über die Einatmung der Endosporen oder durch das Essen von infiziertem Fleisch. Hautmilzbrand ist die am wenigsten gefährliche Krankheitsform, die erfolgreich mit Antibiotika behandelt werden kann. Inhalations- und Darmmilzbrand dagegen sind schwerwiegende Krankheiten mit Mortalitätsraten zwischen 20 und 80 Prozent. Sobald die Symptome dieser Krankheiten auftreten, ist eine Antibiotikatherapie meist nicht mehr wirksam [Inglesby et al., 1999].

»Bacillus anthracis« besitzt zwei Haupt-Virulenzfaktoren, die für seine Pathogenität essentiell sind: ein Toxin, das aus drei Proteinen zusammengesetzt wird und eine Polyglutaminsäure-Kapsel. Die drei Toxinmoleküle sind das sogenannte Schutzantigen (protective antigen, PA), der Ödemfaktor (edema factor, EF) und der Letalfaktor (lethal factor, LF). EF und LF bilden in Kombination mit dem PA zwei binäre toxische Moleküle. Der EF verursacht eine starke Ansammlung von Flüssigkeiten in den Geweben, und der LF ist u.a. cytotoxisch für Makrophagen, so dass das Immunsystem lahmgelegt wird. Das PA selbst ist nichttoxisch, es ist jedoch für die Bindung der EF und LF an die Wirtszelle und die Aufnahme der Faktoren in diese Zielzelle essentiell. Antikörper gegen das PA verhindern die Bindung von PA (und dadurch die Bindung von EF und LF) an der Zielzelle und schützen somit vor einer Vergiftung durch das Toxin [Duesbery & Vande Woude, 1999]. Die Polyglutaminsäure-Kapsel bedeckt die bakterielle Oberfläche und inhibiert die Aufnahme der Bakterien durch Phagozyten.

Die Gene für die Virulenzfaktoren sind auf zwei Plasmiden (kleine, meist ringförmige DNA-Stücke in der bakteriellen Zelle) zu finden: Das pOX1-Plasmid enthält die Gene für die Biosynthese der drei Toxin-Proteine und das pOX2-Plasmid enthält die Gene für die Biosynthese der Polyglutaminsäure-Kapsel. Das Bakterium kann von den Plasmiden »kuriert« werden (es verliert die Plasmiden). Die Stämme von »Bacillus anthracis«, die als lebende Impfstoffe verwendet werden, haben normalerweise das Plasmid verloren, das für die Kapsel kodiert, enthält jedoch das toxinkodierende Plasmid [Nass, 1999]. Da beide Virulenzfaktoren (Toxin und Kapsel) für die Virulenz benötigt werden, sind diese Stämme nichtpathogen bzw. avirulent. Die Plasmide, die diese Virulenzfaktoren kodieren, sind nichtkonjugativ, d.h., die Plasmide können nicht von Bakterium zu Bakterium über natürliche Wege transferiert werden [Green et al., 1989]. Lebende Vakzinstämme von »Bacillus anthracis« sind in den USA oder im UK für die Impfung von Tieren, nicht aber für Menschen zugelassen, weil lebende Vakzine in der Vergangenheit mit einem allerdings nicht gut definierten Überbleibsel an Virulenz in einigen Tieren assoziiert worden sind. Auf der anderen Seite wird die Effizienz dieser Vakzine als gut bewertet. In den USA und im UK ist das Vakzin ein zellfreier Extrakt einer Kultur von einem Vakzinstamm der Bakterien. Es enthält vor allem das sogenannte protective antigen, das für die Induktion der Immunität verantwortlich ist. Das Vakzin muss in sechs Dosen über eine Zeitspanne von 18 Monaten verabreicht werden, bevor ein effektiver Schutz gewährleistet ist. Demzufolge würde der Impfstoff wenig zur Therapie nach einem Einsatz mit Milzbrand als Waffe beitragen. Außerdem sind die Vorräte des Vakzins sowie die Produktionskapazitäten limitiert.

Ein Einsatz mit Milzbrandsporen als biologische Waffe, die eine größere Zahl von Menschen betreffen soll, wäre nicht leicht zu erzielen. Dabei ist sowohl eine technische als auch eine wissenschaftliche Expertise und eine entsprechende Laborausstattung erforderlich. Ein hoch virulenter Stamm des Bakteriums muss in größeren Mengen so gezüchtet werden, dass er Endosporen bildet und seine Virulenz behält. Die Sporen müssen getrocknet werden; dabei kleben sie zusammen und bilden Klumpen. Für den Einsatz über Einatmung müssen diese Klumpen mit Zusatzstoffen behandelt und fein gemahlen bzw. versprüht werden zu einer Partikelgröße mit einem Durchmesser zwischen 1 und 5 Mikrometer [Inglesby et al., 1999; Franz et al., 1997]. Nur in dieser Form werden sie tief in die Alveoli der Lunge gelangen, wo sie durch Alveolarmakrophagen aufgenommen und zu den Mediastinal-Lymphgewebe (Lymphknoten und Lymphbahnen im Mittelfell- bzw. Brustkorbraum) transportiert werden. Dort keimen die Endosporen in 2-60 Tagen aus. Die Bakterien vermehren sich danach stark und produzieren das Toxin (s. oben), das eine heftige Ansammlung von Flüssigkeit und Verblutungen im Mediastinalgewebe verursacht. Die Bakterien gelangen auch in die Blutbahn, und in einigen Fällen erfolgt eine Meningitis. Die Krankheit ist nicht ansteckend und somit normalerweise nicht von Mensch zu Mensch übertragbar.

Es sollte unbedingt erwähnt werden, dass die gezielte Ausbringung der Endosporen über Aerosole (in der Luft suspendierte Partikel), z.B. durch ein Flugzeug, mit verschiedenen Faktoren verbunden ist, die einen solchen Einsatz erschweren. Eine entscheidende Rolle spielen dabei meteorologische Faktoren. Wenn eine terroristische Gruppe bei einem Anschlag viele tausend Menschen treffen möchte, muss diese Gruppe erstens eine gute Organisation und genügende Mittel haben und zweitens über technische und wissenschaftliche Expertise sowie eine entsprechende Laborausstattung verfügen. Diese Voraussetzungen wurden bei der Aum-Shinrikyo-Sekte in Japan erfüllt, trotzdem ist es ihren Mitgliedern nicht gelungen, Milzbrand erfolgreich als terroristische Waffe einzusetzen [Tucker, 2001]. Demnach ist ein größerer Einsatz mit biologischen Waffen durch substaatliche Terroristen eher unwahrscheinlich, aber dennoch nicht ausgeschlossen, so dass eine hohe Aufmerksamkeit gegenüber dieser potenziellen Gefahr unbedingt erforderlich ist.

1.1.2 »Variola major« (das Pockenvirus)

Eine globale Kampagne, die 1967 unter der World Health Organization (WHO) begonnen wurde, hat 1977 erfolgreich die Ausrottung der Pocken in der Welt erreicht. 1980 hat die World Health Assembly empfohlen, die Impfung gegen Pocken einzustellen. Der Impfstoff (Vaccinia-Virus) ist zwar sehr wirksam, aber es gab stets eine relativ hohe Inzidenz von nicht unerheblichen Nebeneffekten. Die Wirkung der Pockenimpfung lässt nach 5-10 Jahre stark nach. Deshalb muss angenommen werden, dass die gesamte Population heute für Pocken hoch anfällig ist. Allerdings besteht die Möglichkeit, dass die Krankheit in einmal geimpften Personen, sogar wenn die Impfung lange zurückliegt, weniger heftig ablaufen wird [Henderson et al., 1999]

Es soll nur noch zwei Quellen des Pockenvirus geben (in den USA bei den Centers for Disease Control and Prevention –CDC – in Atlanta, Georgia und beim Vektor-Institut in Koltsovo nahe Novosibirsk, Russia), die unter Hochsicherheitsvorkehrungen aufbewahrt werden. Dies verringert das Risiko eines Einsatzes mit Pocken als biologische Waffe. Es kann jedoch nicht mit Sicherheit gesagt werden, dass dies die einzigen Quellen sind. Die Herstellung von Pockenviren in größeren Mengen ist auch technisch nicht einfach. Diese Mikroorganismen müssen in Zellkulturer gezüchtet werden (s. unten), ein Verfahren, das sehr aufwändig und mit großer Infektionsgefahr verbunden ist. Das Vorhandensein eines guten Impfstoffs verringert allerdings die Gefahr. Die Virulenz der hergestellten Pockenviren kann durch Gefriertrocknung monate- bzw. auch jahrelang erhalten bleiben [Franz et al, 1997]. Obwohl die Züchtung aufwändig ist, hatte beispielsweise die frühere Sowjetunion angeblich die Kapazität für die Herstellung von mehreren Tonnen des Virus pro Jahr [Alibek, 1999]. Dieses B-Waffen-Programm der früheren Sowjetunion sollte unter Yeltsin eingestellt werden. Der gegenwärtige Status des Programms wirft aber immer noch Fragen auf [Koch, 2002]. Aufgrund der Schwierigkeit bei der Beschaffung eines virulenten Stammes des Pockenvirus und der Aufwändigkeit einer Herstellung der Viren wird das Risiko eines terroristischen Anschlags mit Pockenviren als gering eingestuft.

Pocken gehören zur Gruppe der Orthopockenviren und sind die größten unter den tierpathogenen Viren. Die Viruspartikel sind gegen Austrocknen sehr resistent. Das Pockenvirus ist auch hoch infektiös. Obwohl die Infektionsdosis nicht bekannt ist, wird sie als sehr niedrig geschätzt, d.h. nur einige wenige Viruspartikel können eine Infektion verursachen [Henderson et al., 1999]. Anders als bei Milzbrand wird die Krankheit normalerweise von Person zu Person über Tropfen bzw. Aerosole übertragen. Eine Übertragung durch direkten Kontakt ist auch bekannt. Drei weitere Mitglieder der Orthopockenviren (Affenpockenvirus, Vaccinia-Virus, Kuhpockenvirus) können Menschen befallen und Hautläsionen verursachen, aber nur das Pockenvirus kann sich von Person zu Person verbreiten. Nach anderen Berichten gibt es jedoch auch beim Affenpockenvirus ein Pozential der Übertragung von Mensch zu Mensch [Franz et al., 1997].

Eine natürliche Infektion beginnt an der Schleimhaut des Mund-Rachenraums oder des Respirationstrakts. Auf die Aufnahme folgt eine etwa zweiwöchige Inkubationszeit, während sich das Virus in dem Lymphgewebe der Eintrittspforte vermehrt, mit der Entwicklung einer unauffälligen Virämie. Es folgt die Ausbreitung über das lymphatische System mit einer zweiten Vermehrungsphase in der Milz, im Knochenmark und in den Lymphknoten. Eine sekundäre Virämie beginnt etwa am achten Tag, gefolgt durch Fieber. Das Virus, das in Leukozyten (weißen Blutkörperchen) zu finden ist, wird in den kleinen Blutgefäßen der Haut lokalisiert. Dadurch kommt es zur Bildung der typischen Läsionen (Bläschen) an der Haut und den Schleimhäuten. Die Bläschen, die im Mund und Rachenraum erscheinen, brechen schnell auf und setzen hohe Mengen von Viren frei. Dies korrespondiert mit der Zeit, in der man am infektiösesten ist. Der Patient fühlt sich äußerst geschwächt und ist bettlägerig. Der Tod, der normalerweise in der zweiten Woche eintritt (Mortalitätsrate liegt bei 25-30 Prozent), wird am allerwahrscheinlichsten durch toxische Wirkungen verursacht, die mit zirkulierenden Immunkomplexen und löslichen Virusantigenen assoziiert sind [Henderson et al., 1999; Davis et al., 1990].

Es wurde geschätzt, dass die Infektion von einer Person mit Pocken zu 1-3 neuen Fällen führen würde [Halloran et al., 2002]. Ein Faktor, der die Zahl der Kranken niedrig halten und einer Epidemie entgegenwirken könnte, ist die Tatsache, dass infizierte Personen, wenn sie infektiös werden, derart krank sind, dass sie praktisch bettlägerig bzw. unbeweglich sind. So können sie die Krankheit nicht weiter verbreiten, außer in den meisten Fällen an Pflegepersonal. Dies wird in Berichten über frühere Epidemien in Pakistan und Europa bestätigt [Mack, 2003]. Die Isolation der Patienten würde viel dazu beitragen, die Epidemiegefahr zu verringern. Nach einem Aerosol-Einsatz mit Pocken würden die Viren nicht lange in der Umwelt überleben. Sie sind zwar robuster als manche Bakterien, aber sie werden normalerweise innerhalb von zwei Tagen inaktiv. Allerdings können sie offenbar in Materialien wie Bettüchern einige Zeit überleben, da es dokumentierte Fälle von Krankenhauspersonal gibt, das Wäsche behandelt hat und dadurch infiziert wurde [Henderson et al., 1999].

Zur Zeit gibt es keine effektiven Chemotherapeutika für die Behandlung von Pocken. Es besteht jedoch großes Interesse daran, solche Wirkstoffe gegen Viren aller Art zu entwickeln, und dies wird bereits von Seiten der Pharmaindustrie eifrig betrieben [Haseltine, 2002]. Eine Impfung, wenn sie innerhalb von vier Tagen nach Aussetzung der Krankheit verabreicht wird, kann möglicherweise eine Infektion verhindern oder mindestens den Verlauf der Krankheit stark mildern. Wegen der nicht unerheblichen Nebenwirkungen des Pockenvakzins wird die Entwicklung eines verbesserten Impfstoffs empfohlen.

1.2. Herstellung biologischer Agenzien

Biologische Waffen werden immer wieder als die »Atombombe des kleinen Mannes« bezeichnet. Diese Umschreibung rührt daher, dass B-Waffen im Vergleich zu Nuklearwaffen und chemischen Waffen sowohl mit einem geringeren technischen als auch finanziellen Aufwand produziert werden können. Relativierend muss beispielsweise angemerkt werden, dass der Produktionsaufwand und die Produktionskosten natürlich von der benötigten Art und Menge der Agenzien abhängig sind und es hier doch erhebliche Unterschiede im Herstellungsaufwand gibt. Der Kern der Problematik bleibt jedoch bestehen, dass biologische Waffen-Programme auch von Staaten durchgeführt werden können, die zur Herstellung nuklearer Waffen – vom Stand der Technik und vom finanziellen Aufwand her – nicht in der Lage sind. Die Zahl potenzieller BW-Besitzerstaaten ist erheblich größer als dies bei Atomwaffen der Fall ist.

In der folgenden Ausführung wird näher erläutert, dass der Produktionsaufwand bei biologischen Agenzien von der Art und den Charakteristika der Agenzien stark abhängig ist.

Bakterien gehören zu den kleinsten Lebewesen. Sie vermehren sich durch Zweiteilung und einige haben eine besonders kurze Generationsdauer (die Zeit, die zur Zellteilung benötigt wird). »Escherichia coli« ist eine der am schnellsten wachsenden Bakterien, und hat eine Generationsdauer von etwa 15 Minuten unter den besten Kulturbedingungen. Obwohl es gewiss große Unterschiede in der Generationsdauer unter den Bakterien gibt, können alle in Tabelle 1 aufgelisteten relativ schnell wachsen. Eine Ausnahme machen die Rickettsien. Diese Mikroorganismen sind eigentlich Bakterien, die jedoch traditionell in eine eigene Kategorie gestellt werden. Rickettsien können bestimmte Kofaktoren, die für die Aktivität einiger Enzyme benötigt werden, nicht selbst synthetisieren, und sie können sich deshalb auch nur in Wirtszellen vermehren. Die Züchtung von Rickettsien ist dementsprechend aufwändig, und sie wachsen viel langsamer als »Escherichia coli«. Die Generationsdauer für Rickettsien liegt zum Beispiel zwischen acht und zehn Stunden.

Viren werden als Mikroorganismen eingeordnet, obwohl sie – streng betrachtet – keine echten Lebewesen sind. Es fehlen ihnen praktisch die gesamten biosynthetischen Kapazitäten von lebenden Zellen. Sie sind meist nur aus Nukleinsäuren (Desoxyribonukleinsäure, DNA oder Ribonukleinsäure, RNA) und einer Eiweißhülle zusammengesetzt, einige besitzen zusätzlich eine etwas komplexere Hülle. Die Nukleinsäure der Viren dirigiert die Wirtszelle, die sie infiziert, neue Viruspartikel zu produzieren. Dies ist anders als der Weg, auf dem Rickettsien ihre Wirtszellen ausnutzen; diesen Bakterien fehlen essentielle Metaboliten, sie besitzen aber sonst respektable biosynthetische Kapazitäten und vermehren sich intrazellulär in den Wirtszellen durch die übliche bakterielle Art der Zweiteilung. Die eigentliche Route der Reproduktion, die ein Virus nimmt, hängt von seiner Art und der Art der Wirtszelle ab. Wie bei den Rickettsien, sind Viren für ihre Vermehrung von Wirtszellen abhängig, und Wirtszellen müssen angewandt werden, um diese Mikroorganismen zu züchten.

Viele Bakterien können in relativ einfachen Nährmedien gezüchtet werden. Um größere Mengen von Mikroorganismen zu produzieren, werden Fermenter (Bioreaktoren) benutzt, mit denen man die Kulturbedingungen durch On-Line-Überwachung steuern kann [Schügerl et al., 1996].

Die Züchtung von Viren und Rickettsien ist erheblich aufwändiger, weil Tierzellen für die Vermehrung dieser Mikroorganismen verwendet werden müssen. Tierzellen sind in der Regel viel anspruchsvoller als Bakterien bezüglich des Bedarfs an Nahrungsstoffen; die Formulierung der Bestandteile ist komplexer und es wird Serum oder etwas entsprechendes benötigt. Tierzellen sind sensibler gegenüber mechanischer Beanspruchung (Stress), die bei den Mischungsprozessen in Kulturgefäßen vorkommt. Es ist daher nicht verwunderlich, dass der Ertrag von Tierzellkulturen etwa zwei Größenordnungen geringer ist, als die von Bakterienzellen. Alternativ (allerdings in geringerem Produktionsumfang) können Viren in flachen Kulturgefäßen an Schichten von Tierzellen gezüchtet werden. Viele Viren können auch in fertilisierten Hühnereiern produziert werden. Die strenge Einhaltung von Steriltechnik bei dieser Arbeit ist besonders angebracht, da Tierzellen in Kulturen leicht mit Bakterien und vor allem Pilzen kontaminiert werden und absterben können.

1.3. Die Ausbringung biologischer Waffen (Einsatzsysteme)

Noch problematischer als die Herstellung von Agenzien ist der Prozess der »weaponization«, der Entwicklung und Tests entsprechender Verbreitungsmethoden für biologische Waffen. Viele biologische Agenzien und Toxine werden großflächig am besten in Aerosolform freigesetzt, weil die Krankheitserreger auf diesem Wege besonders infektiös sind. Es wurde bei der Diskussion über den Milzbranderreger auf die Bedeutung eines Einsatzes durch Aerosole für die Übertragung von Lungenmilzbrand hingewiesen. Bei Lungenmilzbrand ist es besonders erforderlich, dass die Größe der Endosporenpartikel zwischen 0,5 und 5 Mikrometer in Durchmesser liegt, so dass die Endosporen die Alveoli der Lunge erreichen, wenn sie eingeatmet werden. Für andere Krankheitserreger ist die Partikelgröße weniger wichtig.

Partikel kleiner als 10 Mikrometer im Durchmesser können allerdings längere Zeit in der Luft schweben, bevor sie sich absetzen. Partikel bis zu 5 Mikrometer dringen zudem in geschlossene Gebäude ein. Sprühtanks in Flugzeugen sind ein Beispiel für die Verbreitung von Agenzien in Aerosolform. Dennoch sind solche einfachen Vorrichtungen an Sprühflugzeugen, die normalerweise für die Schädlingsbekämpfung in der Landwirtschaft eingesetzt werden, nicht für die Ausbringung biologischer Kampstoffe geeignet. Diese Vorrichtungen erzeugen relativ große Aerosolpartikel, die sich sofort über die behandelte Fläche absetzen und nicht in der Luft schweben, wie es bei dem Einsatz von B-Waffen erwünscht wäre [Tucker, 2001]. Ferner reagieren viele Agenzien sehr empfindlich auf Umwelteinflüsse, sodass bei der Aufbewahrung und Ausbringung auch darauf geachtet werden muss, dass die Überlebensfähigkeit der Agenzien garantiert ist.

Biologische Agenzien können auch als Bomben bzw. in Gefechtsköpfen ausgebracht werden. Untersuchungen der United Nations Special Commission (UNSCOM) haben offenbart, dass der Irak im Zusammenhang mit dem Golfkrieg 1990-1991 erhebliche Mengen an biologischen Kampfstoffen produziert hat, diese wurde z.T. in Bomben und Scud-Raketen-Gefechtsköpfe gefüllt und getestet [Tucker, 1993]. Da viele biologische Agenzien jedoch sehr empfindlich gegenüber Hitze und Druck sind, wäre die Ausbringung in Bomben bzw. Gefechtsköpfen mit einem erheblichen Verlust an Effektivität verbunden gewesen.

Eine weitere Möglichkeit, biologische Waffen auszubringen, ist die Aussetzung dieser Agenzien in Wasserquellen. Dieser Weg muss jedoch wegen möglicher Verdünnungseffekte und der Empfindlichkeit der Mikroorganismen gegenüber Chemikalien im Wasser als verhältnismäßig ineffizient eingestuft werden. Die Übertragung durch beißende Insekten wie Mücken und Zecken ist für viele Infektionserreger möglich, aber diese Art der Verbreitung ist schwierig zu kontrollieren.

1.4. Die B-Waffen-Konvention

Die Biologische-Waffenkonvention (BWC) [United Nations, 1972] wurde 1972 vereinbart und ist 1975 in Kraft getreten. 146 Staaten sind Mitglieder der Konvention. Die BWC war das erste internationale Übereinkommen, das eine ganze Klasse von Massenvernichtungswaffen gebannt hat. Der Artikel I dieser Konvention enthält umfassend formulierte Verbote:

„Jeder Vertragsstaat dieses Übereinkommens verpflichtet sich,

1. mikrobiologische oder andere biologische Agenzien oder Toxine, ungeachtet ihres Ursprungs oder ihrer Herstellungsmethode, von Arten und in Mengen, die nicht durch Vorbeugungs-, Schutz- oder sonstige friedliche Zwecke gerechtfertigt sind, sowie

2. Waffen, Ausrüstungen oder Einsatzmittel, die für die Verwendung solcher Agenzien oder Toxine für feindselige Zwecke oder in einem bewaffneten Konflikt bestimmt sind,

niemals und unter keinen Umständen zu entwickeln, herzustellen, zu lagern oder in anderer Weise zu erwerben oder zurückzubehalten.“

Der erste Absatz im Artikel I bildet das sogenannte Grundsatzkriterium (General Purpose Criterion), das jede Beschäftigung mit biologischen Agenzien für nicht-friedliche Zwecke verbietet. Gleichzeitig erlaubt es jede Beschäftigung mit diesen Agenzien für „Vorbeugungs-, Schutz- oder sonstige friedliche Zwecke.“ Es kommt also auf die Absicht an. Demzufolge ist die Züchtung von pathogenen Mikroorganismen mit der Absicht der Entwicklung von Impfstoffen, Therapeutika oder Diagnostika legitim und von der BWC durchaus erlaubt.

Die B-Waffen-Konvention hat einen relativ spärlichen Umfang von etwa 5-6 Seiten und enthält nur 15 Artikel. Zum Zeitpunkt der Vereinbarung des Übereinkommens wurden keine effektiven Verifikationsmaßnahmen in die Konvention inkorporiert, die eine Überprüfung der Vertragstreue ermöglichen könnten [Rosenberg, 1993]. Dies lag zum Teil an den Schwierigkeiten bei Verhandlungen über solche Maßnahmen, aber auch an der falschen Vorstellung, dass biologische Waffen (BW) aus militärischer Sicht in ihrer Nutzbarkeit limitiert wären [Thränert, 1992]. Die Konvention enthält nur rudimentäre Bestimmungen zur Überprüfung der Vertragstreue der Mitgliedsstaaten. Das Verfahren bei vermuteten Vertragsverletzungen, das derzeit vereinbart werden konnte, ist in den Artikeln V und VI der BWC geregelt. Zunächst soll versucht werden, Verdachtsbeschwerden kooperativ durch Konsultationen zu lösen (Artikel V). Wenn die Probleme nicht auf diese Art gelöst werden können, gibt es die Möglichkeit, Verdachtsbeschwerden beim Sicherheitsrat der Vereinigten Nationen einzugelegen (Artikel VI), und unter Beifügung von Beweismitteln kann eine Prüfung der Angelegenheit gefordert werden [Hunger, 2001]. Das weitere Prozedere für eine Untersuchung wird aber nicht näher definiert.

Durch die Aufdeckung der umfangreichen BW-Rüstungsprogramme des Irak [Tucker, 1993] und der früheren Sowjetunion [Dahlberg, 1992] wurde klar, dass B-Waffen eine militärische Relevanz haben. Zusätzlich zu diesen bewiesenen BW-Aktivitäten wird in US-Geheimdienstquellen vermutet, dass mindestens zehn weitere Staaten offensive biologische Waffenkapazitäten entwickeln [McCain, 1990].

1.5. Die Stärkung der Biologischen-Waffen-Konvention

In diesem Zusammenhang bemühte sich eine Ad Hoc Gruppe, die allen Vertragsstaaten offen stand, seit 1995 konkrete Vorschläge zur Stärkung der Konvention (darunter auch umfassende Verifikationsmaßnahmen) zu unterbreiten. Es war vorgesehen, dass diese Vorschläge in einem Überprüfungsprotokoll mit rechtsverbindlichem Charakter der Konvention hinzugefügt werden sollen. In der gegenwärtigen Form des Protokolls, ein Kompromisstext des Vorsitzenden der Ad-Hoc-Gruppe [United Nations, 2001a], der über 200 Seiten umfasst, bilden Deklarationen über relevante biologische Aktivitäten und Einrichtungen der Staaten zusammen mit verschiedenen Arten von Besuchen (visits) bzw. Inspektionen die Hauptelemente der Maßnahmen zur Prüfung der Vertragstreue. Die Deklarationen sollen Basisinformationen liefern und somit Transparenz im Bereich der biologischen Aktivitäten schaffen. Zur Überprüfung der Deklarationen sind stichartige Routinebesuche bei den Einrichtungen vorgesehen. Wenn eine Unklarheit bezüglich der Deklarationen besteht, werden Klarstellungsbesuche durchgeführt. Im Falle eines Verdachts auf Vertragsuntreue werden entweder durch Konsultationen und Austausch die Probleme gelöst oder bei schwerwiegenderen Verdachtsfällen das Verfahren einer Verdachtsinspektion der Einrichtung eingeleitet.

Bei den Verhandlungen der Ad Hoc Gruppe über den Kompromisstext in Juli-August 2001 haben die USA den Kompromisstext sowie den gesamten Prozess der Verhandlungen über das Protokoll entschieden zurückgewiesen [Mahley, 2001]. Daraufhin konnte keine Vereinbarung über das Protokoll erreicht werden. Einer der Hauptgründe für ihre Ablehnung des Protokolls ist die Einschätzung der US-Regierung, dass multilaterale Rüstungskontroll-Abkommen keine geeigneten Abschreckungsmittel gegen eine Verletzung der Verbote darstellen. Es muss an dieser Stelle erwähnt werden, dass die USA selbst zur Abschwächung einiger kritischer Maßnahmen im Laufe der Verhandlungen über das Protokoll wesentlich beigetragen haben [Rosenberg, 2001]. Die US-Regierung glaubt ferner, dass das Verifikationsregime ein Risiko für den Schutz von konfidentiellen Nationalsicherheits- und sensiblen kommerziellen Informationen sein würde [Mahley, 2001], obwohl das Protokoll weitreichende Schutzmechanismen für vertrauliche Informationen enthält und weniger intrusiv als die Chemie-Waffen-Konvention ist [Rosenberg, 2001].

Diese Position der US-Regierung wird akzentuiert durch die Offenbarung einiger geheimer Aktivitäten im BW-Schutz-Forschungsbereich, die schon durchgeführt worden sind oder aber für die Zukunft geplant wurden. Diese Aktivitäten wurden nicht nur geheim gehalten und verstoßen somit gegen den Geist der BWC, sie scheinen außerdem wirklich an der Grenze der Legalität zu liegen [Miller et al., 2001].

Die Politik der US-Regierung hat sich auch nach der Fünften Überprüfungskonferenz der BWC im November 2002 nicht geändert. Im Abschlussbericht [United Nations, 2002] der Konferenz haben die Vertragsparteien ein begrenztes Programm für weitere Gespräche vereinbart. Dieses Programm beinhaltet jährliche Treffen für jeweils eine Woche, die ab 2003 bis zur 6. Überprüfungskonferenz in 2006 stattfinden werden. Jedes dieser Treffen wird von einem zweiwöchigen Expertentreffen vorbereitet. Bei diesen Treffen sollen folgende Themen diskutiert werden:

  • Die Einführung von Nationalmaßnahmen für die Implementierung der BWC, inklusiv Gesetzgebung für strafbare Taten.
  • Nationalmaßnahmen bzw. Gesetzgebung im Bereich der »Biosecurity«.
  • Eine Verstärkung der Fähigkeiten, die zu einem effektiveren Reagieren auf Verdachtsfälle führen können.
  • Eine Verstärkung bzw. Erweiterung der Bemühungen in Richtung der Überwachung, Detektion, Diagnose und Bekämpfung infektiöser Krankheiten, die Menschen, Tiere und Pflanzen befallen.
  • Die Formulierung und Einführung von »Codes of Conduct« für Naturwissenschaftler.

Für viele Beobachter war die Vereinbarung weiterer Gespräche statt konkreterem Vorgehen sehr enttäuschend [Kimball & Meier, 2002]. Auf der positiven Seite werden sich die Staatsparteien mindestens weiterhin treffen, um Wege zur Stärkung der BWC zu diskutieren. Damit ist jedoch die Zukunft der Verhandlungen über eine Stärkung der Konvention mit rechtsgültigen Verifikationsmaßnahmen sehr ungewiss.

1.6. Die Eigenschaften chemischer Waffen

Hochtoxische Nervengase wie Tabun (GA), Sarin (GB), Zyclosarin (GF), Soman (GD) und das höchst toxische Agens VX können gegen Personen verwendet werden mittels Inhalation, welches ein sehr einfacher und effektiver Weg ist [USA, 1993]. Abhängig von der Beständigkeit des Agens kann entweder eine simple Verdunstung (für GB) oder ein einfaches sprühendes (Aerosol) Gerät (für GB, GD, GF und vor allem VX) verwendet werden. In solchen Fällen treten die ersten Anzeichen der Vergiftung (Atmungsschwierigkeiten) sehr bald (innerhalb von zehn Sekunden) auf und eine schwere Vergiftung kann innerhalb von zehn Minuten tödlich enden, abhängig von der inhalierten Dosis. Es ist offensichtlich, dass die Vergiftung auch durch andere Aufnahmewege auftreten kann, z.B. durch Aufnahme über Nahrungsmittel oder Kontakt mit kontaminierten Objekten.

Viele organische Pestizide wie Organophosphate und Carbamate verursachen irreversible oder reversible Hemmungen der Acetylcholinesterase, des Schlüsselenzyms in der cholinergisch neuronalen Übertragung. Diese Pestizide sind viel weniger toxisch als die Nervenmittel. Andererseits sind sie leicht verfügbar in großen Mengen. Was auch erwähnt werden sollte, ist die hochentwickelte Methode zur »vor Ort Synthese« von extrem-toxischen, tödlichen Nervenmitteln aus relativ ungiftigen Vorgängern. Dies entspricht der aktuellsten Technik der binären chemischen Waffen. Hier findet der letzte synthetische Schritt von zwei Schlüsselvorgängern während des Munitionsflugs auf das Ziel statt, nachdem die Hülse von einer Trommel oder einer Luftbombe abgeschossen wurde. Diese chemische Waffentechnik wird für das Generieren von GB, VX und anderen potenziell toxischen Mitteln verwendet, welche das Personal während aller Tätigkeiten – von der Produktion bis hin zur Anwendung – gefährden können. In einigen Fällen wurde diese Technologie für Agenzien verwendet, die nur begrenzte Stabilität haben in klassischer (einheitlicher) Munition [Matousek, 1990; CDC, 2000; Evison et al., 2002].

Abhängig vom Ziel und Szenario eines terroristischen Angriffs, können auch beträchtlich langsamere Agenzien verwendet werden, z.B. Senfgas (HD) und seine diversen Analogien. Die Vergiftung ist nicht an unmittelbaren Anzeichen erkennbar, jedoch erscheinen die Hautverletzungen nach einer latenten Periode von 6-12 Stunden. Zusätzlich zu den toxischen Mitteln, die routinemäßig zu den CW Arsenalen gehören, kommen viele industrielle Agenzien, die in riesigen Mengen produziert werden, in Betracht. Diese schließen solche Agenzien wie Chlor, Phosgen (CG), Wasserstoffzyanid (AC), cynogenes Chlorid (CK) und Bromid ein, die erstickende, Lungen verletzende oder allgemein toxische Wirkungen haben. Viele von diesen waren Standard CW Agenzien im Verlauf des I. und II. Weltkrieges.

Um eine Panik hervorzurufen können belastende oder behindernde Agenzien verwendet werden, welche routinemäßig als »nicht-tödliche« Reizstoffe bezeichnet werden, obwohl sie sicher unter bestimmten Umständen auch tödlich wirken können [National Academies, 2003]. Dies wurde sichtbar während der Moskauer Geiselnahme [Hay, 2003]. Zu diesen Mitteln zählen all jene, die ein Erbrechen verursachen, wie Diphenylchloroarsin (DA), Diphenylcyanoarsin (Gleichstrom) und Adamsit (DM) oder die Tränen hervorrufen, wie Lachrymatose, Chloroacetophenon (CN), Chloropicrin (PS), Bromobenzylcyanid (BBC) und Dutzende anderer chlor- oder bromhaltiger organischer Verbindungen mit ähnlichen augenreizenden Wirkungen. Viele dieser Mittel wurden eingeführt zum Test von Respiratoren oder zur Ausbildung in chemischen Schutzübungen. Sie werden aber auch eingesetzt zur »Gesetzesdurchsetzung« und zur »Aufruhrkontrolle« sowie zum Schutz von Personen vor strafbaren Angriffen. Die sinnreizenden Stoffe 2-Chlorobenzalmalononitril (Cs) und Dibenzol(b,f) -1,4-Oxazepin (CR) gehören zu den wirksamsten Verbindungen, die einen hohen Sicherheitsindex haben, definiert als ein großer Unterschied zwischen unerträglicher und tödlicher Konzentration. Der Verwendung von psychotropen Verbindungen, hauptsächlich Halluzinogene wie LSD, könnte besonders relevant sein.

Eine Massenvergiftung kann auch über die Nahrungsverschmutzung erfolgen. Vergiftung mittels kontaminierter Nahrung oder Wassers bietet gewaltige Möglichkeiten für terroristische Angriffe. Zusätzlich zu allen Arten der weniger flüchtigen und chemisch stabilen, tödlichen chemischen Kriegsmittel (GD, GF, VXs, HDs), kommen eine große Vielfalt von industriellen Chemikalien, Pharmazeutika, Lösungsmitteln und Pestiziden in Betracht.

Eine unzureichend beurteilte und akzeptierte Bedrohung des chemischen Terrorismus sind die möglichen Angriffe auf petrochemische und chemische Einrichtungen, wie stationierte Lager- und Transportbehälter, Reaktoren, Rohrleitungen und große Kühlinstallationen (Nahrungsmittelindustrie, Eishockeyarenen und Ähnliches). Diese Einrichtungen enthalten weniger toxische, aber flüchtige, entflammbare und verflüssigte oder verdichtete Agenzien wie Chlor, Phosgen und Ammoniak oder andere Kohlenwasserstoffe wie Äthylen und Propylen.

Zerstörerische Terroristenangriffe gegen solche Einrichtungen mit Sprengstoffen, Brandstiftern oder Geschossen würden ein explosives Ereignis von dramatischen Auswirkungen initiieren, mit der Freigabe von hohen Konzentrationen an Verbindungen, die tödliche oder stark toxische Wirkungen in der nahen Nachbarschaft haben. Entsprechend der Natur von Chemikalien und den »vor Ort« Bedingungen kann ein anschließendes Feuer oder sogar ein Feuerball auftreten und u.U. andere Feuer initiieren, die hohe Temperaturen und toxische Produkte des Brennvorgangs produzieren können. Es könnte sein, dass dieser Mechanismus sehr attraktiv für Terroristen ist durch die zerstörerischen Wirkungen, die er produzieren würde und die durch Nebenwirkungen noch verstärkt werden könnten. Während der wirksame Bereich des für die Zerstörung verwendeten Sprengstoffs auf zehn Meter bemessen werden kann, können Nebenwirkungen wie die Gase des Chlors, befreit aus dem zerstörten Lagerbehälter (je nach Menge, Windgeschwindigkeit und Wetterbedingungen), Hunderte von Metern, unter Umständen bis zu 10 Kilometer weit reichen. Diese Art von Terroristenangriff mit seinen Auswirkungen und seiner Reichweite unterscheidet sich bedeutend von Unfällen in ähnlichen Einrichtungen zu Friedenszeiten, verursacht durch Materialfehler, einem persönlichen oder Systemfehler. Unfälle schreiten generell viel langsamer voran und ermöglichen ein Frühwarnsystem und mehr Zeit, um adäquate Verteidigungs- und Rettungsmaßnahmen zu ergreifen.

2. Kritische Untersuchung der Entwicklung genetisch veränderter Organismen als biologische Kampfstoffe

Von Biotechnologie als Wissenschaft kann seit Ende des 19. Jahrhunderts gesprochen werden. Maßgeblich war die Entdeckung, dass Mikroorganismen und ihre Produkte für bestimmte Prozesse wie z.B. zur Produktion von Getränken oder Käse verantwortlich sind. Seit dieser Zeit hat sich viel getan. Revolutioniert wurde die Biotechnologie vor allem durch die Molekularbiologie und die Gentechnik. Die biotechnologische Revolution war jedoch Anfang der 70er Jahre gerade erst in Gang gekommen; kurz nach Abschluss der Verhandlungen über die BWC wurde das erste erfolgreiche gentechnische Experiment durchgeführt [Chang & Cohen, 1974]. Die Gentechnik ist eine Methode, die die künstliche Modifikation und den Transfer genetischen Materials von einem Organismus zum anderen ermöglicht. Nur wenige Jahre später wurde bereits deutlich, dass diese neue wissenschaftliche Entwicklung eine potenzielle Gefahr für die BWC darstellte. Damit entstand die Angst, dass vollkommen neue, für die Kriegsführung besser geeignete Arten von Mikroorganismen hergestellt werden könnten. Zwar hatten diese Erkenntnisse noch keine unmittelbaren Auswirkungen auf die Einsetzbarkeit von B-Waffen, jedoch wuchs das militärische Interesse an den neuen Technologien [Wade, 1980; Budianski, 1982; Wright, 1987]. Die Biotechnologie ist ein zentraler Punkt der Debatte über eine Stärkung der BWC mit Verifikationsmaßnahmen [United Nations, 2001b].

2.1. Neue Entwicklungen BW-relevanter Biotechnologien

Die Entwicklungen in der Molekularbiologie und der Genetik ermöglichen es, die Mechanismen krankmachender Prozesse biologischer Agenzien gezielter und präziser zu entschlüsseln. Dadurch können effektivere therapeutische Ansätze und bessere Diagnostika entwickelt werden, die dann entscheidend zum Kampf gegen Infektionskrankheiten und zur Verteidigung gegen B-Waffen beitragen können. Solche Forschungen sind essentiell. Der mögliche Missbrauch der Biotechnologien für die Produktion von B-Waffen ist jedoch ein Aspekt, der nicht ignoriert werden darf. Damit haben diese Technologien einen sogenannten Dual-Use-Charakter. Um die Dual-Use-Aspekte von biomedizinischen Forschungen deutlich zu machen, werden einige besonders relevante Techniken näher erläutert.

2.1.1. Targeted delivery systems

»Targeted delivery systems« sind Komponenten, mit denen eine gewünschte Aktivität zu bestimmten Stellen im Körper gezielt hingebracht werden kann. Ein Beispiel solcher Systeme sind Immunotoxine, in denen toxisch wirkende Moleküle mit Antikörpern gekoppelt werden, die gegen spezifische Oberflächenstrukturen auf bestimmten Körperzellen gerichtet sind. Dadurch gelangt das Toxin nur zu den Zellen, die diese spezifische Oberflächenstruktur besitzen, während andere Körperstellen weitgehend von der Aktivität des Toxins verschont bleiben [Kreitman, 1999]. Eine Anwendung finden Immunotoxine z.B. in der Krebstherapie, wobei die Antikörperkomponente gegen Tumoranti gene, die auf der Oberfläche von Krebszellen sitzen, gerichtet sind.

Ein anderes Beispiel von einem »targeted delivery system« sind Viren, die als Vektoren benutzt werden, um fremde Gene in Zellen einzuschleusen mit dem Zweck einer Immunisierung oder einer Gentherapie. Es wird in diesem Zusammenhang mit Vacciniaviren (Pockenimpfstoff) als Vektoren geforscht [Moss, 1985]. Diese Viren haben ein großes Genom, das als Träger für mehrere fremde Gene dienen kann. Wenn diese Trägerviren eine Zelle infizieren, werden die Fremdgene exprimiert und das im Gen kodierte Eiweißmolekül produziert.

In den letzten Jahren wurden auch Adenoviren als Vektoren fremder Gene untersucht. Adenoviren sind die Verursacher von akuten Atemwegsinfektionen und sind in der Natur weit verbreitet. Diese Viren können jedoch so manipuliert werden, dass sie keine Infektionen mehr verursachen können. Ferner können sie bis zu 40 Kilobasen fremder DNA tragen und sind eine der effizientesten Übertragungsvehikel, die es überhaupt gibt für Gene. Alternativ werden Adeno-associated Viren als Vektoren entwickelt. Diese Viren sind von der Natur aus defektiv, und es wurde bis jetzt nicht beobachtet, dass sie je pathogen gewirkt haben [Carter, 1996]. Adenoviren werden auch bevorzugt für die Übertragung von Genen eingesetzt, da sie sich nicht in das Wirtschromosom integrieren sollten. Dadurch würde das Risiko einer Mutation durch Insertion des fremden Gens in eine Genregion des Chromosoms geringer sein [Morsy & Caskey, 1997]. Allerdings haben neue Untersuchungen gezeigt, dass auch Adeno-associated Viren sich viel häufiger als vermutet in das Chromosom des Wirts integrieren und Gene unterbrechen [Check, 2003]. Daher gibt es immer noch ernsthafte Fragen über die Sicherheit solcher Vektoren für die Gentherapie.

»Targeted delivery systems« haben einen ausgeprägten Dual-Use-Charakter. Sie sind potenziell sehr nutzbar in Vakzin- und Gentherapie aber sie können auch als Übertragungsvehikel im negativen Sinn verwendet werden. Viren können so manipuliert werden, dass sie z.B. Toxingene tragen, die nach einer Infektion im Wirtskörper exprimiert werden und Gift produzieren.

2.1.2. Identifikationsverfahren bzw. diagnostische Methoden

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden einige Programme in den USA begonnen, die eine Verteidigung gegen biologische Waffen verstärken sollten. Es sollte insbesondere die Fähigkeit entwickelt werden, biologische Agenzien im Kampfgebiet nachzuweisen. Gedacht wurde an automatische (remote sensing) Verfahren, die z.B. im Fall von chemischen Kampfstoffen verwendet werden. Die Namen solcher Programme sind Biological Integrated Detection System (BIDS), Long Range Biological Stand-Off Detection System (LR-BSDS), Short-Range Biological Stand-Off Detection System (SR-BSDS), Joint Biological Remote Early Warning System (JBREWS) und das Joint Biological Point Detection System (JBPDS) [Valdes, 2000].

Neben den »Remote-Sensing-Systemen« entwickelt man auch auf Probenentnahmen basierende Detektionsverfahren. Diese sind bisher noch nicht so weit fortgeschritten, dass sie biologische Agenzien automatisch detektieren und vor allem differenzieren können. Einige Systeme können jedoch inzwischen 4-7 verschiedene biologische Agenzien detektieren bzw. differenzieren, und Verbesserungen sind hier zu erwarten.

Anders ist die Situation im Falle der Verifikation von biologischen Agenzien, in der eine Inspektion beim Verdachtsfall durchgeführt werden muss. Einige Entwicklungen im Bereich der Antikörper- oder DNA-Nachweistechnologien können durchaus positiv zur Verifikation beitragen. Im folgenden werden solche Entwicklungen diskutiert.

2.1.2.1. Antikörper als diagnostische Reagenzien

Antikörper sind Proteinmoleküle, die als Antwort auf ein Fremd-Antigen im Körper produziert werden. Antikörper reagieren spezifisch mit einem bestimmten Bereich des Fremd-Antigens, das ein Epitop heißt. Ein Epitop besteht aus einer Reihe von Aminosäuren im Falle eines Protein-Antigens oder von Zucker im Falle eines Polysaccharid-Antigens. Die Reaktionen zwischen Antikörpern und Antigenen sind sehr spezifisch, und daher können Antikörper verwendet werden um bestimmte biologische Agenzien, die Antigene besitzen, durch spezifische Reaktionen zu identifizieren.

ELISA (enzyme-linked immunosorbent assay) ist ein Verfahren, das sich in den letzten Jahren als sehr nützlich in diagnostischen Laboratorien erwiesen hat [Abbas et al., 1997]. Um eine ausreichende Sensibilität bei diesem Verfahren zu erzielen, ist es essentiell, Antikörper mit sehr hohen Bindungsaffinitäten zu gewinnen, was oft problematisch ist. Eine gewisse Erfahrung wird benötigt, wenn es um den Aufbau des ELISA für neue Antigene geht. Wenn jedoch das System für ein bestimmtes Agens ausgearbeitet ist und gut funktioniert, ist es sehr leicht durchzuführen, auch von relativ unerfahrenem Personal. Dieses Verfahren kann unter Umständen Agenzien in sehr geringen Mengen wie im Picogramm-Bereich (10-12 Gramm) oder sogar im Femtogram-Bereich (10-15 Gramm) detektieren und identifizieren. Sowohl Mikroorganismen als auch Toxine können mit ELISA bestimmt werden.

Gegenwärtig machen die Entwicklungen in Antikörpernachweismethoden rapide Fortschritte im Bezug auf Genauigkeit, Sensibilität, Leichtigkeit der Durchführung und Automation, und diese Techniken können durchweg einen positiven Beitrag zum Verifikationsverfahren im Hinblick auf Nachweis und Identifizierung von Mikroorganismen und Toxinen leisten.

Die Verwendung von ELISA-Verfahren in Form von »high-throughput microarrays« [Mendoza et al., 1999; Borrebaeck, 2000] ist eine Entwicklung, die für die Identifizierung von biologischen Agenzien besonders erfolgversprechend ist. Spezifische Antikörper werden an eine Mikro-Glasplatte (einen chip) in einer designierten Anordnung (array)gebunden. In einem Beispiel werden Mikroarray-Platten mit 96 Vertiefungen verwendet. Jede der Vertiefungen enthält vier Arrays von jeweils 36 verschiedenen Antikörpern. Somit können auf einmal 96 verschiedene Proben für die Anwesenheit von bis zu 144 verschiedenen Antigenen durchsucht werden [Mendoza et al., 1999].

2.1.2.2. Nukleinsäure-Nachweisverfahren

Im allgemeinen bestimmt das genetische Material (Gene und ihre Regulationselemente) eines Mikroorganismus seine Charakteristika. Ein Gen kontrolliert z.B. die Produktion eines Stoffes (eines Proteins), das dem Organismus eine Eigenschaft verleiht. Die Eigenschaften sind von größter praktischer Bedeutung im Umgang mit Mikroorganismen, aber es ist die Nukleinsäuresequenz der Gene, die am genauesten Mikroorganismen identifizieren kann, auch wenn nicht alle Eigenschaften zu einem bestimmten Zeitpunkt ausgedrückt werden. Im vergangenen Jahrzehnt fand eine Revolution im Bereich der Wissenschaft statt, die die evolutionäre Verwandtschaft von Lebewesen unter Verwendung der Nukeinsäure-Sequenzananalyse als Werkzeug studiert [Woese et al., 1990]. Die Nukleinsäure-Sequenzanlalyse kann auch Informationen über den Besitz von Genen liefern, die Pathogenitäts- bzw. Virulenzfaktoren bestimmen. Im Falle von Mikroorganismen, die potenzielle biologische Waffen sind, wäre die Bestimmung von Virulenzgenen als Identifizierungsverfahren von großem Interesse.

Nukleinsäuresequenz-Bestimmung: Um Mikroorganismen über eine Sequenzanalyse ihrer Nukleinsäure (Desoxyribonukleinsäure, DNA oder Ribonukeinsäure, RNA) auf eine praktische Weise (schnell und mit nicht allzu großem Aufwand) bestimmen zu können, müssen die Sequenzen der gesuchten Gene bekannt sein. Dies erfordert die Bestimmung der Nukleinsäuresequenz der Genome (oder zumindest der Virulenzgene) von Mikroorganismen, die als potenzielle biologische Waffen eingestuft werden. Informationen über die Sequenzen von vielen Virulenzgenen liegen schon vor. In der jüngsten Zeit wurden erhebliche Fortschritte im Bereich der »high-throughput DNA sequencing« im Zusammenhang mit verschiedenen Genomsequenzierungsprojekten erzielt. Diese Methode wird bereits für die Sequenzierung der Genome pathogener Mikroorganismen intensiv angewendet, um Zielbereiche für Therapeutika sowie für Vakzinproduktion zu definieren [Smith, 1996].Nukleinsäure-Hybridisierungsverfahren: Um Mikroorganismen durch Nukleinsäure-Sequenzanalyse identifizieren zu können, ist es nicht unbedingt nötig, die DNA oder die RNA der Mikroorganismen zu sequenzieren. Stattdessen hat sich die Technik der Nukleinsäurehybridisierung als sehr nützlich erwiesen [Towner & Cockayne, 1993]. Hierzu werden sogenannte Sonden – z.B. kurze DNA-Abschnitte von Genen – verwendet. Sie sind spezifisch für die DNA bestimmter Mikroorganismen (Ziel-DNA). Sie werden mit chemischen Verbindungen »markiert«, so dass die Reaktion von der Sonde mit der Ziel-DNA sichtbar wird. Eine positive Reaktion weißt das Vorhandensein von dem Mikroorganismus nach.

Eine Voraussetzung beim Hybridisierungsverfahren ist der Besitz spezifischer Sonden für die DNA-Abschnitte, die identifiziert werden sollen. Spezifische Sonden für die DNA vieler Mikroorganismen und Virulenzgene sind schon vorhanden, und andere können bei Bedarf durch verschiedene Klonierungsverfahren oder auch durch die Polymerase-Ketten-Reaktion (s. unten) hergestellt werden.

DNA-Arrays: Eine vielversprechende Anwendung von Hybridisierungsverfahren für die Detektion und Identifizierung von Mikroorganismen werden durch »high-density DNA-microarrays«, sogenannte Biochips dargestellt [Lockart & Winzeler, 2000]. Es handelt sich um DNA-Sequenzen, die für verschiedene Mikroorganismen spezifisch sind. Diese DNA-Sequenzen bzw. Oligonukleotide werden durch verschiedene Verfahren an Mikro-Glasplatten (chips) immobilisiert. Die Oligonukleotide werden auf die Platten in einem designierten Array oder Muster gebracht bzw. »gedruckt«. Bei einigen Verfahren können mehr als 250.000 verschiedene spezifische Oligonukleotide pro Quadratzentimeter aufgebracht werden. Für die Untersuchung einer Probe wird entweder RNA oder DNA aus der Probe gewonnen und mit fluoreszierenden Verbindungen markiert. Für die Hybridisierungsreaktion werden diese markierten Nukleinsäuren auf die Arrays pipettiert. Das Vorhandensein eines bestimmten Mikroorganismus in der Probe kann an einer positiven Hybridisierungsreaktion mit dem für dieser Mikroorganismus spezifischen Oligonukleotid im Array (Floureszenz an der entsprechenden Stelle) identifiziert werden.Polymerase-Ketten-Reaktion (Polymerase Chain Reaction): Die Polymerase-Ketten-Reaktion (PCR) wurde in den 80er Jahren entwickelt und hat seitdem die molekulare Biologie und Genetik revolutioniert. Ein Hauptproblem im Umgang mit Genen liegt darin, genügend Material für Untersuchungen in der Hand zu haben. Die Züchtung von Mikroorganismen, die Isolierung der Nukleinsäuren, und die Amplifizierung (Vervielfältigung) spezifischer Abschnitte der Nukleinsäuren durch Klonierungsverfahren sind manchmal aufwändige, zeitraubende Unternehmungen. Die PCR ist eine Methode, die eine Amplifizierung von Genen oder bestimmten Abschnitten von DNA in vitro (im Teströhrchen) erlaubt. Dieses Verfahren kann DNA-Abschnitte milliardenfach innerhalb weniger Stunden amplifizieren [Chang et al., 1993].

Im Zusammenhang mit biologischen Waffen muss die PCR als ein sehr ambivalentes Verfahren angesehen werden. Da Manipulationen durch diese Methode viel einfacher durchgeführt werden können, kann die PCR einem Aggressor auch im negativen Sinne gut dienen. Anderseits kann die PCR das Verifikationsverfahren stark positiv beeinflussen. In der letzten Zeit wurde die Methode für die Identifizierung von Mikroorganismen in der Umgebung verwendet, indem theoretisch ein einziger Mikroorganismus in einer Mischung von vielen anderen durch die PCR detektiert werden kann [Amann et al., 1995]. Ein weiterer Vorteil der PCR bei solchen Messungen liegt darin, dass die Mikroorganismen nicht kultiviert werden müssen, um detektiert zu werden.

2.1.3. Genomics

Die Genomforschung befasst sich mit der Bestimmung der Nukleotidsequenz der genomischen DNA von Organismen. Die komplette Sequenzierung der Genome von über 50 Bakterien und zahlreichen Viren ist bereits erzielt worden, und mehr als 100 weitere Genome von Mikroorganismen werden gegenwärtig sequenziert [Clayton et al., 1998]. In jüngster Zeit wurden erhebliche Fortschritte im Bereich der »high-throughput DNA sequencing« in Zusammenhang mit verschiedenen Genom-Sequenzierungsprojekten erzielt. Die Genome pathogener Mikroorganismen werden sequenziert, um die Komplexität der mikrobiellen Pathogenese zu entschlüsseln und die Identifizierung von neuen Virulenzdeterminanten zu ermöglichen. Dazu sollen Zielbereiche für die Entwicklung diagnostischer Reagenzien, Chemotherapeutika und Impfstoffe definiert werden [Jenks, 1998].

Genomsequenzierung wurde neuerdings für die Erstellung genetischer Profile bei »Bacillus anthracis« verwendet [Read et al., 2002]. Obwohl das Bakterium im Grunde ein genetisch sehr homogenes Pathogen ist, konnten die Forscher DNA-Gebiete aufspüren, die für die Erstellung von genetischen Profilen bei verschiedenen Stämmen variabel genug sind. Hierzu wurden Gengebiete der »variable number tandem repeats« (VNTRs), »single nucleotide polymorphisms« (SNPs) und »inserted or deleted sequences« (Indels) verwandt, um genetische Profile herzustellen. Genombasierte Analysen von pathogenen Mikroorganismen werden zweifellos in der Zukunft zur Aufklärung der Entstehungsursachen infektiöser Krankheiten und damit zur Transparenz und zum Vertrauen in das BWC-Regime beitragen können.

Gleichzeitig besteht die Gefahr, dass Ergebnisse von Genomuntersuchungen für die Herstellung biologischer Waffen missbraucht werden können. Es wurde kürzlich berichtet, dass Forscher infektiöse Poliovirus-Partikel aus Genomsequenz-Informationen biochemisch hergestellt haben [Cello et al., 2002]. Experten wurden allerdings durch diesen Bericht nicht besonders überrascht. Sie weisen daraufhin, dass die Technologie für diese Entwicklung seit langem vorhanden ist. Anderseits hat das Poliovirus ein relativ kleines Genom, und andere, viel komplexere Viren (wie z.B. das Pockenvirus) können mit dem heutigen Stand der Technik nicht in dieser Art hergestellt werden. In diesem Bereich werden tagtäglich große Fortschritte erzielt, so dass zukünftige Entwicklungen streng überwacht werden müssen. Auf jeden Fall haben diese Ereignisse eine hitzige Debatte über die Veröffentlichung von Forschungsergebnissen ausgelöst, die durch Terroristen missbraucht werden können [Couzin, 2002].

Das »Human Genome Project« wurde Ende der 80er Jahre von den US National Institutes for Health initiiert. Das Projekt wurde durchgeführt, um einen Einblick in die Organisation und Funktion von genetischem Material zu gewinnen. Dabei sollen Physiologie und Medizin auf einer soliden, molekularen Basis erarbeitet und Erkenntnisse über Erbkrankheiten sowie die Mechanismen der Entstehung von Krebs gewonnen werden [Bartfai et al., 1993; Dando et al., 1999]. Mehrere Aspekte des »Human Genome Project« führen zu Kontroversen, u.a. über die mögliche Kommerzialisierung von Informationen, die aus den Sequenzbestimmungen gewonnen werden.

Besonders kontrovers ist das »Human Genome Diversity Project«, das die Gewinnung von Kenntnissen über die genetische Verschiedenheit humaner Populationen als Ziel hat. In den Augen einiger Kritiker beinhaltet diese Arbeit jedoch Aspekte von Rassismus, Kommerzialisierung, Ausbeutung und kulturellem Imperialismus [Resnik, 1999]. Insbesondere werden Befürchtungen geäußert, dass solche Kenntnisse für die Produktion ethnischer Waffen verwandt werden können. Einige Argumente sprechen aber gegen eine Realisierungsmöglichkeit ethnischer Waffen. Mehrere Berichte deuten auf die Tatsache hin, dass es genetisch gesehen keine Rassen gibt; genetische Unterschiede innerhalb von Populationsgruppen sind im allgemeinen größer als die Unterschiede zwischen verschiedenen Populationen [Brown & Amelagos, 2001; Romualdi et al., 2002; Frazer & Dando, 2001]. Üblicherweise macht die Menge genetischer Variation, die auf eine Rasse zugeschrieben werden kann, nur etwa fünf Prozent aus. Dagegen erreicht die Variationsbreite innerhalb einer Populationsgruppe achtzig bis neunzig Prozent. Deshalb wurde vorgeschlagen, dass »Rassenkonzept« noch mal zu überprüfen: „It no longer makes sense to adhere to arbitrary racial categories, or to expect that the next genetic study will provide the key to racial classification“ [Brown & Amelagos, 2001].

Es ist beispielsweise bekannt, dass »single-nucleotide polymorphisms« (SNPs) die häufigste Art der Variation im Humangenom sind. Bestimmte SNPs können möglicherweise in isolierten Populationen häufiger als sonst vorkommen und folglich als genetische Marker dienen [Wang et al., 1998]. Allerdings bei Studien, in denen isolierte Populationen gezielt untersucht worden sind, wurden bisher keine Marker gefunden, die ethnische bzw. rassische Gruppen absolut identifizieren können [Brown & Amelagos, 2001; Romualdi et al., 2001; Fraser & Dando, 2001]. Dies bestätigt das Konzept, dass innerhalb von Populationen eine größere genetische Variabilität als zwischen Populationen besteht. Auf genetischer Basis können Populationsgenetiker Menschen zwar einem Kontinent zuordnen, aber sie müssen mehrere genetische Merkmale dazu verwenden und in ungefähr dreißig Prozent der Fälle wird die Zuordnung falsch getroffen. Noch schwieriger wird es, wenn man versucht, die Zuordnung enger zu treffen, etwa auf subkontinentale Regionen [Brown & Amelagos, 2001; Romualdi et al., 2002].

Dennoch können Populationen möglicherweise genetisch markiert werden, z.B. durch Immunisierung oder durch gezieltes Einschleusen neuer Gene in Zellen mittels eines Genvektors (targeted delivery). So markierte Populationen würden potenziell für genetische Waffen angreifbar sein. Eine Schwierigkeit in diesem Zusammenhang ist mit dem gezielten Einsatz einer genetischen Waffe (targeted delivery systems) verbunden. Eine solche Waffe würde beispielsweise Träger einer pathogenen Eigenschaft – z.B. ein Toxin oder ein Toxingen – sein. Dieser Träger muss in den Körper so eingeschleust werden, dass eine entsprechende Menge der Waffe ihren Wirkort (den genetischen Marker) zielgerichtet findet und den gewünschten Effekt ausübt. Bis jetzt ist die Wirkung solcher »targeted delivery Systeme« nicht zufriedenstellend. Es wird jedoch zügig an der Verbesserung von solchen Systemen für Gentherapie-Zwecke geforscht [Bagshawe et al., 1999], so dass baldige Fortschritte in diesem Bereich zu erwarten sind. Obwohl Untersuchungen z.Zt. eher gegen eine mögliche Herstellung ethnischer Waffen sprechen, ist eine Überwachung der Entwicklungen in diesem Bereich unbedingt erforderlich: „…there is a need to keep careful watch on research in this area and to give attention to means by which malign developments can be thwarted. Whilst we should hope that genetic weapons are never developed, it would be a great mistake to assume that they never can be, and therefore that we can safely afford to ignore them as a future possibility” [Dando et al., 1999].

Es soll in Erinnerung gebracht werden, dass biologische Kriegsführung auch gegen Pflanzen und Tiere gerichtet werden kann. Obwohl die Entwicklung von ethnischen Waffen gegenwärtig nicht realisierbar scheint, wird mit Recht auf die Tatsache hingewiesen, dass ähnliche Waffen, die sich gegen spezifische Arten von Pflanzen und Tieren richten, sehr wohl möglich sind [Wheelis, 2000]. Die Landwirtschaft, sowohl in Industrie- als auch in Entwicklungsländern, verwendet häufig Monokulturen von genetisch identischen Sorten, die über großen Flächen angebaut werden und für genetische Waffen daher angreifbar sein würden.

2.1.4. Die Post-Genomics Ära

Die biomedizinischen Wissenschaften sowie die pharmazeutische Industrie befinden sich inmitten einer Revolution der Prozesse der Therapeutikaentwicklung (drug discovery) [Wheelis, 2002]. Hierzu werden zusätzlich zu Genomics und DNA-Array-Technologie auch Techniken wie kombinatorische Chemie, Liganden-Identifizierung und Proteomics (die Breitbandanalyse von Proteinen) angewandt, die für eine Kontrolle über potenzielle biologische und chemische Kampfstoffe von hoher Relevanz sind. Bioregulators werden immer weiter an Bedeutung gewinnen. Dies sind Substanzen, die vor allem im Nervensystem wirken und neben ihren toxischen Effekten auch das Bewusstsein und das Verhalten beeinflussen können [Dando, 2001]. Bioregulators gehören zur Kategorie der sogenannten »non-lethal weapons« (NLW). Zur Zeit findet eine große Debatte über die Zulassung dieser Substanzen statt . Die BWC verbietet diese Substanzen kategorisch „in einem bewaffneten Konflikt“. Die CWC verbietet sie auch für Kriegszwecke, aber das Abkommen enthält eine undefinierte Ausnahme bezüglich ihrer Verwendung für »law enforcement« (Gesetzesdurchsetzungs-) Zwecke. Äußerungen vom US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld vor dem Armed Services Committee des Repräsentantenhauses im Februar 2003 ließen wissen, dass die US-Regierung an der Verwendung von NLW im Irak interessiert ist, besonders an denjenigen, die für die Kontrolle von Krawallen (riot control) benutzt werden können. Rumsfeld hat die CWC eine Zwangsjacke genannt, die US-Optionen im Krieg limitiert [Hay, 2003]. Nach diesen Äußerungen besteht eine große Gefahr, dass das Verbot aufgelockert wird.

Durch die engen Verbindungen zwischen dem Nervensystem und dem Immunsystem können »bioregulators« beide Systeme beeinflussen. Das Ausmaß der Wirkungen nach dem Ausschalten des Immunsystems bei der Bekämpfung von Infektionskrankheiten wird weiter unten behandelt.

2.1.5. Modifizierung von Mikroorganismen

Es ist offensichtlich, dass die Revolution in der Biotechnologie Befürchtungen geweckt hat, dass die neuen Techniken (insbesondere die Gentechnik) benutzt werden können, um biologische Kriegführungskapazitäten zu verbessern und biologische Waffen als alternative Kampfmittel attraktiver zu machen. Seit der Entwicklung der Gentechnik wurden vier Kategorien der Manipulation oder Modifikation von Mikroorganismen als relevant für die Herstellung von BW genannt:

  • die Übertragung von Antibiotikaresistenzen in Mikroorganismen;
  • die Modifikation der Antigendomänen von Mikroorganismen;
  • die Modifikation der Stabilität der Mikroorganismen gegenüber ihrer Umwelt und
  • der Transfer pathogener Eigenschaften in Mikroorganismen.

Zur Übertragung von Antibiotikaresistenzen in Mikroorganismen:

Die Übertragung von Resistenz gegen Antibiotika auf Mikroorganismen liegt für die Gentechnik sicherlich bereits im Bereich des Möglichen. Antibiotikaresistenzen werden z.B. häufig als Marker in Klonierungsversuchen verwendet, um Zellen, die Gene übertragen bekommen haben, zu selektieren. Diese Modifikation findet in der Natur statt. Am Beispiel von in Krankenhäusern erworbenen Infektionen, die nur äußerst schwierig unter Kontrolle zu halten sind, lässt sich vielleicht am besten zeigen, welche verheerenden Folgen eine einmal erlangte Resistenz gegenüber einer Vielzahl von Antibiotika haben kann. Resistente Mikroorganismen können häufig in Krankenhäusern gefunden werden, hauptsächlich wegen des selektiven Drucks der Antibiotika, die hier Verwendung finden.

Zur Modifikation der Antigendomänen von Mikroorganismen:

Auch die Veränderung einzelner Komponenten bzw. Antigene der Zelloberfläche durch genetische Manipulationen ist im Prinzip möglich. Das körpereigene Immunsystem erkennt und bekämpft eindringende Erreger über die Strukturen ihrer Zelloberflächen. Wenn ein bestimmter Erreger als Impfstoff dient, wird die Immunität gegen die Zelloberflächenstrukturen gerichtet. Das Immunsystem ist nun in der Lage bei späterem Kontakt mit dem Erreger, diesen zu identifizieren und zu bekämpfen, solange die Antigene der Zelloberfläche denen entsprechen, die beim ersten Kontakt das Immunsystem geprägt haben. Wenn beim späteren Kontakt mit dem Immunsystem die Antigenkomposition des Erregers jedoch verändert ist, kann dieser Erreger sich den spezifischen Schutzmechanismen des Immunsystems entziehen.

Es ist möglich, gewisse Modifikationen der Zelloberflächenstrukturen zu erzielen. Es ist jedoch fraglich, ob diese Änderungen den gewünschten Effekt haben werden. Bakterien, z.B. verfügen über mehrere verschiedene Antigene auf ihrer Oberfläche. Die Veränderung von einem Antigen würde möglicherweise wenig zur Überwindung des Immunsystems beitragen, da andere Antigenstrukturen noch erkannt werden. Außerdem sind einige Oberflächenstrukturen von Bakterien aus Polysacchariden zusammengesetzt. Eine Änderung solcher Strukturen würde weitreichende Manipulationen sämtlicher Enzymsysteme erfordern, und einige dieser biosynthetischen Systeme sind sehr komplex. Nichtsdestoweniger sind solche Manipulationen offenbar möglich. Es wird z.B. angenommen , dass ein neuer Cholerastamm (Vibrio cholerae Stamm 0139 Bengal) durch den natürlichen horizontalen Transfer der Gene, die die Biosynthese des Zellwandpolysaccharids regulieren, entstanden ist [Mooi & Bik, 1997; Kido et al., 1989].

Die Antigenzusammensetzung von Viren ist dagegen weniger komplex, sodass Änderungen in viralen Antigenen effektiver bei der Umgehung der Immunabwehr sein könnten. Modifikationen, die umfangreich genug sein würden, um die Erkennung durch das Immunsystem zu umgehen, könnten die Funktion des Mikroorganismus negativ beeinflussen. Die wenigen Proteine, die das Capsid bzw. die Hülle des Virus bilden, sind für die Verpackung der Nukleinsäure in einem infektiven Partikel essentiell. Es ist daher nicht klar, in welchem Umfang Modifikationen toleriert werden können. Nichtsdestoweniger finden Antigenmodifikationen bei einigen Bakterien und vor allem bei einigen Viren in der Natur statt. Hierzu können einige Viren das Immunsystem durch die häufige Mutation ihrer Proteingene regelmäßig überwinden [McMichael, 1996].

Zur Modifikation der Stabilität der Mikroorganismen gegenüber ihrer Umwelt

Prozesse, die die Stabilität von Mikroorganismen gegen Umweltbelastungen erhöhen können haben eine besondere Relevanz für die B-Waffen-Entwicklung. Das Bakterium »Bacillus anthracis« war durch die Geschichte hindurch immer ein geeigneter Kandidat für eine B-Waffe [Courtland Moon, 1999], u.a. wegen seiner Fähigkeit, Endosporen zu bilden. Endosporen sind gegenüber Hitze, Austrocknung, Desinfektionsmitteln, den destruktiven Effekten des UV-Lichts und einigen toxischen Chemikalien resistent. Die Bildung von Endosporen ist eine relativ seltene Eigenschaft unter den Bakterien. Abgesehen von einigen wenigen Arten, sind es hauptsächlich die Gattungen »Bacillus« und »Clostridium«, die diese Fähigkeit besitzen. Forscher sind heute eifrig dabei, die Mechanismen, die für die Regulation der Bildung von Endosporen verantwortlich sind, zu entschlüsseln. Diese Versuche werden vor allem in »Bacillus subtilis«, einer nichtpathogenen Art von Bodenbakterien, durchgeführt.

Diese Arbeit ist u.a. auf die Funktion der kleinen, säurelöslichen Sporenproteine (SASP) beim Schutz der DNA der Endosporen vor Beschädigung durch verschiede Umweltfaktoren fokussiert [Loshon et al., 1999]. Während diese Untersuchungen für die Entschlüsselung der regulatorischen Mechanismen der Endosporenbildung äußerst wichtig sind, haben die Ergebnisse gleichzeitig militärische Relevanz.

Ähnlich wichtig sind Forschungen über die Untersuchung von Genen, die die Biosynthese von Carotenoiden regulieren. Die meisten Mikroorganismen sind äußerst empfindlich gegenüber den schädlichen Effekten von UV-Licht, und Carotinoide sind antioxidative Substanzen, die Mikroorganismen vor diesen Wirkungen schützen können. In diesem Zusammenhang wurde das Darmbakterium »Escherichia coli« gentechnisch mit einigen Carotinoiden-Genen ausgestattet. Diese Bakterien haben die schädigenden Effekte des UV-Lichts besser überlebt als Bakterien, die diese Gene nicht bekommen haben [Sandmann et al., 1999].

Bakterien sind meist sehr empfindlich gegenüber Austrocknung. Es wird postuliert, dass die Ansammlung von Disaachariden wie Saccharose Membrane und Proteine vor einer Dehydrierung schützen kann. Forscher haben daher ein Gen für die Biosynthese von Saccharose-Phosphat in »Escherichia coli« eingeführt [Billi et al., 2000]. Die Überlebenschancen dieser manipulierten Bakterien wurden damit 10.000-fach erhöht.

Die Umhüllung von Mikroorganismen mit einem schutzgewährenden Stoff (Mikroencapsulation) ist eine weitere Methode, Mikroorganismen vor schädlichen Umweltfaktoren zu schützen. Hierzu werden die Mikroorganismen mit einer dünnen Schicht bestimmter Substanzen (z.B. Gelatine) bedeckt. Es gibt verschiedene pharmazeutische und therapeutische Anwendungen der »Microencapsulation«, und die Methoden werden aktiv erforscht [Chang, 1998]. Es besteht ferner großes Interesse in der Industrie bezüglich einiger gelöster Substanzen (compatible solutes) aus thermostabilen Miroorganismen, die Zellproteine vor der Inaktivierung durch Hitze schützen können [Lamosa et al., 2000].

Zum Transfer pathogener Eigenschaften in Mikroorganismen.

Die intensivsten Forschungen im Bereich der infektiösen Krankheitserreger sind mit der Aufklärung der Mechanismen von pathogenen Wirkungen dieser Agenzien unter Anwendung der Methoden der modernen Molekularbiologie befasst. Um Infektionskrankheiten effektiv zu bekämpfen, ist es essentiell, die Mechanismen der krankmachenden Prozesse zu durchschauen. Eine Vielzahl von Informationen wurde erst im letzten Jahrzehnt gesammelt. Es zeigt sich immer deutlicher, dass viele verschiedene Faktoren eine Rolle bei solchen Prozessen spielen [Cotter & DiRita, 2000], und kein System bis jetzt in seiner Gesamtheit verstanden wird. Die Produktion eines Toxins könnte z.B. für den krankmachenden Prozess essentiell sein; es wird jedoch nur zusammen mit anderen, weniger gut definierten Faktoren wirksam, die das Eindringen der Mikroorganismen in den Wirt erlauben. Dass eine Manipulation durchgeführt werden kann, sagt noch nicht aus, ob diese die gewünschte Wirkung im Zusammenhang mit der Herstellung effektiverer biologischer Waffen haben wird.

Ein Beispiel kann diesen Tatbestand verdeutlichen. In einem aktuellen Versuch wurde ein Toxingen von »Listeria monocytogenes« in das relativ harmlose Bodenbakterium »Bacillus subtilis« übertragen [Bielecki et al., 1990]. Das so manipulierte »Bacillus subtilis« konnte zwar das Toxin in Kultur produzieren, wirkte jedoch avirulent (harmlos, nicht infektiös), wenn es in Mäuse injiziert wurde. Weitere, ähnliche Versuche unterstützen die These, dass es äußerst schwierig ist, einen harmlosen Mikroorganismus durch die Übertragung von Pathogenitätsmerkmalen virulent zu machen. Andererseits konnte offensichtlich die Virulenz eines schwach pathogenen Bakteriums (Bordatella parapertussis) durch die Übertragung eines Toxingens von »Bordatella pertussis« (Verursacher von Keuchhusten) verstärkt werden [Falkow, 1989]. Dies war offensichtlich nur deswegen möglich, da »Bordatella parapertussis« schon einige schwach pathogene Eigenschaften in sich trägt.

Die vier Arten von Manipulationen, die oben geschildert wurden, werden tagtäglich in der biomedizinischen Forschung durchgeführt, natürlich nicht mit der Absicht, biologische Waffen herzustellen; diese Versuche dienen zur Aufschlüsselung der Mechanismen der Pathogenität infektiöser Erreger. Somit können infektiöse Krankheiten gezielter bekämpft werden. Diese Art von Forschung ist essentiell. Nichtsdestoweniger können sehr gefährliche Mikroorganismen durch diese Forschungen entstehen. Diese Tatsache soll an einigen Beispielen erläutert werden. Gleichzeitig kann auch die Bedeutung des Immunsystems für den Schutz vor Infektionen klar erkannt werden.

Beispiel der Übertragung von Virulenzgenen in »Bacillus anthracis«.

Russische Forscher haben Gene für die Bildung eines haemolytischen Toxins aus dem Bakterium »Bacillus cereus« (einem nicht-pathogenen Bodenbakterium, aber einige Stämme können eine Lebensmittelvergiftung verursachen) in virulente Stämme von »Bacillus anthracis« übertragen [Pomerantsev et al., 1997]. Das Toxin besteht aus zwei Phospholipasen, Phospholipase C und Sphingomyelinase, die durch die Cereolysin A- und B-Gene kodiert werden. Die Phospholipasen verursachen eine Beschädigung von Zielzellmembranen und dabei die Abtötung der Zielzellen. Erythrozyten haben sehr empfindliche Membrane; diese Zellen werden durch die Einwirkung der Cereolysine gleich aufgelöst (lysiert) und setzen Haemoglobin frei (daher der Name Haemolysin). Nach der Übertragung der Cereolysin-Gene in »Bacillus anthracis« bekamen die Forscher ein unerwartetes Ergebnis. Die so manipulierten Milzbranderreger waren nicht pathogener geworden, aber das übliche Milzbrandvakzin konnte Hamster gegen eine Infektion mit diesen gentechnisch veränderten »Bacillus anthracis« nicht schützen. Wieso diese Erreger der sonst effektiven Immunabwehr ausweichen konnten ist nicht klar.

Beispiel der Entwicklung eines Killer-Mauspockenvirus.

Die potenzialen Gefahren, die mit einigen biologischen Forschungen an Viren verbunden sein können, werden durch Untersuchungen aus dem Bereich der Immunologie besonders deutlich. Australische Forscher haben versucht die Schwangerschaft bei Mäusen mit einem Impfstoff gegen Eizellen zu verhindern [Jackson et al., 1998; Jackson et al., 2001]. Die Versuchsstrategie war folgende: Ein Gen für die Produktion von einem Eiweißprotein auf Eizellen der Maus wurde in das Genom eines Mauspockenvirus eingesetzt. Nach der Infektion von Mäusen mit diesem Virus sollte das Eiweiß überproduziert und dadurch Antikörper gegen die Eizellen hervorgerufen werden. Da die Antikörperbildung jedoch nicht zufriedenstellend war, wurde ein Gen für die Bildung des Cytokins Interleukin 4 (IL-4), das die Antikörperbildung im allgemeinen verstärkt, auch in das Genom des Mauspockenvirus eingesetzt. Durch die Infektion von Mäusen mit diesem Virus sollte das IL-4 produziert und Antikörper gegen die Mauseizellen verstärkt hervorgerufen werden. Gleichzeitig jedoch hat IL-4 die Aktivität einer bestimmten Klasse von Immunzellen (cytotoxische T-Lymphozyten, Tc-Zellen oder auch Killerzellen genannt) blockiert, die normalerweise virusinfizierte Zellen attackieren, abtöten und eine Virusinfektion dadurch beseitigen. Die Infektion, die das Mauspockenvirus verursachte, konnte nicht bewältigt werden; als Folge wurden die Mäuse vom Virus getötet [Jackson et al., 2001]. Dies war insofern überraschend, da die Mäuse gegen das Virus resistent waren, das Virus war also normalerweise für diese Mäuse nicht gefährlich. Die Einfügung des IL-4-Gens hatte ein »Killervirus« erzeugt, das auch in resistenten Mäusen das Immunsystem lahm legte. Obwohl eine Infektion mit Mauspockenviren nicht auf Menschen übertragbar ist, wird befürchtet, dass das menschliche Pockenvirus entsprechend manipuliert werden könnte, um es noch tödlicher zu machen.

Beispiel der Verstärkung eines Pathogenitätsfaktors des Vacciniavirus

Das Vacciniavirus, das als Impfstoff gegen Pocken verwendet wird, verursacht normalerweise keine Infektion in Menschen, die ein gut funktionierendes Immunsystem besitzen. Dagegen ist das Pockenvirus, Variola major, für Menschen hoch virulent. Ein Virulenzfaktor des Pockenvirus ist vermutlich der sogenannte »smallpox inhibitor of complement enzymes« (SPICE), der einige Komponenten des Komplement-Systems inaktivieren kann. Das Komplement-System ist eine Zusammensetzung von etwa 30 verschiedenen Serumproteinen, die an Immunabwehrreaktionen beteiligt sind. Ein gut funktionierendes Komplement-System ist für die Immunabwehr essentiell. Das Vacciniavirus besitzt einen Faktor, das sogenannte »vaccinia virus complement control protein« (VCP), der dem SPICE ähnlich ist, aber bei weitem nicht so effektiv bei der Inaktivierung von Komplement wirkt. Forscher haben das VCP-Gen so mutiert, dass es die identische Sequenz des SPICE-Gens aufzeigte. Mit Hilfe dieses Konstruktes wurde das Protein in Zellkulturen rekombinant produziert, und das rekombinante Protein war in der Tat effizienter als VCP bei der Inaktivierung von Komplement [Rosengard et al., 2002]. Damit wurde das Protein VCP umgewandelt in den Faktor SPICE, der eine erhöhte Virulenz aufweist. Obwohl das Vacciniavirus selbst nicht mit dem rekombinanten SPICE in diesen Versuchen ausgestattet wurde, sind diese Studien nur einen Schritt davon entfernt. Möglicherweise würde eine solche Manipulation den Impfstoff in ein pathogenes Virus umwandeln.

2.2. Fazit

Die vorangegangenen Ausführungen sollten dazu dienen, die Möglichkeiten und Grenzen bei der Durchführung bestimmter Modifikationen von Mikroorganismen zu diskutieren, die zur Herstellung biologischer Waffen verwendet werden können. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass substaatliche Terroristen die oben genannten Manipulationen für die Herstellung neuartiger Mikroorganismen in der nahen Zukunft anwenden werden bzw. können. Hierzu braucht man eine gehobene Einrichtung, langjährige Erfahrung sowie ausgewiesene wissenschaftliche und technische Expertise und erhebliche Mittel. Es gibt genügend natürlich vorkommende Agenzien, die für terroristische Einsätze verwendet werden können. Obwohl einige gezielte Manipulationen von Organismen möglich sind, ist es äußerst schwierig vorauszusagen, ob eine bestimmte Modifikation den gewünschten Effekt haben wird. Ferner ist es noch schwieriger vorauszusagen, ob zukünftige Entwicklungen, die eine besondere Bedeutung für die biologische Kriegsführung haben könnten, stattfinden werden. Angesichts der rapiden Entwicklungen im Bereich der Biotechnologie bzw. Gentechnik in den letzten zehn Jahren können wir aber auf jeden Fall weitere Entwicklungen erwarten, die erhebliche Implikationen für die B-Waffenkontrolle haben werden und berücksichtigt werden müssen.

3. Prüfung möglicher Gegenmaßnahmen

Ein Schutz vor Terrorismus im Zusammenhang mit biologischen und chemischen Waffen ist sehr schwer zu erreichen. Im folgenden wird jedoch eine Prüfung möglicher Gegenmaßnahmen durchgeführt.

3.1. Präventionsmaßnahmen: Rechtliche Maßnahmen, Übereinkommen

Die Regelungen der BWC und der CWC sind vor allem gegen die Aktivitäten von Staaten gerichtet und greifen weniger bei terroristischen Vorhaben substaatlicher Gruppen. Terroristische Gruppen werden jedoch in einigen Fällen durch Staaten unterstützt, so dass die Überprüfung der Aktivitäten von Staaten als Gegenmaßnahme immerhin nützlich sein würde.

Im Gegensatz zur BWC enthält die CWC eingehende Regelungen für die Überprüfung der Vertragstreue und kann daher als wichtige Gegenmaßnahme für die Kontrolle über die Aktivitäten von Staaten im Hinblick auf die Unterstützung von Terroristen fungieren. Eine gegenwärtige Gefahr, die eine derartige Rolle der CWC unterminieren könnte, ist das Problem mit »non-lethal« Waffen, die oben schon erwähnt wurde. Diese Waffen sind zwar durch die Konvention für Kriegszwecke verboten, aber die CWC enthält eine undefinierte Ausnahme bezüglich ihrer Verwendung für »law enforcement« Zwecke. Es ist äußerst wichtig, dass das Verbot dieser Agenzien für Kriegszwecke in der CWC beteuert wird, um gegen eine Auflockerung des Verbots zu wirken. Bei der Überprüfungskonferenz der CWC im April 2003 war nicht nur die US-Regierung dagegen, dieses Thema zu diskutieren, es gab auch keine Empfehlung bzw. Beteuerung des Verbots im Abschlussbericht dieser Konferenz [Kelle, 2003].

Die Probleme bei der Implementierung der BWC (das Fehlen effektiver Verifikationsmaßnahmen) wurden bereits oben erwähnt. Bei den geplanten jährlichen Treffen der Vertragspartner zur BWC sollen Wege zur Stärkung der BWC diskutiert werden. In diesem Zusammenhang würde zwar die Einführung von Nationalmaßnahmen für die Implementierung der BWC, inklusive einer Gesetzgebung für strafbare Taten, sowie der Einführung von Nationalmaßnahmen bzw. Gesetzgebung im Bereich der »Biosecurity« sicherlich nützlich sein. Diese Maßnahmen können jedoch nicht die Ausstattung der BWC mit effektiven, rechtsgültigen, multilateralen Verifikationsmaßnahmen wie bei der CWC ersetzen

3.2. Präventionsmaßnahmen: NGO-Aktivitäten

Eine relativ neue Initiative für die Kontrolle über B- und C-Waffen wird vom Harvard-Sussex Program (HSP), eine der aktivsten Nichtregierungsorganisationen (non-governmental organization, NGO), vorgeschlagen [HSP, 1998]. HSP hat eine »Draft Convention to Prohibit Biological and Chemical Weapons under International Criminal Law« formuliert. Nach dieser Konvention würde die Entwicklung, Herstellung, Lagerung, Erwerbung, Zurückhaltung und Verwendung von biologischen und chemischen Waffen ein internationales Verbrechen sein. Biologische und chemische Waffen werden wie in der BWC und der CWC anhand des Grundsatz-Kriteriums definiert. Die Staatsparteien würden verpflichtet sein, die Bestimmungen der Konvention innerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs durchzusetzen und Täter strafrechtlich zu verfolgen oder auszuliefern, ungeachtet ihrer Nationalität. Dies ist eine Initiative, die unbedingt unterstützt werden sollte.

Eine zweite NGO-Initiative ist das Bio Weapons Prevention Project (BWPP) [für weitere Information s. www.bwpp.org]. Diese Initiative ist z.T. aus der Enttäuschung geboren, die einige aktive NGOs im BWC-Bereich über den Zusammenbruch der Protokoll-Verhandlungen empfinden. Das Projekt hat das Ziel, die Norm gegen die Verwendung von Krankheit als Waffe zu stärken. Eine enge Zusammenarbeit mit Regierungen, Industrie, Hochschulwesen und internationalen Organisationen ist beabsichtigt. Die Arbeit wird auf drei Ebenen stattfinden:

Monitoring: BWPP wird die Implementierung der gesetzlichen und politischen Verpflichtungen von Regierungen bezüglich der BWC überwachen. Ferner wird es die Aktivitäten verfolgen, die Regierungen und andere unternehmen, um die Bedrohung durch B-Waffen zu reduzieren und den Missbrauch von Biotechnologie für feindliche Zwecke entgegen zu wirken. Schließlich wird BWPP relevante Entwicklungen in Wissenschaft und Technik überwachen.Berichten: Die Ergebnisse der Untersuchungen sollen in der Publikation »Bio-Weapons Monitor« dokumentiert werden.Networking: Ein globales Netzwerk von Partnern wird einen integralen Teil des Projekts bilden. Die Partner werden thematische, regionale oder Landesspezifische Expertisen für die Sammlung und Analyse relevanter Daten liefern.

Es ist sehr beachtlich, dass einige Regierungen dieses Projekt auch finanziell unterstützen.

3.3. Präventionsmaßnahmen: Präventive Rüstungskontroll-Kriterien

Im Rahmen der Bearbeitung von Fragestellungen zur präventiven Rüstungskontrolle in einem Projektverbund von FONAS (Forschungsverbund Naturwissenschaft, Abrüstung und internationale Sicherheit) wurden einige Kriterien, die besonders für die präventive Rüstungskontrolle (PRK) relevant sind, ausgearbeitet. Diese Kriterien wurden entwickelt unter Beachtung von und in Anlehnung an Fragestellungen zur B-Waffenkontrolle [Nixdorff et al., 2003].

Forschungen, die für die Bekämpfung von Infektionskrankheiten essentiell sind, dürfen nicht verboten werden. Transparenz in der Wissenschaft ist ebenso essentiell und legitime Forschungsergebnisse, die der Biomedizin generell dienen, sollen nicht zensiert werden [Atlas, 2002]. Der mögliche Missbrauch der Biotechnologie für die Produktion von BW ist jedoch eine aktuelle Gefahr der Dual-Use-Aspekte dieser Forschungen. Der Bericht über die zufällige Herstellung eines Killer-Mauspockenvirus betont diese Gefahr. Kriterien für die präventive Rüstungskontrolle verdeutlichen den Bedarf, Entwicklungen in einem frühen Prozess zu überwachen, das bedeutet, bereits im Forschungsstadium. Dies könnte als ein Frühwarn-System fungieren, das auf mögliche Gefahren früh aufmerksam machen kann.

Ein weiteres Kriterium ist die Unterrichtung von Studierenden und Wissenschaftlern im Bereich der biomedizinischen Forschung über die Regelungen der BWC und der CWC und ihre Verantwortung in diesem Zusammenhang. Es soll vor allem gezeigt werden, was für Optionen für Forscher nach ethischen Entscheidungskriterien offen sind [Nixdorff & Bender, 2002a]. Am Beispiel des Killer-Mauspockenvirus wurde auf den Vorsichtsgrundsatz (precautionary principle) hingewiesen und darauf, wie dieser von Hans Jonas interpretiert wird [Nixdorff & Bender, 2002b]. Nach diesem Prinzip wird eine Vorgehensweise vorgeschlagen, die eine Untersuchung und Prüfung der jeweiligen Forschungsverfahren erlaubt. Entsprechend würden die Ergebnisse jeder einzelnen Forschungsphase einer Risikoeinschätzung unterzogen und die Alternative mit dem geringsten Risiko für den nächsten Schritt ausgewählt. Gleichzeitig verlangt dieser Prüfprozess auch die Bereitschaft, eine bestimmte Forschungsrichtung aufzugeben, wenn geeignete Untersuchungen dies nahe legen.

Ein Hauptkriterium der PRK ist die Weiterentwicklung effektiver Rüstungskontroll-Abkommen. In diesem Sinne ist es nach wie vor unbedingt erforderlich, die BWC mit effektiven Überprüfungsmechanismen zu stärken um Transparenz zu fördern und die Bildung von Vertrauen in ein BWC-Regime zu gewährleisten.

3.4. Medizinische Gegenmaßnahmen

Das Treffen von Vorbereitungen im öffentlichen Gesundheitswesen ist unbedingt erforderlich, um einem Angriff mit B- oder C-Waffen entgegen wirken zu können. Bei einem bedeutenden Einsatz mit B- oder C-Waffen, bei dem mehrere Tausende Menschen betroffen würden, würde das öffentliche Gesundheitswesen zwar völlig überfordert, aber es ist trotzdem wichtig, so gut wie möglich vorbereitet zu sein. Es werden im folgenden einige besonders relevante Maßnahmen diskutiert [Nass, 2001; Henderson, 2002].

3.4.1. Verstärkung der Infrastruktur des öffentlichen Gesundheitswesens

In vielen Gemeinden gibt es praktisch keine Infrastruktur im öffentlichen Gesundheitswesen, die im Notfall erfolgreich reagieren kann. Eine Stärkung dieser Infrastruktur ist essentiell. In diesem Rahmen soll das Nachrichtenwesen zwischen Einrichtungen im öffentlichen Gesundheitswesen, Krankenhäusern und Experten für Infektionskrankheiten ausgebaut werden, um einen Informationsaustausch über Bedrohungen und Erwiderungen zu gewährleisten. Die Unterrichtung von Medizin- und Laborpersonal über mögliche Gefahren und Reaktionen darauf ist unbedingt erforderlich. Laboratorien, die eine notwendige Untersuchung durchführen können, sollen identifiziert und gegebenenfalls mit der erforderlichen diagnotischen Kapazität ausgestattet werden. Der Ausbau der Kapazitäten in Krankenhäusern für die Aufnahme und Behandlung von Patienten mit akuten Infektionskrankheiten bzw. Vergiftungen soll für den Notfall möglich sein. Übungen hierzu sollten durchgeführt werden.

3.4.2. Vorräte an Antibiotika beschaffen

Eine gewisse Auswahl verschiedener Antibiotika soll als Vorrat angelegt werden, besonders Antibiotika, für die eine Resistenz schwer einzuführen wäre. Forschungen über Wege der Verbesserung der Lagerfähigkeit von Antibiotika wären sinnvoll.

3.4.3. Impfstoffe

Impfstoffe (Vakzine) können als Gegenmaßnahme nützlich sein, aber sie allein können keine robuste Verteidigung gegen biologische Waffen darbieten. Zunächst gibt es keine guten Impfstoffe gegen viele Krankheitserreger. Ferner müssen Immunisierungen meist vor einem Angriff vollzogen werden, der Schutz ist sehr oft weniger als hundertprozentig und es bestehen außerordentlich schwerwiegende Probleme bei der Immunisierung von größeren Gruppen im Angriffsfall (z.B. die Zivilbevölkerung, aber auch die eigenen Truppen). Die große Zahl der potenzialen B-Waffen limitiert die Verwendung von Impfstoffen als Gegenmaßnahme weiterhin. Trotzdem können Vakzine einen effektiven Schutz gegen einige infektiöse Krankheitserreger bieten und der Besitz eines guten Vakzins gegen einen bestimmten Erreger kann als ein Abschreckungsmittel vor der Verwendung dieses Agens als Waffe dienen. Die Entwicklung von neuen, effektiveren Vakzinen, die weniger Nebenwirkungen verursachen, gilt weiterhin für viele Krankheitserreger (z.B. für die Erreger von Milzbrand und Pocken) als erforderlich.

3.4.4. Antikörper

Viele pathogene Mikroorganismen produzieren Toxine als Virulenzfaktoren. Spezifische Antikörper können die Toxine neutralisieren (wenn sie rechtzeitig verabreicht werden), und es ist relativ einfach, solche Antikörper zu produzieren und zu lagern. Daher ist es sinnvoll, Vorräte an Antikörpern zu beschaffen. Die Behandlung mit Antikörpern und Antibiotika würde zumindest effektiver sein, als die Behandlung mit Antibiotika alleine.

3.4.5. Die Entwicklung von antiviralen Chemotherapeutika

Antibiotika sind gegen Bakterien effektiv aber nicht gegen Viren. Allerdings gibt es spezielle Chemotherapeutika, die mehr oder weniger spezifisch gegen einige Viren wirksam sind (z.B. gegen Herpesviren oder das AIDS-Virus). Für viele Viren gibt es z.Zt. keine effektiven antiviralen Arzneimittel. Von der Seite der Pharmaindustrie besteht jedoch großes Interesse, solche Chemotherapeutika zu entwickeln [Haseltine, 2002]. Die Sicherheit dieser Medikamente muss jedoch streng geprüft werden.

3.4.6. Die Entwicklung von Detektionssystemen

Einige Gebiete bzw. Einrichtungen sind besonders gegenüber terroristischen Einsätzen gefährdet. Hier sind z.B. die Wasserquellen einer Gemeinde, Ventilationssysteme öffentlicher Gebäude und Tunnel zu nennen. Die Überwachung solcher Einrichtungen mit Chemie- und Biosensoren ist angebracht. Automatische (remote sensing) Überwachungsverfahren sind für die Detektion chemischer Kampfmittel schon weit entwickelt. Solche Verfahren sind bisher für biologische Kampfstoffe noch nicht so weit fortgeschritten, dass sie biologische Agenzien automatisch detektieren und vor allem differenzieren können. Es besteht großes Interesse von militärischer Seite, solche Verfahren weiter zu entwickeln, so dass wir baldige Fortschritte hier erwarten können. Bis dahin können Antikörper- sowie DNA-Nachweismethoden verwendet werden, um gefährdete Stellen und Einrichtungen so gut wie möglich zu überwachen.

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Prof. Dr. Kathryn Nixdorff arbeitet am Institut für Mikrobiologie und Genetik und in der IANUS Gruppe an der Technischen Universität Darmstadt.
Dipl.-Ing. Nicola Hellmich ist Executive Secretary von INES.
Prof. Dr. Jiri Matousek arbeitet am Research Center for Environmental Chemistry and Ecotoxicology, Masaryk University Brno, Czech Republic.

Eine umfassende Alternative zur militärischen Antiterrorismuspolitik der USA

Memorandum des »Arbeitskreises für Friedenspolitik – Atomwaffenfreies Europa«

Eine umfassende Alternative zur militärischen Antiterrorismuspolitik der USA

von AFK

Vorwort

Das folgende Memorandum1 des Arbeitskreises für Friedenspolitik – Atomwaffenfreies Europa (AKF) ist verbandsintern Ende 2001 veröffentlicht worden. Es hat sich gezeigt, dass dessen Kern, eine umfassende Alternative zu entwickeln zur militarisierten Antiterrorismuspolitik der USA, auch nach der Beseitigung des Taliban-Regimes in Afghanistan keineswegs gegenstandslos geworden ist.

Ganz im Gegenteil: Der Krieg in Afghanistan geht weiter und die amerikanischen Kriegsvorbereitungen gegen die von ihr so genannte Achse des Bösen (Iran, Irak, Nordkorea) – vor allem gegen den Irak – zeigen nur allzu deutlich, dass Friedensforschung und Friedensbewegung allen Grund haben, kompromissloser als bisher (Ludger Volmer!) zu ihrem klassischen Votum zurückzukehren, dass der Krieg kein akzeptables Mittel der Politik ist. Allerdings müssen Friedensforschung und Friedensbewegung der Öffentlichkeit dazu etwas bieten, was ihnen immer schwerer gefallen ist als Kritik: eine umfassende politische Alternative. Einzelvorschläge hat es seit dem 11. September überall gegeben. Was bis heute fehlt ist ein Gesamtkonzept. Dem dient dieses Memorandum. Naturgemäß kann es nur einen Rahmen liefern, der im Einzelnen auszufüllen wäre.

Dass unser kategorisches Nein zu der amerikanischen militarisierten Antiterrorismus-Politik keinem fundamentalistischen Pazifismus entspringt (den der AKF immer abgelehnt hat), sondern auf sehr realistischen Befürchtungen basiert, ist am 21. Februar erstaunlicherweise durch die EU-Außenminister bestätigt worden: Mittlerweile schrecken sogar die politisch Verantwortlichen der Europäischen Union vor der sich erweiternden US-amerikanischen Kriegspolitik zurück. Nachdem der französische Außenminister Védrine Anfang Februar bereits eine sehr harte Absage an die Politik der USA und ihr allzu »einfältiges« Schwarz-weiß-Bild der Welt formuliert hatte, machten die Außenminister der Europäischen Union auf einem Treffen am 10. Februar 2002 einmütig Front gegen die amerikanische Politik. Wir veröffentlichen diese tatsächlich sensationelle Aufkündigung der »uneingeschränkten Solidarität« der Europäer und insbesondere der Deutschen in der Dokumentation (Dok. 1), die ich im Anschluss an das Memorandum des AKF publiziere.

Anmerkungen

1) Der Entwurf zu diesem Memorandum stammt von Professor Fritz Vilmar; er wurde vom Vorstand des Arbeitskreises, insbesondere von Professor Klaus Riedel, überarbeitet und verabschiedet.

Prof. Dr. Fritz Vilmar

»Krieg« ist die falsche Antwort

Ein fünfteiliges alternatives Gesamtkonzept

Wir sind mit einer neuen Qualität terroristischer Gewalt konfrontiert. Die ungewöhnlich breite, wenn auch äußerst labile Anti-Terror-Allianz nach dem 11. September macht deutlich, dass diese Einsicht die handlungsbestimmenden Koordinaten des politischen Denkens nicht nur in den westlichen Industrieländern erschüttert. Die Gefährdung zivilen Zusammenlebens, staatlicher und nichtstaatlicher Ordnungen durch die kalkulierte Brutalität skrupelloser Fanatiker wurde mit der Menschen verachtenden Zerstörung des World Trade Center in New York weltweit exemplarisch vor Augen geführt.

Die Fassungslosigkeit in den USA und bei allen, die in menschlicher/politischer Solidarität wie auch aus Angst vor eigener potenzieller Bedrohung nach angemessenen Deutungen und Reaktionen auf die unvorstellbaren Terrorakte fragen, ist verständlich. Gefährlich allerdings ist die Verarbeitung von Demütigungs- und Ohnmachtserfahrungen durch die Autosuggestion unbezweifelbarer Überlegenheit, durch unabsehbare Militäraktionen und eine selbstgerechte Kreuzzugsmentalität. Wo soll die Täter-Opfer, Opfer-Täter-Spirale enden?

Eine nachhaltige Bekämpfung des weltweit gefürchteten Terrorismus, der selbst vor Massenmord nicht zurückschreckt und durch allgemeine Verunsicherung tief greifende gesellschaftliche Veränderungen und die erosionsartige Destabilisierung ganzer Weltregionen zur Folge haben kann, wird zu berücksichtigen haben, dass seit Jahren die kritische Friedensforschung, aber auch zahlreiche nationale wie internationale Kommissionen und Foren, Gefährdungsanalysen erarbeitet und vor Entwicklungen gewarnt haben, die nun Realität zu werden beginnen. Statt der dringend angemahnten politischen Anstrengungen, durch die Überwindung von Armut, Hunger und Analphabetismus, durch die Befriedung (nicht nur) des Nahost-Konflikts, durch einen Dialog zwischen den Kulturen und den Verzicht auf Hegemonie das Gefahrenpotenzial eskalierender Konflikte abzubauen, betrieben die westlichen Industrieländer – und führend die USA – jedoch eine Globalisierung des Marktes und eine kaum kompromissbereite Interessendurchsetzung des Stärkeren. Militärische Macht, hochtechnisierte Truppenverbände und flexibel einsetzbare Eingreiftruppen erhielten die Funktion, diese den »Wettkampf der Systeme« ablösende »neue Weltordnung« zu sichern, ihr Geltung zu verschaffen.

Diese folgenschweren Fehler der westlichen Demokratien rechtfertigen nicht und relativieren in keiner Weise die Osama Bin Laden zugeschriebenen verbrecherischen Terrorakte. Neben einer entschlossenen Bekämpfung dieser terroristischen Gewalt – ihrer Anstifter, Strategen, Finanziers, Schutzgewährer und (Selbst-)Mordbereiten – mit erfolgversprechenden, völkerrechtlich legitimierten Maßnahmen (geheimdienstliche und polizeiliche Aktivitäten, Blockierung der Finanzressourcen durch Bankkontrollen, Erschwerung/Unterbindung des Drogen- und Waffenhandels; punktuelle militärische Einsätze als ultima ratio) sind daher vor allem intensivere Anstrengungen einer nachhaltigen Befriedungs- und Friedenspolitik erforderlich.

Die derzeit von Militärs dominierte Terroristenbekämpfung ist unverhältnismäßig, politisch riskant und kontraproduktiv, weil in der gegenwärtigen Welt(macht)situation mit ihren Elendsgebieten Terroristen und Terroristen-Netzwerke wie »Al Qaida« überall wie Pilze nachwachsen. Unabdingbar sind konkrete Friedensstrategien, die sich an zwei Leitvorstellungen orientieren:

  • das – im Wesentlichen vom Westen zu verantwortende – Elend zu beseitigen, in dem die Agitation und die Akte des Terrorismus gedeihen,
  • dem Terror möglichst wenig Angriffsflächen zu bieten.

Im Folgenden sollen fünf miteinander zu verbindende Friedensstrategien zur Diskussion gestellt werden. Beabsichtigt ist, im Zusammenhang öffentlich erörterter Problemzusammenhänge notwendige Akzentuierungen politischen Handelns aufzuweisen. Wir sind bereit, dieses strategische Konzept öffentlich und kontrovers zu diskutieren.

Erstens: Kategorische Ablehnung des »Krieges« als Antiterror-Strategie

Die Bekämpfung terroristischer Gewalt rechtfertigt keinen »Krieg« gegen ein Land, das dem (vermutlichen) Anstifter von Terrorakten Aufenthalt und Schutz gewährt. Notfalls notwendig werdende, umsichtig vorzubereitende militärische Kommandounternehmen müssen aufgabenbezogen streng begrenzt bleiben. Selbst wenn eine aktive Komplizenschaft zwischen Bin Laden und dem Talibanregime nachweisbar wäre – was im aktuellen Fall unterstellt wurde –, waren die Bombardements zur Unterstützung der im Land kämpfenden Nordallianz völkerrechtlich und politisch äußerst fragwürdig. Zudem vollzog sich eine nicht zu rechtfertigende Zielverlagerung des »Krieges«: Statt der angekündigten Antiterroraktion, der erklärten Konzentration auf Bin Laden und das Al Qaida-Netzwerk, wurden mit dem angestrebten Sturz der Taliban offenbar geopolitische Ziele verfolgt (Erdöl- und Erdgas-Region!) und im Übrigen versucht, jahrelange Fehler einer Politik zu korrigieren, die die USA ganz wesentlich mit zu verantworten haben.

Es ist ein Zeichen der Schwäche und des Versagens der europäischen Verbündeten, dass sie der Umdeutung einer legitimen Antiterrorkampagne in eine hochgefährliche »Kriegsstrategie« nicht entgegengetreten sind und nicht klargestellt haben, dass sie zwar an einer konsequenten Antiterrorstrategie solidarisch teilzunehmen bereit sind, Kriegs-Aktionen aber als völlig ungeeignete Reaktionen ablehnen. Der bis zur Zerreißprobe eskalierte Konflikt in den Koalitionsparteien des Deutschen Bundestages dürfte in diesem Zwiespalt seine eigentliche Ursache haben.

Im Gegensatz zu solcher devoten »Solidarität« geht es um eine strikte Absage an alle Kriegsführungsstrategien, da diese die Eskalationsspirale von Kamikaze-Terror-Aktionen in die Höhe treiben. Die öffentliche Äußerung des US-Verteidigungsministers Rumsfeld, es könne, um die Terrorbasen zu vernichten, zum Krieg gegen die so genannten Schurkenstaaten kommen, ist nicht nur eine Provokation der betroffenen Länder, sondern befördert die Terrorbereitschaft und -organisation eher, als sie abzuschrecken (vgl. Dok. 1).

Zu dieser kontraproduktiven und inhumanen Politik der Bombardements gehört übrigens auch die Umfunktionierung der von den USA (widerrechtlich) beanspruchten Lufthoheit über große Teile des Irak zu einem seit 1991 ständig erweiterten Flugverbot, das von immer neuen Bomben- und Raketenangriffen, angeblich zur Selbstverteidigung der kontrollierenden britischen und US-amerikanischen Flugzeuge, begleitet wird.

Eine weitsichtige Politik muss sich um den Abbau von Spannungen bemühen, statt – wie in Afghanistan und auch im Irak – zur Eskalation von Konflikten beizutragen. Die Terroranschläge am 11. September hätten Anlass sein müssen, im Zusammenwirken der Antiterror-Allianz eine Stärkung der Vereinten Nationen zu befördern.

Zweitens: Druck auf Israel, zur Friedenspolitik zurückzukehren

Eine friedenstiftende Politik muss sich zudem sehr viel entschiedener einem seit Jahren nicht nur im Nahen Osten Hass und Verzweiflung nährenden, Terrorbereitschaft fördernden Konflikt zuwenden: Die zwischen Israelis und Palästinensern strittigen Fragen ihrer staatlichen Existenz haben durch die Eskalation beidseitig geförderter Gewaltakte eine Brisanz erreicht, die kaum noch kontrollierbar ist und sich in spektakulären Terrorakten entladen kann (vgl. Dok. 3). Zweifellos müssen beide Seiten zur Konfliktlösung beitragen. Aber gegenwärtig trägt die israelische Regierung eine Hauptverantwortung für die Eskalation der Gewalt.

Daher geht es jetzt um einen massiven Druck auf die (letztlich selbstzerstörerische) ultra-nationalistische Hälfte der Wähler und Politiker Israels, die gegen den Willen der anderen, friedenswilligen Hälfte des Volkes mit Hilfe einer aggressiven Siedlerpolitik, mit einer Politik permanenter militärischer Provokation und Überreaktion den Friedensprozess systematisch torpediert und den Terroraktionen der extremistischen Palästinensergruppen ständig Vorwände liefert (vgl. Dok. 2).

Die israelische Rüstungs- und Militärpolitik und damit die gesamte schwer verschuldete Staatspolitik ist bekanntlich ohne die weit überproportionalen US-amerikanischen Subventionen am Ende. Es liegt also unmittelbar in der Verantwortung der Vereinigten Staaten, der permanenten Demütigung und Diskriminierung der Palästinenser durch ein als Vasall der USA betrachtetes Israel – der Hauptursache arabischen Hasses – ein Ende zu bereiten. Aus Washington kamen zeitweilig vage Andeutungen einer solchen Bereitschaft – inzwischen aber sogar Ermutigungen Sharons, Arafat zu liquidieren. Nur die EU (und der UN-Generalsekretär) stellte sich hinter Präsident Arafat. Sharon, führender israelischer Hardliner, reagierte darauf mit rüden Beschimpfungen: Um die Araber im weltweiten Kampf gegen den Terrorismus zu beschwichtigen, wolle man Israel im Stich lassen. Dies zeigt dessen akute Angst, der Westen könnte, auch unter dem Druck der Weltgemeinschaft, seine aggressive, unbeirrt friedensfeindliche Politik nicht länger stützen.

Ist es Heuchelei oder Ignoranz, wenn nach dem Terrorangriff in Manhattan häufig erstaunt gefragt wurde, woher denn die maßlose Wut vieler Araber gegen die USA komme? (Vgl. Dok. 3) Dabei dürfte für jeden halbwegs Informierten zu erkennen sein, dass Israels permanente Infragestellung des palästinensischen Lebensrechts in ihren Regionen eine immer neu aufbrechende Wunde in der ohnehin prekären kollektiven Existenz dieser arabischen Völkergruppe darstellt. Daher muss die israelische Siedlungs- und Herrschaftspolitik endlich entschiedener verurteilt werden, wobei neben der diplomatischen Einflussnahme auch die Androhung von politischen und wirtschaftlichen Konsequenzen kein Tabu sein sollte. Es muss ein vorrangiges Ziel der westlichen, insbesondere auch der europäischen Politik werden, das explosive Verhältnis der Palästinenser und Israelis zu befrieden.

Drittens: Ermutigung der friedenswilligen Muslime, gegen den Missbrauch des Islam Stellung zu beziehen.

Eine weitere friedenstiftende Strategie ist ein weltweiter, offener und lernbereiter Dialog mit den anti-terroristisch gesonnenen Verantwortlichen des Islam. Besonnene Politiker und Intellektuelle warnen seit Jahren vor einer Auseinandersetzung unter der Leitidee eines »Kriegs der Kulturen«, während Unbelehrbare diesen mehr oder weniger bewusst stimulieren. (»Kampf zwischen Morgenland und Abendland«). Berlusconi ging noch einen Schritt weiter, als er die alte imperialistische These von der Überlegenheit des weißen Mannes – sprich der christlichen Kultur über die islamische – reaktivierte.

Doch es genügt nicht mehr, sich gegen diese kriegtreibenden Vorurteile zu verwahren. Wichtig wäre eine Einladung, eine emphatische Herausforderung an die friedenswilligen islamischen Gelehrten, Geistlichen und Politiker, auf Kongressen und in Diskussionsforen öffentlich und entschieden gegen die Missdeutung des Korans sowie die islamistische Fanatisierung unter Missbrauch der Dschihad-Idee vom Heiligen Krieg Position zu beziehen. Ein solches Engagement bedeutender Muslim-Persönlichkeiten könnte trotz der Meinungsvielfalt in dieser Religion eine Autorität entfalten und wenigstens teilweise das Prestige der selbst ernannten »Heiligen Krieger« und ihrer Selbstmordideologie im Namen Allahs auch in der islamischen Welt destruieren (vgl. Dok. 6).

Vorbildlich war in diesem Sinne die Moskauer Konferenz mit muslimischen Würdenträgern, von der Putin in seiner Berlin-Rede berichtete, und vorbildlich ist der Appell des iranischen Präsidenten Kathami, der Bin Laden verurteilte, weil er den Islam als Vorwand für seine Aktivitäten missbrauche: Terrorismus sei ein großes Verbrechen, aber den Islam als Vorwand und Rechtfertigung zu benutzen, sei ein noch größeres Verbrechen, denn diese Religion habe niemals Gewalt und das Töten Unschuldiger gutgeheißen. In der Tat muss unmissverständlich deutlich gemacht werden, dass durch die islamistischen Hasslehren eine Schändung der islamischen Religion erfolgt.

Auch der Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland und ihr Vorsitzender Hassan Özdugan, sowie der Zentralrat der Muslime in Deutschland mit seinem Vorsitzenden Nadeem Elyas sollten sich noch entschiedener im Zusammenhang einer solchen weltweiten islamischen Initiative in dem genannten Sinne öffentlich an ihre islamischen Glaubensgenossen wie auch an die deutsche Bevölkerung wenden und den Rechtfertigungsversuchen eines religiös motivierten Terrors durch aufgeklärtes, auch theologisch fundiertes Wissen entgegentreten. Das verbreitete Misstrauen und die zuweilen beobachtbare Aggressivität gegenüber Muslims in der westlichen Welt werden nach den Anschlägen in New York und Manhatten nur überwunden werden können, wenn die aktiv-antiterroristische Haltung unserer muslimischen Landsleute von diesen bzw. von ihren anerkannten Sprechern unzweideutig zum Ausdruck gebracht wird.

Der öffentliche Diskurs über das Selbstverständnis des Islam ist zu verbinden mit einem interkulturellen Dialog, der Gleiches auch für die anderen Religionsgemeinschaften thematisiert.

Viertens: Gezielte Wirtschaftsprogramme gegen die Armut – Zwei Schwerpunkte

Der Kampf gegen den Terrorismus wird gewiss nicht erfolgreich geführt werden können, solange der politisch fanatisierte Islamismus als Rache-Ideologie den Massen der Armen in der muslimischen Welt Trost bietet unddaherAnhängerschaft findet. In den Entwicklungsländern rund um das südliche und östliche Mittelmeer, aber auch in Asien, haben sich nach dem Zweiten Weltkrieg trotz und zum Teil gerade wegen beachtlicher Modernisierungserfolge – aufgrund einer ausbeuterischen westlichen Handelspolitik, despotischer Staatsführungen und eines alle Wirtschaftsentwicklungen überholenden Bevölkerungswachstums – arbeitslose und daher verarmte, nicht länger dörflich integrierte Massen entwickelt. Diese sind mehr und mehr zur Beute jener fanatischen Mullahs geworden, die bei der Suche nach Schuldigen für die Misere den »Westen«, insbesondere den »großen Satan« USA, ausgemacht haben.

Die Ärmsten dieser Armen lassen sich infolgedessen für Entlastungsreaktionen in Regionen wie Israel derzeit zu verheerenden Selbstmordattentaten religiös aufputschen. Sie sind sowohl Opfer wie Mittäter in pseudo-islamischen autoritären oder gar Terrorregimen wie dem der afghanischen Taliban oder des irakischen Diktators. Relativ leicht politisch instrumentalisierbar, können sie für »Heilige« Kriege mobilisiert werden. In einem solchen zwischen Iran und Irak verloren Hunderttausende in dieser Region ihr Leben. Aber auch kleine Minderheiten besser ausgebildeter Söhne dieser fanatisch antiwestlichen Armutswelt sind in den Händen eines Bin Laden und seiner Gefährten hochgefährliche Kämpfer.

Natürlich wäre es illusionär zu glauben, Wirtschaftsprogramme oder sogar eine Wende in der Welthandelspolitik könnten allein das explosive Gemisch von Armut, politischem Despotismus und religiösem Fanatismus entschärfen, das (auch) in diesen muslimischen Regionen entstanden ist. Aber zweifellos könnten ein neues Problem- und Verantwortungsbewusstsein im Westen und damit auch neue dialogbereite ökonomische Kooperationspolitiken Wesentliches beitragen, die Lage in den Armuts- und Fanatismus-Brennpunkten zu verändern.

Das entscheidende Element einer weltwirtschaftspolitischen Wende ist die von den Entwicklungsländern seit langem geforderte Reform der Welthandelsordnung. Die – wesentlich von den großen US-amerikanischen Banken und Handelsorganisationen verschuldete – Misere ist bekannt. Es handelt sich im Wesentlichen

  • um den Stopp der Kapitalflucht aus den Entwicklungsländern, die nicht ohne eine Stabilisierung der Wechselkurse erreicht werden kann,
  • um einen Stopp der Liberalisierung des Welthandels, des immer weiteren Verfalls der Agrar- und Rohstoffpreise der Dritten Welt; zusammengefasst:
  • um eine grundlegende Reform der so genannten »terms of trade« (der Austauschbedingungen), die infolge der katastrophalen Währungs- und Preisentwicklung zu ungunsten der Entwicklungsländer die Verarmung, Überschuldung und Massenarbeitslosigkeit in der Dritten Welt im vergangenen halben Jahrhundert zunehmend verschlimmert, die ökonomische Abhängigkeit vom Westen unaufhaltsam vorangetrieben haben.

Wer vor dieser Riesenaufgabe einer Reform der Welthandelsbeziehungen (vgl. Dok. 4) zurückschreckt, sollte bedenken: Die genannten Forderungen werden seit Jahrzehnten erhoben, sind jedoch vom Westen, vor allem von den USA, konsequent ignoriert worden. Jetzt aber, wenn nach der Terrorkatastrophe von New York allerorten zu Recht festgestellt wird, dass „nichts mehr so sein wird, wie es war“, ist definitiv die Stunde der Umkehr gekommen: Ist der Westen nicht bereit, die von ihm diktierte und zu Verelendungsprozessen führende »Welthandels-Ordnung« grundlegend zu reformieren, wird es auf lange Sicht keine »Austrocknung des Terroristensumpfes« geben.

Der muslimische Fanatismus ist nur eine besonders gefährliche Speerspitze des sich verschärfenden Widerstands gegen die amerikanisch dominierte Globalisierung. Die immer breiter werdenden Protestaktionen der verschiedensten Anti-Globalisierungs-NGOs (beispielsweise attac) an den Orten der internationalen Wirtschaftskonferenzen zeigen, dass der Widerstand gegen die Herrschaft von Weltbank, IWF und WTO nicht nur von Terroristen ausgeht, sondern auch von einer wachsenden gewaltfreien Bewegung artikuliert wird, mit der zunehmende Anteile der Völker sympathisieren.

Es muss alles getan werden, um an die Stelle des Terrors diesen breiten zivilgesellschaftlichen Widerstand zu setzen, der die nationale, europäische und internationale Politik und durch sie die globalisierten Kapitalorganisationen zwingt, zu einer weltwirtschaftlichen Wohlfahrtspolitik umzusteuern. Gelingt dies nicht, so wird der Westen bald einer belagerten Festung gleichen, in der die Angst regiert und der Wohlstand mehr und mehr für teure Sicherheits- und Militärsysteme verbraucht wird.

Um aber nicht »allgemein« zu bleiben, schlagen wir zwei Schwerpunktprogramme vor:

  • Ein ökonomisches Sofortprogramm für Palästina: Es muss ein supranationaler, europäisch-amerikanischer »Marshallplan« zum ökonomischen Aufbau der Palästinaregion realisiert werden; damit ließe sich in einer befriedeten Region (s.o.) der Hass- und Terroragitation im Stil der Hamas der Boden entziehen.
  • Eine substanziell andere Verteilung der Ölgewinne: Mit den Ölförderungs-Konzessionen kassieren nicht nur wenige Scheich-Clans astronomische Profite, sondern auch die (meist amerikanischen) Ölgesellschaften und die (vor allem) westlichen Staaten durch milliardenschwere Steuereinnahmen. Mit Recht betrachten arabische Nationalisten dieses skrupellose Ölgeschäft als einen gigantischen Raub ihrer Bodenschätze. Die Umverteilung eines wesentlichen Teils dieser Erträge zugunsten eines volkswirtschaftlichen Aufbaus von Marokko bis Pakistan würde einen Wohlstandsschub in den Eigentümerländern bewirken und die Überwindung von Formen imperialistischer Ausbeutung einleiten. Eine darauf abzielende Konferenz der primär betroffenen Regierungen, der Ölmultis und der OPEC könnte zu Erfolgen führen, wenn allen Beteiligten klar ist, dass die Alternative eine Zunahme terroristischer und revolutionärer Angriffe sein könnte – möglicherweise auch auf die sehr verletzlichen Zentren der Ölförderung und -lagerung.

Fünftens: Dem Terrorismus weniger Angriffsflächen bieten

Die Marktgesetze in den westlichen Mediengesellschaften bringen es mit sich, dass die Folgen spektakulärer Terrorakte nicht nur jedermann drastisch vor Augen geführt, sondern dass durch eine quoten- und auflagensteigernde »Vermarktung« Überreaktionen begünstigt werden. Ein von Angst geprägtes Klima, das sich in einer Großfahndung nach Milzbrandsporen, dem Ausverkauf von Gasmasken, Panik an den Börsen bis hin zur gesetzlichen Einschränkung von individuellen Freiheiten äußert, lässt insbesondere Politiker zu Meinungsführern werden, die durch innen- und außenpolitischen Aktionismus Sicherheitsillusionen wecken, die die Verwundbarkeit hochtechnisierter Industriegesellschaften geradezu fahrlässig verdrängen. Unbewusst oder gewollt werden damit die Frage nach den Ursachen des Terrors und die selbstkritische Auseinandersetzung über langfristige Strategien zur Befriedung eines gefährlich gewordenen globalen Konfliktes aus der politischen Diskussion ausgeblendet.

Statt hysterisierender Spekulationen über zu erwartende Bedrohungssituationen und einer Fixierung (insbesondere konservativer Parteien) auf vorbeugende Sicherheitsmaßnahmen ist nüchtern festzustellen: Wir werden in der westlichen Welt auch künftig mit Terroranschlägen zu rechnen haben und die Katastrophe in Manhattan macht vorstellbar, welche Risiken moderne Industriegesellschaften eingehen, wenn sie – zumindest in der Wahrnehmung islamistischer Gesellschaften – die skrupellose Verfolgung und Durchsetzung der eigenen Interessen fortsetzen. Je schneller und entschiedener eine Neuorientierung der Politik im Sinne der oben vorgeschlagenen Strategien zwei und vier eingeleitet wird, desto berechtigter dürfte die Hoffnung sein, dass Interessenkonflikte nicht mehr mit brutaler Gewalt ausgetragen werden.

Kurzfristig ist sicher das Aufspüren von Terrornetzen und der so genannten Schläfer zu intensivieren sowie durch geeignete Maßnahmen zu verhindern, dass Flugzeuge weiterhin zu hochexplosiven lebenden Raketen umfunktioniert werden können, zum Beispiel

  • durch Installation abschließbarer Cockpits
  • durch Einbau eines (bereits existierenden) elektronischen Anti-Kollisionssystems
  • durch Mitflug ausgebildeter Sicherheitsbeamte (vgl. Dok. 5).

Darüber hinaus gibt es eine Reihe von Einzelmaßnahmen, die der Gefahrenabwehr dienen.

Fluggesellschaften und Reisende müssen sich daran gewöhnen, dass in Zeiten des weltweiten Terrorismus Flugreisen teurer werden, will man nicht eine Atmosphäre permanenter Verunsicherung und geradezu eine Einladung schaffen, sich der Jets als Massenmord-Geräte zu bedienen.

Eine allgemeine Strategie, die Verwundbarkeit hochtechnisierter Industriegesellschaften zu reduzieren, ist die systematische Umgestaltung aller terrorgefährdeten sozioökonomischen Strukturen unter der Leitidee der Dezentralisierung.

Diese Strategie ist der Friedensforschung aus der Diskussion der Folgen eines Atomkriegs bekannt, in der darauf hinwiesen wurde, dass bei einer Konzentration des sozio-ökonomischen Lebens einschließlich der Energie- und Wasserversorgung in relativ wenigen Zentren und Großanlagen ein atomarer Angriff schon vor der Verstrahlung fast alle Existenzgrundlagen vernichtet. Industrie-, Versorgungs-, Verkehrs- und Verwaltungszentren sind auch gegen massive Terroranschläge nicht zu schützen. Die Konsequenz wäre daher ihre schrittweise Entflechtung und Regionalisierung – was bei Industrieanlagen aus anderen Gründen bereits teilweise praktiziert wird.

Die Abschaltung der Atomkraftwerke hat in diesem Zusammenhang eine hervorzuhebende Bedeutung. In seinem epochalen Werk »Solare Weltwirtschaft« hat der Träger des Alternativen Nobelpreises Dr. Hermann Scheer (SPD-MdB) ein genau durchgerechnetes Szenario der Umstellung auf solare Energien entwickelt. Auch wenn dies nur in harter Auseinandersetzung mit den großen Profiteuren des fossilen Energieverbrauchs durchzusetzen ist, werden diese angesichts der Bedrohung durch den internationalen Terrorismus vielleicht stärker als je zuvor von einsichtigen Bürgern und Politikern dazu gedrängt werden, an der Dezentralisierung und Denuklearisierung der Energiewirtschaft mitzuwirken (zumal nach vorliegenden Berechnungen die Erdöl- und Erdgasvorräte nur noch 40-50 Jahre reichen).

Nach dem Terrorangriff am 11. September aktualisierte Hermann Scheer seine Einsichten (FR, vom 15.9.2001): „Eine hochtechnisierte und in ihren Infrastrukturen und Produktionen hoch konzentrierte und -spezialisierte Gesellschaft hat keine wirkliche Sicherheitschance gegen weltweit mobile terroristische Desperados (…) Schon 1980 empfahl das »Energy and Defense Project« des amerikanischen Verteidigungsministeriums (…) die völlige Umstellung des Energiesystems auf dezentral bereitgestellte erneuerbare Energien, um von großen Kraftwerken und globalen Energieversorgungslinien unabhängig zu werden. Sie begründeten dies nicht ökologisch, sondern mit nationalen Sicherheitserfordernissen. Die moderne Gesellschaft kann ihre extreme Verwundbarkeit allein durch solche Dezentralisierung ihrer wirtschaftlichen Funktionen reduzieren.“

Dokumentation zum Memorandum

Im Folgenden dokumentieren wir Auszüge aus einer Reihe von Texten aus der aktuellen politischen Diskussion des Antiterrorismus-Kampfes, die die Bedeutung der hier formulierten fünf Teilziele einer umfassenderen nicht-militaristischen Strategie zum Abbau und zur Abwehr des weltweiten Terrorismus verdeutlichen.

Dok. 1: EU macht Front gegen Bushs politischen Kurs

(Von Martin Winter in Frankf. Rundschau, 11.02.02)

(…) Fünf Monate nach dem Anschlag vom 11. September und der Gründung der internationalen Koalition gegen den Terrorismus haben sich die Außenminister der fünfzehn EU-Staaten am Wochenende unmissverständlich von der Linie der USA abgesetzt.

Auf ihrem informellen Treffen im spanischen Cáceres wiesen sie die These des US-Präsidenten George W. Bush von der »Achse des Bösen« zurück. Dies sei nicht die „Art, wie wir Politik anlegen“, sagte Bundesaußenminister Joschka Fischer. Sein französischer Kollege Hubert Védrine, der als Erster aus der Runde den USA eine „einfältige“ Sicht der Welt vorgeworfen hatte, bedauerte, „dass wir jetzt laut werden müssen, um gehört zu werden“. Der britische Außenminister Jack Straw sprach von „unterschiedlichen Positionen“ zwischen den USA und der EU.

Hintergrund der Absetzbewegung der EU von der US-Politik ist die Befürchtung der Europäer, dass eine Konzentration auf die reinen Sicherheitsaspekte der internationalen Politik zu kurz greift. So sieht die EU unkalkulierbare Folgen für den Nahen Osten, falls die USA Irak angreifen sollte. Wie am Rande der Konferenz zu erfahren war, bereitet der EU auch Sorge, dass Israels Regierung sich unter Berufung auf die US-Strategie der Terrorbekämpfung im Konflikt mit den Palästinensern auf Sicherheitsfragen zurückgezogen hat. Dabei gehe es doch „auch um Politik“, sagte Spaniens Außenminister Joseph Piqué.

Die Lage im Nahen Osten, der „Teil der europäischen Sicherheit ist“, wie Fischer sagte, wird von der EU so kritisch eingeschätzt, dass sie trotz Missfallens aus den USA den politischen Prozess mit eigenen Initiativen wiederzubeleben sucht. Washington hatte noch vor Beginn des Treffens französische Ideen etwa für eine vorgezogene Anerkennung des Palästinenserstaates als „nicht hilfreich“ kritisiert. Mit Befremden reagierten die Minister auf einen Bericht, wonach US-Vizepräsident Dick Cheney Israels Regierungschef Ariel Scharon gesagt haben soll, von ihm aus könne er (PLO-Chef) „Arafat aufhängen“.

Dok. 2: Frieden in Nahost ist möglich

(Von Ludwig Watzahl in Frankf. Rundschau v. 19.10.01)

(…) Die Palästinenser werden nicht als »Terroristen« geboren. Israels Staatspräsident Mosche Katzav hat in seiner Erklärung vom 23. Mai 2001 die politischen Umstände, die sie zu solchen werden lassen, völlig negiert. Eine rassistische Argumentation wie die seine schürt letztlich neuen Hass: „Es gibt eine riesige Kluft zwischen uns (Juden) und unseren Feinden – nicht nur, was die Fähigkeit anbelangt, sondern auch hinsichtlich der Moral, Kultur, der Achtung des Lebens und des Gewissens. Sie sind hier unsere Nachbarn, aber es scheint, als ob auf einer Distanz von einigen hundert Metern Menschen leben, die nicht zu unserem Kontinent, zu unserer Welt, tatsächlich aber zu einer anderen Milchstraße gehören.“

Der Journalist Gideon Levy schätzte dagegen in Ha‘aretz sachlich ein: „Die Polizei in Südafrika behandelte die Schwarzen, als ob sie keine Menschen wären. Das gleiche geschieht hier. Ein Nicht-Volk, Nicht-Menschen, Menschen ohne Rechte oder Menschenwürde – deshalb ist es in Ordnung, alles mit ihnen zu tun. Und dies durchdringt alles“ (…).

Der Likud ist bereit, 42 Prozent des besetzten Landes aufzugeben, vielleicht ein Prozent mehr. Die Arbeitspartei hatte sich in dieser Frage lange nicht festgelegt. Baraks Angebot vom Juli 2000 in Camp David, 95 Prozent zurückzugeben, kommt einem Täuschungsmanöver gleich. Da Israel bereits 60 Prozent der Westbank als Staatsland deklariert hat, die es nicht zurückgeben wird, bezogen sich die 95 Prozent auf jene unumstrittenen 40 Prozent des besetzten Territoriums, von denen auch der Likud stets ausgeht. Für die Arbeitspartei ist Trennung das Zauberwort, sie möchte den neokolonialistischen Einfluss behalten und die Bewohner der Gebiete separieren, wohingegen Scharon ein Zusammenleben mit den Palästinensern für möglich hält.

Ein souveräner Palästinenserstaat läge aus mehreren Gründen im Interesse Israels. Er wäre weder ökonomisch und politisch noch militärisch eine Bedrohung für das Land. Im Gegenteil: Die verspätete Staatsgründung auf Grund der UNO-Resolution würde die Existenz Israels in den international anerkannten Grenzen legitimieren. Ein zu schaffendes regionales Sicherheitssystem und die daraus resultierende Kooperation kämen dem Sicherheitsbedürfnis Israels entgegen. Durch die Rückgabe der besetzten Gebiete wäre jedem Terror die Grundlage entzogen. Auch Hamas und die anderen islamischen Gruppen hätten dies zu akzeptieren, weil die Grundlage für ihren weiteren Widerstand entfallen wäre.

Für die Schaffung eines dauerhaften Friedens bedarf es zweier neuer Grundlagen: einer veränderten politischen Einstellung Israels und eines anderen internationalen Verhandlungsrahmens. Die erste Vorbedingung ist, ein Minimum an Gerechtigkeit für die Palästinenser zu schaffen. (…)

Bisher hat keine israelische Regierung den Anspruch der Palästinenser auf einen souveränen Staat anerkannt. Im jetzigen Kabinett Ariel Scharons sind rechtsnationalistische und religiös-fundamentalistische Politiker vertreten, die den besetzten Gebieten einen »heiligen« Status zuweisen. Ein Teil der Regierungsparteien lehnt den säkularen israelischen Staat prinzipiell ab. Dass diese Kräfte keinen positiven Ansatz zur Lösung des Nahostkonflikts entwickeln, liegt in der Logik ihres Denkens. (…)

Frieden in der Region kann niemals auf Basis der Hegemonie und Dominanz der USA oder Israels gesichert werden, sondern nur auf der Grundlage des Völkerrechts. Die Resolution 242 des UN-Sicherheitsrats betont die „Unzulässigkeit des Erwerbs von Territorium durch Krieg“ und verweist auf die Charta der Vereinten Nationen. Die Grundsätze dieser Charta verlangen die Herstellung eines gerechten und dauerhaften Friedens im Nahen Osten. Dies setzt voraus, dass die israelische Besetzung palästinensischen Landes beendet, das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser anerkannt, ein souveräner Palästinenserstaat mit der Hauptstadt Ost-Jerusalem geschaffen, die Rückkehr der Flüchtlinge in diesen neuen Staat gemäß den UN-Resolutionen gestattet sowie die Auflösung der Siedlungen in den besetzten Gebieten beschlossen wird. Von einer solchen Lösung würden Palästinenser und Israelis profitieren. (…)

Dok. 3: Hat der Westen über das Ausmaß des Hasses Bescheid gewusst?

(Gastkolumne von Horst-Eberhard Richter in ND vom 20.10.01)

Der Westen muss endlich einsehen, dass auf dieser Erde alle aufeinander angewiesen sind und dass wir nur in Anerkennung dieser Verbundenheit jemals eine Kultur des Friedens erreichen, nur in einer ebenbürtigen Gegenseitigkeit Probleme lösen können. Dazu gehört ein gerechtes und faires Teilen. Ein Höchstmaß an Sicherheit kann nie gegeneinander, sondern nur miteinander geschaffen werden.

Um die eigene Verirrung zu durchschauen, muss der Westen lernen, sich in die Lage derer einzufühlen, die er egoistisch und arrogant als Verlierer hinter sich gelassen zu haben glaubt. Aber dazu muss er dialogfähiger werden, muss er ein neues Zuhören erlernen. Bezeichnenderweise hat im Westen kaum einer vor dem 11. September über das Ausmaß des Hasses in einigen armen islamischen Ländern Bescheid gewusst. Es ist der Hass, aus dem eine Gruppe von bürgerlich wohl angepassten, intelligenten und disziplinierten Männern den Antrieb zu ihren wahnwitzigen Anschlägen geschöpft hat. Dabei war die Explosion ohnmächtiger Wut im Kleinformat alltäglich in Nahost zu besichtigen gewesen. Während der Westen seine Kunst perfektioniert hatte, die Manipulierbarkeit islamischer Feudalherren und ihrer Cliquen für eigene Interessen auszunutzen, hat er sich um die Seelenlage der verarmten Massen in jenen Ländern kaum gekümmert.

Aber will der Westen lernen? Wir erleben jetzt täglich die gleichen militärischen Erfolgsberichte wie im Jugoslawienkrieg. Bombengeschwader und Cruise Missiles gegen eines der ärmsten Länder, von dem nicht einmal gewiss ist, dass von hier aus die Überfälle vom 11. September organisiert wurden. Hunderttausende auf der Flucht, zigtausende Kinder vor dem Verhungern. Vergebliche Notrufe von Hilfsorganisationen. Ist das noch gerechte Selbstverteidigung oder nachvollziehbare Strafaktion? Es erschien wie ein widerwilliges Geständnis, als eine der ersten Raketen ausgerechnet vier UNO-Helfer tötete, die mit Minenräumen auf afghanischem Boden betraut waren. Ein »Kollateralschaden«, der sich nicht verschweigen ließ. Wie viel wird man später von ähnlichen Fehlschlägen hören? Vom Jugoslawienkrieg wurde nachträglich berichtet, dass von 90.000 Tonnen abgeworfener Bomben 60.000 nicht die beabsichtigten Ziele getroffen hätten.

Eine Riesenchance ist fürs erste verpasst, nämlich den Schock vom 11. September zu nutzen, um zusammen mit den besonnenen Mehrheiten der beunruhigten islamischen Länder eine Solidarität der Vernunft zu schmieden.

Dok. 4: Rot-Grün verharrt im Neoliberalismus

(Desillusionierte Intellektuelle und Wissenschaftler rechnen mit der rot-grünen Regierungspolitik ab und empfehlen umfassendes Umsteuern, zitiert nach Frankf. Rundschau. vom 13. 11. 01)

(…) Nach unserer Auffassung kommt es vordringlich darauf an, die ideologische Dominanz des Neoliberalismus zu brechen. Wir setzen den Heilsbotschaften der Marktradikalisten unsere Grundüberzeugungen entgegen:

Die völlige Ökonomisierung der Gesellschaft ist ein Weg in die Barbarei. Wie die ökonomischen Erfolgskriterien des globalisierten Kapitalismus zu den Leitwerten der Gesellschaft werden, droht ein Totalitarismus neuer Art: der menschenverachtende Ökonomismus. Er steht in unversöhnlichem Gegensatz zum Menschenbild des Humanismus und des Christentums und den auf ihm basierenden demokratischen Grundwerten und Menschenrechten. (…)

Die neoliberale Ideologie hat nahezu überall auf der Welt zu mehr Arbeitslosigkeit geführt; zugleich sind verhältnismäßig wenige Reiche unermesslich viel reicher geworden, während die große Mehrheit der Menschen und besonders die Ärmsten der Armen dramatische Verschlechterungen ihrer Lebenssituation hinnehmen mussten. Wer unter diesen Bedingungen die Gesellschaft zusammenhalten und gewaltsame Eruptionen vermeiden will, muss alle verfügbaren politischen Instrumente einsetzen und sich neue Instrumente verfügbar machen, um mehr Gerechtigkeit zu schaffen. Nach hoffnungsvollen Ansätzen einer Umkehr in der Steuerpolitik bei der ersten Stufe der Steuerreform wurde jedoch die Privilegierung großer privater Vermögen und Einkommen festgesetzt. International ist die Bundesrepublik inzwischen ein Niedrig-Steuerland für Einkommen aus Kapital und Vermögen.

Wir sind der Meinung, dass Umverteilung im 21. Jahrhundert zu den dringlichsten politischen Aufgaben gehört. Eine Politik, die auf Privatisierung, Deregulierung, Senkung der Staatsquote und auf Sparhaushalte setzt, wird Arbeitslosigkeit und Armut nur verschärfen. Vielmehr kommt es darauf an, Reichtum und Arbeit umzuverteilen

Dok. 5: Methoden gegen Luftpiraten

(Israels El Al setzt mit Erfolg bewaffnete Flugbegleiter ein. Atom-Experten warnen vor Attacken auf Kernkraftwerke, in Frankf. Rundsch. vom 13.09.01)

Vorschläge für einen verbesserten Schutz sind schon seit längerem in der Diskussion. Dazu gehört die Idee, den Durchgang von der Passagierkabine zum Cockpit völlig wegzulassen. So hätte während des Fluges niemand die Möglichkeit, zu den Piloten vorzudringen. Das Problem dabei: Die Cockpit-Tür ist zugleich ein Notausgang, auch für die Passagiere.

Ein anderer Vorschlag zielt darauf, in bestimmten Situationen stärker auf die Technik zu setzen als auf die Piloten. So gibt es schon seit Jahren Geräte, die den Flugzeugführer akustisch warnen, wenn er auf ein Hindernis zusteuert. Sie könnten automatisch mit der Flugzeugsteuerung gekoppelt werden – es würde dann automatisch eine Ausweichbewegung eingeleitet, ohne dass der Pilot die Möglichkeit hätte, den Kurs zu ändern.

Die US Navy hat bereits vor zwei Jahren begonnen, einen so genannten »Smart Cockpit Controller« (SCC) zu testen. Das System arbeitet mit zahlreichen Untersystemen sowie neuronalen Computern. Es ist aber auf Jahre hinaus nicht mit der Einführung derartiger Kontroll- und Sicherheitssysteme in die Passagierluftfahrt zu rechnen.

Die einfachste, erfolgreichste Methode gegen die Luftpiraterie demonstriert seit vielen Jahren die israelische Luftlinie El Al. Sie setzt bewaffnete Flugbegleiter in all ihren Maschinen ein. Seit diese »Sky Marshalls« an Bord sind, ist keine Entführung einer El-Al-Maschine mehr versucht worden. Alle anderen Luftlinien lehnen dieses Modell bisher aber ab.

Das könnte sich nach den Anschlägen in den USA ändern. (…)

Atom-Experten und Umweltorganisationen treibt die Sorge um, Terroristen könnten auch Atomkraftwerke zum Ziel für Angriffe wie in New York machen. Auch moderne westliche Atomkraftwerke seien dagegen nicht geschützt, es drohe eine Kernschmelze mit Verstrahlungen ganzer Regionen, sagt der Leiter der Reaktorsicherheitskommission des Bundes (RSK), Lothar Hahn, der FR. Umweltschutz-Gruppen forderten die Stillegung der Atomkraftwerke.

Dok. 6: Ein demokratischer Islam ist möglich und notwendig

(Von Asim Khan in Frankf. Rundsch. v. 01.03.02)

Auch wenn der Zentralrat nicht alle Muslime in Deutschland vertritt, so hat doch die »Islamische Charta« (FR v. 22. Febr. 2002) mit ihrem Bekenntnis zum Grundgesetz einen hohen symbolischen Wert und macht zudem deutlich, dass ein toleranter Islam möglich und notwendig ist, zumal in einer Zeit, in der die Islamphobie des Westens durch die jüngsten Geschehnisse leider einen neuen Höhepunkt erreicht hat.

Demokratie, Freiheit und Menschenrechte stehen indes keineswegs im Widerspruch zum Islam, auch wenn viele selbst ernannte »islamische« Staaten durch ihr Verhalten den gegenteiligen Eindruck erwecken und sich anmaßen, liberale Interpretationen des Islams zu verurteilen. Verurteilenswert sind in Wahrheit solche Muslime, die durch ihre archaischen Vorstellungen ein falsches und geradezu gefährliches Bild des Islams vermitteln. Die größte Gefahr für diese Religion ist heute in der Tat der Fundamentalismus, der zwar den Anspruch erhebt, im Sinne unumstößlicher religiöser Grundsätze zu handeln, nicht selten aber die Auslegung der Glaubenssätze an den machtpolitischen Interessen ausrichtet, denen er dient.

Diesem Fundamentalismus gilt es einen aufgeklärten Islam entgegenzusetzen. Denn Fakt ist, dass die Muslime durch das Bejahen der demokratischen Grundordnung ihre Identität nicht etwa preisgeben, sondern festigen, da das deutsche Grundgesetz – im Gegensatz zur Verfassung vieler »islamischer« Staaten – all jene Rechte gewährt, die auch der Islam postuliert, wie etwa Meinungs-, Religions- und Handlungsfreiheit. Das Verhältnis vieler großartiger deutscher Denker zum Islam – Lessing, Herder, Goethe, Rückert oder von Arnim seien hier nur beispielhaft erwähnt – zeugt von einer langen und positiven Geschichte des Islams in Deutschland. Heute, da das Verhältnis sichtlich gespannt ist, bedarf es mehr denn je einer Wiederaufnahme des Dialogs, um Ängste und Vorurteile auf beiden Seiten abzubauen und ein nachhaltig friedliches Zusammenleben zu ermöglichen. Das Bekenntnis zur demokratischen Grundordnung ist dabei ein Schritt in die richtige Richtung.

Anti-Terrorstrategien und Schutz der Menschenrechte

Anti-Terrorstrategien und Schutz der Menschenrechte

von Wolfgang S. Heinz

Der transnationale Terrorismus wird heute bi- und multilateral bekämpft. Zwei große Handlungsbereiche sind zu unterscheiden, (1) den der Vereinten Nationen, den von ihnen entwickelten Abkommen gegen spezifische Straftaten mit dem UN-Sicherheitsrates mit seinem Anti-Terrorism Committee in der Führungsrolle und (2) die Maßnahmen der USA in der Perspektive eines Global War against Terrorismus. Zwar sind staatliche Reaktionen auf den Terroranschlag vom 11. September 2001 entsprechend der Wahrnehmung transnationaler terroristischen Bedrohung ähnlich ausgefallen, etwa wenn man an den Haushaltszuwachs für Polizei und Nachrichtendienste, an eine bessere Vernetzung untereinander und das wachsende Interesse an Islam und Islamismus denkt. In ihrer strategischen Ausrichtung sind die Reaktionen von Staaten auf terroristische Bedrohungen aber von Land zu Land durchaus unterschiedlich ausgefallen (Leeuwen 2003, Brysk/Shafir i.V.).

Für die internationale Zusammenarbeit zwischen den Staaten ist eine Übereinstimmung über den Begriff des Terrorismus’ von zentraler Bedeutung, weil bei der Kooperation zwischen Polizei Justiz, Geheimdiensten und bis hin zu Militäreinsätzen klar sein muss, gegen wen sich staatliche Maßnahmen richten.

Bis heute gibt es keine international akzeptierte Definition von Terrorismus. Vielfach ist es ein politischer Begriff, der gegen den jeweiligen Gegner und Feind gerichtet wird, besonders bei Diktaturen und autoritären, nicht-demokratischen Regierungen.

Vereinte Nationen und internationales Strafrecht

Grundlage für die Ahndung und Überwindung des Terrorismus ist im Rahmen der Vereinten Nationen die zwischenstaatliche Zusammenarbeit mit dem Ziel gemeinsamer Strafverfolgung.

Seit 1963 wurden dreizehn Abkommen von vielen Staaten akzeptiert, in denen terroristische Straftaten definiert wurden, z.B. widerrechtliche Inbesitznahme von Luftfahrzeugen (1971), Straftaten gegen völkerrechtlich geschützte Personen, einschließlich Diplomaten (1979), Geiselnahme (1980), Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus (1999) und Nuklearterrorismus (2005).

Ein umfassendes Abkommen gegen Terrorismus wird seit 2001 in der VN-Generalversammlung diskutiert. Jedoch ist man damit nicht weitergekommen, weil sich Meinungsunterschiede über die juristische Bewertung des Kampfes gegen ausländische Besetzung – vor allem zwischen westlichen Ländern und Mitgliedstaaten der Islamischen Konferenzorganisation (OIC) – nicht überbrückt werden konnten. Im Hintergrund steht das Beispiel palästinensischer Kampf gegen die israelische Besetzung und die Frage seiner Einordnung als Terrorismus. Eine Überwindung der Meinungsverschiedenheiten erscheint kurzfristig als wenig wahrscheinlich.

Unter Menschenrechte werden im Folgenden die völkerrechtlich verbindlichen internationalen und regionalen Abkommen verstanden, in denen Menschenrechte definiert werden. Besonders wichtig für unser Thema sind Menschenrechtsnormen, die auch nicht im Notstand oder Kriegsfall außer Kraft gesetzt werden dürfen (vgl. UN-Antifolterkonvention von 1994, UN-Zivilpakt von 1966).

Nach dem UN-Zivilpakt ist die zeitweilige Außerkraftsetzung von Rechten möglich, wenn „das Leben der Nation (des Staates) bedroht“ und der Notstand amtlich verkündet ist jedoch nur „in dem Umfang, den die Lage unbedingt erfordert“ (Zivilpakt Art. 4) (ähnlich Art. 15 der Europäischen Menschenrechtskonvention/EMRK Art. 15). Als notstandsfeste Menschenrechte gelten im UN-Zivilpakt das Verbot von Diskriminierung und Sklaverei, der Folter und bestimmte Rechte beim Gerichtsverfahren sowie das Recht auf Gedanken-, Gewissen- und Religionsfreiheit, bei der EMRK nach Art. 15 das Recht auf Leben, das Folterverbot, das Verbot der Sklaverei und Leibeigenschaft, das Rückwirkungsverbot und die Anerkennung der Rechtsperson. Von den westlichen Staaten hat bisher nur Großbritannien 2001 eine entsprechende Erklärung abgegeben, man befände sich im Ausnahmezustand.

USA: Global War on Terrorism and Operation Enduring Freedom

Die Rolle der USA ist global von zentraler Bedeutung, da ihre politisch-militärische Dominanz sowie die enormen eingesetzten Ressourcen eine Sogwirkung auf viele, besonders kleinere Länder ausübt.

Am 14. September 2001 gab der Kongress mit Resolution »Authorization for Use of Military Force« dem Präsidenten den Auftrag, den internationalen Terrorismus zu bekämpfen. Die Regierung Bush konzeptionalisierte die Bekämpfung des internationalen Terrorismus als Krieg und schloss gleichwohl die Anwendung völkerrechtlicher Rechtsnormen des Kriegsvölkerrechts, besonders der III. und IV. Genfer Konvention auf Terrorismusverdächtige in Afghanistan aus. Die USA haben nicht die Möglichkeit nach Art. 4 UN-Zivilpakt in Anspruch genommen, der UN die Einschränkung bestimmter Menschenrechts anzuzeigen, weil ein Ausnahmezustand vorläge.

Zum weiteren politischen Kontext der Präsidentschaft Bush gehörte die Überzeugung starker Kräfte in der Republikanischen Partei, die sog. Imperiale Präsidentschaft, ein in den US-Geschichte seit langem diskutierter Begriff, müsse wieder hergestellt werden. Hier wird die Präsidentschaft als Institution verstanden, der in der Außenpolitik über die Verfassung hinaus »inhärente Rechte« (Machtbefugnisse) i.S. einer effektiven Exekutive zukommen. In diesem Verständnis kam es besonders nach dem erzwungenen Rücktritt von Präsident Richard Nixon, dem Musterfall einer solchen Präsidentschaft, zum »Sündenfall«, als der Kongress unzulässig präsidentielle Macht eingeschränkt hätte. Nun sei es an der Zeit, die Institution der Präsidentschaft in ihrer wahren Bedeutung wieder herzustellen (vgl. Schlesinger 2004a, b). Dies bedeutet, eine Einflussnahme von Kongress und Justiz möglichst zu unterbinden.

Die Strategie der Regierung Bush hat vier zentrale Bestandteile, die von Regierungen anderer Länder, besonders ihren Geheimdiensten, in erheblichem, gleichwohl noch nicht völlig bekanntem Umfang unterstützt wurden und werden:

  • Identifizierung, Festnahme oder Entführung von Terrorverdächtigen und deren Verbringung an geheime Haftorte, zu denen die US-Justiz, Rechtsanwälte, Familienangehörige, Menschenrechtsorganisationen u.a. keinen Zugang haben (und auch an bekannte Haftorte mit stark eingeschränktem Zugang).
  • Eine Umdefinierung des Verständnisses von Folter: Eine regierungsinterne Diskussion über die anzuwendende Definition von Folter und anderen grausamen, unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlungen oder Strafen führte 2002 bis Ende 2005 zu einem besonderen US-amerikanischen Verständnis, das radikal und völkerrechtswidrig Folter auf Handlungen an der Grenze zum Organkollaps und Tod verkürzte (Ende Dezember 2005 hat das Justizministerium diese Interpretation offiziell zurückgenommen) (Die Dokumente finden sich in Greenberg/Dratel 2005, zur Debatte in den USA Greenberg 2006).
  • Die Entführung von Terrorverdächtigen in Drittstaaten und deren Rückführung in ihre arabischen Heimatländer (extraordinary renditions), sollte den Einsatz von Foltermethoden und damit schnelle Ergebnisse möglich machen (hierzu umfassend mit Bezug zu CIA-Flügen in Europa Grey 2006). Zwar erklärt(e) die Regierung Bush immer wieder, sie foltere nicht und lasse nicht in Drittländern foltern, dem stehen aber Hunderte von Fällen entgegen (hierzu gibt es keine Statistiken oder auch nur Teilstatistiken der US-Regierung; für eine Untersuchung dreier US-Institutionen siehe Human Rights Watch/ Human Rights First/Center for Human Rights and Global Justice 2006).
  • All diese Maßnahmen würden strikt geheimgehalten so dass eine Zuordnung zur Regierung der USA, dem Militär oder Geheimdienst CIA nicht möglich sein sollte (Woodward 2004, S.114).

Nicht behandelt werden kann hier der große Komplex Krieg in Afghanistan und Irak, Fehler der Kriegsführung und Verluste der Zivilbevölkerung, die mindestens in die Zehntausende in Afghanistan und dem Irak gehen (zur Diskussion siehe Heinz/Arendt 2004, S.73f.).

Am 6.09.2006 gestand Präsident George W. Bush öffentlich ein, dass die CIA nach dem 11.09.2001 ein System von Geheimgefängnissen aufgebaut habe, um die USA durch Gewinnung von Informationen vor weiteren Anschlägen zu schützen. Dieses System habe sich bewährt, sei einer rechtlichen Prüfung des US-Justizministeriums unterzogen und für legal befunden worden. Auch würden die USA nicht foltern. In Guantánamo hätten sich ursprünglich 770 Gefangene in Gewahrsam der USA befunden, von denen noch 455 in Haft seien. In den geheimen Gefängnissen der CIA befinde sich jetzt niemand mehr. Das System würde aber für zukünftige Aufgaben beibehalten werden (White House 2006).

Mit Blick auf die Praxis der Entführungen/Überstellungen von Terrorismusverdächtigen (extraordinary renditions) hat das State Department erklärt, dass diese Praxis der US-Regierung fortgesetzt werde (Bellinger 2006). In Deutschland hat nach einem Fernsehbericht das US-Hauptquartier in Europa in Stuttgart im Dezember 2006 bestätigt, dass es die Verbringung von Häftlingen nach Guantánamo organisiert hat (der Fall der sechs Algerier aus Bosnien-Herzegowina).

Menschenrechtsverletzungen während der Terrorismusbekämpfung

Seit 2001 ist es zu zahlreichen, zum Teil systematischen Menschenrechtsverletzungen im Rahmen der Terrorismusbekämpfung gekommen, vor allem in autoritären Staaten und Diktaturen, wo die Opposition schnell mit Terrorismus in Verbindung gebracht wurde, um sie zu schwächen. Die Themenberichterstatter der Vereinten Nationen, besonders zu Folter und Terrorismus, haben hierüber berichtet, ebenso die großen internationalen Menschenrechtsorganisationen wie amnesty international und Human Right Watch, nationale Menschenrechts-NGOs, vor allem aber kritische investigative Medien wie die Washington Post und New York Times in den USA.

Aber auch Demokratien haben zu menschenrechtlich bedenklichen oder offen menschenrechtswidrigen Maßnahmen gegriffen. Gegenwärtig lassen sich vorrangig folgende Menschenrechtsprobleme identifizieren (mit dem Schwerpunkt auf Demokratien):

  • Internierung von Terrorismusverdächtigen ohne Anklage oder Gerichtsverfahren, besonders von Ausländern (USA, vorübergehend: Großbritannien).
  • Überprüfungsverfahren für internierte Verdächtige, die nicht im Ansatz einem fairen Verfahren entsprechen (Folge: Jahrelange Haft für die Betroffenen, ohne dass ein Ende abzusehen ist, z.B. für die Gefangenen in Guantánamo).
  • Anwendung von Folter und Misshandlungen durch Militär und Geheimdienste (in vielen Staaten).
  • Entführung von Terrorismusverdächtigen in Drittstaaten und Überstellungen an Staaten, die die Folter praktizieren (USA, mit Unterstützung einiger europäischer Staaten).
  • Zulassung von Beweismitteln bei Gerichtsverfahren, die unter der Folter erpresst wurden (vorübergehend in Großbritannien).
  • Vorenthaltung von Beweismitteln, die aus Geheimdienstquellen stammen gegenüber angeklagten Terrorismusverdächtigen in Strafverfahren (Guantánamogefangene USA; vorübergehend in Großbritannien).

Schlußfolgerungen und Ausblick

Seit 2005/06 zeigen sich zunehmend unterschiedliche Bewertungen zwischen Regierungen und Justiz und auch in der Öffentlichkeit über angemessene rechtsstaatliche Methoden der Bekämpfung des Terrorismus, besonders zwischen den USA und Europa. Hohe Gerichte haben in den USA, Großbritannien und Deutschland Gesetze für verfassungswidrig erklärt, was dazu führte, dass Regierungen und Parlament neue eher rechtsstaatliche Lösungen suchen mussten.

Rechtsverletzungen bei der Terrorismusbekämpfung, besonders die Misshandlung und Folter von Gefangenen, fügen einer erfolgreichen Terrorismusbekämpfung massiven Schaden zu. Eine solche Vorgehensweise fördert Sympathie- und Solidarisierungseffekte – natürlich neben dem Schaden für die Opfer selbst. In der Sicherheitspolitik wird dies besonders nach dem Gefängnisskandal von Abu Ghraib 2004 auch ganz offen eingeräumt, sowohl in Europa als auch in den USA.

Demokratische Staaten müssen für die verschiedenen Gebiete der Zusammenarbeit – Geheimdienste, Polizei, Justiz, Militär – genau prüfen, welche Rechtsnormen gelten und wie deren Einhaltung wirkungsvoll kontrolliert werden kann, damit Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung nicht direkt oder indirekt zu Menschenrechtsverletzungen beitragen. Dies gilt besonders für die geheimdienstliche und militärische Zusammenarbeit.

Antiterrorismusgesetzgebung sollte kontinuierlich auf ihre Wirksamkeit, intendierte und nicht intendierte Wirkungen überprüft werden. Nur diejenigen Maßnahmen, die wirkungsvoll sind, können auch dann gerechtfertigt werden, wenn ihre Umsetzung klar abgrenzbare Nachteile im Bereich der Menschenrechte, z.B. Einschränkungen der Wahrung der Privatsphäre, nach sich zieht. Jede Anti-Terrorismus-Maßnahme steht zunächst unter diesem Rechtfertigungszwang. Sie muss, so verlangt es auch das deutsche Recht, geeignet, erforderlich und verhältnismäßigsein.

Die Evaluierung von Sicherheitsgesetzen, wie sie zum Beispiel im Terrorismusbekämpfungsgesetz vorgesehen ist, dient dazu, die Auswirkungen von Sicherheitsgesetzen auf die Menschenrechte zu überprüfen. Das Instrument der Evaluierung soll es dem Gesetzgeber ermöglichen, rechtspolitische Entscheidungen strukturell und zukunftsorientiert unter dem Aspekt der Vereinbarkeit mit den Menschenrechten und dem Rechtstaatsprinzip zu überprüfen und gegebenenfalls nachzubessern – und zwar auf der Grundlage konkreter und verlässlicher Informationen (Weinzierl 2006).

Literatur

Bellinger, John B. III (2006): U.S. Renditions of Terrorists Are Legal Vital. Letters to the Editor, in: The Wall Street Journal, 05.07.2006.

Brysk, Alison/ Shafir, Gershon (Hrsg.) (i.V.): Counter-Terror and Human Rights: International Perspectives on National Insecurity, Berkeley: University of California Press.

Greenberg, Karen J. (2006): The Torture Debate in America. Cambridge u.a.: Cambridge University Press.

Greenberg, Karen J./Dratel, Joshua L. (Hrsg.) (2005): The Torture Papers. The Road to Abu Ghraib, Cambridge u.a.: Cambridge University Press.

Grey, Stephen (2006): Das Schattenreich der CIA. Amerikas schmutziger Krieg gegen den Terror. Stuttgart: DVA.

Human Rights Watch / Human Rights First / Center for Human Rights and Global Justice (2006): By the Numbers. Findings of the Detainee Abuse and Accountability Project, April 2006, http://hrw.org/reports/2006/ct0406/.

Heinz, Wolfgang S./Arend, Jan-Michael (2004): Internationale Terrorismusbekämpfung und Menschenrechte. Entwicklungen 2003/2004, Berlin 2004. http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/webcom/show_shop.php/_c-488/_lkm-616/_cat-4/i.html

Leeuwen, Marianne van (Hrsg.) (2003): Confronting terrorism. European experiences, threat perceptions, and policies. Den Haag: Kluwer Law International.

Schneckener, Ulrich (2006): Transnationaler Terrorismus, Frankfurt/M: Suhrkamp.

Weinzierl, Ruth (2006): Die Evaluierung von Sicherheitsgesetzen – Anregungen aus menschenrechtlicher Perspektive, Berlin: Institut für Menschenrechte.

Schlesinger, Arthur M. (2004a): The Imperial Presidency, Boston/New York: Mariner (Erstveröff. 1973). (2004b): War and the American Presidency, New York/London: W. W. Norton

White House (2006): President Discusses Creation of Military Commissions to Try Suspected Terrorists. Press Release. 06.09.2006. http://www.whitehouse.gov/news/releases/2006/09/20060906-3.html (abgerufen am 17.12.2006)

Woodward, Bob (2004): Der Angriff. Plan of attack. München: DVA.

Wolfgang S. Heinz, Dr. phil. habil. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Institut für Menschenrechte. Privatdozent für Politische Wissenschaft an der Freien Universität Berlin. Mitglied des Europarat-Ausschusses zur Verhütung der Folter (CPT). Veröffentlichungen vor allem zu Innen- und Sicherheitspolitik in Lateinamerika und Asien, Vereinte Nationen, internationaler Menschenrechtspolitik, zum Verhältnis zwischen internationaler Terrorismusbekämpfung und Menschenrechtsschutz.

Zur US-Strategie gegen den Terrorismus

Zur US-Strategie gegen den Terrorismus

von Cornelia Beyer

Dieser Artikel fokussiert auf die Strategie der Vereinigten Staaten gegen den internationalen Terrorismus. Internationaler Terrorismus gilt als die Geißel des neuen Jahrtausends, doch sind die US-Strategien gegen dieses Phänomen der politischen Gewalt ausreichend und adäquat? Um diese Frage zu beantworten, untersucht die Autorin zuerst die Strategiepapiere der Administration um dann zu diskutieren, ob die Ansätze der Natur des Problems gerecht werden.

Die Nationale Sicherheitsstrategie der Vereinigten Staaten aus dem Jahr 2002 bezieht sich stark auf das Problem des Terrorismus. Folgender Satz ist hieraus besonders bekannt geworden: „Wir werden nicht zögern, im Alleingang zu handeln, wenn dies notwendig ist. Wir werden unser Recht auf Selbstverteidigung wahrnehmen indem wir präemptiv gegen solche Terroristen vorgehen“ (The White House 2002, 6). Hiermit wurde die Bereitschaft zu unilateralem Handeln geäußert, was international große Ablehnung hervorrief.

Die nationalen Strategiepapiere

Das dritte Kapitel der Nationalen Sicherheitsstrategie (2002) geht auf »rogue states« ein, mit spezieller Erwähnung des Irak. Es heißt, dieser und andere Staaten bedrohten die Vereinigten Staaten – besonders durch ihre Verbindung zu Terroristen – und aus diesem Grund müsse man eine proaktive Strategie verfolgen (The White House 2002, 14). Als weiteres Element der Strategie folgt die Unterstützung für freie Märkte, von denen man sich einen Anstieg des Wohlstandes auf globaler Ebene erhofft (The White House 2002, 17). Schließlich wird auch Augenmerk auf Entwicklung gelegt, denn eine Welt, in der die Hälfte der Menschen von weniger als zwei Dollar am Tag leben müsse, sei nicht gerecht oder stabil.

Im Jahr 2003 legte die Administration der Vereinigten Staaten mit der »National Strategy For Countering Terrorism« eine konkrete Strategie gegen den Terrorismus vor. Hier wurde wieder betont, dass man gegebenenfalls unilateral und präemptiv handeln würde: „Wenn nötig, werden wir nicht zögern, allein zu handeln“ (The White House 2003, 2). Auffallend ist, dass man mit Blick auf den Terrorismus wieder die Rolle von Staaten betonte, die als »haven states« die Terroristen unterstützen und ihnen Unterschlupf gewähren (The White House 2003). Recht ausführlich wird so auch das Verhalten gegenüber Staaten beschrieben, die möglicherweise Terroristen unterstützen oder beherbergen. Der Ansatz unterscheidet sich je nach Kooperationswilligkeit: Partnerschaft, Unterstützung, Überzeugung und Bekämpfung kommen in Frage (The White House 2003, 12). Letzteres soll geschehen durch weitergehende Aggressionen („wir müssen weiterhin aggressiv handeln“, The White House 2003, 5) und die Ausweitung der Verteidigung (The White House 2003, 12). Neben der Verhinderung von »safe haven« sind die direkte Bekämpfung von Terrorismus, die Ursachenbekämpfung und die Verteidigung des Heimatlandes Elemente einer 4D-Strategie (defeat terrorist organizations; deny further sponsorship, support and sanctuary; diminish the underlying conditions; defend the United States). Mit ersterem Punkt ist das militärische und polizeiliche Vorgehen gegen die terroristischen Organisationen selbst beschrieben. Auch die Kontrolle der Finanzen und geheimdienstliche Überwachungsmaßnahmen fallen hierunter. Der zweite Punkt schließt wie beschrieben militärische Interventionen und Regimewandel implizit mit ein. Staaten, die nicht kooperieren oder Terroristen »safe haven« bieten, sollen zur Verantwortung gezogen werden. Hinsichtlich der Verringerung der zugrunde liegenden Bedingungen für Terrorismus ist gemeint, dass man sich sowohl entwicklungspolitisch betätigen als auch einen Krieg der Ideen führen will. Man betont allerdings, dass man diesen Teil der Strategie auf keinen Fall allein durchführen kann – im Gegensatz zum militärischen Pfeiler der Strategie. Zur Notwendigkeit der Entwicklungshilfe in verschiedenen Dimensionen wird nichts weiter ausgeführt, da diese sowieso schon stattfinde.

Im Jahr 2006 wurde wieder eine Nationale Sicherheitsstrategie veröffentlicht, die sich aber kaum von jener aus dem Jahr 2002 unterscheidet. Man weicht nicht von der Option des präemptiven Handelns ab, doch wird die unilaterale Option nicht mehr genannt. Somit lässt sich eine Strategie konstruieren, die den Krieg gegen den Terror mit den bekannten Mitteln in Iran1 und möglicherweise Syrien fortsetzen will, da man keinen Unterschied zwischen Terroristen und möglichen Unterstützern macht (The White House 2002). Unter der Rubrik »Weitere Schritte« wird beschrieben, dass man kurzfristig militärische Mittel anwenden muss um die Terroristen zu fangen, zu töten, und zu verhindern, dass diese die Kontrolle über andere Staaten erringen (The White House 2006b, 9). Speziell im Mittleren Osten soll folgendes erreicht werden: Verhinderung weiterer Attentate, Verhinderung des Besitzes von Massenvernichtungswaffen für Schurkenstaaten und Terroristen, Verhinderung des »safe havens« in Schurkenstaaten für Terroristen und Verhinderung der Kontrolle dieser durch Terroristen. In diesem Zusammenhang werden explizit Syrien und Iran benannt, die von der Welt „zur Rechenschaft“ gezogen werden müssten. Schließlich geht das Papier auf die Ursachen von Terrorismus ein. Armut, die amerikanischen Außenpolitiken und der Israel-Palästina Konflikt werden als Ursachen abgelehnt. Stattdessen bezieht man sich auf autoritäre Regime und die folgende politische Entfremdung, fehlende Mitspracherechte der Bevölkerung, (ungerechtfertigte) Schuldzuweisungen; Subkulturen, die durch Verschwörungstheorien und Desinformation geprägt sind und eine Ideologie, die Mord rechtfertigt als »root causes«. Als Lösung für all diese Faktoren wird die Demokratie präsentiert.

Auch die Strategie gegen den Terrorismus wurde im Jahre 2006 erneuert. Langfristige Strategie sei es, effektive Demokratie zu verbreiten und ihre Verbreitung zu unterstützen. Demokratie sei das „Gegenmittel zur Ideologie des Terrorismus“ (The White House 2006a, 9). Politischer Entfremdung wird Beteiligung entgegengesetzt, Unzufriedenheit und Schuldzuweisungen werden durch Rechtstaatlichkeit und friedliche Wege der Konfliktlösung ersetzt, die Kultur der Verschwörungstheorien findet ihre Ablösung in der Redefreiheit und dem freien Austausch der Ideen. Schließlich wird eine gewalttätige Ideologie durch den Respekt für die Menschenwürde abgelöst. Kurzfristig allerdings werde man allerdings auch weiterhin auf militärische Mittel zurückgreifen.

Dimensionen und Implikationen der Strategie

Besonders dominant in der Strategie der Vereinigten Staaten gegen den Terrorismus ist die militärische Säule. Dies kann man in der Praxis auch an dem Jahreshaushalt 2006 der USA erkennen:

Haushaltsplan der US-Regierung für 20062

  • Wehretat gesamt3419,3 Milliarden
  • Militärische Einsätze485,0 Milliarden
  • Department of Homeland Security34,2 Milliarden
  • Auslandshilfe18,5 Milliarden
  • FBI5,7 Milliarden
  • Department of Justice53,1 Milliarden
  • Maßnahmen zur Kontrolle krimineller Gelder100 Millionen
  • Grenzsicherheit623 Millionen

Militärische Einsätze machen hier den Löwenanteil aus. Man fokussiert also auf eine militärische Bekämpfung und vernachlässigt alternative Elemente, wie besonders die Bekämpfung von Netzwerken und die Adressierung der Ursachen von Terrorismus. Netzwerke lassen sich nicht mit punktuellen Interventionen zerstören.

Wie Ulrich Schneckener (2002) schreibt, ist der neue Terrorismus in Netzwerken organisiert und ähnelt in der Struktur transnationalen Unternehmen. Aus diesem Grund sei es unwahrscheinlich, dass die Zerstörung eines Teils zur Schwächung des Ganzen führe, es sei denn, ein zentraler Knotenpunkt sei gestört. Die Netzwerke sind mobil und flexibel und Verbindungen werden geknüpft und aufgelöst nach pragmatischen Gesichtspunkten. Somit entzieht sich das Netzwerk jedem militärischen Angriff. Weiterhin entwickelt sich das Netzwerk mehr und mehr zu einer immer loseren Gemeinschaft. Man spricht aus diesem Grund auch zunehmend von der »Ideologie Al Kaida«. Dies bedeutet, dass zunehmend Verbindungen zwischen den zentralen Führern und neuen Mitgliedern nicht mehr notwendig sind. Einzelne Täter oder Gruppen beschaffen sich Motivation und technisches Wissen im Internet und führen so ohne oder mit nur geringen konkret nachweisbaren personalen Beziehungen zu Al Kaida Attentate im Namen der Organisation aus. Die U-Bahn-Attentate in London sind ein Beispiel für diesen Effekt. Die Administration weiß um diesen Effekt, wie aus den Strategiepapieren zu erkennen ist. Eine Abkehr von der Fokussierung auf militärische Interventionen in »haven states« ist dennoch nicht erkennbar.

Die verfolgte Strategie gegen den Terrorismus kann darüber hinaus nicht erfolgreich sein, da sie die Ursachen des internationalen Terrorismus kaum beachtet und adressiert. Wirtschaftliche Unterentwicklung, aggressive Außenpolitik der Vereinigten Staaten besonders im Mittleren und Nahen Osten und soziale und psychosoziale Folgeprobleme einer raschen Globalisierung werden als verursachende Probleme nicht oder nur bedingt anerkannt (Beyer 2006a, Kapitel 2.5). Genau hier liegt aber ein Problem. Die zentrale Frage muss sein, wie Terrorismus durch soziale, politische, ökonomische, ökologische und psychologische Konflikte entsteht. Davon ausgehend muss man die Bedingungen ändern, nicht Menschen und Orte angreifen (Ettlinger und Bosco 2004, 254). Wenn man sich nicht in einer Ursachenbekämpfung engagiert, werden die Terrorismusbekämpfungspolitiken ineffektiv bleiben und die Gefahr wird nicht verringert (Sinai 2004, 63).

Auch die langfristige Strategie einer Demokratisierung als Mittel gegen Terrorismus (vgl. Abadie 2004)7 wirft einige Fragen auf. Immerhin hat Indien als starke Demokratie besonders intensiv mit Terrorismus zu kämpfen, Demokratie allein ist also kein ausreichender Schutz gegen diese Form von Gewalt. Effektive Entwicklungshilfe und die Einbindung in die internationale Wirtschaft sind von mindestens ebenso großer Bedeutung. Entwicklung hat einen negativen Effekt auf das Auftreten von Terrorismus (Li und Schaub 2004) und es wurde argumentiert, dass umgekehrt relative Unterentwicklung eine Ursache für Terrorismus ist (Beyer 2006). Darüber hinaus ist fraglich, wie man Demokratie durchsetzen will. In den Strategien wurde die Demokratisierung Afghanistans und des Iraks als Erfolg angesprochen. Daraus kann man schließen, dass Interventionen als gangbarer Weg auf der Straße zur Demokratisierung gesehen werden. Die impliziten Drohungen gegenüber Iran und Syrien entsprechen dieser Interpretation. Wenn es jedoch zu weiteren Interventionen kommen sollte, würde die negative Entwicklung in Afghanistan und Irak – mit ihrem Anstieg von Terrorismus und einer katastrophalen Sicherheitslage, die manche bereits als Bürgerkrieg beschreiben – kein Einzelfall bleiben und die Region würde weiter destabilisiert. Demokratie ist ein erstrebenswertes Ziel. Doch sie lässt sich nicht mit Bomben erzwingen, sie muss gelernt und angenommen werden in den Köpfen und Herzen der Bevölkerungen. Der einzige Weg dies zu erreichen, ist der Einsatz von weichen Machtmitteln, nicht harter militärischer Macht, da diese eher Ablehnung erzeugt.

Darüber hinaus sind die Nebenwirkungen einer aggressiven Strategie im Krieg gegen den Terrorismus schwer einzuschätzen. Denn auch das Ziel, einen Dominoeffekt der Demokratisierung zu erreichen,8 der dem internationalen Terrorismus zunehmend die »haven states« entziehen würde, ist nicht erreicht (Gordon 2004, 148). Zum Teil hat die Unterstützung für schwächere Staaten dazu geführt, demokratische Entwicklungen zu behindern, statt sie zu befördern (zum Beispiel in Ägypten, Georgien, Indien, Indonesien und Russland laut Human Rights Watch). In einigen Fällen werden unter dem Deckmantel der Terrorbekämpfung die bürgerlichen Rechte stark eingeschränkt (Hoffmann 2002, 113), wird Opposition unterdrückt und werden willkürlich Personen verhaftet. Darüber hinaus führt das Außenverhalten der Vereinigten Staaten nach dem 11. September zu einem balancing von Seiten anderer Staaten gegenüber den USA,9 mit möglicherweise destabilisierendem Verhalten für das internationale System. Und schließlich – nicht jedoch zuletzt – wurde durch den Krieg gegen den Irak das Völkerrecht gebrochen, mit noch gar nicht abzusehenden Folgen für die internationalen Beziehungen. Die Gefahr besteht, dass andere Staaten sich in Folge ebenfalls zu völkerrechtlich nicht gedeckten, präemptiven Schlägen veranlasst sehen könnten.

Effektivität der Strategie

Was sagt uns abschließend die Empirie über den Erfolg der militärischen Strategie gegen den Terrorismus?

Die Befürworter der »US-Strategien gegen Terror« behaupten, dass mit den verfolgten Strategien der Terrorismus zwar vom Heimatland der Vereinigten Staaten (bis jetzt seit 2001) ferngehalten werden konnte. Sie negieren aber, dass der Terrorismus nicht ab- sondern zugenommen hat. Da man kaum bis gar nicht nach Ursachen und möglichen Entstehungsmomenten des internationalen Terrorismus fragt, bleibt auch folgender Effekt unbeachtet: als Reaktion auf die Ausweitung des Kampfes gegen den Terrorismus steigt die Zahl der Terroranschläge. In der Tat haben sich die internationalen Anschläge im Jahr 2004 möglicherweise verdreifacht: von 175 im Jahr 2003 auf ungefähr 655 (Glasser 2005). Mitglieder des State Department und des National Counterterrorism Centre sollen die Entwicklung als »dramatic uptick« beschrieben haben. (Ebd.) Ein Anstieg der terroristischen Vorfälle geht ebenfalls aus den Daten der RAND Corporation hervor, die dem Kongress nahe steht. Die Daten werden bereitgestellt in der MIPT-Terrorism Knowledge Database in Zusammenarbeit mit dem National Memorial Institute for the Prevention of Terrorism. Laut dieser Quelle haben sich im Jahr 2000 auf internationaler Ebene 104 terroristische Vorfälle ereignet, im Jahr 2002 waren es bereits 298, 2005 belief sich die Zahl auf 302 internationale terroristische Vorfälle.10 Insgesamt zeigen die in der MIPT-Terrorism Knowledge Database verfügbaren Daten nach 2001 einen starken Anstieg auf das Niveau von 1990. Als abweichende Quelle ist allein die ITERATE-Datenbank verfügbar. Diese stellt einen Rückgang des internationalen Terrorismus nach 2001 fest. Allerdings schließt diese Datenbank viele Ereignisse, die laut der Definition des State Department terroristischer Art sind, nicht ein (Holyk 2005) und wurde aus diesem Grund hier nicht verwendet.

Die Entwicklung weist also einen negativen Trend auf, der internationale Terrorismus nimmt global gesehen zu. Von Bruce Hoffman, einem Experten für Terrorismus aus den Vereinigten Staaten und Direktor der RAND Corporation, wird ebenfalls eine Zunahme der personellen Basis des internationalen Terrorismus seit 2001 bestätigt und für die kommenden Jahre vorausgesagt (World Economic Forum 2005). Grund hierfür ist, dass Netzwerke mittels Interventionen nicht zerstört werden und sich stattdessen die personellen und motivationalen Ressourcen vermehren. Somit entsteht die Gefahr, die eliminiert werden sollte, erneut. Es erscheint eher unwahrscheinlich, dass die angesprochene Ressourcen – Rekrutierung von potentiellen Terroristen und ihre ideelle Unterstützung – in irgendeiner Form begrenzt oder begrenzbar sind. Im Gegenteil, sie könnten durch die verfolgten Strategien noch vermehrt werden. Die Alternative wäre eine Strategie nach dem Motto »weniger ist mehr«. Ein Verzicht auf militärische Aggression wäre unbedingt hilfreich im Kampf gegen den Terrorismus. Ein Amerika, dass seine Macht auf weiche Faktoren gründet – wirtschaftliche, wissenschaftliche und kulturelle Attraktivität sowie Diplomatie – ist langfristig weniger angreifbar.

Literatur

Abadie, Alberto (2004): Poverty, Political Freedom, and the Roots of Terrorism. NBER Working Paper.

Beyer, C. (2006): Deeskalation statt strukturelle Gewalt. In: Politik im Netz, Nr. 3. Online: http://www.politik-im-netz.com/pin_rl/rational/rat_aufsatz.lasso, 30.03.06.

Beyer, C. (2006a): Die Strategie der Vereinigten Staaten im »War of Terror«. Lit Verlag.

Bilmes, L.; Stiglitz, J. E. (2006): The Economic Costs of the Iraq War. Columbia University. Online: http://www2.gsb.columbia.edu/faculty/jstiglitz/Cost_of_War_in_Iraq.pdf, 30.03.06.

Ettlinger, N.; Bosco, F. (2004): Thinking Through Networks and Their Spatiality: A Critique of the US (Public) War on Terrorism and Its Geographic Discourse. In: Antipode, Jg. 36, Nr. 2, 249-271.

Glasser, S. B. (2005): U.S. Figures Show Sharp Global Rise in Terrorism. In: Washington Post. Online: http://www.washingtonpost.com/wp-dyn/content/article/2005/04/26/AR2005042601623.html, 30.03.06.

Gordon, P. (2004): Review Essays: American Choices in the »War on Terror«. In: Survival, Jg. 62, Nr. 1, 145-155.

Hoffmann, S. (2002): Clash of Globalizations. In: Foreign Affairs, Jg. 81, Nr. 4, 104-115.

Holyk, G. G. (2005): A Comparison of the Lethality of State and Non-state Terrorism. Online: www.politicsandgovernment.ilstu.edu/conference/2005finals/Holyk2005.doc, 30.03.06.

Li, Quan; Schaub, Drew (2004): Economic Globalization and Transnational Terrorism. In: Journal of Conflict Resolution, Jg. 48, Nr. 2, 230-258.

Matin, K. (2006): Ein US-geführter Regimewechsel liegt nicht im Interesse der iranischen Bevölkerung. In: Friedenspolitischer Ratschlag. Online: http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/regionen/Iran/matin.html, 23.03.06.

Pape, R. A. (2005): Soft Balancing against the United States. In: International Security, Jg. 30, Nr. 1, 7-45.

Paul, T. V. (2005): Soft Balancing in the Age of U.S. Primacy. In: International Security, Jg. 30, Nr. 1, 46-71.

Rötzer, F. (2005): Hat der Krieg gegen den Terror versagt? Online: http://www.heise.de/tp/r4/artikel/20/20474/1.html, 30.03.06.

Schneckener, U. (2002): Netzwerke des Terrors. Charakter und Strukturen des transnationalen Terrorismus, Berlin.

Sinai, J. (2004): A Democratic Approach to Resolve Terrorism´s Root Causes. In: Democracy and Security, Jg. 1, Nr. 1, 63-71.

The White House (2002): National Security Strategy of the United States. Online: http://www.whitehouse.gov/nsc/nss.html, 01.02.06.

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The White House (2005): President´s Address to the Nation. Online: http://www.whitehouse.gov/news/releases/2005/12/20051218-2.html, 01.02.06.

The White House (2006): Budget of the United States Government, Fiscal Year 2006. Online: http://www.whitehouse.gov/omb/budget/fy2006/budget.html, 28.03.06.

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The White House (2006b): The National Security Strategy of the United States. Online: www.whitehouse.gov/nsc/nss/2006/, 30.03.06.

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Anmerkungen

1) Matin (2006) argumentiert, dass ein U.S.-geführter Regimewechsel dort nicht im Interesse der Bevölkerung liegt.

2) The White House 2006, gilt auch für alle folgenden Angaben, wenn nicht anders ausgezeichnet.

3) Gesamtbudget des U.S. Department of Defense.

4) Mit stark steigender Tendenz, basierend auf Bilmes und Stiglitz 2006.

5) Budget für Programme mit Bezug zu Homeland Security.

6) Für Maßnahmen zur Küstenkontrolle und Grenzsicherheit des Department of Homeland Security.

7) Demokratien weisen in der Regel wenig Terrorismus auf. Staaten die sich in der Transition zur Demokratie befinden, sind allerdings am meisten von Terrorismus betroffen.

8) Dieses Ziel wird in den Strategiepapieren nicht deutlich, wird aber in der Literatur immer wieder genannt, beispielsweise in Gordon 2004.

9) Vgl. beispielsweise Paul 2005 versus Pape 2005. Konsens ist, dass wir es in der jüngsten Zeit mit soft balancing von Seiten anderer Groß- und Mittelmächte zu tun haben.

10) Ausgewertet vom National Memorial Institute for the Prevention of Terrorism 2006, dabei werden ausgeführte sowie angedrohte Anschläge gezählt.

Cornelia Beyer arbeitet als wissenschaftliche Angestellte am Institut für Politikwissenschaft der Universität Tübingen. Ihre Themenschwerpunkte sind Terrorismusbekämpfung und Ursachen von Terrorismus, Amerikanische Außenpolitik und Global Governance (cornelia.beyer@uni-tuebingen.de.)

Jenseits der »terroristischen Bedrohung«

Jenseits der »terroristischen Bedrohung«

Charakterwandel der Gewaltakteure im nordirischen Friedensprozess

von Marcel M. Baumann

Der nordirische Bürgerkrieg begann im Jahr 1968 und wurde mit der Unterzeichnung des Karfreitagsabkommens am 10. April 1998 offiziell beendet (siehe W&F Dossier Nr. 45) Doch aufgrund zahlreicher Krisen sind die Regierungsinstitutionen, die im Friedensabkommen vorgesehen waren und die eine gemeinsame Regierung von Protestanten und Katholiken garantieren sollten, seit dem 14. Oktober 2002 suspendiert. In die verfahrene Situation wurde erst am 28. Juli 2005 neue Bewegung gebracht, als die Irish Republican Army (IRA) in einer Erklärung das Ende des bewaffneten Kampfes bekannt gab und gleichzeitig ankündigte, alle ihre Waffen einer von der britischen Regierung eingesetzten Kommission zu übergeben. Am 26. September 2005 bestätigte ein Bericht dieser Kommission, dass die IRA tatsächlich alle ihre Waffen übergeben hat. Die britische Regierung übte in der Folge heftigen Druck auf die Konfliktparteien aus: Den beiden größten Parteien – Sinn Fein, dem politischen Arm der IRA, auf der katholischen und der Democratic Unionist Party (DUP) auf der protestantischen Seite – wurde eine Frist bis zum 24. November 2006 gegeben, um offizielle Vorschläge für den Ersten Minister Nordirlands und dessen Stellvertreter abzugeben. Nach der Vorgabe der britischen Regierung muss bis zum 26. März 2007 die gemeinsame Regierung ihre Arbeit aufnehmen, ansonsten werden das Parlament und die Regierungsinstitutionen aufgelöst.

In der aktuellen politischen Auseinandersetzung wurde die Haltung Sinn Feins zur Polizei mittlerweile zur Gretchenfrage der weiteren politischen Demokratisierung Nordirlands gemacht. Seitdem die IRA alle Waffen übergeben hat, wird von der DUP die Forderung wiederholt, Sinn Fein könne nur dann in eine gemeinsame Regierung eintreten, wenn sie die Polizei offiziell anerkennt und unterstützt. Gerade von Seiten des britischen Nordirlandministers wird heftiger Druck ausgeübt, Sinn Fein solle im Januar 2007 einen Sonderparteitag abhalten und die offizielle Unterstützung der Polizei beschließen.

Doch in der DUP regt sich zunehmend der Widerstand jener, die prinzipiell gegen eine gemeinsame Regierung mit Sinn Fein sind. Problematisch ist diese Situation auch deshalb, weil sich Ian Paisley in einem Dilemma befindet. Seine Partei kann sich auf kein Mandat berufen, um mit Sinn Fein eine Regierung zu bilden: „Over our dead bodies!“, so lautete stets die Losung, wonach man nie mit Sinn Fein eine Regierung bilden würde.

Selbst wenn der Sinn Fein-Parteitagsbeschluss für eine offizielle Akzeptanz der Polizei zustande käme, würde nicht automatisch Legitimität für die Polizei aus Sicht der katholischen Bevölkerung erreicht. Vertrauen und Legitimität können nicht beschlossen werden, denn aus der Sicht der katholischen Gemeinschaft – der „angeblich interessierte Dritte“ (nach Herfried Münkler) für die IRA – war die Polizei der zentrale staatliche Kriegsakteur und hatte den Charakter einer Polizei-Truppe: „Police officers on the ground need to realise that they are not anti-terrorist police officers any more but normal police officers who have to deal with the ordinary mundane problems of their community – and I think that is proving more difficult than anybody expected“, so wird ein katholischer Jugendsozialarbeiter zitiert.

Das notwendige Vertrauen der Bevölkerung in die Polizei kann nur dann entstehen, wenn sich der ehemalige Kriegsakteur zu einem Polizei-Dienst transformiert, welcher seine Aufgabe in partnerschaftlicher Art und Weise im Sinne der katholischen und protestantischen Bevölkerung durchführt.

Seitdem die Polizeifrage im Mittelpunkt der politischen Debatte steht, zeigt sich ein großer Dissens innerhalb Sinn Feins und der republikanischen Gemeinschaft als Ganzes. Noch im April 2003 hatte Brian Keenan, der als Führer der IRA gilt, in einer Rede die Polizei als »unakzeptabel« bezeichnet und jedes Bestreben, die Sinn Fein-Haltung zu ändern, scharf zurückgewiesen. Auch viele ehemalige IRA-Kombattanten verweigern der Polizei jegliche Legimität und Anerkennung. Anfang Dezember 2006 verließ z.B. Laurence O’Neill, ehemaliger IRA-Häftling und ein wichtiger Spendensammler, aus diesem Grunde die Partei: „I’m a lifelong republican but I firmly believe no republican can ever sign up to policing and that has led to a fall-out with former friends“, sagte er in einem Interview.

Die Sinn Fein-Führung hat es im Friedensprozess bisher bewusst versäumt, kritische Debatten zuzulassen: „I was a member of the republican movement for 37 years and resigned last year as a result of the lack of internal debate on matters of policy and strategy and the manner in which membership were expected to blindly follow a leadership-led policy without question or dissent“ begründete Tony Catney, ehemaliges Mitglied des Parteivorstandes (ard comhairle), der Mitte der 90er Jahre des Sinn Fein-Büro in Brüssel leitete, in einem offenen Brief seinen Parteiaustritt.

Der totalitäre Charakter von Sinn Fein verhinderte bisher echte innerparteiliche und innergesellschaftliche Debatten. Es ist daher unrealistisch, eine schnelle Lösung zu erwarten.

Restorative Justice

Die konstruktive Transformation bewaffneter Gruppen, der Restorative Justice-Ansatz kann eine »Zwischenlösung« sein, die der IRA und anderen nicht-staatlichen Kriegsakteuren eine positive Rolle im Friedenskonsolidierungsprozess ermöglicht bis die Legitimität der staatlichen Sicherheitsinstitutionen (wieder-) hergestellt wurde.

Der Kontext für Restorative Justice als eine Maßnahme der zivilen Konfliktbearbeitung liegt in jenen Gewaltphänomenen, die als »Abfallprodukt« des Friedensprozesses entstanden sind: Im November 2002 kam es zu einem besonders spektakulären Gewaltvorfall, als in Dunmurry, einem südlichen Vorort von Belfast, ein berüchtigter Autodieb bis zur Unkenntlichkeit zusammengeschlagen und danach an einen Zaun gekreuzigt wurde. Die Kreuzigung war eine Bestrafungsaktion der Ulster Defence Association (UDA) – eine bewaffnete Gruppe, die sich zu Bürgerkriegszeiten als Schutztruppe der protestantischen Gemeinschaft gegen die IRA sah. Sie gab vor „im Auftrag der Bevölkerung“ zu handeln, da die Polizei nicht zu aktiver Kriminalitätsbekämpfung fähig sei.

Die daraus resultierenden Folgen wurden in einem informellen Gespräch des Autors mit einem Anwohner deutlich, der in Belfast als Taxifahrer arbeitet und in dessen Hinterhof die Kreuzigung geschah. Als der Autor sein Unverständnis über die Kreuzigung zum Ausdruck brachte, entgegnete der Anwohner sehr verärgert: „He fucking deserved it! I had three cars stolen by him in a quarter of a year“.

Eine andere, weit verbreitete Bestrafungsaktion sind Schüsse ins Knie, das so genannte Punishment Shooting.

Gewaltaktionen wie Schüsse ins Knie sind als solche keine neuen Phänomene, sondern werden von der IRA und anderen Gruppen schon seit Beginn der 70er Jahre praktiziert. Neu ist dagegen ihre Funktion und ihr Ausmaß. Während sie zu Bürgerkriegszeiten als Bestrafung von Spionen oder Abtrünnigen in den eigenen Reihen eingesetzt wurden und um das eigene militärische Machtregime vor Ort zu sichern, werden sie im Friedenskonsolidierungsprozess als Strafen für kriminelle Vergehen verwendet – gegen Drogendealer, Kleinkriminelle u.a. Nach den Erhebungen der nordirischen Polizei ist die absolute Zahl der vigilantistischen Gewaltfälle seit 1994 dramatisch gestiegen und erreichte im Berichtsjahr 2003 den Höhepunkt von mehr als 300 Einzelfällen.

Möchte man diese Gewaltaktionen im Sinne eines »deutenden Verstehens« nachvollziehen, so muss man sich aus einer gewaltsoziologischen Perspektive die für fast alle Konflikttransformationsprozesse beobachtbaren Begleiterscheinungen bewusst machen: Ein typisches Phänomen ist ein exponentieller Anstieg krimineller Gewalt parallel zum Abschwächen politisch motivierter Gewalt. Die Instabilität von Konflikttransformationsphasen begünstigt einen Kriminalitätsanstieg – so beobachtet z.B. in den osteuropäischen Staaten, in El Salvador und in Namibia während der Phase vor der Unabhängigkeit des Landes. Die Erklärung liegt im identifizierbaren Zustand der Anomie (nach Emile Durkheim), wonach die so genannte einfache Kriminalität durch den Bürgerkrieg unterdrückt wurde, da die politisch motivierte Gewalt bewaffneter Gruppen dominierte. Im internationalen Vergleich der Kriminalitätsraten belegt Nordirland mittlerweile den zweiten Rang hinter Südafrika; gleichzeitig belegt der »Northern Ireland Crime Survey« eine überdurchschnittlich hohe Angst der Menschen, Opfer eines Verbrechens zu werden.

Die staatlichen Sicherheitsinstitutionen sind am Beginn des Friedenskonsolidierungsprozesses kaum in der Lage, die öffentliche Sicherheit zu garantieren, die durch den Kriminalitätsanstieg in Gefahr gerät. Zur Schilderung der Probleme der Polizei im Vorgehen gegen kriminelle Gewalt innerhalb eines Friedenskonsolidierungsprozess wählte ein südafrikanischer Polizist den Vergleich mit einem Rugby-Team das plötzlich Fußball spielen soll. Die bewaffneten Gruppen, die sich schon zu Bürgerkriegszeiten als Schutzmächte ihrer Gemeinschaften sahen, nutzen die Situation um erneut »das Recht selbst in die Hand« zu nehmen und betreiben – nicht selten auch auf Druck der eigenen Gemeinschaft – eine gewaltsame, aktive Kriminalitätsbekämpfung.

Eine gewaltfreie Alternative zur Form der »Kriminalitätsbekämpfung durch Verbrechen« bietet die »Restorative Justice-Intervention«: Kriminalität wird nicht als Übertretung eines Gesetzes, sondern als eine Schädigung des Opfers und eine Beeinträchtigung des friedlichen und sicheren Zusammenlebens in einer Gemeinschaft definiert. Ziel ist es, einen alternativen gemeinschaftsbezogenen Prozess zu initiieren, der die gewaltsame informelle Selbstjustiz der bewaffneten Gruppen vermeidet bzw. aushebelt. Vergleichbar mit der klassischen Methode des Täter-Opfer-Ausgleichs bieten Restorative Justice-NGOs vor Ort den Betroffenen Foren bzw. Kommunikationsräume an. Darin kommen idealer Weise sowohl der (kriminelle) Täter, die Opfer als auch Vertreter der Gemeinschaft an einen Tisch. Die NGOs bieten Opfern und Tätern die Möglichkeit, mit Hilfe eines Vermittlers ihren Konflikt außergerichtlich zu regeln und sich über eine Wiedergutmachung zu verständigen. Gemeinsam wird dann versucht, eine Vereinbarung darüber zu erzielen, welche Maßnahmen nötig sind, um die eine Wiedergutmachung zu erreichen. Denkbar ist dabei stets ein Bündel von Maßnahmen, z.B. auch pädagogische Maßnahmen bezogen auf den Täter. Die Aufgabe von lokalen NGOs als »Dritte Parteien« besteht u.a. darin, die Wiedergutmachungs-Leistungen zu überprüfen. Mittlerweile sind in vielen Gebieten solche Restorative Justice-NGOs entstanden. In der Regel gingen diese auf die Initiativen ehemaliger Mitglieder der bewaffneten Gruppen und deren Organisationen zurück: Auf der katholischen Seite ist hier der Dachverband »Community Restorative Justice Ireland« (CRJI) zu nennen, auf der protestantischen die NGO »Greater Shankill Alternatives«. Der Erfolg der Organisationen liegt zum einen im relativen Rückgang der »Punishment Beatings«, wenn auch nur in kleinen Schritten. So wird z.B. der Rückgang der »Punishment Beatings« im Gebiet der »Shankill Road« auch von der lokalen Polizei bestätigt.

Zum anderen besteht der Erfolg darin, dass die grundsätzliche Akzeptanz einer gewaltlosen Lösung des Kriminalitätsproblems und von Konflikten im Allgemeinen in den Augen der Gemeinschaften und unter den Mitgliedern der bewaffneten Gruppen steigt und sich dadurch die festsitzende Gewaltkultur, die der Bürgerkrieg hinterlassen hat, aufzulösen beginnt.

Die Verwirklichung der Restorative Justice-Philosophie in Nordirland hat damit den ehemaligen Gewaltakteuren die Chance gegeben, einen konstruktiven Beitrag zum Gelingen des Friedenskonsolidierungsprozesses zu leisten.

Fazit & Ausblick

Doch die Umsetzung des Restorative Justice-Ansatzes wird auch von erheblicher Kritik begleitet, die sich durch alle politischen Lager erstreckt. „We can’t have local warlords being turned into local law lords“, sagte z.B. Mark Durkan, Parteivorsitzender der gemäßigten katholischen Social Democratic Labour Party. Andere Kritiker behaupten, dass CRJI lediglich ein neuer Name bzw. eine neue Rolle für die IRA sei.

In der Tat operieren die Restorative Justice-NGOs in einer rechtlichen Grauzone, denn sie nehmen eine zentrale staatliche Aufgaben wahr: Rechtsdurchsetzung und Sicherheitswahrung. Die britische Regierung hat deshalb eine Konsultationsperiode gestartet, um rechtliche Klarheit zu schaffen, die jedoch noch nicht abgeschlossen wurde. Kompromisslinien werden z.B. darin gesehen, eine Form der Kooperation zwischen der Polizei und den Restorative Justice-NGOs zu implementieren, d.h. eine Verzahnung von Polizeireformen und dem Restorative Justice-Ansatz.

Hans Fritzheimer, Leiter des EU-Polizeiprojekts Proxima in Mazedonien und hochrangiger schwedischer Polizist, sagte in einem Interview mit dem Autor, dass man in Konflikttransformationsphasen keine »big bang«-Intervention von Polizeireformen erwarten könne. Polizeiorganisationen, die internationalen Standards in Bezug auf Menschrenrechte u.a. gerecht werden, können nur durch langfristige Reformen entstehen, so Fritzheimer, nicht durch eine komplette Abschaffung der alten Polizeiformen. Akzeptiert man also, dass man von der alten Polizei-Truppe keinen »big bang « erwarten kann, kann man dann von der IRA und den anderen nicht-staatlichen Gewaltakteuren einen solchen »big bang«, d.h. die sofortige Auflösung erwarten? Die Gegenthese lautet daher, dass Restorative Justice-NGOs in der Tat eine neue Rolle für die IRA sein können. Hierin besteht die Chance, den bewaffneten Gruppen einen positiven Ansatzpunkt zur langfristigen Transformation von Gewaltakteuren zu Friedensakteuren zu geben: „Just because you have a past doesn’t mean you don’t have a future“ wurde David Trimble zitiert, ehemaliger Erster Minister Nordirlands und damals Parteivorsitzender der gemäßigten, protestantischen Ulster Unionist Party.

Ein positives Zusammenwirken zwischen der Polizei und den Restorative Justice-NGOs kann derzeit aufgrund der Verweigerung Sinn Feins nicht in Gang kommen, die sich auf das mangelnde Vertrauen in der katholischen Gemeinschaft begründet. Ein denkbarer Ausweg könnte darin bestehen, dass Sinn Fein die ihnen zustehenden Sitze im Policing Board vorläufig nicht annimmt, aber stattdessen Vertreter von CRJI dafür nominiert werden. Sinn Fein könnte dadurch das politische Gesicht wahren – die Partei kooperiert nicht direkt mit der Polizei – doch gleichzeitig könnte der Dialog der Polizei mit der katholischen Gemeinschaft über die CRJI-Vertreter überhaupt beginnen.

Dadurch könnte sich eine positive Dynamik abzeichnen, wie sie in Südafrika zu beobachten war: Obwohl es gegenüber der südafrikanischen Polizei große Befürchtungen gab, sie werde in den Friedenskomitees (peace committees) eine destruktive Rolle spielen, nahm sie eine aktive Rolle ein und es kam ein Dialog mit der schwarzen Gemeinschaft in Gang.

Dieses Potential könnte in Nordirland zum Tragen kommen, wenn zunächst CRJI-Vertreter, ihre Sitze im nationalen und den regionalen Polizeiaufsichtsgremien annehmen würden. Restorative Justice könnte so die Funktion einer »vertrauensschaffenden Brücke« für den Weg der Reform der nordirischen Polizei erfüllen.

Nehmen CRJI-Vertreter die Sinn Fein-Sitze im Policing Board an, so könnte dies auch ein möglicher Kompromiss auf der makropolitischen Ebene darstellen, was die wiederholten Forderungen an Sinn Fein betrifft, die Polizei offiziell anzuerkennen.

Literatur

Baumann, Marcel M. (2006): The Restoration of Restorative Justice; in: The Blanket: A Journal of Protest and Dissent; 14. Juni 2006.

Baumann, Marcel M. (2007): Zwischenwelten: Weder Krieg, noch Frieden. Über den konstruktiven Umgang mit Gewalt im Prozess der Konflikttransformation; Müsnter: Lit. (i.E.)

Cox, Michael / Guelke, Adrian / Stephen, Fiona (2000) (Hrsg.): A farewell to arms? From ‘long war’ to long peace in Northern Ireland; Manchester: Manchester University Press.

Hauswedell, Corinna (2004): der nordirische Friedensprozess – ein Modell? Lehren für eine internationale Einhegung innergesellschaftlicher Konflikte, Bonn, W & F Dossier Nr. 45.

Gidron, Benjamin / Katz, Stanley N. / Hasenfeld, Yeheskel (2002) (Hrsg.): Mobilizing for Peace. Conflict Resultion in Northern Ireland, Israel/Palestine and South Africa, Oxford: Oxford University Press.

Knox, Colin / Monaghan, Rachel (2002): Informal Justice in Divided Societies. Northern Ireland and South Africa; Hampshire/ New York: Palgrave Macmillan.

McGarry, John / O’Leary, Brendan (1993): The Politics of Antagonism: Understanding Northern Ireland; London: Athlone Press.

McGarry, John / O’Leary, Brendan (1995): Explaining Northern Ireland: Broken Images; Oxford: Blackwell Publishing.

Moltmann, Bernhard (2002): »Es kann der Frömmste nicht im Frieden bleiben…« Nordirland und sein kalter Frieden, HSFK-Report Nr. 8/2002, Frankfurt am Main.

Text des Karfreitagsabkommens: »Agreement reached in the multi-party negotiations« (10. April 1998): http://cain.ulst.ac.uk/events/peace/docs/agreement.htm (Zugriff: 12.10.2006).

Zurawski, Nils (2001): Gewalt und Ordnung in Nordirland: RUC, Paramilitärs und restorative justice; in: Sicherheit und Frieden; Ausgabe 2 / 2001; S.96-101.

Marcel M. Baumann, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arnold-Bergstraesser Institut für Kulturwissenschaftliche Forschung in Freiburg und Lehrbeauftragter am Seminar für Wissenschaftliche Politik (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau).