Erdogans Reichstagsbrand


Erdogans Reichstagsbrand

von Jürgen Nieth

„Hat es in der Türkei am 15. Juli 2016 einen Putsch gegen die Staatsführung gegeben? Ja, den gab es wohl – so wie es am 27. Februar 1933 in Berlin einen Brandanschlag auf den Reichstag gab […] [Dieser] war willkommenes Vehikel zur Etablierung der Nazi-Barbarei. Sehr Ähnliches hat sich in den abgelaufenen zwölf Monaten in der Türkei abgespielt. Nach einem Umsturzversuch, dessen Dilletantismus im Nachhinein viele Fragen aufwirft, folgten Ausnahmezustand, die Entmachtung des Parlaments, die Entlassung und/oder Verhaftung Hunderttausender, schlicht: Terror.“ (Roland Etzel, ND, 17.7.17., S. 1)

Staatsterror

Die Bilanz, die in der deutschen Presse ein Jahr nach dem Putschversuch gezogen wird, ist übereinstimmend kritisch. Kein Wunder, denn die Handlungen Erdogans und seiner Getreuen sprechen für sich: „Nach offiziellen Angaben sind bislang 50.510 Menschen verhaftet worden […] Gegen insgesamt 169.013 Menschen laufen Ermittlungsverfahren, knapp 150.000 Menschen sind aus dem öffentlichen Dienst entlassen worden. Über die Hälfte davon sind Lehrer, Dozenten und Professoren. Rund 150 Journalisten […] sitzen im Gefängnis, über hundert Zeitungen, TV-Sender und Radios wurden geschlossen oder aus dem Äther verbannt.“ (Jürgen Gottschlich, taz, 17.7.17., S. 3)

Andere Presseorgane nehmen Details der Verfolgungen unter die Lupe: „Bis heute wurden 4.424 Richter und Staatsanwälte suspendiert, 2.584 inhaftiert, 680 sind in Einzelhaft. Rund ein Viertel der staatlichen Justiz wurde ausgeschaltet.“ (Frank Nordhausen, BZ, 15.7.17., S. 3) „563 Mütter [sind gezwungen] […] mit ihren Säuglingen und Kindern gemeinsam die Haft zu verbringen.“ (Cüneyt Dinc, Freitag, 27.7.17., S. 8). „Ein Dutzend Universitäten und über tausend Privatschulen wurden geschlossen. Die Regierung zog die Pässe von mehreren zehntausend Menschen ein […] Fast tausend Unternehmen mit einem Gesamtumsatz von fast 20 Milliarden Dollar, deren Inhaber als Gülen-Anhänger galten, wurden verstaatlicht.“ (Markus Bernath und Susanne Güsten im Tagesspiegel, 15.7.17., S. 2) „Die Listen der jeweils neuesten Entlassungen erscheinen meist nach Mitternacht im »Resmi Gazete«, dem offiziellen Organ der Regierung […] Fieberhaft suchen Hunderttausende Türken dann nachts in den neuen Listen ihre Namen. Wenn sie ihn finden, wissen sie, dass vielleicht schon im Morgengrauen die Polizei kommen wird. Selbst wenn man sie nicht verhaftet, wird ihnen niemand mehr einen Job geben, verlieren sie ihre Krankenversicherung, werden […] ihre Kinder in der Schule gemobbt.“ (Boris Kálnoky, WaS, 16.7.17, S. 2) „Ein Abgeordneter der republikanischen Volkspartei und elf Mandatsträger der Demokratischen Partei der Völker (HDP) befinden sich seit Monaten im Gefängnis, darunter die beiden Ko-Vorsitzenden der HDP […] Außerdem wurden 74 Bürgermeister der HDP inhaftiert. Für 89 Kommunen, vor allem im kurdischen Südosten, wurde von der Regierung ein Treuhänder statt des gewählten Bürgermeisters eingesetzt.“ (Jan Keetmann, ND, 21.7.17., S. 5)

Der angekündigte Putsch

„Bereits wenige Tage nach dem Putsch sprach Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu von einem »kontrollierten Putsch«, was bedeutet, Erdogan habe zwar den Putschversuch gegen sich nicht selbst geplant, er habe jedoch die Kontrolle über ihn gehabt. Eine neue Chronologie der Ereignisse […] stützt diese These […] [sie zeigt], dass Erdogans Leute die Putschisten infiltriert hatten und über die Abläufe im Bilde waren.“ (Rainer Hermann, FAZ, 15.7.17., S. 8) Hermann zeigt auf, dass der pensionierte Oberst Attila Ugur bereits am 14. Juli in der regierungsnahen Zeitung »Yeni Safak« von einem bevorstehenden Putsch gesprochen habe. In der SZ (15.7.17., S. 2) verweist Christiane Schlötzer darauf, dass der „Geheimdienst (MIT) am 15. Juli bereits um 14,30 Uhr von einem Hubschrauberpiloten über einen unmittelbar bevorstehenden Staatsstreich informiert [wurde] – sieben Stunden bevor Panzer auf die Bosporusbrücke rollten.“ Gleich mehrere Zeitungen weisen darauf hin, das Erdogan selbst noch in der Nacht des Aufstandes von dem Putschversuch als einem „Geschenk Gottes, das es ermöglicht, die Armee zu säubern“ gesprochen habe, dass die Listen für zehntausende Verhaftungen vorbereitet waren und dass innerhalb von 48 Stunden 50.000 Menschen festgenommen wurden.

Erdogans Machtdemonstration

Am 15. Juli 2016 wehrten die Türken gemeinsam den Staatsstreich ab, waren Regierungs- und Oppositionspolitiker gemeinsam im Parlament Angriffen ausgesetzt. Am Jahrestag des Putsches erlebte die Türkei eine riesige Machtdemonstration Erdogans: „Sämtliche Reklametafeln waren mit Plakaten gepflastert, die Erdogans Palast gestaltet hatte, von den Minaretten erklang Sela, der Ruf zum Totengebet. Sogar auf unseren Mobiltelefonen waren Botschaften, die den Putschversuch verdammten: Wenn wir am 15. Juli 2017 eine Nummer wählten und sei es die Notrufnummer 112, dann erklang zunächst die von Erdogan persönlich eingesprochene Botschaft zum 15. Juli. Erst danach konnte man einen Krankenwagen anfordern […] Die Opposition blieb [bei den Feierlichkeiten] außen vor […] Bei der Parlamentszeremonie wurde der Opposition kein Rederecht gewährt.“ (Bülent Mumay, FAZ, 20.7.17, S. 14)

Es redete Erdogan. Er „kündigt in Istanbul unter Applaus des Publikums an, die Wiedereinführung der Todesstrafe voranzutreiben. Er schlägt vor, mutmaßliche Putschisten vor Gericht in orange Overalls zu stecken wie die Häftlinge in Guantanamo. Er ruft: »Wir werden den Verrätern den Kopf abreißen«.“ (Spiegel Nr. 30/2017, S. 27)

Fazit

Daniel Steinvorth zieht in der NZZ die Bilanz: „Währte der Putschversuch nur eine Nacht, so währt der Putsch nach dem Putsch bereits ein Jahr.“ (15.7.17., S. 12) Doch erst nach den Festnahmen des deutschen Menschenrechtlers Peter Steudtner hat der deutsche Außenminister eine »Neuausrichtung« der deutschen Türkeipolitik gefordert. Von Taten ist außer einer Reisewarnung bisher allerdings nichts zu sehen.

Zitierte Zeitungen: BZ – Berliner Zeitung, Der Spiegel, Der Tagesspiegel, FAZ – Frankfurter Allgemeine, Freitag, ND – neues deutschland, NZZ – Neue Zürcher Zeitung, SZ – Süddeutsche Zeitung, taz – die tageszeitung, WaS – Welt am Sonntag.

Die diskursive Macht des IS


Die diskursive Macht des IS

von Axel Heck

Aus den Nachrichten kaum mehr wegzudenken: gewaltbeladene Aktionen des »Islamischen Staates«. Gleichzeitig wachsen die Vorbehalte gegenüber MuslimInnen in der Bevölkerung. Wie der IS die neuen Medien nutzt, um bestimmte Narrative zu etablieren, die wiederum Vorbehalte gegenüber MuslimInnen stärken, wird im folgenden Artikel dargelegt.

Im Jahr 2010 verkündete der deutsche Bundespräsident Christian Wulff: „Das Christentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das Judentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das ist unsere christlich-jüdische Tradition. Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland.“ (Wulff 2010, S. 6) Andererseits tritt seit 2014 in einigen deutschen Städten mit den »Patriotischen Europäern gegen die Islamisierung des Abendlandes« (PEGIDA) eine Bewegung in Erscheinung, für die Islamfeindlichkeit die Motivation für ihre Aktivitäten ist. Und die Alternative für Deutschland (AfD) formuliert in ihrem jüngst beschlossenen Bundesparteiprogramm explizit: „Der Islam gehört nicht zu Deutschland.“ (AfD 2016, S. 49) Umfragen belegen, dass in Deutschland die Vorbehalte gegenüber MuslimInnen und »dem Islam« in den letzten Jahren deutlich gestiegen sind (Bertelsmann Stiftung 2015, S. 7-8).

Deutungskampf um den Islam

Islamistischer Terrorismus ist spätestens seit den Anschlägen in New York und Washington (2001), Madrid (2004) und London (2005) als Phänomen in den westlichen Gesellschaften präsent (Frindte et al 2011, S. 16-17; Benz 2012, S. 21-22). Islamophobie aber wird erst seit wenigen Jahren regelmäßig und straff organisiert in aller Öffentlichkeit propagiert. Ein Blick auf aktuelle Umfragen zeigt, dass Islamophobie keineswegs nur am »rechten Rand« der Gesellschaft angesiedelt ist, sondern Vorurteile und stereotype Zuschreibungen bis weit in die bürgerliche Mitte hinein verbreitet und geteilt werden (Bertelsmann Stiftung 2015, S. 9-10; Decker et al. 2014, S. 48-51, 62). Es wird zwar immer wieder betont, die übergroße Mehrheit der MuslimInnen in Deutschland und anderen europäischen Staaten seien »unbescholtene BürgerInnen« und hätten weder mit Anschlägen zu tun noch hegten sie Sympathien für den Terror des Islamischen Staats (IS); dennoch scheinen MuslimInnen unter einen diffusen Generalverdacht gestellt zu werden, der aus einer diskursiven Gleichsetzung von »Islam« und »Terrorismus« hervorgeht (Brassel-Ochmann 2015, S. 58, 81; Mazyeck 2014; Körting et al 2015, S. 16-17, 47).

Dabei wird immer deutlicher, dass »der Islam« längst Gegenstand eines diskursiven Deutungskampfes ist, in dem unterschiedliche muslimische wie nicht-muslimische Kräfte darum ringen, ihre jeweiligen Vorstellungen zu etablieren (Kliche et al. 1997; Karis 2013; Kalwa 2013; Wehrstein 2013; Kliche 1998). Und der IS, der vor allem die Eigenlogik der so genannten neuen Medien nutzt, um an diesem Deutungskampf zu partizipieren (Weimann und Jost 2015), hat sich zu einem der wichtigsten Diskurs­akteure entwickelt. Da hilft es wenig, wenn z.B. der Islamwissenschaftler und Buchautor Navid Kermani explizit erklärt: „Alle maßgeblichen theologischen Autoritäten der islamischen Welt haben den Anspruch des IS verworfen, für den Islam zu sprechen, und im Detail herausgearbeitet, inwiefern dessen Praxis und Ideologie dem Koran und den Grundlehren der islamischen Theologie widersprechen.“ (Kermani 2015b, S. 10)

Das Narrativ des IS

Bislang wurde die von der IS-»Propaganda« ausgehende Gefahr meistens vor dem Hintergrund des Radikalisierungspotentials thematisiert. (Lister 2014, S. 24; Atwan 2015, S. 14). Einige Studien gehen dabei auf Versuche des IS ein, die Tötung von Geißeln als »Bestrafung« für Gewalttaten des Westens gegen muslimische Glaubensbrüder in aller Welt zu legitimieren und hierdurch weitere Unterstützung zu gewinnen (z.B. Zech und Kelly 2015). Eine weitere, bislang unterschätze Gefahr besteht darin, dass der IS mit seinen medial verbreiteten Botschaften die vorherrschenden Vorstellungen beeinflusst, was unter »Islam« zu verstehen ist. Überdies sollen die Botschaften von Hass und Gewalt, die im Namen des IS um die Welt geschickt werden, nicht nur Angst und Schrecken verbreiten, sondern in westlichen Ländern auch antiislamische und rassistische Vorurteile gegenüber MuslimInnen schüren und so den gesellschaftlichen Zusammenhalt und das friedliche Zusammenleben verschiedener Religionsgemeinschaften und Kulturen unterminieren. Diese Ziele werden in den Ausgaben des IS-Magazins »Dabiq« ganz offen verkündet.

Dazu bietet der IS ein Islamverständnis an, wonach der Islam eine „Religion des Schwerts und nicht des Friedens“ sei (Dabiq 2015, S. 20) und sich somit fundamental von den Vorstellungen solcher islamischer Gelehrter unterscheidet, die darauf verweisen, der Islam sei eine Religion der Freiheit und Gerechtigkeit, des Friedens und der Kultur (Kermani 2015a). Navid Kermani schilderte in seiner Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels seine Lesart des Islam: „Als Philologe hatte ich vor allem mit den Schriften der Mystiker, der Philosophen und der Rhetoriker und ebenso der Theologen zu tun. Und ich, nein: Wir Studenten konnten und können nur staunen über die Originalität, die geistige Weite, die ästhetische Kraft und auch humane Größe, die uns […] begegnen, die weltlich sind, ja weltlich und erotisch und übrigens auch feministisch und zugleich auf jeder Seite durchdrungen vom Geist und den Versen des Korans. […] Nichts, absolut nichts findet sich innerhalb der religiösen Kultur des modernen Islams, das auch nur annähernd vergleichbar wäre, eine ähnliche Faszination ausübte, von ebensolcher Tiefe wäre wie die Schriften, auf die ich in meinem Studium stieß. Und da spreche ich noch gar nicht von der islamischen Architektur, der islamischen Kunst, der islamischen Musikwissenschaft – es gibt sie nicht mehr.“

Kermani kam zum Schluss, das „Problem des Islams [sei] weniger die Tradition als vielmehr der fast schon vollständige Bruch mit dieser Tradition, der Verlust des kulturellen Gedächtnisses“, was er als „zivilisatorische Amnesie“ bezeichnet (Kermani 2015b, S. 11). Dieser Tradition setzt der IS ein radikales und menschenverachtendes Narrativ entgegen, das historisch-traditionell aufgeklärte DenkerInnen des Islam kurzerhand zu »Abtrünnigen« und »Feinden« erklärt. Die politischen und gesellschaftlichen Folgen dieser durch den IS propagierten diskursiven Gleichsetzung von »Terror« und »Islam« sind nahezu unabsehbar.

Neue Medien für die politische Kommunikationsstrategie

Die politische Kommunikationsstrategie des IS scheint gezielt die Bilder terroristischer Gewalt mit einer totalitären Ideologie und einem universellen Herrschaftsanspruch zu verknüpfen und setzt im Kampf um Aufmerksamkeit und Klicks insbesondere auf die »neuen« Medien (Twitter, YouTube und das IS-eigene Magazin Dabiq). Akil Awan spricht von einer symbiotischen Beziehung“, die den IS mit diesen Medien verbinde (Awan 2014).

Mit seiner »Ikonographie des Schreckens« bedient der IS einerseits bereits in Teilen der Gesellschaft verankerte rassistisch-islamophobe Vorurteilsstrukturen. Andererseits ist das IS-Narrativ aufgrund seiner auf Gewalt und Brutalität basierender medialen Wirkmächtigkeit durchaus in der Lage, konkurrierende Konzepte eines friedlichen, offenen, toleranten und demokratischen Islam in den Hintergrund zu drängen. Dabei ist es der Aufmerksamkeitsökonomie neuer (und teilweise auch klassischer) Medien geschuldet, dass die Botschaft der Gewalt rasch Verbreitung findet, während die Botschaft eines friedlichen Islam in den Medien gar nicht erst ankommt. In einer Mediengesellschaft, in der Klickzahlen, Re-tweets und User-likes als »harte Währung« zählen, hat das Wort Navid Kermanis einen ungleich schwereren Stand als das neueste Hinrichtungsvideo des IS.

Soziale Ausgrenzung und Stigmatisierung der muslimischen Minderheiten in westlichen Gesellschaften werden als performative Effekte solcher Videobotschaften bewusst in Kauf genommen und aktiv gefördert. Als Arena zur Austragung des Deutungskampfes wählt der IS nicht nur den inner-islamischen Diskurs, sondern ebenso die nicht-muslimisch geprägte Öffentlichkeit. Die Videobotschaften des IS, die in regelmäßigen Abständen gezielt den Weg in westliche Medien finden, zeigen fast ausnahmslos Darstellungen von Gewalt und Zerstörung unvorstellbaren Ausmaßes. Einige dieser Videos haben geradezu ikonische Bedeutung gewonnen, etwa die Enthauptung des US-Amerikaners James Foley, die Verbrennung des jordanischen Kampfpiloten Moaz al-Kasasbeh bei lebendigem Leibe oder die Zerstörung der antiken Stadt Palmyra.

Neben den Machtphantasien und Gewaltdarstellungen zeichnet sich die Kommunikationsstrategie des IS durch das Legitimationsnarrativ aus, demzufolge die Herrschaft des IS auf dem Glauben der Menschen an dessen Rechtmäßigkeit basiere. Die Legitimität wird durch Verweis auf eine legale und traditionale Ordnung sowie die charismatischen Führereigenschaften des »Kalifen« Abu Bakr al Baghdadi erzeugt (Heck 2016). Auch das Video über die Verbrennung Moaz al-Kasasbehs ist in ein Legitimationsnarrativ eingebettet, wonach der IS Verbrechen vergelte, die al-Kasasbeh und andere Kampfpiloten mit der Bombardierung von Städten begangen hätten. In ähnlicher Weise wird die Enthauptung James Foleys inszeniert, der als Repräsentant eines westlichen Eroberungsfeldzuges »bestraft« werde. Selbst wenn solche Versuche der Legitimation von Gewalt im Namen der Religion von islamischen Gelehrten zurückgewiesen werden, entfalten sie in einem nicht-muslimisch geprägten Diskurs Wirkung. Denn einerseits sind die Verweise auf Verbrechen des »Westens und seiner Verbündeter« oftmals nicht falsch, andererseits sind die brutal inszenierten Hinrichtungen grausam, zutiefst menschenverachtend und nicht legitimierbar. Dennoch »erzwingen« diese Botschaften unsere Aufmerksamkeit, da wir Teil der Mediengesellschaft sind und uns ihnen kaum entziehen können. Da das einmal Wahrgenommene nicht ohne Weiteres wieder vergessen werden kann, entfalten diese Botschaften ihre performativen Effekte, indem sie zu einem Teil unserer Vorstellungswelt werden – ob wir wollen oder nicht.

Fazit

»Der Islam« erfährt durch die »Ikonographie des Schreckens« des Islamischen Staates eine narrative Aufladung, in der bereits abgespeicherte rassistische und islamophobe Vorurteilsstrukturen in westlichen Gesellschaften mit fanatisch-religiös motivierter Gewaltbereitschaft und universalen Herrschaftsansprüchen verkoppelt werden. Der IS entwickelt ein Narrativ, wonach sich sein totaler Herrschaftsanspruch nicht nur auf die Region des Nahen Ostens beschränkt, sondern die »westliche Kultur« der »Ungläubigen« in Europa und Nordamerika vernichtet werden soll. Indem der IS mit der Brutalität seiner Botschaften die Aufmerksamkeitsökonomie neuer Medien gezielt nutzt, gelingt es ihm, die identitäre Konstruktion eines radikal-islamischen »Selbst« auch in einem nicht-muslimischen Diskurs zu verankern und aufgeklärt-traditionelle Konzeptionen des friedlichen und kulturell so reichen Islam zu marginalisieren. Die durch den IS angeheizte Islamophobie führt zu einer immer stärkeren Ausgrenzung von MuslimInnen und bereitet so den Nährboden für weitere Radikalisierung und Gewaltbereitschaft.

Literatur

Alternative für Deutschland (AfD) (2016): Programm für Deutschland – Grundsatzprogramm der Alternative für Deutschland. Beschlossen auf dem Bundesparteitag in Stuttgart am 30.4./1.5.2016.

Atwan, A.B. (2015): Islamic State – The Digital Caliphate. Oakland: University of California Press.

Awan, A.N. (2014): Terrorism craves an audience and we are playing into Islamic State’s hands by watching. The Conversation, 16.9.2014.

Benz, W. (2012): Deutschlands Muslime im Spiegel des Antisemitismus. In: Schneiders, T.G. (Hrsg.): Verhärtete Fronten – Der schwere Weg zu einer vernünftigen Islamkritik. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 15-23.

Bertelsmann Stiftung (2015): Religionsmonitor – verstehen was verbindet. Sonderauswertung Islam 2015 – Die wichtigsten Ergebnisse im Überblick. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung.

Brassel-Ochmann, A. (2015): Die trügerische Akzeptanz von Islam, Homosexualität und Suizid – Das doppelte Meinungsklima in Deutschland. Wiesbaden: Springer Fachmedien.

Dabiq (2015): From Hypocrisy to Apostasy. The Extinction of the Greyzone. Issue VII. Online auf der Website von The Clarion Project, Washington D.C.

Decker, O.; Kiess, J.; Brähler, E. (2014): Die stabilisierte Mitte – Rechtsextreme Einstellung in Deutschland 2014. Leipzig: Universität Leipzig.

Frindte, W.; Boehnke, K.; Kreikenbom, H.; Wagner, W. (Hrsg.) (2011): Lebenswelten junger Muslime in Deutschland – Abschlussbericht. Berlin: Bundesministerium des Inneren.

Heck, A. (2016): The Struggle for Legitimacy of the Islamic State – Facts, Myths, and Narratives. In: Gadinger, F.; Kopf, M.; Mert, A.; Smith, C. (eds.): Political Storytelling – From Fact to Fiction. Duisburg: Käte Hamburger Kolleg/Centre for Global Cooperation Research, Global Dialogues series, S. 82-90.

Kalwa, N. (2013): Das Konzept »Islam« – Eine diskurslinguistische Untersuchung. Berlin/Boston: de Gruyter.

Karis, T. (2013): Mediendiskurs Islam – Narrative in der Berichterstattung der Tagesthemen 1979-2010: Wiesbaden: Springer Fachmedien.

Kermani, N. (2015a): Wir wehren uns. DIE ZEIT, 15. Januar 2015.

Kermani, N. (2015b): Über die Grenzen – Jacques Mourad und die Liebe zu Syrien. Dankesrede bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2015. Frankfurt: Börsenverein des Deutschen Buchhandels e.V.

Kliche, T. (1998): Vom Feindbild zum Fluktuat – »Islam« als mediales Feld flexibler diskursiver Ausgrenzung. In: Hitzler R.; Peters, H. (Hrsg.): Inszenierung: Innere Sicherheit – Daten und Diskurse. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 25-38.

Kliche, T.; Adam, S.; Jannink, H. (1997): Bedroht uns der Islam? Die Konstruktion eines postmodernen Feindbildes am Beispiel Algerien an zwei exemplarischen Diskursanalysen. Hamburger Forschungsberichte aus dem Arbeitsbereich Sozialpsychologie – HAFOS Nr. 19.

Körting, E.; Molthagen, D.; Öney, B. (2015): Ergebnisse des Expertengremiums der Friedrich-Ebert-Stiftung zur Auseinandersetzung mit islamistischem Extremismus und Islamfeindlichkeit. In: Molthagen D. (Hrsg.): Handlungsempfehlungen zur Auseinandersetzung mit islamistischem Extremismus und Islamfeindlichkeit – Arbeitsergebnisse eines Expertengremiums der Friedrich-Ebert-Stiftung. Bonn: FES, S. 11-60.

Lister, C. (2014): Profiling the Islamic State. Brookings Doha Center Analysis Paper 13, S. 17.

Mazyek, A. (2014): Wenn der Islam missbraucht wird. The European, 2.9.2014.

Wehrstein, D. (2013): Deutsche und französische Pressetexte zum Thema »Islam« – Die Wirkungsmacht impliziter Argumentationsmuster. Berlin/Boston: de Gruyter.

Weimann, G.; Jost, J. (2015): Neuer Terrorismus und Neue Medien. Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik, 8(3), S. 369-388.

Wulff, C. (2010): Vielfalt schätzen – Zusammenhalt fördern. Rede von Bundespräsident Christian Wulff zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2010 in Bremen.

Zech, S.T.; Kelly, Z.M. (2015): Off With Their Heads – The Islamic State and Civilian Behead­ings. Journal of Terrorism Research 6(2).

Dr. Axel Heck ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Governance in Mehrebenensystemen der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.

Moderate Islamisten


Moderate Islamisten

Zwischen Arabischem Frühling und »Islamischem Staat«

von Stephan Rosiny

In vielen arabischen Ländern ist die Situation heute schlechter als vor Beginn des »Arabischen Frühlings« in 2011. Paradigmatisch hierfür sind der Wahlsieg der ägyptischen Muslimbruderschaft 2012 und ihr Sturz durch das Militär 2013 sowie die militärische Expansion des »Islamischen Staats«. In einigen Ländern deuten Regime und Oppositionelle ihre gegenseitige Feindschaft heute als Ausdruck einer sunnitisch-schiitischen, also einer konfessionellen Spaltung. Es bleibt abzuwarten, welche mittel- und langfristigen Auswirkungen das abgebrochene Experiment einer moderat-islamistischen Regierung in Ägypten, die Eskalation konfessioneller Gegensätze und das apokalyptische Projekt des »Kalifat-Staats« für moderate Islamisten haben werden.

Der Nahe Osten und Nordafrika sind von strukturellen Konflikten geprägt, und die Region steht vor schwierigen Herausforderungen. Jahrzehnte autoritärer Herrschaft, ökonomischer Krisen und zahlreicher Kriege brachten korrupte Regime, institutionell unterentwickelte Staaten, Wohlstandsgefälle und tief gespaltene Gesellschaften hervor. Anfang 2011 erlebte die arabische Welt eine einmalige Abfolge lokaler Protestbewegungen, die sich gegen diese Zustände wandten und in westlichen Medien bald als »Arabischer Frühling« bezeichnet wurden. Sie beeinflussten und bestärkten sich wechselseitig in ihrer Symbolsprache und in ihren Forderungen.1 Die autoritären Herrscher von Tunesien, Ägypten, Libyen und Jemen wurden durch Massenproteste und Aufstände gestürzt, im Falle Libyens mit ausländischer militärischer Unterstützung. In weiteren Ländern rüttelten Protestbewegungen an der Herrschaft republikanischer und monarchischer Autokraten. Die Monarchen von Marokko, Jordanien, Kuwait und Oman konnten den Unmut durch moderate Reformen abfangen. In Bahrain und Saudi-Arabien schlugen die Könige die Proteste hingegen gewaltsam nieder. Lediglich in Katar und in den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) kam es zu keinen nennenswerten Demonstrationen.2

Islamismus im »Arabischen Frühling«

Die Protestbewegungen blieben anfangs weitgehend führerlos und ohne dominante Ideologie. Dies half ihnen bei der Mobilisierung breiter Bevölkerungsschichten und schützte sie vor staatlicher Repression, da etwaige Anführer nicht wie bei früheren Protesten einfach verhaftet werden konnten. Das Fehlen von Führungspersönlichkeiten erwies sich im Verlauf der Proteste aber als Schwäche, denn die mangelnde Kohärenz der unterschiedlich motivierten Oppositionsgruppen führte, je länger sich die Proteste hinzogen, zu Fragmentierung und Konkurrenz. Es fehlte ein Programm zur Durchsetzung der Forderungen und zur Neugestaltung der politischen Ordnung.

Dieser Mangel an Alternativen erklärt, warum in vielen Ländern zunächst vor allem moderate Islamisten profitierten. Sie konnten ein umfassendes Angebot an Identitätsstiftung, partizipativen Institutionen und Ideen für eine gerechtere Gesellschaft machen. Viele westliche Beobachter waren überrascht, dass islamistische Akteure eine so breite Zustimmung erhielten und sich gegen liberale, jugendlich-revolutionäre Oppositionskräfte durchsetzen konnten. Denn diese hatten das bunte, urbane Spek­trum der Proteste dominiert, das Anfang des Jahres 2011 live im Fernsehen zu beobachten war, etwa auf dem zentralen ­Tahrir-Platz in Kairo.

Gemäßigte Islamisten propagieren ein inklusives Gesellschaftsmodell, das eine breite soziale Basis anspricht: Jugendliche, Erwachsene und Alte, Arme und Reiche, Frauen und Männer, »Bildungsferne« und Intellektuelle gleichermaßen. Sie wollen regionale Entwicklungsgefälle und die Fragmentierung in Ethnien und Stämme überwinden. Uneigennützigkeit und jenseitige Belohnung stehen dabei gegenüber kurzfristigem Profitdenken im Vordergrund. Korruption gilt ihnen nicht nur als ökonomische Straftat, sondern als moralische Verfehlung. Islamisten in Jordanien, Palästina, Ägypten und vielen anderen Ländern unterhalten Einrichtungen der karitativen Versorgung, Gesundheitsfürsorge, Bildung und der Wirtschaftsförderung mit Vermarktungshilfen und Kleinkreditprojekten. Sie schaffen Arbeitsplätze auch in vom Staat vernachlässigten Regionen. So greifen sie die unerfüllten Forderungen der früheren nationalistischen Bewegungen nach Stärke, Unabhängigkeit, Wohlfahrt, Gerechtigkeit und Einheit auf und präsentieren sie in islamischem Gewand.

Islamisten sind keine homogene Bewegung, sondern treten konfessionell und ideologisch je nach Region in unterschiedlichen Strömungen auf. Erfolgreich waren Massenproteste unter Beteiligung moderater Islamisten in den homogen sunnitischen Republiken Nordafrikas; nicht jedoch in den konservativen Golfmonarchien und den konfessionell heterogenen ostarabischen Ländern. Dort spielte der konfessionelle Sunna-Schia-Gegensatz bei der Eskalation von Demagogie und Gewalt eine dominante Rolle. Moderate sunnitische und schiitische Islamisten protestierten zwar gegen die Machthaber der jeweils anderen Konfession, hielten sich aber mit Kritik an Autokraten ihrer eigenen Konfession zurück. Im Machtvakuum zerfallender Staatlichkeit breiteten sich zusätzlich salafistische und dschihadistische Gewaltakteure, wie al-Qaida und der »Islamische Staat«, aus.3

Von der Hoffnung zur Resignation

Die Protestierenden des »Arabischen Frühlings« waren sich in ihren allgemeinen Forderungen einig: Sturz autoritärer Herrscher, Würde und Brot, Freiheit und Gerechtigkeit, Kampf gegen Korruption und Klientelismus. Die Ursachen der Unzufriedenheit lassen sich grob drei Themenfeldern zuordnen:

  • Die Suche nach einer kollektiven Identität geht weiter. Die republikanischen Regime dieser Region legitimierten ihre Herrschaft mit dem Antiimperialismus der postkolonialen Phase und einer Mischung aus panarabischem und einzelstaatlichem Nationalismus. Dem lagen Versprechen von Einheit, politischer Unabhängigkeit, technologischem Fortschritt und wirtschaftlicher Entwicklung zugrunde. Doch die Realität sah anders aus: Die Herrscher hielten an einzelstaatlichen Egoismen fest, ihre Länder blieben im Vergleich zu anderen Weltregionen politisch, wirtschaftlich und technologisch rückständig. Westliche Vorstellungen von Sozialismus, Demokratie und Neoliberalismus boten ebenfalls keine Verheißung, denn viele der verhassten Autokraten nannten sich »sozialistisch«, der US-geführte Irakkrieg von 2003 war im Namen der Demokratisierung der Region geführt worden und neoliberale Strukturanpassungen hatten zum Rückzug der Staaten aus Versorgungsfunktionen und zur Verarmung geführt.
  • Es mangelt nahöstlichen Staaten an Möglichkeiten der gesellschaftlichen Partizipation, das heißt der Beteiligung an politischen Entscheidungsprozessen und am Chancenzugang. Scheindemokratien mit Wahlfälschungen, Parteienverboten, Repressionen und Menschenrechtsverletzungen schränken die politische Freiheit massiv ein. Sie sind aber nur ein Aspekt eines fundamentalen Partizipationsdefizits, das ökonomische, soziale und kulturelle Diskriminierung umfasst. Machthaber vergeben Arbeitsplätze und Dienstleistungen als Gunstbeweise über »Beziehungen« und nicht aufgrund von Wissen, Können oder Bedürftigkeit. Der neoliberale Rückzug des Staates aus der sozialen Versorgung führte zu einer weiteren Umverteilung von unten nach oben. Die Menschen suchen deshalb bei nichtstaatlichen Akteuren Schutz, so in religiösen Netzwerken.
  • Schließlich fehlt nahöstlichen Gesellschaften eine kollektive Vision, eine Vorstellung von einer besseren Zukunft. Nationalistische und sozialistische Regime gaben zwar vor, wirtschaftlichen und technologischen Fortschritt, nationale Unabhängigkeit und die arabische Einheit zu betreiben. Aber faktisch waren sie untereinander zerstritten und abhängig von ausländischer, meist westlicher, wirtschaftlicher und militärischer Hilfe.

Im »Arabischen Frühling« spielten diese drei Faktoren eine wichtige Rolle, was sich in der Symbolik und den Forderungen zeigte. Protestierende trugen als Zeichen ihrer gemeinsamen Identität die Nationalflaggen und malten sich deren Farben ins Gesicht. Sie forderten politische Partizipation und ökonomische Teilhabe als garantierte Rechte statt wie bisher als Wohltätigkeitsakte des Obrigkeitsstaats. Schließlich formulierten sie als Ziel ein Leben in Würde, Freiheit und Gerechtigkeit.

Mehr als fünf Jahre nach Beginn der Proteste ist die Hoffnung auf einen grundlegenden Wandel der Resignation gewichen. Der Wunsch nach breiter politischer Partizipation und wirtschaftlichem Aufschwung war groß – und wurde von den neuen oder reformierten Regimen weitgehend enttäuscht. Die meisten autoritären Regime haben ihre Macht konsolidiert. In einigen Ländern eskalierten konfessionelle Gegensätze und mündeten in Gewalt. Schließlich nutzte die dschihadistische Miliz des »Islamischen Staats« das Machtvakuum im Irak, in Syrien und in Libyen, um ein Terrorregime und den Kern eines »globalen Kalifats« zu errichten.

Aufstieg und Sturz der Muslimbruderschaft in Ägypten

In Tunesien, Marokko und Ägypten gewannen bei ersten freien Wahlen moderate islamistische Parteien. In Libyen, Algerien und Jemen erzielten sie gute Wahlergebnisse. Neben ihnen konnten sich fundamentalistische Salafisten als unerwartete zweite Kraft im islamistischen Spektrum etablieren.

In Ägypten gewann die moderate Muslimbruderschaft bei den Parlamentswahlen, die vom 28.11.2011 bis zum 10.1.2012 durchgeführt wurden. Die Muslimbruderschaft war bereits 1928 als erste islamistische Bewegung gegründet worden und bildet den Archetyp sunnitisch-islamistischer Bewegungen über den Nahen Osten hinaus. Im Juni 2012 gewann ihr Parteivorsitzender, Muhammad Mursi, auch die ersten Präsidentschaftswahlen. Erstmals in der Geschichte der arabischen Welt waren Islamisten durch offene und freie Wahlen an die Macht gelangt, ohne dass sie wie 1992 in Algerien sofort weggeputscht oder wie die Hamas-Regierung 2006 mit internationalem Boykott belegt worden waren.

Es gelang der Muslimbruderschaft indes nicht, die hohen in sie gesetzten Erwartungen bezüglich einer schnellen Verbesserung der wirtschaftlichen Lage und einer integrativen Regierungsführung zu erfüllen. Die strukturellen Schwächen der ägyptischen Wirtschaft ähneln denen anderer nahöstlicher Ökonomien: eine hohe Staatsverschuldung, ein aufgeblähter Staatssektor, in dem regimetreue Studienabgänger versorgt werden müssen, hohe Jugendarbeitslosigkeit und eine krisenanfällige Abhängigkeit von meist nur einem dominanten Wirtschaftssektor. Die Muslimbruderschaft konnte diese Mängel nicht beheben. Vielmehr verschlechterte sich die wirtschaftliche Lage, u.a. weil der für Ägypten existentiell wichtige Tourismus aufgrund der politischen Unruhen einbrach.

Die Muslimbruderschaft verlegte sich deshalb auf ihren Machtausbau und auf Symbolpolitik, indem sie die Islamisierung der Gesellschaft und der Außenpolitik betrieb. Sie brachte dadurch sowohl Säkulare, denen sie zu religiös war, als auch Salafisten, denen sie zu gemäßigt islamisch war, gegen sich auf. Als das Militär unter dem später unter fragwürdigen Umständen zum Staatspräsidenten gewählten General Abdel Fattah Sisi im Juli 2013 mit Unterstützung Saudi-Arabiens und der VAE putschte, konnte es sich auf die Zustimmung der Bevölkerung oder zumindest deren stillschweigende Duldung stützen. Bei dem gewaltsamen Sturz wurden mehr als 1.400 Menschen getötet, größtenteils Mitglieder der Muslimbruderschaft. In den Jahren seither verurteilten Gerichte über eintausend Anhänger der Bewegung, inklusive des entmachteten Präsidenten Mursi, zum Tode. In Ägypten, Saudi-Arabien und den VAE wurde die Muslimbruderschaft verboten.

Konfessionalisierung und Gewalteskalation

Im ostarabischen Raum bilden heute Repressionen seitens der Regime, in Gewalt umschlagende Proteste und konfessionelle Gegensätze eine gefährliche Mischung. In Syrien, Irak und Jemen entwickelten sich die im Frühjahr 2011 friedlich begonnenen Proteste zu internationalisierten Bürgerkriegen mit konfessionalistischen Stereotypen. Schiiten überwogen bei den Protesten gegen die sunnitischen Regime von Bahrain und Saudi-Arabien, Sunniten bei den Protesten und dann bewaffneten Aufständen gegen die schiitisch dominierte Staatsmacht in Syrien und Irak.

Die konfessionelle Polarisierung spiegelt sich auch in der Unterstützung der Rebellionen beziehungsweise der bedrängten Regime durch Regionalmächte wider. Sunnitische Golfmonarchien und die Türkei unterstützen einerseits sunnitische Rebellen in Syrien, andererseits sunnitische Regenten in Bahrain. Im Jemen intervenierten sie, um einen bewaffneten Aufstand schiitischer Zaiditen niederzuschlagen. Iran wiederum begrüßte die Proteste gegen das sunnitische Establishment in Nord­afrika, Bahrain und Jemen, während es in Syrien und Irak die schiitisch dominierten Herrscher beschützt.

Der regionale Machtkampf vertiefte das Sunna-Schia-Schisma: Iran gilt als schiitische Führungsmacht, Saudi-Arabien, VAE, Katar und Türkei stellen sich als sunnitische Schutzmächte vor einem mutmaßlichen schiitisch-persischen Expansionismus dar. Ihr Feindbild ähnelt dem salafistischer Dschihadisten, die Schiiten als »Verweigerer« (rafida) beschimpfen und bekämpfen, weil sie die Herrschaft der drei ersten – nach sunnitischer Lehre »rechtgeleiteten« – Kalifen Abu Bakr (632-634) , Umar (634-644) und Uthman (644-656) ablehnen. Der Konfessionalismus beschleunigte in den heterogenen Gesellschaften in Syrien, Irak und im Jemen die Gewaltspirale und den Staatszerfall. Das ist allerdings nicht der einzige innerislamische Gegensatz, der derzeit in der Region ausgetragen wird, denn die sunnitischen Mächte sind ihrerseits intern über ihre Unterstützung (Katar und Türkei) beziehungsweise Bekämpfung (Saudi-Arabien und VAE) der Muslimbruderschaft gespalten. Diese innersunnitische Konkurrenz tritt derzeit im gemeinsamen Kampf gegen das syrische Regime von Baschar al-Assad und angesichts der Bedrohung durch den »Islamischen Staat« in den Hintergrund, bleibt aber virulent.

Dschihadismus und der »Islamische Staat« (IS)

Der »Arabische Frühling« schwächte zunächst den globalen Dschihadismus, weil dessen Postulat widerlegt schien, wonach ein Sturz der Regime nur gewaltsam möglich sei. Die gescheiterten Reformprozesse bescherten jedoch einem zweiten dschihadistischen Narrativ erneut Zulauf, das besagt, Demokratie sei ein unislamisches Instrument des Westens zur Spaltung und Beherrschung der Muslime. Militante Dschihadisten haben sich mittlerweile überall dort festgesetzt, wo die Gewalt zwischen Staat und Opposition eskalierte und das staatliche Machtmonopol zerfiel, so in Syrien, Jemen, Libyen, im Irak und neuerdings in Teilen Ägyptens.

Am erfolgreichsten war dabei bislang der »Islamische Staat«. Mit der Ausrufung eines »Kalifats« am 29. Juni 2014 proklamierte Abu Bakr al-Baghdadi, die Einheit aller Muslime wiedererlangen zu wollen. Er forderte alle Muslime weltweit zur »hidschra« auf, das heißt zur Auswanderung aus dem von »Ungläubigen« beherrschten Territorium in den »Islamischen Staat«. Mit seiner apokalyptischen Vision einer nahenden Endschlacht zwischen Gläubigen und Ungläubigen und professionellem Medieneinsatz gelang es dem IS, rund dreißigtausend ausländische Kämpfer zu mobilisieren und ein regionales Netzwerk an terroristischen Zellen zu errichten.

Der kometenhafte Aufstieg des IS belegt, welchen Einfluss eschatologisch visionäre Bewegungen in Zeiten massiver Verunsicherung gewinnen können. Aus dem erfolgreichsten Transformationsland des »Arabischen Frühlings«, Tunesien, kommen (nach Saudi-Arabien) heute die meisten Kämpfer zum IS. Seine todesmutigen Dschihad-Kämpfer haben ein beachtliches Territorium in Syrien und im Irak erobert. Professionell aufgearbeitete Propagandavideos zeigen einen vermeintlich idealen Staat, in dem Gottes Gesetz anstatt korrupter menschlicher Regeln gelten soll. In Wirklichkeit herrscht dort ein Terrorregime, das die Bevölkerung mit brutaler Gewalt gängelt. Der IS verbreitet mit seinen Hinrichtungsmethoden und Terroranschlägen weit über die Region hinaus Angst und Schrecken. Massaker an Minderheiten, Angriffe auf die Staatlichkeit des Irak und Syriens sowie Drohungen gegen die Nachbarstaaten Jordanien, Israel, Libanon und Saudi-Arabien wurden mit einer erneuten westlichen Militärintervention beantwortet und haben die Muslime zusätzlich tief verunsichert und gespalten.

Herausforderungen für die moderaten Islamisten

Die von großen Erwartungen getragenen Protestbewegungen des »Arabischen Frühlings« wurden mittlerweile durch großflächige Krisen- und Kriegsherde zunichte gemacht. In der gesamten Region bilden politische Machtkämpfe und religiös-ideologische Polarisierung ein gefährliches Amalgam. Moderate Islamisten hatten einst ihre Stärke im Vergleich zu anderen Oppositionsgruppen daraus gezogen, dass sie eine authentische Identität anboten, Forderungen nach Partizipation glaubwürdig vertraten und die Vision einer besseren Welt vermittelten. Diese drei Themenfelder haben sich inzwischen zu den größten Herausforderungen nicht nur für Islamisten, sondern für die gesamte Region entwickelt.

  • Identität: Viele regionale Akteure, keinesfalls nur Islamisten, bestimmen ihre Zugehörigkeit mittlerweile primär über die Konfession. Der Sunna-Schia-Gegensatz dominiert die politische Allianzbildung und verschärft die regionalen machtpolitischen Gegensätze. Wird sich der als Stellvertreterkrieg in Syrien, Irak, Jemen und anderen Ländern stattfindende innerislamische Bürgerkrieg zu einem regionalen Krieg zwischen sunnitisch und schiitisch dominierten Staaten ausweiten? Oder gelingt es moderaten islamistischen Vertretern der sunnitischen und schiitischen Gemeinschaften, an ökumenische Initiativen und überkonfessionelle politische Allianzen anzuknüpfen, die es in der Vergangenheit bereits gab?
  • Partizipation: Der gewaltsame Sturz des gewählten ägyptischen Präsidenten Mursi war ein schwerer Rückschlag für moderate sunnitische Islamisten. Für sie stellt sich die Herausforderung politischer Partizipation und der Implementierung eines gesellschaftspolitischen Reformprojekts in der Gegenwart neu. Werden sie sich nach dieser desillusionierenden Erfahrung künftig noch auf das Experiment kompetitiver freier Wahlen einlassen? Werden sie integrativere politische Modelle der Machtteilung entwickeln, mit denen sie breiteren Rückhalt in der Bevölkerung finden und den Brückenschlag zu Säkularen und Mitgliedern anderer Religionsgemeinschaften schaffen? Oder werden radikale Islamisten an Zulauf gewinnen, die einen gewaltsamen Regimesturz als einzige Option propagieren?
  • Vision: Reform-islamistische Parteien griffen die nicht eingelösten Versprechen und Forderungen des Nationalismus nach Unabhängigkeit, Gerechtigkeit, Partizipation, Entwicklung und Würde auf und präsentierten sie in einem »authentisch islamischen« Gewand. Allerdings scheiterten sie bislang dort, wo sie mitregieren, daran, diese Vision durchzusetzen. Auch aus der Enttäuschung über das erneute Scheitern zog der IS seine Legitimität. Mit seiner Brutalität und Intoleranz gegen andere Religionen hat er das Image des Islam aber schwer beschädigt. Wird es sunnitischen Islamisten des Mainstream gelingen, sich glaubwürdig von diesem Missbrauch ihrer Religion zu distanzieren? Können sie dem als Kalifat bezeichneten Terrorstaat eine positive, tolerante und integrative gesellschaftspolitische Vision entgegenstellen?

Viele der Protestbewegungen im Nahen Osten lassen sich mit dem unerfüllten Verlangen nach Identität, Partizipation und einer Vision erklären. Sollten moderate Islamisten keine Antworten auf diese drei Herausforderungen finden, werden sie weiter an Zulauf verlieren. Es wäre zu hoffen, dass sie (und andere politische Akteure) eine tolerante, pluralistische Identität statt ethnisch-konfessionellem Chauvinismus, inklusive Regierungen der Machtteilung statt Alleinherrschaft und realistische Perspektiven statt unerfüllbarer Visionen entwickeln könnten. Werden die drei genannten Herausforderungen nicht gemeistert, werden die Gesellschaften insgesamt verlieren: Immer mehr junge Menschen, insbesondere besser ausgebildete, werden ihren Heimatländern den Rücken kehren und auswandern. Sie entziehen damit der Region motivierte Fachkräfte, die für einen wirtschaftlichen Aufschwung dringend benötigt werden.

Die restaurierten autoritären Regime sind nicht in der Lage, die Gräben ihrer ideologisch und konfessionell gespaltenen Gesellschaften, die sie häufig selbst mit geschaffen haben, zu überbrücken. Eine Alternative könnten Modelle der Konsensdemokratie sein, in denen die verschiedenen Gruppen – inklusive moderater Islamisten – garantierte Anteile an der Macht erhalten, in großen Koalitionen zusammen regieren und sich auf Kompromisse einigen müssen. Grundlegende Gesellschaftsreformen können nur von integrativen Regierungen erarbeitet und durchgesetzt werden.

Gelingen diese Reformen nicht, werden die Zurückgebliebenen, die sich ausgeschlossen fühlen von der globalen Moderne, anfällig bleiben für die Heilsversprechen radikaler Prediger.

Anmerkungen

1) Rosiny, S. (2011): Ein Jahr »Arabischer Frühling« – Auslöser, Dynamiken und Perspektiven. GIGA Focus Nahost Bd. 12.

2) Bank, A.; Richter, T.; Sunik, A.: Durable, Yet Different – Monarchies in the Arab Spring. Journal of Arabian Studies 4(2), Juli 2014, S. 163-79.

3) Ausführlich beschreibe ich die unterschiedlichen Richtungen des Islamismus im Arabischen Frühling in: Rosiny, S. (2012): Islamismus und die Krise der autoritären arabischen Regime. GIGA Focus Nahost Bd. 2.
Zum »Islamischen Staat« siehe Rosiny, S. (2014): »Des Kalifen neue Kleider« – Der Islamische Staat in Irak und Syrien. GIGA Focus Nahost Bd. 6.

Dr. Stephan Rosiny studierte Politikwissenschaften, Neuere Geschichte und Philosophie in Frankfurt a.M. und promovierte 1997 zu »Islamismus bei den Schiiten im Libanon – Religion im Übergang zwischen Tradition und Moderne«. Er ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am GIGA Institut für Nahost Studien und Redakteur der Publikationsreihe »GIGA Focus Nahost«.

Was wissen wir über den »Islamischen Staat«?


Was wissen wir über den »Islamischen Staat«?

von Dietrich Jung und Klaus Schlichte

Das Wissen über den »Islamischen Staat« (IS) ist noch begrenzt und eher fragmentarisch. Wohl wächst das Datenmaterial zum IS beständig, doch eine theoriegeleitete sozialwissenschaftliche Auswertung dieser zunehmenden Informationsdichte steht noch aus. Dazu trägt nicht nur die oft unüberschaubare Kriegssituation in Syrien und im Irak bei, sondern auch die Nachlässigkeit der deutschen Sozialwissenschaften, die die Beschäftigung mit anderen Weltgegenden als Europa und Nordamerika in ihre Randgebiete verdrängt haben. Diese Gemengelage steht der Reflektion darüber im Wege, mit welchem Gegner es die internationale Allianz gegen den IS eigentlich zu tun hat. Politik als Vorrang des Kurzfristigen erfordert die schnelle Verfertigung eines Feindbildes, sowohl in der politischen Rede wie in der medialen Berichterstattung. Die Reduzierung des IS auf eine Terrororganisation, so unsere These, greift aber bei Weitem zu kurz.1

Das Ziel dieses Beitrags ist es, einige vorläufige Aussagen über die Organisationsform, die Genese und die Dynamik des IS auf sozialwissenschaftlicher Grundlage zu treffen. Unsere Überlegungen beruhen neben der Presseberichterstattung auf wissenschaftlichen Publikationen über den IS und auf Analogien zu Befunden über andere bewaffnete Gruppen.2 Die Grundannahme ist dabei, dass die Effekte der kriegerischen Gewalt die sozialen und politischen Dynamiken bestimmen, die innerhalb des IS und um ihn herum wirken. Aus der politischen Soziologie bewaffneter Gruppen lassen sich deshalb in Analogieschlüssen Hypothesen darüber ableiten, welche Mechanismen im Innern des IS wirken.

Hierarchie oder Netzwerk?

Probleme einfacher Analogieschlüsse finden sich in der gesamten Diskussion über den IS. Im strategischen Denken, vor allem dem militärischer Sicherheitskreise, scheint die Tendenz zu überwiegen, sich die Organisation des Gegners als Spiegelung des Selbstbilds vorzustellen. Dies war auch nach den Anschlägen vom 11. September 2001 beobachtbar, als die sicherheitspolitische Diskussion sich das lose Netzwerk um den mobilen Inspirator von al-Qaida, Osama bin Laden, so vorstellte wie ein multinationales Unternehmen mit Hierarchien, Hauptsitz und Filialen. Fast fünfzehn Jahre später, mit der Verbreitung des »network-centric warfare« als strategische Anpassung auch westlicher Militärapparate, geschieht dasselbe: Auch der IS wird als globales »Netzwerk« charakterisiert, ohne dass exakt nachvollziehbar wäre, aus welchen Teilen dieses Netz besteht und was diese organisatorisch verbindet. Schon die Erfahrungen in Afghanistan seit 2001 haben gezeigt, wie volatil die Konstellationen und Bündnisse sind, die dort vereinfacht als »Taliban« bezeichnet wurden und werden.3 Ähnliches gilt auch für den Irak, wo im Oktober 2006 nach dem Tod von Abu Musab az-Zarqawi, dem jordanischen Inspirator des IS, der Islamische Staat im Irak (ISI) gegründet wurde. Dieser repräsentierte zunächst ein loses Bündnis dschihadistischer Gruppierungen, sunnitischer Stämme und ehemaligem Baath-Personal, das sich nach dem so genannten sunnitischen Aufstand gegen die Besatzung (2004-2006) um den Kern von al-Qaida im Irak formiert hatte.

Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive erscheint es sinnvoll, drei Bilder des IS zu unterscheiden: erstens die hierarchische Organisation, die der IS offenbar in den von ihm kontrollierten Gebieten in Syrien und im Irak ist; zweitens das symbolische Bezugssystem des Islamischen Staats, sein ideologisches Fundament, das er für unterschiedliche Gruppen militanter Islamisten in geografisch weit voneinander entfernt liegenden Kontexten repräsentiert; und drittens das mediale Artefakt der »globalen terroristischen Organisation des IS«, das von westlichen Medien und der Propagandamaschine des IS gemeinsam konstruiert wird.4

Das erste Bild: Nach allem, was an gesichertem und öffentlichem Wissen über den IS vorliegt, ist dieser im Kern eine hierarchische Organisation, und zwar dort, wo er territorial regiert. In Syrien und im Irak verfügt er über eine administrative, politische und ökonomische Infrastruktur, die pyramidal aufgebaut ist. Hier verwaltet der IS die von ihm kontrollierten Territorien wie ein effektiver Protostaat. Hier übt er mit einem rigiden Sicherheits- und Justizapparat territoriale Kontrolle über Millionen von Menschen aus und stützt sich auf eine relative diversifizierte Kriegs­ökonomie, welche auch die Besteuerung der verwalteten Gebiete umfasst.5

Das zweite Bild: Ein Netzwerk ist der IS hauptsächlich insofern, als das Signum »IS« als symbolische Referenz für eine Reihe anderer bewaffneter Akteure in innerstaatlichen Kriegen dient. Mit der Ausrufung eines islamischen Kalifats artikulierte der IS einen Führungsanspruch in der militanten panislamischen Bewegung, die seit den 1980er Jahren eine immer stärkere Rolle in den Konflikten in der muslimischen Welt spielt. Dabei handelt es sich um eine von inneren Konflikten und Konkurrenzkämpfen geprägte Bewegung, deren dschihadistische Gruppen sich alle in einem Kampf zur Verteidigung des Islam verstehen.6 Die Verbindungen dieser Gruppen mit dem IS sind aber höchst unterschiedlich, und sein Führungsanspruch wird nicht nur von al-Qaida bestritten. Was die internationalen Unterstützer des IS anbelangt, so stehen diese nicht notwendigerweise in einer strikten Befehl-Gehorsam-Beziehung zur Führung des IS. Während der IS in Libyen und auf dem ägyptischen Sinai wohl über regionale Branchen verfügt, scheint er für dschihadistische Gruppen, wie z.B. Boko Haram in Nigeria, wohl nicht mehr als eine symbolische Referenz zu sein.7 Auch bei den Verbindungen zwischen militanten Islamisten im Westen und dem IS handelte es sich zumindest bis zum Sommer 2015 in der Mehrzahl um diskursive Bezüge und indirekte Formen der Unterstützung. Direkte Bezüge zwischen in Europa und den USA operierenden Dschihadisten und dem organisatorischen Kern des IS waren dagegen selten.8 Inwieweit dieser Befund auch noch nach den Anschlägen von Paris (2015) und Brüssel (2016) gültig ist, werden die laufenden Ermittlungen zeigen.

Das dritte Bild: Die Vorstellung eines global agierenden IS als eine hierarchisch strukturierte Organisation ist eher der Effekt einer homogenisierenden internationalen Berichterstattung. Zusammen mit der medialen Strategie des IS bindet diese politische Dynamiken diskursiv zusammen, obwohl empirische Belege für diese Zusammenhänge häufig fehlen. Der globale Diskurs über den IS spielt somit eine zentrale Rolle in dessen Kon­struktion als ein veritabler transnationaler Akteur.

Als Beleg für die Transnationalität des IS gelten oftmals die nachgewiesenen Wanderungen von IS-Kämpfern unterschiedlicher Nationalität zwischen unterschiedlichen Kriegen. Doch diese Wanderung von Gewaltexpertise ist weder historisch neuartig noch belegt sie irgendeine Form von übergreifender organisatorischer Gliederung. Was die nichtstaatlichen Akteure von heute mit denen früherer Zeiten teilen, ist, dass viele von ihnen ihre militärische Schulung in staatlichen Gewaltapparaten erhielten. Seit 2010 sind die militärischen Kommandostrukturen des IS fast ausschließlich in der Hand von Irakern mit einem professionellen militärischen Hintergrund im vormaligen Baath-System.9 Nach Schätzungen vom Frühjahr 2015 befehligten diese ca. 30.000 Milizionäre, von denen wiederum ungefähr die Hälfte »ausländische Kämpfer« waren, die aus über 80 verschiedenen Ländern rekrutiert wurden.10 Die lange Geschichte der Wanderung von gewalterfahrenen Akteuren stellt zwar gleichsam einen personellen Zusammenhang zwischen verschiedenen lokalen Konfliktarenen her, sie ist aber damit noch keineswegs die Manifestation einer transnationalen Organisationsform.11

Wahrscheinlicher als eine zentral gesteuerte, transnationale Organisation ist das Gegenteil: die Übermacht des Lokalen. Denn überall müssen sich Gewaltakteure langfristig in lokale Gefüge einordnen. Diese lokale Umgebung hat ihre eigenen Strukturelemente, so stark diese sich dann auch unter den Bedingungen des Krieges modifizieren. Und so sehr die Fremden mit ihren Gewalthandlungen die Kriegsdynamik beeinflussen, so sehr sind sie auch denjenigen politischen Konstellationen unterworfen, die überall auf der Welt aus der lokalen politischen Geschichte hervorgegangen sind.

Die Genese des IS

Für alle bewaffneten Gruppen gilt, dass die Strukturen und politischen Praktiken ihres Kontextes sich auch in ihrem Innern wiederfinden. Im Fall des IS sind dies wahrscheinlich Fragmente des Baath-Regimes, Loyalitäten, die auf Freundschaften und Familienbanden beruhen, über die dschihadistische Ideologie vermittelte Vergemeinschaftungen und im Krieg entstandene personale Beziehungen, die teilweise ihren Ausgangspunkt in der Ankunft von Abu Musab az-Zarqawi im Dezember 1989 in Afghanistan haben.12 Im Irak war die Veränderung der innerstaatlichen Machtbalance zum Vorteil der schiitischen Bevölkerung ein wesentlicher Faktor. Diese Veränderung spiegelt sich in der radikalen anti-schiitischen Ideologie des IS und seiner Unterstützung durch Teile der sunnitischen Bevölkerung des Irak wider.

Nicht untypisch spielen in der Formierungsphase dschihadistischer Gruppen die Gefängnisse eine Bündnis stiftende Rolle: In der Zeit des Irakkrieges entstand hier das Band zwischen den meist als »sunnitisch« charakterisierten Fragmenten des Sicherheitsapparates Saddam Husseins und der radikal-islamistischen Gruppe az-Zarqawis.13 Auch einige der mit dem IS konkurrierenden dschihadistischen Widerstandsgruppen in Syrien, wie z.B. Ahrar al-Sham, Liwa al-Islam oder Suqur al-Sham, wurden von ehemaligen Insassen des Sednaya-Gefängnisses bei Damaskus gegründet, in welchem das Assad-Regime die islamistische Opposition weggesperrt hatte.14 Der „Kult des Geheimnisses und der Gewalt“,15 der diese Gruppen offenbar durchzieht, dürfte im Gefängnis geformt und gefestigt worden sein. Für die Politik der Gruppe wird dann aber der komplexe Zusammenhang von Legitimität und Gewalt wirksam: der »Schatten der Gewalt«.

Der Schatten der Gewalt

Neben der Frage, wie eine bewaffnete Gruppe ihren eigenen Mitgliedern gegenüber Gewalt legitimiert, stellt sich für sie das Problem, die Gewalt auch gegenüber denen zu rechtfertigen, über die sie Herrschaft erlangen will. Das Verhältnis von Gewalt und Legitimität ist aber paradox: Legitimierende Effekte der Gewalt stehen delegitimierenden gegenüber. Legitimierend wirkt die Herstellung von Ordnung, delegitimierend wirkt die Verletzung lokaler Moralität, an der jeder Herrschaftsanspruch zunächst eine Grenze findet. Viele bewaffnete Gruppen sind an dieser Herausforderung gescheitert; andere, darunter die Hizbullah im Libanon oder die Jamaat al-Islamiyya in Ägypten, mussten die Erfahrung machen, dass ihre drakonischen Strafregime ihre Legitimität bedrohten, und milderten sie daher ab.16 Das enorm rigide normative Regime des IS über die Lokalbevölkerung, das vor allem von fremden Kriegern mit brutaler Härte implementiert wird, kann dieser Problematik auf Dauer nicht entgehen.17

Die Heterogenität von unterschiedlichen Herkünften, lokalen Loyalitäten und politischen Orientierungen, die im Innern des IS wie in jeder anderen bewaffneten Gruppe zu vermuten ist, schafft ein weiteres Problem für die Kohäsion des Verbandes. Hier spielt insbesondere der Einsatz ausländischer Kämpfer eine Rolle. Während diese im militärischen Kalkül und der expansiven Strategie des IS eine entscheidende Funktion haben, ist ihr Verhältnis zur Lokalbevölkerung prekär. Insbesondere die Beschlagnahmung von Wohneigentum und anderen Gütern durch Milizionäre des IS kann sich für dessen Herrschaftsanspruch langfristig als destabilisierend auswirken. In jeder bewaffneten Gruppe sind unterschiedliche Legitimitätsquellen wirksam, die auch in Widerspruch zueinander geraten können. Vor allem wenn familiale und kommunitäre Loyalitäten dem Gewalthandeln entgegenstehen, werden Anpassungen des Gewalthandelns an traditionale Geltungen nötig, wenn stabile Herrschaftsbeziehungen entstehen sollen.18 Die charismatischen Ideen eines reinen religiösen Lebens oder der politischen Revolution können die Geltung dieser Traditionen nicht einfach ignorieren.

Legitimierende Wirkung hat auch die von der Gegenseite erfahrene Gewalt. Die Bombardierungen und Drohnenangriffe sorgen für Unterstützung, weil diese Gewaltpraxis trotz allen militärtechnischen Fortschritts zivile Opfer fordert. Der Schutz vor Gefahr, das Ressentiment und die Stereotypisierung eines »gemeinsamen Gegners« sind Hauptmotive, die bewaffneten Gruppen neue Mitglieder zuführen und die Tolerierung durch die sie umgebende Bevölkerung ermöglichen. Die Mischung aus Gewaltkult und religiöser Heilslehre, die den Wesenskern der dschihadistischen Variante der panislamischen Ideologie des IS bildet, gewinnt mit jedem militärischen Schlag gegen den IS an Plausibilität, auch außerhalb der Kriegsgebiete in Syrien und Irak.19

Das Problem der Transformation

Nur die Kombination legitimatorischer Ressourcen erlaubt die Stabilisierung der Machtbeziehungen in bewaffneten Gruppen. Im Fall so heterogener Gruppen wie des IS ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass die Legitimationsquellen und die Dynamiken der Gruppe früher oder später zu Gewalt innerhalb des Verbandes führen. Dieser innere Widerspruch wird durch die Trennung von Jabhat al-Nusra vom IS und die Konkurrenz unter einer Vielzahl von islamistischen Gruppierungen im syrischen Bürgerkrieg bestätigt, wo die Zahl relativ unabhängiger bewaffneter Gruppen im Frühjahr 2015 auf bis zu 1.500 geschätzt wurde.20

Während sich die im syrischen Bürgerkrieg aktiven dschihadistischen Milizen ideologisch nahe stehen, unterscheiden sie sich deutlich in ihrer Strategie und ihren Rekrutierungsformen. Dem Anspruch des IS, ein transnationales Kalifat zu repräsentieren, stehen so die Interessen lokaler syrischer Islamisten entgegen, denen es um die Errichtung eines islamischen Regimes innerhalb der Grenzen des syrischen Nationalstaates geht. Kriegscharisma allein reicht ebenso wenig wie »Beute« dafür aus, diese Unterschiede zu überbrücken. Diese Ressourcen erlauben kurzfristige Bindungen, aber sie setzen das Problem der Verstetigung des Charismas nicht außer Kraft.

»Erfolgreiche« bewaffnete Gruppen, also solche, die heute Staaten regieren, wie in Ruanda, Uganda, Eritrea, Zimbabwe, Kosovo, Äthiopien oder Ost-Timor, konnten auf weitere Quellen der Legitimität zurückgreifen und diese miteinander verknüpfen. Traditionale Legitimität, wie die Abstammung der Kader aus den führenden Familien, größere Verwandtschaftszusammenhänge und das kulturelle Kapital eines nicht-militärischen Habitus, der reguläre Politik, die Gabe der Rede und politische Klugheit vereint, zählen dazu. Denn die eigentliche Herausforderung einer bewaffneten Gruppe ist die Transformation der Gewalt als Aktionsmacht in reguläre Politik, in Verwaltung und politische Institutionen, in denen Widersprüche prozessierbar werden. Ob der IS tatsächlich über solche Organisationsressourcen verfügt oder sie im Kontext seiner eigenen ideologischen Prämissen überhaupt entwickeln kann, ist fraglich.

Wohl ist es aber plausibel anzunehmen, dass eine wichtige Legitimationsressource des IS in der Ordnungsfunktion besteht, die die Gruppe in dem von ihr beherrschten Gebiet ausübt: Die Unterdrückung lokaler krimineller Banden, die Wiedererrichtung einer funktionierenden lokalen Verwaltung und regulierte Preise für Grundnahrungsmittel werden lokal wenigstens teilweise dem IS zugeschrieben.21 Ob die Anerkennung des IS über diese pragmatischen Motive hinausgeht, ist gegenwärtig schwer abzuschätzen; seine extreme dschihadistische Ideologie wird von einer überwältigenden Mehrheit der Muslime auch im syrischen Kriegsgebiet wohl nicht geteilt.

Im Unterschied zu den oben genannten »erfolgreichen« Gruppen ist ihm zudem etwas verwehrt, was für diese eine weitere Erfolgsbedingung war: internationale Nichtbeachtung oder Sympathie bei wenigstens einigen Großmächten.

Wie mit dem IS umgehen?

Auf die Frage, wie mit einem stark von Gewalterfahrungen geprägten Raum so umgegangen werden kann, dass nicht die Fortsetzung der Dynamiken von Gewalt und Legitimität, sondern eine Delegitimierung der Gewalt wahrscheinlicher wird, hat weder die Diplomatie noch das militärische Denken eine Antwort gefunden. Dieses Dilemma wird an der Strategie der westlichen Regierungen seit Afghanistan deutlich. Die Delegation der Gewalt an Oppositionsgruppen in den kriegsbetroffenen Staaten ist hierfür kein Patentrezept. Weitere militärische Expertise und neue Ressourcen zu liefern, macht weitere Eskalationen wahrscheinlich; auch mit der Verselbständigung der Auftragnehmer ist zu rechnen – wie in Syrien zu sehen ist.22

Es greift zu kurz, den IS als bloße »Terrororganisation« zu charakterisieren; er darf auch nicht auf seine Gewaltstrategie reduziert werden. Daher müssen militärisch dominierte Gegenstrategien kritisch geprüft werden. Es wird möglich sein, mit Gewaltmitteln die Expansion des IS zu stoppen und ihn zurückzudrängen. Die damit einhergehenden Fragmentierungen können jedoch, auch hierfür steht Syrien, zur weiteren Diffusion der Gewalt beitragen. Und die in Betracht zu ziehende lokale Legitimität des IS ist damit nicht zu erschüttern.

Das Augenmerk wäre daher stattdessen darauf zu richten, wie eine politische Transformation des Krieges erreicht werden kann. Dabei geht es um den Aufbau von Institutionen, in denen die politischen Gegensätze prozessiert werden können. Im Irak etwa gilt es, den militärischen Kampf gegen den IS mit einer Stärkung der bestehenden politischen Institutionen zu verbinden. Zentral ist hierbei die Einbindung der sunnitisch-arabischen Bevölkerung. In Syrien stellt sich hingegen der Aufbau politischer Institutionen anders dar. Weder die Reste des Assad-Regimes noch die proto-staatlichen Institutionen, die sich während des Krieges in den kurdischen und den vom IS kontrollierten Gebieten herausgebildet haben, scheinen als Fundamente für einen staatlichen Wiederaufbau zu taugen. Hier kann die Lösung nur in einer Zusammenarbeit zwischen internationalen Akteuren, Staaten und Nichtregierungsorganisationen mit lokalen Formen der Verwaltung liegen. Diese erfordert aber zunächst eine Beendigung des Kriegszustandes.

Dies zu erreichen, solange die beteiligten Akteure keine ernsthafte Verhandlungslösung wollen, bleibt immens schwierig. Mit Blick auf den IS scheint die Anwendung militärischer Gewalt unabweisbar, womit sich das klassische Dilemma wiederholt, dass mit Gewalt zugleich neue Gewalt erzeugt wird. Zu bedenken ist dabei nicht zuletzt, dass diese Gewalt die symbolische Rolle des IS als ideologischer Repräsentant eines »Islam im Widerstand« noch verstärken kann. Letztlich führt kein Weg daran vorbei, dass die muslimische Welt selbst den Vertretern radikaler dschihadistischer Ideologien jegliche politische Legitimität entzieht. Kluge Politik wäre es daher, diesen schwierigen Prozess vorsichtig zu befördern.

Anmerkungen

1) Dieser Aufsatz beruht zu Teilen auf Schlichte, K.: Mutmaßungen über den IS. Soziopolis, 19.1.2016; tinyurl.com/zmyfe25.

2) Vgl. Weiss M.; Hassan, H. (2015): ISIS – Inside the Army of Terror. New York: Regan Arts.
Stern, J.; Berger, J.M. (2015): Isis – The State of Terror. New York: Ecco.
Lister, C.R. (2015): The Syrian Jihad – Al-Qaida, the Islamic State and the Evolution of an Insurgency. Oxford: C Hurst & Co Publishers.
Said, B.T. (2015): Islamischer Staat – IS-Miliz, al-Qaida und die deutschenBrigaden. München: C.H. Beck.

3) Vgl. Giustozzi, A. (2007): Koran, Kalashnikov, and Laptop – The Neo-Taliban Insurgency in Afghanistan. New York: C Hurst & Co.

4) Ingram, H.J. (2014): Three Traits of the Islamic State’s Information Warfare. RUSI Journal, 159(6), S. 4-11.

5) Charles R. Lister (2014): Profiling the Islamic State. Brookings Doha Centre Analysis Paper13/2014.
Al-Tamimi, A. (2015): The Evolution in Islamic State Administration – The Documentary Evidence. Perspectives on Terrorism 9(4), S. 117-129.

6) Hegghammer, T. (2010/11): The Rise of Muslim Foreign Fighters – Islam and the Globalization of Jihad. International Security 35(3), S. 53-94.

7) Die bestenfalls untergeordnete Rolle des IS in anderen Kontexten als im Irak und Syrien wird in Fallanalysen deutlich, vgl. z.B. zur Genese der Al-Shabaab-Milizen in Somalia Marchal, R. (2009): A Tentative Assessment of the Somali Harakat Al-Shabaab. Journal of Eastern African Studies 3(3), S. 381-404; oder zu Boko Haram Loimeier, R. (2009): Boko Haram – The development of a militant religious movement in Nigeria. AfrikaSpektrum, 48(2), S. 137-155.

8) Hegghammer, T.; Nesser, P. (2015): Assessing the Islamic State’s Commitment to Attacking the West. Perspectives on Terrorism 9(4), S. 14-30.

9) Lister, C.R. (2014): Assessing Syria’s Jihad. Survival 56(6), S.  87-112.

10) Jung, D. (2016): The Search for Meaning in War – Foreign Fighters in Comparative Perspective. IAI Working Papers 16/2016.

11) Diese Angaben beruhen auf einem Sample von achtzig bewaffneten Gruppen; vgl. Schlichte, K. (2009): In the Shadow of Violence – The politics of armed groups. Frankfurt a.M. und Chicago, Ill.: campus, S. 35f.

12) Weaver, M.A. (2006): The Short, Violent Life of Abu Musab al-Zarqawi – How a video-store clerk and small-time crook reinvented himself as America’s nemesis in Iraq. The Atlantic, July/August.

13) Weiss und Hassan 2015, a.a.O., S. 9.

14) Lister 2014, a.a.O. , S. 87.

15) Autorenkollektiv Noria (2015): Qui est l’Etat Islamique? noira-research.com, 9. Dezember.

16) Vgl. Malthaner, S. (2011): Mobilizing the Faithful – Militant Islamist Groups and their Constituencies. Frankfurt a.M.: campus.

17) Lister 2015, a.a.O., S. 274.

18) Vgl. hierzu Malthaner 2011, a.a.O. sowie Rzehak, L. (2005): Die Taliban im Land der Mittagssonne – Geschichten aus der afghanischen Provinz. Erinnerungen und Notizen von Abdurrahman Pahwal. Wiesbaden: Reichert.

19) Vgl. Weber, M. ([1922] 1985): Wirtschaft und Gesellschaft – Grundriß der verstehenden Soziologie., Tübingen: Mohr , 5. Aufl., S. 671ff.

20) Lister 2015, a.a.O., S. 3.

21) Vgl. Malik, S. (2015): The Isis papers – behind »death cult« image lies a methodical bureaucracy. The Guardian, 7. Dezember.

22) Lawson, F. (2016): Syria’s Civil War and the Reconfiguration of Regional Politics. In: Beck, M.; Jung, D.; Seeberg, P. (eds.): The Levant in Turmoil – Syria, Palestine, and the Transformation of Middle Eastern Politics. London und New York: Palgrave Macmillan, S. 13-38.

Dietrich Jung leitet das »Center for Contemporary Middle East Studies« an der University of Southern Denmark.
Klaus Schlichte lehrt am Institut für Interkulturelle und Internationale Studien an der Universität Bremen.

Der Artikel ist eine gekürzte und leicht bearbeitete Fassung des Beitrags »Im Schatten des Krieges« der beiden Autoren im »Friedensgutachten 2016« (LIT-Verlag). W&F dankt den Autoren und dem Verlag für die Abdruckrechte.

Bundeswehreinsatz gegen den IS

Bundeswehreinsatz gegen den IS

Eine völker- und verfassungsrechtliche Bewertung

von Bernd Hahnfeld

Nach den von der Terrororganisation »Islamischer Staat« (IS) begangenen Angriffen auf Paris vom 13. November 2015 erging auf Antrag der Bundesregierung (Drucksache 18/6866) am 4. Dezember 2015 mit 445 Ja-Stimmen gegen 145 Nein-Stimmen bei sieben Enthaltungen der Beschluss des Bundestages über den Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte zur Verhütung und Unterbindung terroristischer Handlungen durch den IS. Der Bundestagsbeschluss enthält eine Begründung für den deutschen Beitrag, der im Rahmen der internationalen Allianz gegen den IS geleistet wird. Der Einsatz dient der Unterstützung Frankreichs, des Irak und der internationalen Allianz gegen den IS durch Bereitstellung von „Luftbetankung, Aufklärung […], seegehenden Schutz und Stabspersonal; die Personalstärke des Einsatzes darf bis zu 1.200 Soldatinnen und Soldaten betragen. Der Beschluss ist entgegen der Darstellung im Antragstext nicht durch das Völkerrecht und das Grundgesetz gedeckt.

Völkerrechtlich ist Deutschland wie alle anderen Staaten nach Artikel 2 Absatz 3 UN-Charta verpflichtet, internationale Streitigkeiten durch friedliche Mittel so beizulegen, dass der Weltfriede, die internationale Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden. Artikel 2 Absatz 4 UN-Charta verbietet dementsprechend die Androhung oder Anwendung militärischer Gewalt in den internationalen Beziehungen. Verboten ist nach Artikel 2 Absatz 7 UN-Charta auch das Eingreifen in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates. Militärische Gewalt darf nur in zwei Ausnahmefällen eingesetzt werden: entweder mit Autorisierung durch einen entsprechenden Beschluss des UN-Sicherheitsrates nach Artikel 39 und 42 UN-Charta oder als individuelle oder kollektive Selbstverteidigung in den Grenzen von Artikel 51 UN-Charta. Daran ist Deutschland völkerrechtlich gebunden. Das gibt auch die deutsche Verfassung, das Grundgesetz, zwingend vor (Artikel 20 Absatz 3 und Artikel 25 GG).

EU als System gegenseitiger kollektiver Sicherheit?

Die Bundesregierung beruft sich in ihrem Antrag zur verfassungsrechtlichen Rechtfertigung auf Artikel 24 Absatz 2 GG.1 Die Entsendung bewaffneter deutscher Streitkräfte solle im Rahmen und nach den Regeln eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit erfolgen. Darauf kann sich die Bundesregierung aber nur berufen, wenn der Militäreinsatz tatsächlich im Rahmen und nach den Regeln eines solchen Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit im Sinne von Artikel 24 Absatz 2 GG stattfindet. Weder die Europäische Union (EU) noch die ad hoc von mehreren Staaten gebildete internationale Allianz gegen den IS sind aber als Systeme gegenseitiger kollektiver Sicherheit im Sinne von Artikel 24 Absatz 2 GG anzusehen.

Das hat für den Fall der EU das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) im Lissabon-Urteil vom 30. Juni 2009 bereits entschieden (Randnummer-RdNr 390). Nach dieser Rechtsprechung des BVerfG verdeutlicht der Ratifikationsvorbehalt des Lissabon-Vertrages der EU, dass der Schritt der EU zu einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit (noch) nicht gegangen worden ist. Das BVerfG hält den späteren Ausbau der EU zu einem derartigen System zwar nicht für von vornherein unzulässig. Als Hindernis könnte sich allerdings erweisen, dass Entscheidungen nach Artikel 42 Absatz 7 EU-Vertrag2 durch Artikel 24 Absatz 2 EU-Vertrag ausdrücklich der gerichtlichen Kontrolle durch den Europäischen Gerichtshof entzogen sind. Denn anders als ein Verteidigungsbündnis muss ein Bündnis kollektiver Sicherheit für den Fall von Aggressionsakten von Bündnispartnern verbindliche interne Konfliktregelungsmechanismen enthalten.

Soweit im Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestags (WD2-3000-203/15) behauptet wird, Artikel 24 Absatz 2 GG biete auch der „Einbindung von kollektiven Verteidigungsstrukturen“ nach Artikel 42 Absatz 7 EU-Vertrag eine Rechtsgrundlage, wird der Wortlaut und Sinn der Verfassungsnorm in sein Gegenteil verkehrt. Nicht ohne Grund ist in Artikel 24 Absatz 2 GG nur die „Einordnung in ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit“ zur Wahrung des Friedens vorgesehen und nicht auch ein Verteidigungsbündnis. Verteidigungsbündnisse sind gegen einen oder mehrere potenzielle Gegner gerichtet. Sie setzen auf die relative Stärke der Bündnispartner, nicht jedoch auf die gemeinsame (kollektive) Sicherheit der potenziellen Gegner.

Auch bei der internationalen Allianz gegen den IS spricht alles dagegen, dass diese ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit im Sinne von Artikel 24 Absatz 2 GG ist. Dieser «Allianz« mehrerer Staaten geht es nur um die politische und militärische Abwehr der vom IS ausgehenden internationalen Bedrohung. Es fehlen für ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit alle konstitutiven Elemente. Stattdessen handelt es sich bei der internationalen Allianz gegen den IS um ein informelles Beistandsbündnis.3

Die Regierungen Frankreichs und Deutschlands haben es unterlassen, sich für ihren Militäreinsatz gegen den IS durch einen Beschluss des UN-Sicherheitsrats autorisieren zu lassen. Die Bundesregierung beruft sich lediglich darauf, dass der UN-Sicherheitsrat in den Resolutionen 2170 (2014), 2199 (2015) und 2249 (2015) wiederholt festgestellt hat, von der Terrororganisation IS gehe eine Bedrohung für den Weltfrieden und die internationale Sicherheit aus. Zudem forderte der UN-Sicherheitsrat in der Resolution 2249 (2015) die Mitgliedsstaaten, „die dazu in der Lage sind“, auf, unter Einhaltung des Völkerrechts in dem unter der Kontrolle des IS stehenden Gebiet in Syrien und Irak „alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, ihre Anstrengungen zu verstärken und zu koordinieren, um terroristische Handlungen zu verhüten und zu unterbinden“. Diese Formulierung dient der Bundesregierung zur Rechtfertigung des Militäreinsatzes, obwohl der UN-Sicherheitsrat im operativen Teil seiner Resolutionen keine Ermächtigung zu Militäreinsätzen nach Artikel 42 UN-Charta ausgesprochen hat und die Entstehungsgeschichte der Resolution eindeutig beweist, dass der Sicherheitsrat das auch keinesfalls wollte.

Eine Ermächtigung zur Anwendung militärischer Gewalt durch den Sicherheitsrat erfordert die ausdrückliche Bezugnahme auf Artikel 42 UN-Charta. Das ergibt sich aus Artikel 53 Satz 2 UN-Charta. Diese Bestimmung schreibt vor, dass ohne Ermächtigung des Sicherheitsrats Zwangsmaßnahmen nicht ergriffen werden dürfen. Diese Ermächtigung muss eindeutig und zweifelsfrei sein. Es entspricht der ständigen Praxis des Sicherheitsrats, dass in den operativen Teilen der Resolutionen die Rechtsgrundlage ausdrücklich genannt wird. Erhellend sind dabei die bisherigen Resolutionen des Sicherheitsrats zum internationalen Terrorismus, den der Sicherheitsrat regelmäßig als Bedrohung für den Weltfrieden und die internationale Sicherheit bezeichnet hat. Dabei hat der Sicherheitsrat in den letzten Jahrzehnten immer wieder seine Zuständigkeit für das Einschreiten bei Terroranschlägen erklärt und eine Vielzahl nichtmilitärischer Maßnahmen zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus angeordnet. Die folgenden Resolutionen des UN-Sicherheitsrates belegen das:

UN-Sicherheitsrat: Polizeiliche Maßnahmen statt Militäreinsätze

  • 1992 ist der Sicherheitsrat mit der Resolution 748 wegen der Nichtauslieferung der mutmaßlichen Attentäter von Lockerbie gegen Libyen vorgegangen. Er hat sich auf Kapitel VII UN-Charta berufen und die Verhinderung von Handlungen des internationalen Terrorismus als essentiell für die Wahrung des Friedens und der Sicherheit bezeichnet. Zu militärischen Maßnahmen nach Artikel 42 UN-Charta hat er nicht ermächtigt.
  • 1999 hat er mit der Resolution 1267 nach Kapitel VII UN-Charta weit reichende Sanktionen gegen das Taliban-Regime in Afghanistan beschlossen. Als Begründung wurde angeführt, dass die Taliban die Ausbildung von Terroristen und die Vorbereitung terroristischer Anschläge ermöglichten. Die Verhinderung des Terrorismus sei essentiell für die Wahrung des Friedens und der Sicherheit. Angeordnet wurden Flugverbotszonen für die Flugzeuge und das Einfrieren von Bankkonten und Vermögen der Taliban. Ein Sanktionskomitee sollte die Durchführung kontrollieren. Die Sanktionen wurden später um Reiseverbote, Waffenembargos und den Personenkreis erweitert. Die Sanktionsausschüsse des Sicherheitsrats führen seither umstrittene Listen von Verdächtigen, gegen die alle UN-Mitgliedsstaaten einzuschreiten verpflichtet sind.
  • Ebenfalls im Jahre 1999 forderte der Sicherheitsrat mit der Resolution 1269 die Staaten allgemein zur Bekämpfung des Terrorismus und zum Abschluss einer internationalen Anti-Terrorismus-Konvention auf. Dasselbe wiederholte er am 12.9.2001 – einen Tag nach 9/11, dem Anschlag auf die Twin-Towers, das Pentagon und andere Einrichtungen der USA –, wobei er die Terroranschläge als kriminell und als Bedrohung für den Weltfrieden und die internationale Sicherheit bezeichnete.
  • Mit der Resolution 1373 vom 28.9.2001 ging der UN-Sicherheitsrat in seiner Reaktion auf 9/11 noch weiter. Erneut bezeichnete er sich als allgemein zuständig für Akte des internationalen Terrorismus und erklärte, dass er jeden Akt des internationalen Terrorismus als Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit betrachtet. Seine Maßnahmen nach Kapitel VII UN-Charta richten sich an alle Staaten. Nach Art einer Rahmengesetzgebung gebietet er, die Finanzierung terroristischer Handlungen zu verhindern und das Geldsammeln zu bestrafen, Vermögen einzufrieren, Geldtransfer zu verbieten, vor Anschlägen zu warnen, Zufluchtsorte zu verweigern, die Nutzung der Hoheitsgebiete zu verhindern, Unterstützer vor Gericht zu stellen, die Bewegung von Terroristen durch Grenzkontrollen zu verhindern, relevante Informationen auszutauschen, den Missbrauch der Asylgewährung und des Flüchtlingsstatus zu verhindern und binnen 90 Tagen über die eingeleiteten Schritte Bericht zu erstatten. Die Maßnahmen sind zeitlich, räumlich und sachlich nicht begrenzt. Zur Überwachung wurde ein »Counter Terrorism Commmittee« geschaffen.
  • Noch einen Schritt weiter ging der Sicherheitsrat nach den Bombenattentaten von Madrid 2004. Obwohl er ebenso wie die spanische Regierung die Verantwortlichkeit der baskischen Untergrundorganisation ETA unterstellte – und damit keinen internationalen Terrorismus –, sah er sich als zuständig an und ging nach Kapitel VII UN-Charta vor, indem er in Resolution 1530 die terroristischen Anschläge als Bedrohung für den Frieden und die Sicherheit bezeichnete. Er postulierte die Verpflichtung aller Staaten, im Rahmen ihrer Verpflichtungen aus der Resolution 1373 die Drahtzieher der Anschläge zu überführen und vor Gericht zu stellen.

In allen diesen Fällen hat der Sicherheitsrat deutlich hervorgehoben, dass die angeordneten Maßnahmen zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus (nichtmilitärische) Sanktionen nach Artikel 41 UN-Charta sind. Militärische Sanktionen nach Artikel 42 UN-Charta hat er vermieden, offensichtlich, weil die Terrorakte keinem Staat zuzurechnen waren. Dasselbe gilt für die von der Bundesregierung zitierten Resolutionen des Sicherheitsrats von 2014 und 2015, die sich mit dem IS befassen.

Die Beteiligung Deutschlands an dem in Syrien und im Irak durchgeführten Militäreinsatz nach Artikel 24 Absatz 2 Grundgesetz hätte eine Ermächtigung des UN-Sicherheitsrats nach Artikel 42 UN-Charta oder (nach der Rechtsprechung des BVerfG) zumindest die Erklärung des Beistandsfalles der NATO erfordert, die beide nicht vorliegen. Dem Einsatz fehlt damit die Rechtsgrundlage.

Militäreinsatz als kollektive Selbstverteidigung?

Die Bundesregierung beruft sich bei dem Bundeswehreinsatz nicht nur auf Artikel 24 Absatz 2 GG, sondern auch auf das Recht auf kollektive Selbstverteidigung zugunsten von Frankreich und Irak gemäß Artikel 51 UN-Charta. Damit stützt sie den Einsatz auch auf Artikel 87a Absatz 2 GG4 und vermengt unzulässig die beiden eigenständigen Rechtsgrundlagen.

Das BVerfG legt in ständiger Rechtsprechung Artikel 87a Absatz 2 GG dahingehend aus, dass Auslandseinsätze der Bundeswehr außer „zur Verteidigung“ nur im Rahmen und nach den Regeln eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit erlaubt sind. Das hat das BVerfG zuletzt im Urteil vom 30. Juni 2009 zum Vertrag von Lissabon entschieden (RdNr. 254).

Der Verteidigungsfall ist in Artikel 115a GG geregelt. Er setzt voraus, dass das Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen wird oder ein solcher Angriff unmittelbar droht. Die Feststellung des Verteidigungsfalles erfolgt in einem förmlichen Verfahren durch den Bundestag und den Bundesrat. Diese Voraussetzungen liegen im Fall des Einsatzes gegen den IS nicht vor.

Folgt man jedoch der gut begründeten Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG), so umfasst der Begriff Verteidigung in Artikel 87a Absatz 2 GG im Wortsinn mehr als die »Verteidigung« der eigenen Staatsgrenzen. Das ist laut BVerwG aus dem begrifflichen Gegensatz im Grundgesetz zwischen »Landesverteidigung« in Artikel 115 Absatz 1 und »Verteidigung« in Artikel 87a Absatz 2 sowie aus dem Entstehungszusammenhang der Regelung zu schließen. Die im Jahre 1968 in das Grundgesetz eingefügte Regelung sollte einen militärischen Einsatz der Bundeswehr im Rahmen des Verteidigungsbündnisses der NATO nicht ausschließen. Das BVerwG ging in dem Urteil vom 21.6.2005 (RdNr. 93) allerdings davon aus, dass »Verteidigung« äußerstenfalls das umfasst, was nach dem geltenden Völkerrecht nach Artikel 51 UN-Charta das Selbstverteidigungsrecht zulässt: „Artikel 51 UN-Charta gewährleistet und begrenzt in diesem Artikel für jeden Staat das – auch völkergewohnheitsrechtlich allgemein anerkannte – Recht zur »individuellen« und zur »kollektiven Selbstverteidigung« gegen einen »bewaffneten Angriff«, wobei das Recht zur »kollektiven Selbstverteidigung« den Einsatz von militärischer Gewalt – über den Verteidigungsbegriff des Artikel 115a GG hinausgehend – auch im Wege einer erbetenen Nothilfe zugunsten eines von einem Dritten angegriffenen Staates zulässt (z.B. »Bündnisfall«).“ Dass Artikel 87a Absatz 2 GG damit auch weltweit jeden militärischen Einsatz der Bundeswehr zugunsten jedes beliebigen Staates zulässt, ist im Rahmen des NATO-Vertrages nicht auszuschließen. Jedoch hat das BVerwG damit nicht die ständige Rechtsprechung des BVerfG in Frage gestellt, dass Verteidigung auf den Rahmen des NATO-Verteidigungsbündnisses beschränkt ist. Ein »NATO-Bündnisfall« liegt jedoch nicht vor, so dass der Bundeswehreinsatz gegen den »Islamischen Staat« in Syrien und Irak unter keinerlei Gesichtspunkten zu rechtfertigen ist. Er ist verfassungswidrig.

Die Bundesregierung rechtfertigt den Bundeswehreinsatz rechtsfehlerhaft als kollektive Verteidigung nach Artikel 87a Absatz 2 GG in Verbindung mit Artikel 51 UN-Charta. Dabei sind folgende Überlegungen zu berücksichtigen:

1. Nach Artikel 87a Absatz 2 GG in Verbindung mit Artikel 51 UN-Charta ist jeder Staat zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung gegen den bewaffneten Angriff eines anderen Staates berechtigt. Angreifer ist beim aktuellen Bundeswehreinsatz aber der IS, also eine nichtstaatliche Terroristengruppe, denn der IS ist kein Staat im völkerrechtlichen Sinn. Er verfügt nicht über ein gesichertes Staatsgebiet und über ein dauerhaft zuzuordnendes Staatsvolk. Der IS ist nicht fähig, mit anderen Staaten in Beziehung zu treten und ist durch die Staatengemeinschaft auch nicht anerkannt.

Bei der Gründung der Vereinten Nationen im Jahre 1945 war ein nichtstaatlicher Angreifer kaum vorstellbar. Aufgrund der Resolutionen 1368 und 1373 des UN-Sicherheitsrats, die dieser anlässlich der nichtstaatlichen Terrorangriffe gegen die USA vom 11.9.2001 erlassen hatte und in denen er das Selbstverteidigungsrecht nach Artikel 51 UN-Charta anerkannt hat, sowie aufgrund der Erklärung der kollektiven Selbstverteidigung der NATO (Beistandsfall) und der Anerkennung des Selbstverteidigungsrechtes durch die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und die Organisation Afrikanischer Staaten kann es als gesichertes Völkerrecht angesehen werden, dass das Selbstverteidigungsrecht auch auf bewaffnete Angriffe durch nichtstaatliche Akteure Anwendung findet. Das hat der Internationale Gerichtshof 2014 im Fall zur Mauer in den von Israel besetzten Gebieten jedenfalls für den Fall anerkannt, dass der Angriff grenzüberschreitender Natur ist.

2. Bei den Attentaten in Paris handelt es sich um einen Angriff des in Gebieten Iraks und Syriens operierenden IS gegen Frankreich. Zwar stammen die Attentäter aus Frankreich und Belgien, der IS hat aber in einer schriftlichen Erklärung die Verantwortung für die Anschläge übernommen und erklärt, er habe die Anschlagsorte ausgewählt. Gleichzeitig hat der IS Frankreich mit weiteren Anschlägen gedroht.

Die Angriffe des IS gegen Irak und Syrien erfolgen unmittelbar auf deren Staatsgebieten. Alle diese Angriffe sind in Umfang und Ausmaß zwischenstaatlichen Militäroperationen vergleichbar. Während das bei den mit militärischen Mitteln geführten Angriffen gegen Syrien und Irak auf der Hand liegt, ergibt sich das für den Angriff des IS gegen Frankreich aus der geplanten und koordinierten Vorgehensweise, die zwar nicht in den Folgen, jedoch in der Tendenz mit den Angriffen des 11.September 2001 gegen die USA vergleichbar ist. In beiden Fällen ging es dem Angreifer darum, mit Waffengewalt den größtmöglichen Schaden anzurichten, um den angegriffenen Staat zu destabilisieren.

3. Die internationale Allianz gegen den IS will ihre Verteidigungsmaßnahmen vor allem auf syrischem und irakischem Staatsgebiet durchführen. Bei einem Angriff eines nichtstaatlichen Aggressors ist die Selbstverteidigung mit militärischen Mitteln auf dem Staatsgebiet eines anderen Staates nach der Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs nur dann gerechtfertigt, wenn dieser Staat sich das Handeln des nichtstaatlichen Angreifers zurechnen lassen muss. Diese Einschränkung hat im Falle des militärischen Vorgehens von Frankreich im Irak keine Bedeutung, weil die Regierung des Irak die internationale Allianz gegen den IS ausdrücklich um militärische Hilfe bei der eigenen Selbstverteidigung gegen die Angriffe des IS gebeten hat und die Allianz dem Ersuchen nachgekommen ist. Diese Abwehr des IS im Rahmen der kollektiven Selbstverteidigung ist jedoch auf das Staatsgebiet des Irak beschränkt. Zur Begründung wird auf die nachfolgenden Ausführungen verwiesen.

4. Anders ist die Lage in Syrien, wo die syrische Regierung lediglich das verbündete Russland um Beistand gegen den IS gebeten hat. Die Selbstverteidigung Frankreichs auf ihrem Staatsgebiet muss die Regierung Syriens nur hinnehmen, wenn ihr die Angriffsaktivitäten des IS zugerechnet werden müssen. Dafür gibt es keine Anhaltspunkte. Vielmehr befindet sich auch die syrische Regierung im Abwehrkampf gegen den IS, der Teile des syrischen Staatsgebiets völkerrechtswidrig okkupiert hat.

Die internationale Allianz gegen den IS hat kein Recht zur Ausübung der kollektiven Selbstverteidigung auf dem Staatsgebiet Syriens. Die Tatsache, dass der UN-Sicherheitsrat im nicht-operativen Teil seiner anlässlich 9/11 beschlossenen Resolutionen 1368 und 1373 das Selbstverteidigungsrecht erwähnt hat, bedeutet nicht, dass er dessen Anwendung auch in Fällen anerkannt hätte, in denen der Staat noch nicht einmal mit den Terroristen kollaboriert oder ihnen willentlich ein sicheres Rückzugsgebiet (strittige »Safe-haven-Doktrin«) gewährt. Der Sicherheitsrat hat nur allgemein auf Artikel 51 UN-Charta hingewiesen. Er stellt keine Kriterien für ein etwaiges Selbstverteidigungsrecht in diesen Fällen auf und ermächtigt nicht zu dessen Ausübung. Für die Auslegung der beiden Resolutionen ist auch von Bedeutung, dass der Sicherheitsrat im operativen Teil wie oben beschrieben lediglich politische, finanzielle und polizeiliche Abwehrmaßnahmen nach Artikel 41 UN-Charta fordert.

Der gleichfalls umstrittene Ansatz, dass ein Staat militärische Maßnahmen gegen terroristische Gruppen, die von seinem Territorium aus agieren, dulden muss, wenn er »weder bereit noch fähig« ist, diese zu bekämpfen und grenzüberschreitende Angriffe zu verhindern, könnte allenfalls durch Völkergewohnheitsrecht gerechtfertigt sein. Der Umstand, dass außer Frankreich auch die USA, Großbritannien und die Türkei ungeachtet der fehlenden Zustimmung Syriens sich bei ihrem Vorgehen auf syrischem Boden auf diese Argumentation berufen, schafft noch kein Völkergewohnheitsrecht. Es fehlt an der allgemeinen Staatenpraxis und an einer übereinstimmenden Rechtsüberzeugung der Staaten. Das Gewaltverbot nach Artikel 2 Absatz 2 UN-Charta verbietet militärische Maßnahmen auf syrischem Staatsgebiet, außer die syrische Regierung stimmt diesen ausdrücklich zu.

Vereinzelte Überlegungen, die Zurechnung zu einem Staat zu lockern und Terrorakte nicht-staatlicher Organisationen oder Einzelner auch dann als bewaffnete Angriffe des Staates anzusehen, wenn diese keine Schutzverbindung oder Duldung durch den Staat aufweisen, auf dessen Staatsgebiet sie handeln, widersprechen dem geltenden Völkerrecht. Zwar trifft es zu, dass inzwischen das Ausmaß der Gewalt und Zerstörungskraft internationaler Terrorgruppen den zwischenstaatlichen Auseinandersetzungen durchaus vergleichbar ist. Richtig ist auch, dass diese Entwicklung bei der Gründung der Vereinten Nationen 1945 unvorhersehbar war. Dennoch hat sich bislang kein die UN-Charta erweiterndes Völkergewohnheitsrecht herausgebildet. Vor allem hat der UN-Sicherheitsrat zwar immer wieder Terrororganisationen als „ernsteste Bedrohung für den internationalen Frieden und die Sicherheit“ bezeichnet, aber in den operativen Teilen aller Resolutionen bewusst vermieden, militärische Maßnahmen nach Artikel 42 UN-Charta anzuordnen. Stattdessen hat der Sicherheitsrat sich darauf beschränkt, ökonomische, politische und polizeiliche Maßnahmen anzuordnen oder zu fordern.

Auch die gelegentlich gehörte Argumentation, die Bombardierung des IS liege im Interesse Syriens, weshalb von einer stillschweigenden Zustimmung Syriens auszugehen sei, trägt nicht. Die USA haben öffentlich und wiederholt verkündet, das Regime Assad beseitigen zu wollen, so dass sich die Allianz nicht auf eine stillschweigende Zustimmung der syrischen Regierung berufen kann.

Gleichermaßen ist der militärische Angriff Frankreichs gegen den IS auf syrischem Staatsgebiet wegen des fehlenden Einverständnisses der syrischen Regierung völkerrechtswidrig. Frankreich bleibt nach Lage des Rechts, will es dieses nicht brechen, nur die Alternative übrig, die Anschläge von Paris mit den Mitteln der Polizei und der nationalen Strafverfolgung zu bekämpfen. Damit entfällt auch das Recht zur kollektiven Selbstverteidigung (Nothilfe) zugunsten Frankreichs, soweit diese auf syrischem Staatsgebiet stattfindet. Dasselbe gilt, soweit Staaten Nothilfe zugunsten Syriens durch Unterstützung der internationalen Allianz gegen den IS leisten wollen.

Letztlich missachtet die Bundesregierung, dass das Selbstverteidigungsrecht nach Artikel 51 UN-Charta nur so lange gilt, als der abzuwehrende Angriff gegenwärtig ist. Ist dieser abgeschlossen, sind militärische Abwehrmaßnahmen unzulässig. Die – die Verteidigung auslösenden – Attentate von Paris sind abgeschlossen. Die meisten Attentäter sind tot. Konkrete Drohungen der auf der Flucht befindlichen Personen sind nicht bekannt geworden. Zwar hat der IS in seinem Bekennerschreiben weitere Anschläge angedroht. Diese gegen Frankreich gerichtete Drohung ist jedoch vage und allgemein. Sie rechtfertigt nur polizeiliche Vorsorge, aber keine militärischen Verteidigungsmaßnahmen.

In Betracht kommt lediglich eine kollektive Selbstverteidigung zugunsten der durch den IS im Irak in Bedrängnis geratenen irakischen Regierung, die um entsprechende Unterstützung gebeten hat. Die kollektive Verteidigung in Form der Nothilfe hat sich jedoch aus den genannten Gründen auf das Staatsgebiet des Irak zu beschränken. Und Deutschland ist auch dazu außerhalb des NATO-Bündnisfalles nicht berechtigt, weil die Voraussetzungen von Artikel 87a Absatz 2 GG nicht vorliegen.

Zusammenfassend ist festzuhalten: Der Bundeswehreinsatz gegen den IS in Syrien und Irak ist verfassungs- und völkerrechtswidrig.

Anmerkungen

1) Artikel 24 Absatz 3 GG lautet: „Der Bund kann sich zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen; er wird hierbei in die Beschränkungen seiner Hoheitsrechte einwilligen, die eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt herbeiführen und sichern.“

2) Artikel 42 Absatz 7 des Lissabon-Vertrages lautet: „(7) Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats schulden die anderen Mitgliedstaaten ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung im Einklang mit Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen. […]“

3) Die Allianz wurde am 5.9.2014 beim NATO-Gipfel in Wales von den Vereinigten Staaten ausgerufen. Ihr traten seither mehrere Dutzend Staaten bei.

4) Artikel 87a Absatz 2 GG lautet: „Außer zur Verteidigung dürfen die Streitkräfte nur eingesetzt werden, soweit dieses Grundgesetz es ausdrücklich zuläßt.“

Bernd Hahnfeld, Richter i.R., ist Mitglied der Deutschen Sektion der International Association of Lawyers Against Nuclear Arms (IALANA) und war viele Jahre im Vorstand von W&F.

In Charlies Namen?

In Charlies Namen?

von Jürgen Nieth

„Es ist ein fast zu schönes Bild für die Geschichtsbücher. 44 Staats- und Regierungschefs marschierten am Sonntag untergehakt durch Paris und demonstrierten gegen den Terror […] »Je suis Charlie«: Diese drei Wörter sollen künftig für die Werte Mut, Freiheit und Toleranz stehen. Doch hält diese Einheit über den Tag hinaus?“, fragt Thomas Siegmund im Handelsblatt (13.01.15).

Alle wollen Charlie sein

Weit über eine Million Menschen waren nach dem mörderischen Anschlag auf die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo am 11. Januar in Paris auf der Straße, von über drei Millionen in ganz Frankreich wird gesprochen. „Christen, Muslime, Juden und Atheisten, Radikalliberale und extrem Konservative. Und sicher auch Rechtsextreme, auch wenn die keiner eingeladen hat. Also alle. So viele jedenfalls, dass man schon wieder skeptisch werden muss. Die wollen tatsächlich alle Charlie sein?“, fragt Gereon Asmuth in der taz (12.01.15). In derselben Zeitung formulierte bereits am 10.01. Cas Mudde sein Erstaunen darüber „wie viele islamophobe und rechtsextreme Leute jetzt ihre Liebe zu einem Magazin erklären, das sie vor kurzem noch für ein kommunistisches Drecksblatt hielten“. (Zwei der ermordeten Karikaturisten zeichneten auch für die Humanité, die Zeitung der Kommunistischen Partei Frankreich; J.N.)

Skepsis auch bei Tobias Riegel: „Die versammelte Spiegel-Gruppe ist angeblich »Charlie«, Google trägt Trauerflor, die »FAZ« schwafelt vom »Heldentod«, die Pariser Menge applaudiert den Scharfschützen, der Anti-Terrorspezialist Petro Poroschenko wird ebenso untergehakt wie der Pressefreiheitskämpfer Viktor Orban […] Der Marsch von Paris war ein großartiges Symbol – doch wofür eigentlich? Dafür, dass wir den Muslimen nun erst recht auf die Mütze geben sollen? Für die Pressefreiheit? Angeführt von »Bild« und anderen Verrätern der Pressefreiheit […]?“ (ND 17.01.15)

Sicherheit vor Freiheit?

Riegel befürchtet: „»Europa rückt zusammen« – und definiert seine Werte neu: in Form von strengeren »Terror«-Gesetzen.“

Thomas Siegmund (Handelsblatt, s.o.) scheint Letzteres ähnlich zu sehen: „Mit einer beispiellosen Aufrüstung im Inneren will Frankreich weitere Anschläge verhindern. 10.000 Soldaten wurden bereits abkommandiert um landesweit Verkehrsknotenpunkte, touristische Attraktionen und zentrale Gebäude zu sichern. Eine drakonische Verschärfung der Sicherheitsgesetze ist in vollem Gange. Das alles erinnert an die Zeit kurz nach dem Anschlag des 11. September 2001.“

Gilt das auch für Deutschland? Dazu Christian Wernicke: „Schon raunt es aus den Geheimdiensten, man brauche das Drei- bis Vierfache an Personal, um all die potenziellen Gotteskrieger und »inneren Feinde« im Land rund um die Uhr zu erfassen, abzuhören und zu beschatten.“ (SZ, 12.01.15) Eine Position, die Alan Posener offensiv vertritt: „Polizei und Verfassungsschutz, BKA und BND [brauchen] mehr Mittel und Personal.“ Für Posener sind die Morde von Paris ein Beweis dafür, „wie weltfremd die Proteste gegen die Überwachungspraxis der amerikanischen und britischen Geheimdienste – und deren Zusammenarbeit mit dem BND – teilweise waren“. Einen Generalverdacht gegen Muslime könne man aber nicht gebrauchen. „Auch bei der Einschränkung der Meinungsfreiheit sollte man vorsichtig sein: Niemand kann gezwungen werden, den westlichen Lebensstil zu lieben.“ (Die Welt, 10.01.15)

Die Gegenposition bei Heribert Prantl: Für die CSU ist der Anschlag „Anlass, die Vorratsdatenspeicherung, die das Bundesverfassungsgericht vor vier Jahren verwarf, als ‚dringender denn je’ zu bezeichnen […] In Frankreich gibt es die Vorratsdatenspeicherung, verhindert hat sie gar nichts. Neue Befugnisse für die Sicherheitsbehörden und eine Verschärfung des Strafgesetzbuchs fordert die CSU auch. Mit solch ewigem Mehr und Nochmehr landet man letztlich bei Forderungen nach extralegalen Maßnahmen und der Todesstrafe, wie sie in Frankreich schon laut werden.“ (SZ, 10.01.15)

Auch Arno Widmann warnt: „Wir brauchen keine schärferen Gesetze, wir müssen nur darauf achten, dass die bestehenden eingehalten werden. Gegen Verstöße müssen wir vorgehen. Streng nach dem Gleichheitsgrundsatz. Die Gesetze gelten nicht nur für die Bürger, sie gelten auch für die Staatsorgane. Den paranoiden Neigungen der Regierenden dürfen wir nicht nachgeben. Verhängnisvoll wäre, wenn die beiden Paranoiker – Attentäter und Staat – einander hochschaukeln.“ (BZ 10.01.15)

Brauchen wir Satire?

Dazu Hartwig Isernhagen in der NZZ (10.01.15): „Satire ist […] eine eminent zivilisierende Gattung der Literatur […] Die Versuchung ist groß, […] alle nur möglichen Gründe zu ihrer Einschränkung gelten zu lassen. Die pauschal-relativistische Rede, man müsse überall und jedem mit Respekt begegnen, geht in diese Richtung und würde, befolgte man sie, sicherlich zu einer Art medialer Friedhofsruhe führen. Aber solcher Frieden wäre ein Scheinfrieden. Die Konflikte, die die Satire artikuliert, gehen nicht weg, nur weil man nicht mehr drüber spricht.“

Lassen wir deshalb zum Schluss einen Satiriker zu Wort kommen. Der ehemalige Chefredakteur der Titanic, Oliver Schmitt, im Feuilleton der FAZ (19.01.15): „Da demonstrieren in Paris die Führer der Welt, säuberlich vom Volk separiert, in einer abgeschotteten Seitenstraße für Friede, Freude, Eierkuchen und die Freiheit der Presse, während einige dieser Spaßvögel in ihren Heimatländern Journalisten auspeitschen, foltern und wegsperren lassen. Da steht Angela Merkel vor dem Brandenburger Tor und demonstriert für die Pressefreiheit, während ihr schon der leibhaftige Schalk Seehofer im Nacken sitzt und höhere Strafen für Blasphemie fordert. Wenn das keine Schenkelklopfer sind! Und dass der Pegida-Erfinder Lutz Bachmann, der sich sofort mit »Charlie Hebdo« solidarisierte und in Strafsachen bestens bewandert ist (Körperverletzung, Einbruch, Diebstahl), dass dieser Demokrat mitteilte, er wolle die »Titanic« wegen eines ihm in den Mund gelegten Kommentars verklagen (‚Mit Satire hat das nix mehr zu tun’) – das alles ist doch absolut wunderbar! So etwas könnte sich ein Satiriker niemals ausdenken.“

Zitierte Zeitungen: Berliner Zeitung/BZ, Die Welt, Handelsblatt, Frankfurter Allgemeine/FAZ, Neue Zürcher Zeitung/NZZ, Neues Deutschland/ND, Süddeutsche Zeitung/SZ, tageszeitung/taz.

Jürgen Nieth

Letztes Gefecht im Namen des »Antiterrors«

Letztes Gefecht im Namen des »Antiterrors«

Eskalation in Sri Lanka

von Rainer Werning

In der Endphase der militärischen Auseinandersetzungen zwischen Regierungstruppen und den Befreiungstigern geriet vor allem die Zivilbevölkerung in die Schusslinie. Seit Mitte Mai ist der Inselstaat weiter denn je von Frieden entfernt.

Läge die frühere britische Kolonie Ceylon, die sich nach der Unabhängigkeit (1948) im Jahre 1972 in Sri Lanka umbenannte, in der Balearen-Inselgruppe, hätten die dortigen innenpolitischen Entwicklungen seit Jahresbeginn einen beispiellosen Aufschrei und heftige Proteststürme ausgelöst. Stattdessen herrschte in der internationalen Staatengemeinschaft und in den Mainstream-Medien beklemmende Ruhe, als die Regierung der »Perle im (Indischen) Ozean«, wie Sri Lanka gern bezeichnet wird, zum letzten Gefecht gegen die verhasste »Terrororganisation« der Befreiungstiger von Tamil Eelam (LTTE) aufrief. Als lästig empfand man in westlichen Hauptstädten allenfalls Sitzblockaden verzweifelter Exiltamilen auf Zuggleisen, Autobahnen und vor Bahnhöfen, die damit wenigstens ein Zeichen setzten, um die Aufmerksamkeit auf die katastrophale Lage in ihrem Heimatland zu lenken. Seit Anfang dieses Jahres wendete sich das Blatt rasant zuungunsten der LTTE, bis schließlich die Streitkräfte und die Regierung Sri Lankas am 19. Mai den vollständigen Sieg erklärten. Es begann die Hochzeit des Mitte November 2005 mit einer scharfen Kampfansage gegen die LTTE zum Staatspräsidenten gewählten Mahinda Rajapakse.

Triumphalismus in Colombo

Überschwänglich war die Freude in Sri Lankas Hauptstadt Colombo, wo Feuerwerkskörper gezündet wurden und Rajapakse über Nacht zu einer nationalen Lichtgestalt avancierte. Videos, die den Leichnam des LTTE-Chefs Velupillai Prabhakaran in Endlosschleifen zeigten, untermalte der Präsident in seiner landesweit ausgestrahlten Ansprache mit den Worten an die tamilische Minderheit, jetzt sei die Zeit gekommen, die „Herzen der Tamilen zu gewinnen“. Sie, versicherte Rajapakse, sollten endlich „ohne Angst und Misstrauen leben können“. Zwei Wochen später dann – das Land befand sich noch immer im Siegesrausch und staatlich verordneter Euphorie – zelebrierte die Staats- und Armeeführung den 3. Juni als Nationalfeiertag.

Unerwarteten Rückenwind hatte Sri Lankas Präsident wenige Tage zuvor ausgerechnet von jener Organisation erhalten, von der man sich eigentliche kritische Töne erhofft hatte. Auf seiner 11. Sondersitzung lobte der UN-Menschenrechtsrat in Genf die Regierung Sri Lankas ausdrücklich für ihren Sieg gegen die LTTE. In dieser am 27. Mai mit 29 Ja- gegen 12 Nein-Stimmen und bei sechs Enthaltungen angenommenen Resolution unterstützte das Gremium die Haltung Colombos, Hilfsorganisationen erst dann Zugang zu Flüchtlingslagern zu gewähren, wenn sie dies für angebracht hält. Obwohl selbst nicht Mitglied, hatte Sri Lanka mit Rückendeckung von Ländern wie China, Indien, Pakistan und Kuba einen Resolutionsentwurf vorgelegt, in dem es einseitig um tatsächliche oder mutmaßliche Kriegsverbrechen der LTTE ging. Die Forderung nach einer unabhängigen Untersuchung wies Colombo umgehend und schroff zurück. Stattdessen wurden in der Resolution die internationale Staatengemeinschaft und relevante Unterorganisationen der Vereinten Nationen aufgefordert, der srilankischen Regierung dabei behilflich zu sein, die in den vormaligen Kampfgebieten notleidende Bevölkerung mit Trinkwasser, Nahrungsmitteln, sanitären Einrichtungen und medizinischer Betreuung zu versorgen.

Welch’ ein Triumph?

Bereits Anfang des Jahres hatten das Internationale Komitee des Roten Kreuzes (IKRK) und andere internationale Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen beklagt, dass die Evakuierung von Verwundeten auf dem Seeweg sehr schwierig sei und auch die Konvois auf dem Landweg die Frontlinien nicht überqueren durften. Als sei das für die betroffene Zivilbevölkerung im Osten und Norden des Landes nicht schon schlimm genug gewesen, hatten auch noch die nationale und internationale Presse von Colombo einen Maulkorb verpasst bekommen. Journalisten blieb der Zugang in die Kampfgebiete verwehrt, und dort anwesende ausländische Journalisten wurden unverzüglich des Landes verwiesen; eine Gewähr dafür, dass nunmehr die srilankischen Streitkräfte unter dem großen Mantel des Schweigens und Vertuschens nach Gutdünken schalten und walten konnten, was bedingt auch für die andere Seite galt. Laut der UN-Menschenrechtskommissarin Navi Pillay hatten in der letzten Kriegsphase Mitglieder der LTTE Kindersoldaten zwangsrekrutiert und Zivilisten als menschliche Schutzschilde missbraucht. Die Armee habe ihren Granatenbeschuss auf Gebiete fortgesetzt, in denen sich Zivilisten aufhielten.

Die absehbare Katastrophe nahm in den letzten Kriegstagen ungeheure Ausmaße an. Das Rote Kreuz bezifferte die Zahl der zwischen die Fronten geratenen Flüchtlinge auf annähernd 300.000 Menschen. Am 27. Mai, als zeitgleich in Genf der UN-Menschenrechtsrat die Regierung in Colombo exkulpierte, forderte das IKRK erneut Zugang zu allen Flüchtlingen. Zwei Tage später berichtete die in London erscheinende »Times«, dass infolge der Regierungsoffensive von Jahresbeginn bis Ende April 7.000 Zivilpersonen und ab dann bis zum 19. Mai täglich etwa 1.000 Menschen täglich in der Kriegszone im Nordosten ums Leben gekommen seien – die meisten durch schweren Artilleriebeschuss der Regierungstruppen.1 Die Flüchtlinge waren in notdürftigen, von Militärs strikt bewachten Internierungslagern untergebracht, welche die Regierung in Orwellscher Sprachregelung als »welfare centres« (Wohlfahrtszentren) bezeichnet. In ihnen, so gab die Armeeführung bekannt, werde man alle Personen überprüfen, um zu verhindern, dass sich unter ihnen LTTE-Mitglieder versteckten.

Als einziger Beobachter bisher durfte UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon kurz eines der Dutzenden Lager besuchen. „Das, was ich gesehen habe, hat mich unglaublich traurig und demütig gemacht“, sagte Ban hinterher, „ich habe die ganze Welt bereist und ähnliche Regionen besucht. Aber ich habe nirgendwo schlimmere Szenen gesehen.“ Für die Betroffenen blieb seine Äußerung folgenlos. Tamilische Exilgruppen beschuldigen derweil die Vereinten Nationen, so die Korrespondentin des ARD-Hörfunkstudios Südasien, Sandra Petersmann, „Statistiken mit Opferzahlen zurückzuhalten, um die srilankische Regierung zu decken. Europäische Medien hatten vor kurzem unter Berufung auf geheime UNO-Dokumente berichtet, dass allein zwischen dem 1. und dem 20. Mai täglich 1.000 Menschen bei den letzten Gefechten im Nordosten Sri Lankas ums Leben gekommen sein sollen. Die Vereinten Nationen weisen das zurück. Niemand habe verlässliche Zahlen über die Opfer dieses Krieges, heißt es aus dem Hauptquartier in New York. Umso wichtiger wäre eine unabhängige Untersuchung.“ 2

Fragiler Frieden mit Bruderzwist

Bereits wenige Jahre nach der Staatsgründung des vormaligen Ceylon im Jahre 1948 kam es zu gewaltigen Ausschreitungen gegen die tamilischen Minderheit, und 1956 wurde das von der Mehrheit gesprochene Singhalesisch zur einzigen Staatssprache erhoben. Nach antitamilischen Pogromen im Jahre 1983 eskalierte der Konflikt und weitete sich fortan zum bewaffneten Kampf zwischen Regierungstruppen und den Liberation Tigers of Tamil Eelam aus, die nunmehr einen eigenen Staat im Norden und Osten forderten. Ein Hoffnungsschimmer zeichnete sich am Horizont ab, als auf Initiative der norwegischen Regierung am 22. Februar 2002 die Chefunterhändler der srilankischen Regierung und der LTTE ihre Unterschrift unter das formelle Waffenstillstandsabkommen setzten, das den Grundstein eines Prozesses bilden sollte, an dessen Ende eine für beide Seiten akzeptable und vor allen Dingen friedliche Beilegung des Konflikts stehen sollte.

Vor allem das Jahr 2004 hatte es in sich, als neben einer tiefgreifenden LTTE-internen Schwächung deren Einflussgebiete durch den verheerenden Tsunami Ende Dezember verwüstet wurden. Der frühere stellvertretende LTTE-Chef und Militärchef der Organisation in der Ostprovinz, Vinayagamoorthy Muralitharan alias Oberst Karuna, kehrte im März 2004 seinen Genossen den Rücken und warf der Führung unter Velupillai Prabhakaran vor, die dortigen Tamilen lediglich als »LTTE-Kanonenfutter« für Kommandounternehmen im Norden zu opfern und sie ansonsten zu vernachlässigen. Fortan agierte die von Karuna gegründete paramilitärische Truppe unter dem Schutz der srilankischen Armee, die ihrerseits ihre Kampfeinheiten beträchtlich aufstockte – von 100.000 auf 160.000 Mann. Diese Überlegenheit vermochten die zwischenzeitlich besser ausgebildeten und bewaffneten Regierungstruppen immer mehr zu ihren Gunsten zu nutzen und entscheidende Terraingewinne zu verzeichnen.

Die Abkehr von Karuna traf die LTTE-Führung schwerer, als sie zugeben mochte. Denn „der Überläufer Karuna und seine Gefolgsleute (hatten) präzise Informationen über Standorte und Zusammensetzung der LTTE-Truppen geliefert, was für den militärischen Geheimdienst natürlich sehr wertvoll war. Colombo erhielt auch verdeckte Unterstützung durch den indischen Geheimdienst, vor allem Informationen über Schiffe. Indien schickte außerdem Ausbilder für Piloten und Radarspezialisten. Moderne Militärtechnologie kam aus Israel und den USA.“ 3 Für den Oberst zahlte sich das Arrangement mit Colombo aus, wie denn im Gegenzug dessen Truppen die von Karuna miteingefädelte Rückeroberung des Ostens zur entscheidenden Großoffensive gegen die Hauptstellungen der LTTE im Norden nutzten. Mitte März dieses Jahres „kürte ihn Staatspräsident Mahinda Rajapakse zum Minister für Nationale Integration und Aussöhnung. Mit etwa 2.000 Anhängern war Karuna (…) kurz zuvor der regierenden Freiheitspartei Sri Lankas (SLFP) beigetreten. Rajapakse händigte ihm die Mitgliedskarte persönlich aus und nannte ihn dabei einen ‚talentierten Führer‘. Karuna revanchierte sich, indem er Rajapakse ‚gute nationale Führerschaft‘ bescheinigte.“ 4

Gebrandmarkt als »Terrororganisation«

Als am 2. Weihnachtstag 2004 Sri Lanka vom Tsunami getroffen wurde, sorgten einzig von der tamilischen Diaspora gespendete Hilfsgelder dafür, dass in LTTE-kontrollierten Gebieten wenigstens ein Bruchteil der Schäden beseitigt und ein wenig Not gelindert werden konnte. Die internationale Staatengemeinschaft duldete ohne nennenswerte Proteste in großen Stil die Unterlassung und Hintertreibung von Hilfeleistung seitens der herrschenden singhalesischen Elite in Colombo und sorgte stattdessen dafür, dass der nach den Ereignissen vom 11. September 2001 von der Bush-Regierung verkündete »weltweite Krieg gegen den Terror« nunmehr auch in diesem Teil Südasiens instrumentalisiert wurde. Nach dem Vorbild der von den USA angefertigten »Liste ausländischer terroristischer Organisationen« entschied sich auch die Europäische Union zu einem solchen Schritt und setzte die LTTE am 29. Juni 2006 auf ihre Terrorliste – ein Akt, der die Organisation delegitimieren, ihren Nachschub einschnüren und schließlich zum Abzug skandinavischer Waffenstillstandsbeobachter führen sollte.

Quo vadis?

Die Art und Weise, wie Colombo sein »letztes Gefecht« gegen die LTTE führte und zelebrierte, lässt auf Dauer mit Blick auf Frieden und Aussöhnung nichts Gutes erwarten. Die wenigen tamilischen Stimmen im Parlament werden es gegenwärtig kaum wagen, öffentlich Dissens zu äußern.

Am 30. Januar 2009 hatte die LTTE-Führung Selvarajah Pathmanathan offiziell zu ihrem Auslandschef und Verantwortlichen für internationale Beziehungen ernannt. Pathmanathan war es auch, der in mehreren Interviews mit internationalen Fernseh- und Rundfunkstationen sowie über die den LTTE nahestehende Webseite TamilNet die militärische Niederlage seiner Organisation eingestand. Heute beteuert Pathmanathan, die LTTE schwören der Gewalt ab und schlagen den demokratischen Weg ein.5 Früher kümmerte sich der Mann um das Auslandsgeschäft der Tamil Tigers, akquirierte Gelder und soll außerdem den Waffennachschub und Schmuggel organisiert haben.

Derweil ist unter den etwa eine Million im Ausland lebenden Tamilen eine Debatte über die »Bildung einer Provisorischen Transnationalen Regierung von Tamil Eelam« entbrannt. Am 16. Juni betonte Visuvanathan Rudrakumaran, Koordinator des Komitees für die Bildung einer Provisorischen Transnationalen Regierung von Tamil Eelam, in einer neun Punkte umfassenden Erklärung, Unabhängigkeit und Souveränität der Eelam-Tamilen stünden auch weiterhin auf der Agenda. Eine solche Regierung müsse von der Basis aufgebaut werden. Das Komitee setzt sich unter anderen für Wahlen auf lokaler und internationaler Ebene ein und strebt sowohl mit internationalen Nichtregierungsorganisationen als auch mit tamilischen Gruppen eine enge Kooperation an, die bislang nicht mit der LTTE zusammenarbeiteten. Schließlich soll eine konstitutionelle Versammlung gebildet werden und die Wahl einer Exekutive erfolgen. Die Vorarbeiten zu alledem sollen bis zum 31. Dezember dieses Jahres abgeschlossen sein.6 Sri Lankas Außenminister Rohitha Bogollagama bezeichnete dieses Unterfangen umgehend als „Halluzination“.7

Anmerkungen

1) Siehe die am 29. Mai 2009 in »The Times« (London) abgedruckten Beiträge: Philp, Catherine & Evans, Michael: »Times photographs expose Sri Lanka’s lie on civilian deaths at beach – The former no fire zone in Sri Lanka«; Philp, Catherine: »The hidden massacre: Sri Lanka’s final offensive against Tamil Tigers« sowie »Slaughter in Sri Lanka – Evidence gathered by The Times has revealed that at least 20,000 Tamils were killed on the beach by shelling as the army closed in on the Tigers«.

2) Petersmann, Sandra: »Zwei Wochen nach Ende des Bürgerkriegs – Sri Lanka feiert offiziell Sieg über Rebellen« [Sandra Petersmann, ARD-Hörfunkstudio Neu-Delhi, 03.06.2009 4‘16*

3) Meyer, Eric Paul: »Sieg ist keine Lösung – In Sri Lanka haben sich die letzten Tamil Tigers hinter der Zivilbevölkerung verschanzt«, in: Le Monde diplomatique (dtsch. Ausgabe) vom 13.3.2009.

4) König, Hilmar: »Der Lohn für Karuna – Abtrünniger Guerillaführer der Befreiungstiger in Sri Lanka zum Minister gekürt«, in: junge Welt vom 12.03.2009.

5) Siehe: http://tamiltruth.de/2009/06/13/die-neue-stimme-der-tamilischen-rebellen/

6) Siehe: http://www.tamileelamonline.com, 16.06.2009: »Committee for the formation of a Provisional Transnational Government of Tamil Eelam – Press statement released by Mr. Visuvanathan Rudrakumaran, Coordinator of the Committee for the formation of a Provisional Transnational Government of Tamil Eelam.«

7) Hull, C. Bryson: »Sri Lanka scoffs at new Tamil exiled government«, Meldung der Nachrichtenagentur Reuters aus Colombo, 17.06.2009.

Dr. Rainer Werning, Politologe und Publizist mit dem Schwerpunkt Südost- und Ostasien, hat Sri Lanka seit 1974 mehrfach zu Studienzwecken besucht.

Chemische Waffen in Terroristenhand?

Chemische Waffen in Terroristenhand?

von Ulrike Kronfeld-Goharani

Seit Beginn der 1990er Jahre ist weltweit eine Zunahme immer gewalttätigerer Terroranschläge mit wachsenden Opferzahlen zu beobachten. Die Anschläge vom 11. September 2001 waren dabei der Höhepunkt einer Entwicklung, die die bekannten Formen des nationalistisch-separatistischen Terrorismus (IRA, PLO, ETA, PKK) oder den auf die Veränderung der gesellschaftlichen Strukturen gerichteten (RAF, Rote Brigaden) der 1970er und 1980er Jahre weit hinter sich ließ. Nie zuvor hatte ein Terroranschlag solch hohe Opferzahlen gefordert oder vergleichbare wirtschaftliche Schäden angerichtet. Erstmals in der Geschichte stufte der UN-Weltsicherheitsrat die Anschläge von New York und Washington als „Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Ordnung“ ein. Der »neue« Terrorismus zeichnet sich durch einen zunehmend globalen und transnationalen Charakter aus mit weltweit verbreiteten und untereinander vernetzten Terrorgruppen. Terrornetzwerke vom Typ der religiös-fundamentalistisch geprägten Al-Qaida sind heute in der Lage, komplexe Operationen zu planen und auch simultan durchzuführen.1 Aber wie groß ist die Gefahr, dass sie auch Massenvernichtungswaffen einsetzen? Während Sicherheitsexperten heute kaum mehr daran zweifeln, dass Terroristen unkonventionelle Waffen einsetzen würden, wenn sie darüber verfügten, gehen die Meinungen über die Einschätzung, wie leicht es für Terroristen ist, derartige Waffen herzustellen oder sich zu beschaffen, weit auseinander.

Chemische, biologische, radiologische oder nukleare Waffen haben das Potenzial, Tausende von Menschen durch einen einzigen Angriff zu töten. Ihr Einsatz oder bereits die Androhung damit verleiht dem Terrorismus eine Komponente von strategischer Bedeutung, da das mit diesen Waffen zu erzielende Schadensausmaß eine Dimension erreichen könnte, wie sie bisher nur im Falle regulärer Kriegshandlungen möglich gewesen wäre. Fragen, ob und auf welche Art Terrornetzwerke sich chemische Waffen beschaffen könnten, sind daher von großer sicherheitspolitischer Bedeutung.

Chemischer Terror

Chemische Waffen, auch als chemische Kampfstoffe oder Giftgas bezeichnet, sind super-toxische Chemikalien, die zu Funktionsstörungen, Gesundheitsschäden oder Tod von Menschen, Tieren oder Pflanzen führen. Moderne C-Waffen, die als Gas, Dampf, Flüssigkeit, Aerosol oder als feiner Staub ausgebracht werden können, zählen zur Kategorie der Massenvernichtungswaffen, da sie durch ihre Sofortwirkung oder durch eine chronische Vergiftung Tausenden von Menschen Schaden zufügen können.

Von den heute bekannten ca. 45 Millionen chemischen Verbindungen sind etliche Tausend toxisch, aber nur ca. 70 Verbindungen wurden bisher als Kampfstoffe eingesetzt. Von Bedeutung ist nur eine geringe Zahl von weniger als 10 Verbindungen, die häufig nach ihrer physiologischen Wirkung unterschieden werden in

Nervenkampfstoffe: Sarin, Soman, Tabun, VX;

Hautkampfstoffe: Senfgas (auch als Lost, Yperit oder Gelbkreuz bezeichnet), Lewisit und Lost-Lewisit-Gemische;

Blutkampfstoffe: Blausäure (Zyklon B), Kohlenmonoxyd, Chlorcyan (Arsenwasserstoff);

Lungenkampfstoffe: Chlorgas, Phosgen, Diphosgen;

Reizkampfstoffe: CN- und CS-Gas (Tränengas), Brom- und Chloraceton;

Psychokampfstoffe: BZ (Benzinsäureester), LSD, Heroin und andere Drogen.

Chemische Waffen wurden erstmals von 1915 an in großem Maßstab im Ersten Weltkrieg eingesetzt, wo sich bereits die Nachteile dieser Waffenkategorie zeigten: Bei ungünstiger Windrichtung waren auch die eigenen Truppen gefährdet. Vermutlich haben diese ersten negativen Erfahrungen die damaligen Weltmächte von einem C-Waffen-Einsatz im Zweiten Weltkrieg abgehalten, obwohl in allen beteiligten Kriegsstaaten massiv in diesem Bereich geforscht und aufgerüstet wurde. Eine Ausnahme bildete Japan, das chemische und biologische Waffen gegen China einsetzte.

Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen C-Waffen in mehreren Konflikten zum Einsatz, z. B. als Entlaubungsmittel im Vietnamkrieg (1961-1971) oder Lost und Tabun gegen den Iran im Irak-Iran-Krieg (1980-1988). Unbestätigt sind Berichte über den sowjetischen Einsatz von C-Waffen in Afghanistan (1980-1983) und durch bosnische Serben im Bosnien-Krieg (1995).2

Seit Ende des Zweiten Weltkriegs wurden eine Reihe von Ereignissen bekannt, bei denen Anschläge mit chemischen Waffen durchgeführt oder zumindest geplant wurden (siehe Tabelle 1).

Tabelle 1: Bekannt gewordene geplante oder durchgeführte Anschläge mit chemischen Waffen
1945 Drei Mitglieder einer jüdischen Gruppe verseuchen Brotlaibe mit arsenhaltiger Mixtur in einem Gefängniscamp nahe Nürnberg. 2.000 Gefangene erkranken.3
1974 In den USA werden im Haus eines Mannes, der bereits mehrere Anschläge mit konventionellen Explosivstoffen verübt hatte, Chemikalien gefunden, darunter 25 Pfund Sodiumzyanid.1995Mitglieder der Aum Shinrikyo-Sekte setzen in fünf U-Bahnen Tokios Sarin frei. Bei dem Anschlag sterben zwölf Menschen, mehr als 1.000 werden verletzt.
2002 In aufgefundenen Dokumenten der für die Bali-Anschläge (12. Oktober 2002) verantwortlichen Terrorgruppe Jemaah Islamiyah wird der Einsatz so genannter Chem-Bio-Waffen beschrieben.
2004 Ein Chemieanschlag einer dem Terrornetzwerk Al-Qaida nahe stehenden Zelle in Jordaniens Hauptstadt Amman wird vereitelt.
Jan. 2005 Der ukrainische Präsidentschaftskandidat Juschtschenko erkrankt an einer Dioxinvergiftung. Das Gift soll in einem Geheimlabor des KGB entwickelt worden sein und es soll sich um eine biologische Waffe mit Spätwirkungen handeln.4
Mai 2005 Eine französische Al-Qaida-Zelle soll einen CW-Angriff auf den US-Marinestützpunkte Rota in Spanien geplant haben.5
Juni 2005 Eine islamistische, Al Qaida zugerechnete Gruppe soll im April 2004 geplant haben, eine toxische Wolke (Hydrogenperoxid) nach Jordanien zu schicken.6
Nov. 2006 Der ehemalige KGB-Agent Litvinenko stirbt in London an einer Polonium-Vergiftung, für die der russische Geheimdienst verantwortlich gemacht wird.

Um den Einsatz von C-Waffen in der Welt zu bannen und diese Waffenkategorie abzuschaffen, wurde 1993 die Chemiewaffenkonvention (CWC) unterzeichnet, die die Entwicklung, Herstellung, Lagerung und den Einsatz chemischer Waffen verbietet und die Mitgliedsstaaten innerhalb bestimmter Fristen zur Abrüstung ihrer C-Waffen-Arsenale verpflichtet. Der CWC sind inzwischen 183 Staaten der Welt beigetreten. Sie wird damit von 98 Prozent der Weltbevölkerung unterstützt, nur sieben Staaten sind noch nicht beigetreten. Für die Vernichtung aller C-Waffen wurde in der Phase der Verhandlungen ein Zeitrahmen von zehn Jahren als ausreichend erachtet. Zehn Jahre nach dem Inkrafttreten der CWC 1997 sind aber erst ein Drittel der rund 71.000 Tonnen deklarierter C-Waffen abgerüstet. Während die USA 2007 die 45-Prozent-Marke der in der CWC vereinbarten Fristen7 erreichte, waren es in Russland erst 22 Prozent von 40.700 Tonnen. Da das ursprüngliche Ziel nicht erreicht wurde, alle C-Waffen und Anlagen zu deren Herstellung bis 2007 zu vernichten, wurde eine neue Frist für das Jahr 2012 festgesetzt. Dieses Ziel muss eingehalten werden, denn solange diese Waffenkategorie nicht vollständig abgerüstet und vernichtet ist, besteht das Risiko, dass chemische Waffen aus den bestehenden Arsenalen illegal entwendet werden.

Die Möglichkeit des Diebstahls von chemischen Waffen

Im Gegensatz zu den amerikanischen Depots, die gut bewacht werden, gelten die russischen als schlechter gesichert. Kritisch betrachtet wird die Situation in Schutschje, wo in 14 großen Lagerräumen auf zwei Meter hohen Holzregalen Granaten eingelagert sein sollen, die mit 5.400 Tonnen Sarin, Soman und VX gefüllt sind. Diese Mengen reichten aus, um die Weltbevölkerung mehrere Male auszurotten.8

Die Abzweigung von C-Waffen wäre aber nur durch Kooperation zwischen den Bediensteten einer CW-Lagerstätte, Forschungsstätte oder Produktionsanlage und den Mittelsmännern bzw. Terroristen selbst möglich und würde die Korrumpierung mehrerer Angestellter voraussetzen. Das Risiko, das von diesen Anlagen ausgeht, kann deshalb als relativ gering angesehen werden. Auch die illegale Entwendung aus Vernichtungsanlagen erscheint als eher unwahrscheinlich, da diese im Zuge der Vernichtung einem permanenten Monitoring und Bilanzierungs-Prozess unterliegen.

Geringer sind die Sicherungsmaßnahmen für chemische Waffen in Lagerstätten für alte (Old Chemical Weapons) bzw. zurückgelassene Waffen (Abandoned Chemical Weapons).9 Sie lassen die Möglichkeit eines Diebstahls leichter erscheinen. Die Zwischenlagerung dieser Munition reicht von simpler Lagerung im Freien bis zur Aufbewahrung in unterirdisch angelegten Wannen oder verpackt in thermisch-abgedichteten Spezialbehältern, um ein Austreten von Kampfstoff aus der oftmals korrodierten Munition zu verhindern. Auch in Nord- und Ostsee wurden mehrere tausend Tonnen Giftgas versenkt.

Einige gewichtige Faktoren sprechen aber gegen die Entwendung derartiger Munition: Nach jahrzehntelanger Lagerung befindet sie sich, häufig noch mit einem Zünder versehen, in schlechtem äußeren Zustand. Die Reinheit des Kampfstoffes kann durch chemische Degradations- oder Polymerisationsprozesse abgenommen haben, so dass er sich nicht mehr als effektive Waffe eignen würde. Der Umgang mit dieser Munition würde ein erhebliches Risiko bedeuten. Ein Gefahrenmoment ist allerdings, dass in manchen Lagerstätten die genaue Zahl der Munition nur schwer ermittelt werden kann. Ein Fehlen von Kampfstoffmunition bliebe hier wahrscheinlich unentdeckt.

Die eigene Herstellung von chemischen Waffen

Die Herstellung von chemischen Waffen stellt heute kein unüberwindliches Hindernis mehr dar. Die Technologie ist seit mehr als 50 Jahren bekannt und in der offen zugänglichen Literatur oder im Internet dokumentiert. Hinzu kommt, dass der Personenkreis mit relevanter Expertise in den vergangenen Jahren enorm gestiegen ist und auch Personen aus Ländern, denen früher der Zugang zu dieser Technologie verwehrt war, mittlerweile an westeuropäischen oder amerikanischen Universitäten ausgebildet wurden.

Ein guter Chemiker kann eine ganze Reihe von Kampfstoffen relativ einfach herstellen, wenn er Zugang zu den Ausgangsstoffen oder Vorsubstanzen (Precursor) hat. Gerade letztere finden wegen ihres »dual use« Charakters in großen Mengen Anwendung in der chemischen Industrie.

Doch die Verfügbarkeit der Substanzen allein ist nicht ausreichend zum Bau einer C-Waffe. Eine Terrorgruppe muss über geeignete finanzielle Reserven verfügen, um qualifiziertes Fachpersonal anzuwerben und zu bezahlen, Laborbedarf zu beschaffen und geheime Produktionsanlagen zu errichten. Gelingt es, eine chemische Waffe erfolgreich herzustellen, sind Tests und Qualitätskontrollen notwendig. Diese müssen zwar nicht die aus militärischer Sicht hohen Anforderungen in Bezug auf Stabilität, Reinheit oder Korrosionsresistenz erfüllen, aber sie müssen doch bestimmten Mindestanforderungen genügen, um als Massenvernichtungswaffe effizient zu sein: Sie müssen in geeigneten Behältern lagerbar und resistent gegen atmosphärischen Wasserdampf und Sauerstoff sein und den Explosionskräften mit starker Hitzeentwicklung widerstehen können, ohne sich zu zersetzen und unwirksam zu werden. Ferner müssen geeignete Mechanismen zur Ausbringung der Waffe entwickelt werden.

Um diese Herausforderungen zu bewältigen, sind mehrere Jahre Entwicklungsarbeit erforderlich. Dass dies kein Hinderungsgrund ist, haben die Anschläge der Aum Shinrikyo-Sekte gezeigt. Deren Mitglieder hatten am 20. März 1995 gegen acht Uhr morgens in fünf U-Bahnen in der Stadtmitte von Tokio nahezu zeitgleich elf mit Sarin gefüllte, luftdicht verschweißte Plastiktüten mit den angeschärften Spitzen ihrer Regenschirme aufgestochen. Bei dem Anschlag starben zwölf Menschen, mehr als 1.000 wurden verletzt. Vor allem die schlechte Qualität der Waffe – das Sarin hatte einen geringen Reinheitsgrad – verhinderte eine höhere Opferzahl.10

Der Vorteil des Diebstahls einer C-Waffe läge darin, dass Terroristen über eine vermutlich einwandfrei funktionierende Waffe verfügen könnten, da alle Waffen im Rahmen von staatlichen Programmen lange Testreihen durchlaufen haben, um Qualität und Effizienz zu steigern und die Möglichkeit für das Versagen der Waffen zu reduzieren.

Anschläge mit chemischen Waffen

Immer wieder wird auch die Möglichkeit diskutiert, dass Terroristen einen Anschlag auf ein C-Waffen-Depot, einen Chemikalientransport oder eine chemische Produktionsanlage verüben könnten. Die Koordinaten der großen C-Waffen-Lager in den USA und in Russland sind gut bekannt. Bei Anschlägen auf diese militärischen Einrichtungen würden hochtoxische Substanzen freigesetzt. Aus Angst vor Anschlägen auf oder Unfällen mit Chemiewaffentransporten wurden in den USA frühere Pläne, C-Waffen zentral zu vernichten, wieder aufgegeben und eigene Vernichtungsanlagen an jedem C-Waffen-Depot errichtet.

Fachleute warnen auch immer wieder vor einem Angriff auf eines der weltweit 6.000 großen Chemiewerke. Durch frei werdende Giftstoffe könnten unter Umständen bis zu zwei Millionen Menschen getötet oder verletzt werden. Anschläge dieser Art wären allerdings sehr schwer kalkulierbar. Eine Vorstellung, welche Folgen ein derartiger Anschlag haben könnte, lassen die beiden Chemiekatastrophen von Seveso und Bhopal erahnen:

Am 10. Juli 1976 wurde in Seveso, ca. 30 Kilometer von Mailand entfernt, bei einer Reaktorexplosion eine große Menge dioxinhaltiger Dampf über die Stadt freigesetzt und über benachbarte Gemeinden getrieben, in dessen Folge ein Vögel- und Kleintiersterben in der Umgebung einsetzte und über 180 Menschen an Chlorakne erkrankten. 70.000 Tiere mussten notgeschlachtet, mehr als 40 Häuser abgerissen und die obere Bodenschicht in der Umgebung abgetragen und deponiert werden. Erst 1984, acht Jahre später, waren alle Dekontaminationsarbeiten abgeschlossen.11

Am 3. Dezember 1984 wurden im Werk der Union Carbide of India Limited in Bhopal 40 Tonnen Methylisocyanat (MIC) freigesetzt. Die leicht flüchtige Verbindung, die schon in geringen Konzentrationen Haut- und Schleimhautverletzungen, Augenschädigungen und Lungenödeme hervorrufen kann, trieb in einer Giftgaswolke dicht über dem Boden durch ein angrenzendes Elendsviertel. Die genaue Anzahl der Opfer dieses schweren Chemieunfalls ist nicht bekannt. Die Zahl der unmittelbaren Todesopfer wird auf ca. 5.000-10.000, die der chronisch Geschädigten auf über 200.000 geschätzt.12

Die größte Gefahr geht vermutlich von Anschlägen mit selbst hergestellten oder illegal erworbenen C-Waffen aus. Da nicht-staatlichen Akteuren zur Ausbringung der Waffen keine ausgereiften Trägermittel mit einem hohen Verteilungskoeffizienten zur Verfügung stehen, ist die Ausbringung von Chemiewaffen in geschlossenen Räumen, Tunneln, Klimaanlagen usw. die wahrscheinlichere und gefährlichere Angriffsvariante.

Um größtmögliche mediale Beachtung zu erzielen, werden terroristische Anschläge häufig da verübt, wo große Menschenmengen zusammentreffen: auf Marktplätzen, in Bahnhöfen, an Veranstaltungsorten oder in öffentlichen Verkehrsmitteln, wie die Zuganschläge in Madrid (11. März 2004) und in London (7. Juli 2005) gezeigt haben.

Immer wieder diskutiert wird auch die Möglichkeit, dass chemische Anschläge auf Lebensmittel oder die Trinkwasserversorgung verübt werden. Die Vergiftung des Trinkwassers mit klassischen chemischen Kampfstoffen ist relativ unwahrscheinlich, da dies mit toxischen Industriechemikalien wesentlich einfacher realisierbar wäre. Durch die routinemäßige Überwachung der Trinkwasserqualität würde eine größere Verunreinigung schnell entdeckt. Außerdem müsste eine relativ hohe Konzentration einer giftigen Substanz in ein Trinkwasserreservoir eingebracht werden, damit trotz Verdünnung noch eine erhebliche Schädigung bei Genuss des Wassers aufträte. Voraussetzung für die Vergiftung von Lebensmitteln wäre, dass diese nicht mit den Substanzen chemisch reagieren und dass sich Geruch, Geschmack und Aussehen nicht verändern. Der Anschlag würde sonst schnell bemerkt. Deshalb erscheint es als nicht wahrscheinlich, dass Terroristen, die einen massenvernichtenden Anschlag mit größtmöglicher medialer Beachtung planen, auf solche Methoden zurückgreifen.

Fazit

Bisher ist es nur der Sekte Aum Shinrikyo gelungen, eine selbst entwickelte chemische Waffe bei einem Terroranschlag einzusetzen. Dies ist ein Indiz dafür, dass moderne transnational operierende Terrororganisationen bereit sind, Massenvernichtungswaffen einzusetzen und auch in der Lage sind, Anschläge mit massenvernichtender Wirkung auszuführen. Doch noch sind die Hürden sehr hoch, solche Waffen zu erwerben. Die zielgerichtete, kontrollierte Vernichtung der gelagerten Chemiewaffen muss beschleunigt werden und Russland muss dabei weiterhin massiv unterstützt werden. Die Vereinbarung, bis 2012 alle Chemiewaffen zu vernichten, muss unbedingt eingehalten werden, denn nur dann gibt es eine wirkliche Sicherheit vor dem Zugriff terroristischer Gruppen.

Anmerkungen

1) Vgl. Schneckener, Ulrich: Netzwerke des Terrors. Charakter und Strukturen des transnationalen Terrorismus, SWP-Studie, Berlin, Sept. 2002, S.5 ff.

2) Tucker, Jonathan, B.: Toxic Terror. Assessing Terrorist Use of Chemical and Biological Weapons, BCSIA Studies in Int'l Sec., Monterey Institute of Int'l Studies, MIT Press, 2001, S. 4.

3) Ebd., S.17.

4) ChemBio Weapons and WMD Terrorism News Archive, 11.04.2005.

5) The Daily Nonproliferator, 04.05.2005.

6) Monterey Herald, 24.06.2005.

7) Vereinbart waren Fristen für die 1-, 20-, 45- und 100-prozentige Vernichtung.

8) Financial Times, 15.11.2005.

9) In der CWC werden »Alte chemische Waffen« definiert als Waffen, die vor 1925 oder zwischen 1925 und 1946 hergestellt wurden und sich in einem derart schlechten Zustand befinden, dass sie nicht mehr als C-Waffen eingesetzt werden können. »»Zurückgelassene chemische Waffen« sind Waffen, die nach dem 1. Januar 1925 von einem Staat im Hoheitsgebiet eines anderen Staates ohne dessen Zustimmung zurückgelassen wurden.

10) Tucker, Jonathan, B.: Toxic Terror, a.a.O., S.218 ff.

11) Süddeutsche Zeitung, 10.07.2006.

12) Nach Angaben des Umweltinstituts München, im Internet unter http://umweltinstitut.org/schadstoffbelastung/15-jahre-bhopal/15-jahre-bhopal-154.html.

Dr. Ulrike Kronfeld-Goharani ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin des Arbeitsbereichs Friedensforschung am Institut für Sozialwissenschaften der Universität Kiel.

A-Waffen und der Terrorismus

A-Waffen und der Terrorismus

von Ulrike Kronfeld-Goharani

Bruce Hoffman, Leiter der Abteilung für Terrorismusforschung der amerikanischen RAND-Corporation, sagte Ende der 1990er Jahre voraus, dass der politische, ideologische oder religiöse Konflikt zunehmend durch Terroraktionen ausgetragen werde. Er befürchtete schon damals, dass Terrornetzwerke fortschreiten würden, sich neue und unkonventionelle Waffen zu beschaffen.1 Inzwischen gibt es einige Attentate, bei denen Terrororganisationen – in Einzelfällen auch erfolgreich – chemische und biologische Waffen eingesetzt haben.

Im Vergleich zu biologischen und chemischen Waffen besitzen Nuklearwaffen die größte Zerstörungskraft durch Hitze, Druck und Strahlung. Der radioaktive Fall-out kann noch über große Distanzen und lange Zeiträume hinweg Krankheiten, genetische Defekte und Tod verursachen. Entsprechend groß ist die Besorgnis, dass Terroristen früher oder später auch Nuklearwaffen einsetzen könnten. Aber wie wahrscheinlich ist es, dass Terroristen sich eine Nuklearwaffe beschaffen?

Die nuklearen Arsenale der derzeit neun bekannten Atomwaffenstaaten werden streng bewacht. Deshalb wird die Möglichkeit, dass aus diesen Arsenalen Waffen entwendet werden, als relativ gering eingeschätzt, wenngleich sie auch nicht ganz ausgeschlossen wird. Eine Studie der US-Amerikanischen National Academy of Science schätzt insbesondere die Lage in Russland und Pakistan als besorgniserregend ein. Zwar sind moderne Sprengköpfe durch elektronische Sperren gesichert, aber unklar ist, ob dies auch für Bomben pakistanischer Bauart oder russische Bomben älteren Typs gilt.

Diebstahl einer Nuklearwaffe

Aufsehen erregte 1997 die Behauptung des russischen Generals Lebed, in Russland seien 100 nukleare Rucksackbomben mit einer Sprengkraft von jeweils 1 Kilotonne abhanden gekommen. Obwohl die Meldung seitens der russischen Regierung dementiert wurde, ist nicht auszuschließen, dass diese Rucksackbomben gestohlen wurden. Die Sprengkraft dieser Bomben wird inzwischen auf weniger als 1 Kilotonne geschätzt, da der Sprengstoff üblicherweise alle 5-10 Jahre ausgetauscht werden muss.2

Ein terroristischer Anschlag mit einer Waffe, die aus einem staatlichen Arsenal entwendet worden wäre, hätte katastrophale Auswirkungen. Die Annahme, dass unter Umständen die benötigte Menge des Spaltmaterials (10-40 Kilogramm hoch angereichertes Uran oder 5-8 Kilogramm Plutonium)3 oder mögliche Gesundheitsgefährdungen durch die Radioaktivität ein Hinderungsgrund für Diebe sei, ist falsch. 40 Kilogramm Uran in Größe einer Grapefruit sind ohne weiteres zu transportieren und zu verstecken. Die Radioaktivität spielt nur eine untergeordnete Rolle. Plutonium gibt nur Alphastrahlung ab, die sich leicht abschirmen lässt und hoch angereichertes Uran (HEU) ist so gut wie gar nicht radioaktiv, deswegen ist es ja gerade waffenfähig. Die Entdeckung des Schmuggels von Spaltmaterial durch Zoll oder Polizei bei Kontrollen auf Straßen, in Flughäfen oder Hafenanlagen ist schwierig. Wird nur die Radioaktivität gemessen, gibt es eine hohe Rate von Fehlalarmen, z. B. durch strahlenmedizinisch behandelte Personen. Ob es sich um geschmuggelte Materialien handelt, lässt sich nur durch eine Isotopenmessung klären.

Eigene Herstellung

Das Wissen um den Bau einer einfachen Atombombe ist kein Geheimnis mehr und kann inzwischen sogar im Internet abgerufen werden. Die größte Hürde stellt nach Einschätzung von Experten die Notwendigkeit dar, waffenfähiges Bombenmaterial zu beschaffen. Für eine einfache Nuklearwaffe von der Größenordnung der Hiroshima-Bombe müssten je nach Anreicherungsgrad des Uran-235 zwischen sechs und dreißig Kilogramm erworben werden, um die kritische Masse für eine nukleare Zündung zu erzielen. Für eine Implosionsbombe vom Typ der Nagasaki-Bombe wären bereits 5 Kilogramm Plutonium (Pu-239) ausreichend.

Da die eigene Produktion von Bombenmaterial, Urananreicherung oder Plutoniumgewinnung aufgrund des enormen technischen Aufwands und des Zeitfaktors (Urananreicherung) für Terrororganisationen unpraktikabel ist, bleibt nur der Diebstahl. Die sichere Verwahrung von spaltbaren Materialien ist daher entscheidend. Das ist keine einfache Aufgabe, denn inzwischen verfügen 46 Staaten über Inventare mit waffenfähigem Uran. Die Nuklearwaffenstaaten besitzen ca. 500 Tonnen abgetrenntes Plutonium und ca. 1.500 bis 2.000 Tonnen HEU.4

Problematisch ist auch der stetige Anstieg reaktorgrädigen Plutoniums im zivilen Bereich. Weltweit existieren zurzeit 441 Reaktoren in 32 Ländern mit 385 Gigawatt Leistung. In Ländern wie Argentinien, Finnland, Russland, Iran, Japan, China, Rumänien und Taiwan sind Neubauten geplant. Große Anreicherungsanlagen existieren in China, Russland, USA, Großbritannien, Japan, Frankreich, den Niederlanden und Deutschland, große Kapazitäten zur Wiederaufarbeitung – und somit zur Plutoniumabtrennung – in Japan, Frankreich, Russland und Großbritannien. Präsident Putin kündigte vor wenigen Wochen den Bau von 30 neuen Kernkraftwerken an. Sollte es zu einer Renaissance der Kernenergie kommen, werden weltweit die vorhandenen Mengen an kernwaffenfähigem spaltbarem Material weiter ansteigen.

Immer noch erheblich sind die Mengen von spaltbarem Material in Russland, hier lagern mehrere Hundert Tonnen hochangereichertes Uran und Plutonium. Groß sind nach wie vor die Probleme

bei der Abrüstung überschüssiger russischer Nukleargefechtsköpfe,

in den immer noch vorhandenen riesigen Atommülllagern der großen Nuklearkomplexe Majak, Tomsk und Krasnoyarsk und

mit dem Atommüll der Nordmeerflotte.5

Hier ist oftmals nicht nur der Zustand der Sicherheitssysteme besorgniserregend, sondern auch die Moral der Wachangestellten, für die wegen schlechter Bezahlung die Versuchung groß sein könnte, durch Abzweigung von HEU nebenbei Geld zu verdienen.6 Im Rahmen des 1992 von den USA und Russland gestarteten Programms zur kooperativen Bedrohungsreduktion (CTR) konnte erst ein Bruchteil der besonders proliferationsgefährdeten Anlagen gesichert werden.

Gefahr geht auch von zivilen nuklearen Forschungseinrichtungen in Russland aus. Von den mehr als 50 Einrichtungen mussten 70 Prozent infolge von Mittelkürzungen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion schließen. Unklar ist, inwieweit der bisher in Kühlteichen gelagerte Nuklearbrennstoff geborgen und in sichere Lagerstätten abtransportiert wurde.7 Auch bei zivilen Forschungseinrichtungen mangelt es an Diebstahlsicherung. Bei einem Besuch des Kurchatow-Institutes in Moskau 1999 zeigten russische Experten einer Gruppe von US-amerikanischen Wissenschaftlern 100 Kilogramm hoch angereichertes Uran, das unbewacht in einem Nebengebäude des Institutes lagerte.8

Besonders beunruhigend ist zurzeit die Lage in Pakistan. Zwar sind die Nukleararsenale im Verhältnis zu Russland und den USA sehr klein und es wird angenommen, dass sie schwer bewacht werden. Dennoch besteht die Gefahr für einen möglichen Missbrauch durch Sympathisanten der Taliban und von Al-Qaida. Wie groß die Gefahr ist, zeigte das bekannt werden der nuklearen Schwarzmarktaktivitäten durch Pakistans Atomwissenschaftler Abdul Qadeer Khan oder der Gespräche des ehemaligen Vorsitzenden der pakistanischen Atomenergiebehörde, Sultan Bashiruddin Mahmood, mit Osama Bin Laden und dessen Stellvertreter Al Zawahiri.9

Die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEO) registrierte seit 1993 550 Fälle, in denen radioaktive Substanzen geschmuggelt wurden. Allerdings handelte es sich im Zeitraum von 1993-2005 nur um sechzehn Fälle, in denen hoch angereichertes Uran (HEU) oder Plutonium geschmuggelt wurden. Die bisher größten Mengen spaltbaren Materials wurden 1994 in St. Petersburg (2,972 Kilogramm Plutonium) und 1996 in Prag (2,73 Kilogramm HEU) beschlagnahmt.10 Da dies nur die entdeckten Fälle sind, muss von einer weitaus höheren Dunkelziffer ausgegangen werden. Experten vermuten, dass nur 5-10% aller verbotenen Nukleartransfers aufgedeckt werden. Neben einer ausreichenden Menge von Spaltmaterial müssten Terroristen über eine spezielle Sprengtechnik verfügen, um die für eine Kettenreaktion kritische Masse herzustellen. Wegen der komplizierten Zündtechnik einer Plutoniumbombe käme deshalb für Terroristen eher eine einfache Uranwaffe nach dem Kanonenrohrprinzip (Typ der Hiroshima-Bombe) in Betracht.

Wäre das Problem der Beschaffung von Spaltmaterial gelöst, müssten Terrorgruppen immer noch Spezialisten aus den Bereichen Nuklearphysik, Materialwissenschaft, konventioneller Sprengstoffkunde und Elektronik zur Seite stehen, damit die Zusammensetzung einer Bombe gelingen könnte. Dass dies keine einfache Aufgabe ist, zeigen die Designschwierigkeiten des Iraks und Südafrikas. Es wäre schwer gewesen, die ehedem von Südafrika entwickelten mehrere Meter langen und 1.000 Kilogramm schweren Bomben zu verbergen und unbemerkt zum Einsatzort zu transportieren. Staaten benötigen für den Einsatz von Nuklearwaffen Trägersysteme wie Atom-U-Boote, ballistische Raketen, mobile Abschussrampen oder Bomber. Für Terroristen bietet sich eine große Zahl einfacher Trägermittel an wie ein Lastwagen, ein Schiff im Hafen oder ein Flugzeug.

Der Bau einer radiologischen Bombe

Unter einer sogenannten schmutzigen Bombe versteht man eine relativ einfache Bombenkonstruktion mit konventionellem Sprengstoff, z. B. TNT (Trinitrotoluol) oder HMX (Ootogen), versetzt mit hochradioaktiven Substanzen. Bei einer Explosion verdampft das radioaktive Material und verteilt sich mit Staub- und Trümmerteilchen in der Umgebung. Je nach Größe und Inhaltsstoffen könnten ganze Stadtteile oder Landstriche radioaktiv verseucht werden und die Bevölkerung wäre, wenn sie nicht evakuiert würde, langfristig einem erhöhten Krebsrisiko ausgesetzt.

Die Möglichkeit, dass Terroristen solche Bomben zum Einsatz bringen, wird als weit höher eingeschätzt als der Einsatz von Nuklearwaffen. Das benötigte radioaktive Material, z. B. Caesium-137, Strontium-90, Iridium-192, Americum-241, Kobalt-60 u.a., findet sich in Krankenhäusern, Arztpraxen, Universitäten, Forschungseinrichtungen, in der Industrie, in Atommülllagern oder sogar auf Schrottplätzen. Zwar genügt es nicht, radioaktives Material um eine Dynamitstange zu wickeln, erforderlich sind auch hier spezielle Kenntnisse, um die Effektivität des Sprengsatzes zu steigern. Allerdings ist der Aufwand in keiner Weise mit dem beim Bau einer Nuklearwaffe vergleichbar.

Bei einem Anschlag könnte eine Bombe einen Strahlengau mit großen wirtschaftlichen, politischen und ökologischen Schaden verursachen. Abhängig von der Stärke der Explosion, von Menge und Typ des benutzten radioaktiven Materials und den Wetterbedingungen zur Zeit der Explosion, hätte der Einsatz zwar keinen massenvernichtenden, aber auf jeden Fall einen starken psychologischen Effekt. Als tschetschenische Freischärler 1995 eine mit Cäsium gefüllte Bombe in einem Moskauer Park abstellten, brach Panik aus, bis sich herausstellte, dass die Schmutzbombe keinen Sprengstoff enthielt.

Im Juni 2002 berichtete die IAEO, dass fast in jedem Staat der Erde radioaktives Material zum Bau einer radiologischen Bombe vorhanden sei und in der Regel nicht ausreichend gut gegen Diebstahl bewacht werde. Dieser Bewertung lagen mehrere Ereignisse zugrunde, bei denen radioaktives Material entwendet worden war. Der spektakulärste Fall ereignete sich 1987 in Brasilien, als Diebe aus einer verlassenen Krebsklinik ein Strahlentherapiegerät mit Caesium-137 entwendeten und an einen Schrotthändler verkauften. Mehr als 250 Menschen kamen mit der Strahlenquelle in Kontakt, acht erkrankten an der Strahlenkrankheit und vier starben daran. Auch in den letzten Jahren sind einzelne Diebstähle von radioaktiven Materialien bekannt geworden. So wurde im Mai 2002 auf dem Flughafen von Chicago ein Al-Qaida Sympathisant festgenommen, der verdächtigt wurde, den Bau einer radiologischen Bombe geplant zu haben.11

Sabotageakte

Eine weitere Gefahr stellen Sabotageakte auf Ziele mit nuklearem Material dar. Davon betroffen sein könnten Kernkraftwerke, Abklingbecken, Zwischenlager, Wiederaufarbeitungsanlagen, Atommüll- und Brennstofflager oder Atomtransporte. Nach den spektakulären Angriffen vom 11. September 2001 wurden auch in Deutschland Überlegungen angestellt, ob deutsche Kernkraftwerke gegen einen vergleichbaren Angriff geschützt seien. Die bisherige Diskussion zeigt, dass die Schutzhülle (containment) modernerer deutscher Atomkraftwerke zwar gegen Flugzeugabstürze geschützt ist, nicht aber gegen gezielte Angriffe mit vollgetankten Großraumflugzeugen. Weder teure Nachrüstungen noch Schutzmaßnahmen wie das Vernebelungskonzept gegen Flugzeugangriffe12 oder der Bau von Schutztürmen rund um das Reaktorgebäude können Sicherheit garantieren.13 Ähnliches gilt für Zwischen- oder Atommülllager, die in der Regel gegen den Austritt von Strahlung, nicht aber gegen schwere Flugzeugabstürze geschützt sind. Hinzu kommt, dass in jedem Zwischenlager etwa das Zwanzigfache an Radioaktivität des Tschernobylreaktors enthalten ist. Castor-Behälter, die so ausgelegt sind, dass sie bis zu 30 Minuten einem Feuer von 800 Grad Celsius widerstehen können, würden beim Absturz eines vollgetankten Jumbo-Jets im Feuer von 240.000 Litern Kerosin schnell schmelzen. Die Auswirkung eines Angriffs würde von der Größe und Professionalität abhängen. Eine Vorstellung der Folgen, die ein Anschlag auf ein Kernkraftwerk oder ein Zwischenlager mit hochradioaktivem Atommüll haben könnte, hat die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl mit ihrer europaweiten Auswirkung gezeigt.

Fazit

Betrachten wir die möglichen Gefahren, die von Massenvernichtungswaffen in den Händen von Terroristen ausgehen, so müssen an erster Stelle die Chemiewaffen genannt werden. Die Herstellung oder der Erwerb von chemischen Waffen dürften am einfachsten durchzuführen sein. Ein Vergleich der Vor- und Nachteile lässt vermuten, dass biologische Waffen wegen ihrer schwer kalkulierbaren Wirkung nicht zur ersten Wahl von Terrorgruppen zählen. Die eigene Herstellung einer Nuklearwaffe, mit der bei weitem die größte Schadenswirkung zu erzielen wäre, ist am schwierigsten zu realisieren. Einen Schutz vor Anschlägen mit Massenvernichtungswaffen sowie die hundertprozentige Sicherheit der Zivilbevölkerung kann heute keine Regierung mehr garantieren. Hinzu kommt, dass die moderne Industriekultur zunehmend verwundbarer geworden ist. Was bleibt zu tun?

Zum einen müssen alle Möglichkeiten ergriffen werden, um den Zugriff auf Massenvernichtungswaffen und auf die dazu benötigten Komponenten zu verhindern. Das heißt, die bestehenden Abrüstungsverträge müssen gestärkt, umgesetzt, reformiert und gegebenenfalls angepasst werden. Export- und Importkontrollen müssen durchgesetzt und weitere Überlegungen angestellt werden, wie nukleare Einrichtungen gegen Zugriffe oder Anschläge von außen besser gesichert werden können. Der Katastrophen- und Bevölkerungsschutz muss über Grenzen hinweg intensiviert und Notfällpläne müssen entwickelt werden, wie im Ernstfall den neuen Bedrohungen zu begegnen ist.

Zum anderen ist die Politik massiv gefordert, sich endlich stärker mit den Ursachen für die Entstehung des internationalen Terrorismus zu befassen. Der Einsatz von militärischer Gewalt zur Bekämpfung des Terrorismus verheißt keine tragfähige Lösung. Die Eskalation in Afghanistan ist das beste Beispiel. Denn, so der ehemalige UN-Generalsekretär Kofi Annan: „Wir dürfen Fragen wie Terrorismus, Bürgerkriege oder extreme Armut nicht isoliert betrachten. Die Verknüpftheit dieser Probleme hat tiefgreifende Implikationen. Umfassende Strategien sind gefragt.“

Anmerkungen

1) Vgl. Hoffman, Bruce: Terrorismus. Der unerklärte Krieg, Frankfurt/M., Fischer-Verlag, 1998.

2) Kelle, Alexander und Schaper, Annette: Bio- und Nuklearterrorismus – Eine kritische Analyse der Risiken nach dem 11. September 2001, HSFK-Report 10/2001, S.33.

3) Wie viel Plutonium man für die kritische Masse benötigt, hängt vom benutzten Plutonium-Isotop ab.

4) Neuneck, Götz: Nukleare Sicherheit und die Gefahr terroristischer Anschläge, in: W&F, Dossier Nr. 51, 1-2006, S.18.

5) Vgl. Kronfeld-Goharani, Ulrike: Ein Erbe des maritimen Wettrüstens: Der Atommüll der Nordmeerflotte, schiff-texte, nr. 53, Kiel, 1999.

6) Neuneck Götz, ebd. S, 17.

7) Vgl. Kronfeld-Goharani, Ulrike: Die Umweltschäden und Entsorgungsprobleme des russischen Nuklearkomplexes, schiff-texte, nr. 68, Kiel, 2002.

8) Neuneck, Götz: Terrorismus und Massenvernichtungswaffen: eine neue Symbiose?, in: Hans Frank / Kai Hirschmann (Hrsg.): Die weltweite Gefahr. Terrorismus als internationale Herausforderung, Berlin-Verlag, Berlin 2002, S.157.

9) Bunn, Matthew and Wier, Anthony: Securing the Bomb. An Agenda for Action, Harvard University, Commissioned by the Nuclear Threat Initiative, May 2004, S.31.

10) Nach Angaben der IAEO unter: http://www.iaea.org/NewsCenter/Features/RadSources/PDF/table1-2005.pdf.

11) Kelly, Henry C.; Levi, Michael, A.: Schmutzige Bomben als Terrorwaffen, in: Spektrum der Wissenschaft, März 2003, S.26.

12) Das Konzept sieht vor, durch Zündung von speziellen Nebelgranaten einem sich nähernden verdächtigen Flugzeug die Sicht auf das Kernkraftwerk zu nehmen.

13) Vgl. Hirsch, Helmut, Becker Oda, Neumann, Wolfgang: Terrorangriffe auf deutsche Atomkraftwerke. Bewertung der Gegenmaßnahmen, Bericht für Greenpeace e.V., Hannover, 2004.

Dr. Ulrike Kronfeld-Goharani ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin des Arbeitsbereichs Friedensforschung am Institut für Sozialwissenschaften der Universität Kiel.

Neues von der »Anti-Terror-Front«

Neues von der »Anti-Terror-Front«

von Jürgen Nieth

Der Oberste Gerichtshof der USA hat im Juni 2006 die
Behandlung der Häftlinge in Guantanamo als illegal bezeichnet. Zudem
entschieden die Richter, dass die Regierung mutmaßliche Terroristen gemäß der
Genfer Konvention zu behandeln hätten. Die Antwort der Bush-Regierung: Sie
legalisiert die Folter per Gesetz. Nach dem Repräsentantenhaus hat am
28.September auch der Senat der Schaffung von Militärtribunalen zur Aburteilung
von »Terror-Gefangenen« verabschiedet. Den Gefangen wird zukünftig das Recht
vorenthalten, vor einem Bundesgericht die Legalität ihrer Inhaftierung
anzufechten.

Folter legalisiert

Erstmals wird in diesem Gesetz der „Begriff des
»ungesetzlichen feindlichen Kämpfers« (definiert). Als solcher gilt künftig
jeder, der gewaltsame Akte gegen die USA »gezielt und erheblich unterstützt«…
Gefangene feindliche Kämpfer, die keinen US-Pass besitzen, sollen vor neu
geschaffene Militärtribunale gestellt werden können… Die Regierung behält damit
die Möglichkeit, Häftlinge zunächst weiter auf unbestimmte Zeit ohne Anklage
und Verfahren festzuhalten. Auch die umstrittenen Geheimgefängnisse der CIA
können weitergeführt werden.“
(FR 30.09.06)

Folter light…

Nach Aussage des Senators Mc Cain – der zu den Kritikern des
ursprünglichen Gesetzentwurfs zählte – sind zukünftig einige besonders harte
Foltermethoden nicht mehr erlaubt, wie „extremer Schlafentzug, Unterkühlung
und das berüchtige Waterboarding, bei dem bei Gefangenen das Gefühl des
Ertrinkens erzeugt wird.“
(Neue Zürcher Zeitung, 30.09.06).

…oder große Grauzone

Die FAZ (30.09.2006) zitiert dazu den republikanischen
Mehrheitsführer im Senat, Bill Frist, der die Nennung der Foltertechniken
kritisiert, „weil es den Terroristen helfe, wenn man ihnen sage, »dies sind
die zehn Techniken, die wir anwenden, und diese zehn wenden wir nicht an«.
Die
FAZ zieht die Schlussfolgerung: „Was unter allen Umständen verboten ist und
was der Präsident in Ausnahmefällen zulassen kann, bleibt mithin in einer
Grauzone.“

Ähnlich sieht das auch Martin Lederman, Verfassungsrechtler
an der Georgtown University. Er ist sich sicher, „dass das Gesetz dem
Geheimdienst CIA weiterhin ermöglicht Gefangene zu foltern »Sie haben scheinbar
eine gesetzliche Definition von grausamer Behandlung festgelegt, die aber nicht
für die CIA gilt. Vielmehr verhindert das neue Gesetz die Klärung durch
Gerichte, ob eine Befragungstechnik der Genfer Konvention entspricht oder
nicht«.“
(taz 30.09.06)

Unrecht wird zu Recht

„Der Kongress gab den Segen für ein unerträgliches
Gesetzespaket,“
schreibt Reymer Klüver in der Süddeutschen Zeitung
(30.09.06). Und weiter: „ Zu Beginn des 21. Jahrhunderts lugt die grinsende
Fratze des Mittelalters durch den Türspalt, und das ausgerechnet in Amerika.
Folter, zumindest Folter light, ist im Krieg gegen den Terror nun wieder eine
legitime Verhörmethode. Wenn es ihm beliebt, kann der Präsident kurzen Prozess
mit Gefangen machen. Wenn nicht, ist es ebenso legal, dass er die Delinquenten
in ihren Zellen verrotten lässt.“

Irak fördert Terror

Praktisch parallel zur Verabschiedung der »Folterregeln« hat
das US-Repräsentantenhaus mit großer Mehrheit auch die Mittel für den Irak- und
Afghanistan­krieg um 70 Milliarden Dollar aufgestockt. „Die Kosten für den
Irakkrieg belaufen sich derzeit auf rund acht Milliarden Dollar pro Monat.“

(TAZ 28.09.06).

Da ist es natürlich peinlich für Bush, dass ausgerechnet zum
selben Zeitpunkt eine geheime Lagebewertung aller 16 US-Geheimdienste bekannt
wird, nach der der Irakkrieg „zum Erstarken einer globalen terroristischen
Dschihad-Bewegung“
beigetragen hat. (FR 28.09.06) Zu den Terror fördernden
Faktoren rechnet die Analyse (nach FR) „neben hausgemachten Problemen in der
islamischen Welt Korruption, Ungerechtigkeit, Reform­stau einen tief sitzenden
Antiamerikanismus sowie den Irakkonflikt. Der sei zu einer »berühmten Sache« für
Heilige Krieger geworden, vertiefe die Abneigung zu den USA und treibe der
globalen Dschihad-Bewegung neue Unterstützer zu.“

»Deutsche Kraft«

Das die deutschen Geheimdienste in den so genannten
Anti-Terrorkampf der USA aktiv einbezogen werden, ist seit dem Irakkrieg
bekannt. Das es immer noch etwas mehr ist, als die Regierung zu gibt, zeigt der
Fall Murnat Kurnaz. Die Bundesregierung hat eingeräumt, dass er 2002 von zwei
BND und einem Verfassungsschutz-Mitarbeiter in Guantanomo verhört wurde. Im
Stern-Interview (5.10.06) wird jetzt deutlich, dass die amerikanischen Folterer
über viele Detailkenntnisse zur Person Kurnaz verfügten, die sie von deutschen
Stellen bekommen haben mussten.

Hinzu kommt, dass Kurnaz nach seinen Aussagen nicht nur 2002
sondern auch 2004 durch Deutsche verhört wurde und das deutsche Geheimdienste
ihn für den Fall seiner Entlastung anwerben wollten.

Kurnaz gibt auch an, in Afghanistan von deutschen Soldaten
misshandelt worden zu sein. Soldaten, die sich mit den Worten vorstellten: „Wir
sind die deutsche Kraft.“

Es ist noch nur eine Behauptung – kein Beweis. Zu befürchten
ist aber, dass es mit der Bundeswehr genauso ist, wie mit den Geheimdiensten:
Sie ist immer etwas mehr verwickelt, als offiziell zugegeben.

Bundeswehr in Afghanistans Süden

Das wird auch an einem anderen Beispiel deutlich. Während
der Bundestag das Nord-Afghanistanmandat für die Bundeswehr um ein Jahr
verlängert und das für die 36 Militärbeobachter im Süden nur für zwei Wochen,
wird bekannt, dass tatsächlich bereits seit langem die Bundeswehr „insgeheim
auch im umkämpften Süden engagiert“
ist. (Spiegel Nr. 40/2006) „Deutsche
Hubschrauber und Transall-Transporter (flogen) bereits zahlreiche
Unterstützungsmissionen für die Alliierten… Dabei wurden Nachschub und Truppen
transportiert sowie Verwundete ausgeflogen. Allein die Transall-Maschinen
haben… in diesem Jahr bereits an die 60 Flüge absolviert.“

„Die Regierung hat uns glatt angelogen“, kommentierte
der außenpolitische Sprecher der Linksfraktion, Norman Paech, diese Tatsache in
der TAZ (2.10.06)