Stars and Stripes

Stars and Stripes

von Michaela Reisin

Hochschullehrer, wiss. Mitarbeiter, Studenten und sonstige Bedienstete der Technischen Universität Berlin haben an das Konzil einen Antrag auf Einrichtung eines Friedenforschungsinstituts an der TU Berlin gestellt. Der Antrag wurde am 10.11. behandelt und angenommen. Die Begründung enthält interessante Ausführungen zum aktuellen Zusammenhang von Computertechnologie und Rüstung. Sie wurde von Michaela Reisin, Dipl. Inform., verfaßt.

Die moderne Waffentechnik ist in entscheidendem Maße durch Forschungsergebnisse der Natur- und Ingenieurwissenschaften bestimmt. Seitdem mit den Atomwaffen der zigfache Overkill der Menschheit möglich ist, gibt nicht mehr die Anzahl sondern die qualitative Verbesserung militärischer Systeme den Ausschlag beim Wettrüsten; es ist auch bisweilen vom Zeitalter des qualitativen Wettrüstens die Rede, wenn vom wissenschaftlich-technischen Fortschritt gesprochen wird.

Zwar wird die Frage von Krieg und Frieden nicht von uns Natur- und Ingenieurwissenschaftlern entschieden, dennoch stehen wir in den Universitäten und anderen Forschungseinrichtungen im Zentrum dieser Auseinandersetzungen.

Einige Bemerkungen zum Stellenwert der Informatik und der Computertechnologie für militärische Systeme. Über die Gefahren, die mit der geplanten Stationierung der neuen amerikanischen Mittelstreckenraketen in Westeuropa verbunden sind, ist in den vergangenen Monaten viel gesprochen worden. Bei beiden Raketentypen, der Cruise Missile und der Pershing II sind die wesentlichen Neuerungen computertechnologischer Art.

Die Cruise Missile oder der Marschflugkörper ist an sich keine neue Waffe. Sie geht auf die erste deutsche Vergeltungswaffe des zweiten Weltkrieges V1 zurück. Ein Marschflugkörper ist ein unbemanntes bombentragendes Fluggerät, das im Unterschied zu einer ballistischen Rakete kontinuierlich angetrieben wird und seine Flugbahn bis ins Ziel selbst kontrolliert und steuert. Er ist wie ein Flugzeug geformt, daher auch der Name Flügelrakete – und hat ähnliche aerodynamische Eigenschaften. Seine Geschwindigkeit und seine Flugrichtung sind lokalen Wetterbedingungen ausgesetzt. Frühere Marschflugkörper wie der Matador u.a. waren nicht in der Lage, ihren Kurs zu halten und hatten von daher über größere Entfernungen eine nur geringe Treffwahrscheinlichkeit. Die neue Generation der Marschflugkörper unterscheidet sich genau in diesem Punkt qualitativ von ihren Vorgängerinnen.

Eingebettete Computersysteme machen es möglich, eine Standortbestimmung und eine Kurskorrektur während des Fluges vorzunehmen, wodurch die Treffgenauigkeit um eine entscheidende Größenordnung verbessert wird. Das bisher am weitesten entwickelte Zielleitsystem für Marschflugkörper beruht auf dem Vergleich von Geländereliefs, d.h. es wird die Tatsache ausgenutzt, daß die Geländehöhe über dem Meeresspiegel von Ort zu Ort verschieden ist.

Fertigt man von einem Gebiet eine Höhenkarte an, teilt sie in Quadrate bestimmter Seitenlänge auf und trägt in jedes Quadrat seine durchschnittliche Bodenhöhe ein, dann entsteht eine digitalisierte Landkarte. Jede Zahl gibt die Höhe eines Quadratmittelpunktes an, eines Punktes dessen Koordinaten bekannt sind. Solche digitalisierten Landkarten können im Bordcomputer des Marschflugkörpers eingespeichert werden. Zur Ortsbestimmung ist der Marschflugkörper mit einem Radar-Höhen-Messer ausgestattet. Überfliegt die Cruise Missile ein Gebiet, dessen Karte im Speicher des Bordcomputers mitgeführt wird, so beginnt der Radarhöhenmesser zu arbeiten und liefert eine Folge von gemessenen Höhenzahlen. Der Bordcomputer vergleicht die gemessenen Höhen mit den gespeicherten, bestimmt dabei die momentane Position des Flugkörpers, errechnet den neuen Kurs, der den Flugkörper auf seine vorgesehene Bahn zurückbringt und übermittelt dem Autopiloten die entsprechenden Anweisungen. Dieses Leitsystem macht die modernen Cruise Missiles, ob boden-, see- oder luftgestützt zur Waffe mit höchster Treffsicherheit, die in einem Atomkrieg zur Kategorie der Einsatzwaffen gehört. Solche und ähnliche Zielleitsysteme beruhen im wesentlichen auf dem Prinzip der automatischen Mustererkennung, einer der wichtigsten militärischen Nutzanwendung der Künstlichen Intelligenz, eines Teilgebiets der Informatik.

Auch die Pershing II unterscheidet sich von ihrer Vorgängerin Pershing 1 weder durch die Antriebsmotoren noch durch den Flugkörperbau oder die Bodenhilfseinrichtungen. Der entscheidende technologische Durchbruch, der die Rakete um Klassen treffsicherer macht als alle bisher im Einsatz befindlichen Raketen, ist das computergestützte Endphasenleitsystem des Sprengkopfes. Diese Endphasenlenkung beruht auf einer Radarflächenführung und funktioniert, indem das Radarbild, welches beim Zielanflug aufgenommen wird, mit einem gespeicherten digitalisierten Radarbild des Ziels verglichen wird. Die Abweichungen werden nachkorrigiert. Mit dieser Nachsteuerungsmethode in der letzten Phase des Zielanflugs wird eine bisher ungeahnte Zielgenauigkeit erreicht. Die hohe Treffsicherheit der Rakete erlaubt es, sie mit einem kleineren Atomsprengkopf mit geringerer Sprengkraft auszurüsten. Der gewonnene Platz und das geringere Gewicht der Rakete erlauben es, zusätzlichen Treibstoff zur Verfügung zu stellen, so daß die Pershing II mit einer Reichweite von 1.800 km mehr als doppelt so weit fliegen kann als ihre Vorgängerin und zudem in der Lage ist, in kürzester Zeit, nämlich in 5-8 Minuten die sogenannten harten Ziele in der UdSSR zu erreichen. Prof. Barneby, der ehemalige Leiter des Stockholmer Friedensforschungsinstituts SIPRI vertritt die Auffassung, daß die Entwicklung neuer militärstrategischer Konzeptionen in den letzten Jahren eng mit den Fortschritten in der Mikroelektronik und Informatik in den USA verbunden waren. Die Schlüsselrolle der Computerwissenschaft für die von der US-Regierung in dieser Dekade geplanten rüstungstechnologischen Innovationen ist unbestritten.

Hierbei handelt es sich um:

  • Erhöhung der Treffgenauigkeit und Zuverlässigkeit strategischer Raketen,
  • um die Entwicklung von weltraumstationierten Navigationshilfsmitteln,
  • um die Entwicklung von Methoden und Systemen der Vernichtung der Gefechtsköpfe feindlicher ballistischer Raketen,
  • um die Entwicklung von Methoden und Systemen zur Vernichtung feindlicher Weltraumsatelliten, usw.

Keines dieser rüstungstechnologischen Vorhaben ist ohne den Einsatz sog. eingebetteter Computersysteme denkbar. Das militärstrategische Konzept, das mit diesen Waffensystemen realisiert werden soll, hängt von der Funktionsfähigkeit computergestützter Kommando-, Kontroll- und Kommunikationssysteme (C3I-Systeme) ab, die global vernetzt sind. Die Komplexität der hardware- und softwaretechnologischen Anforderungen solcher Systeme, das Volumen des Datentransfers und die Probleme der Steuerung und Synchronisation entziehen sich dem Vorstellungsvermögen selbst eines Computerwissenschaftlers. Vor diesem Hintergrund vermag jedoch deutlich zu werden, daß es kaum ein Gebiet der Informatik gibt, in dem die Forschung nicht von rüstungstechnologischer Relevanz wäre. Der Umfang der finanziellen und technischen Mittel, die von militärischer Seite insbesondere in den USA zur Durchführung computertechnologischer Rüstungsprojekte bereitgestellt werden, bedingt, daß in allen Teilgebieten der Informatik der fortgeschrittenste Stand sich stets im Kontext militärischer Forschungs- und Entwicklungsaufträge bestimmt. Dies prägt wesentlich die wissenschaftstheoretischen Ansätze sowie die Begrifflichkeit und Methodik dieser Disziplin.

Wie wirken sich diese Umstände auf uns Informatiker an der TUB aus?

Ich möchte mich im Rahmen dieses Beitrages auf das Teilgebiet Softwaretechnik beschränken und die Wirkungsweise militärischer Anforderungen auf unsere Forschung und Lehre hier beispielhaft beleuchten.

Im April dieses Jahres erschien in der international bekanntesten Fachzeitschrift für Softwaretechnik das achtzig Seiten umfassende Strategiedokument des Department of Defense zu seiner neuen wissenschaftspolitischen Initiative im Softwarebereich. Dieses Strategieprogramm, das unter dem Namen STARS (Software Technology for Adaptable and Reliable Systems) in die Geschichte der Informatik eingehen wird, hat die Erhöhung der Softwarezuverlässigkeit und die Effektivierung der Softwareproduktion zum Gegenstand. Es bildet den dritten Abschnitt eines in den 70er Jahren vom Pentagon eingeleiteten Gesamtprogramms. Die anderen beiden Teile heißen ADA und VHSIC. ADA ist eine Programmiersprache, die eigens für den einheitlichen Gebrauch im US-amerikanischen Militärbereich entwickelt wurde und in den nächsten Jahren auf dem internationalen kommerziellen Markt verbreitet und durchgesetzt werden soll. Das Programm VHSIC (Very High Speed Integrated Circuits) beinhaltet die Entwicklung hochintegrierter Schaltkreise, welche uns in den letzten Jahren die mikroelektronische Durchdringung aller gesellschaftlicher Bereiche beschert hat. STARS schließt an diese beiden Programme an. Das starke Interesse des Pentagons für die Softwaretechnik ergibt sich aus der veränderten Bedeutung der Software für rüstungstechnologische Innovationen.

Nahezu jedes System der laufenden und geplanten militärischen Anschaffungen besteht aus computertechnologischen Komponenten. „Die in auftragskritischen militärischen Systemen eingebetteten Computer sind ausschlaggebend für unsere taktische und militärische Stärke. Sie kontrollieren die Ziellenkung und den Flug der Raketen, koordinieren und steuern die komplizierten Manöver der Luftwaffe…

Die militärische Stärke der USA ist untrennbar mit den programmierbaren digitalen Computern verflochten. Software ist die entscheidende Komponente, die viele Systeme steuert, ja sogar definiert. Software ist die Verkörperung der Intelligenz der Systeme. Mit dem zunehmenden Einsatz von Computern in militärischen Systemen hängt das Kräfteverhältnis von Software und Systemtechnologie ab (…)“ S. 10, STARS 83

Hieraus erklären sich auch die hohen Ausgaben des Department of Defense im softwaretechnischen Bereich. Jährlich werden allein für Softwareentwicklung 5-6 Mrd. Dollar ausgegeben. Ende der 80er Jahre sollen es 32 Mrd. sein. Das Programm STARS schreibt die Forschungsschwerpunkte für die Softwaretechnik in den USA in den nächsten sieben Jahren fest und wird von einer Reihe planerischer Maßnahmen im wissenschaftlichen und militärischen Bereich ergänzt. Mit diesem Programm geht es darum, „die technologische und ökonomische Führungsrolle der USA zu erhalten und ihre militärische Vorherrschaft abzusichern“. Schon heute ist absehbar, daß nicht nur die Computerwissenschaftler der USA, sondern die gesamte Informatikergemeinschaft der westlichen Welt in die Umsetzung dieses Programms eingebunden sein wird. Das ist auch der Grund der frühzeitigen Veröffentlichung dieses Strategiedokuments in den Fachzeitschriften (die Laufzeit des Programms selbst beginnt erst im nächsten Jahr).

Die Organisierung der internationalen fachwissenschaftlichen Diskussion ist eine der entscheidenden regulativen Maßnahmen des Department of Defense. Eine Vielzahl, wenn nicht die meisten fachwissenschaftlichen Kongresse der Informatik werden direkt von Gliederungen des Department of Defense oder der NATO einberufen. So erklärt es sich, daß der Rahmen der internationalen fachwissenschaftlichen Diskussion und deren Schwerpunktsetzung weitgehend vom Department of Defense vorgegeben sind. Daran kommt kein Informatiker vorbei.

Vor diesem Hintergrund möchte ich zum Abschluß einige Fragestellungen skizzieren, die sich uns in Forschung und Lehre stellen und damit die Notwendigkeit eines Friedensforschungsinstituts an der TUB aus unserer Sicht motivieren.

  1. Die wissenschaftliche „Frontlinie“ der Informatik entspricht gegenwärtig der rüstungstechnologischen. Fortschritte dort bedeuten Innovationen hier, d.h. Verbesserungen von Vernichtungs- und Zerstörungssystemen.

    Welche Konsequenzen hat das für die Forschungstätigkeit der verantwortungsbewußten Informatiker? Gibt es für uns Oberhaupt noch die Möglichkeit, ruhigen Gewissens einen wissenschaftlichen Beitrag zu leisten oder bleibt uns nur die Alternative, die Beschäftigung mit diesem Fach aufzugeben?

  2. Wir halten den Einsatz großer Softwaresysteme in militärischen Bereichen, die zudem vielfältig vernetzt sind, für unvertretbar. komplexe Softwaresysteme sind grundsätzlich fehlerbehaftet und vom Menschen gegenwärtig nicht beherrschbar. Es ist z.B. nicht möglich, einen Softwarefehler in einer vorhersagbaren und genügend kurzen Zeit zu finden und zu beheben. Die Konsequenzen eines Softwarefehlers in einem automatisierten Frühwarn- und Entscheidungssystem liegen auf der Hand. Welche Möglichkeiten haben wir als Informatiker, dieses Wissen wirksam vorzubringen, d.h. die häufig verfrühten und mißbräuchlichen Anwendungen unserer Forschungsergebnisse zu verhindern? Wäre angesichts der Gefahren, die gegenwärtig mit einem computerfehlerbedingten Krieg verbunden sind ein Moratorium in Forschung und Entwicklung angezeigt?
  3. Die Computertechnologie dringt rasch in sämtliche zivile Bereiche vor. Ihre Standards, Güte- und Wertmaßstäbe sind im Kontext militärischer Anwendung entwickelt worden. Es stellt sich die Frage, welche gesellschaftspolitischen Auswirkungen ihre Übertragung auf soziotechnische Systeme im zivilen Bereich haben. Handelt es sich um eine neue subtile Form der Militarisierung?

Diese komplizierten Fragestellungen können nicht in ausreichendem Maße von einer Friedensinitiative bearbeitet werden. Wenn wir an der TU den Anspruch ernst nehmen, die Technik und ihre Wissenschaften zum Nutzen des Menschen und des Friedens zu entfalten, müssen wir zu diesen, zum Teil menschheitsgeschichtlich neuartigen Problemstellungen, wissenschaftlich Stellung beziehen. Ein Friedensforschungsinstitut, das auf der Basis der Interdisziplinarität arbeitet, könnte uns hierbei unterstützen und einen gesellschaftspolitisch wichtigen Beitrag leisten.

Michaela Reisin ist Diplominformatikerin an dr TU Berlin

Europäische Rüstungspolitik – gibt’s die?

Europäische Rüstungspolitik – gibt’s die?

von Herbert Wulf

Die Rüstungspolitik der Mitgliedsländer der Europäischen Union ist eingebettet in die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP). Doch mit der ESVP verhält es sich zurzeit fast so wie mit dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation am Ende des 18. Jahrhunderts. Es ist die Beschreibung eines Zustandes durch ihr Gegenteil. Denn es war kein römisches Reich, auch keine deutsche Nation und von Heiligkeit konnte schon gar nicht die Rede sein.

Ähnlich die ESVP: Die Rüstungspolitik in der EU ist von widersprüchlichen Interessen geprägt: von Interessen der europäischen politischen Elite, eine möglichst globale Rolle in Kriegen und Konflikten zu spielen, von egoistischen nationalen und rüstungslobbyistischen Ansprüchen bei Waffenbeschaffungen, beim Rüstungsexport und dem Kampf um Arbeitsplätze und von ambitionierten technologischen Interessen bei der Entwicklung neuer Waffensysteme. Das Ergebnis dieser miteinander konkurrierenden wirtschaftlichen und politischen Wünsche, Eigenwilligkeiten und Steckenpferde ist eine widersprüchliche Politik, die weder als europäisch, noch als Sicherheitspolitik und ebenso wenig als Verteidigungspolitik bezeichnet werden kann. Mit der heutigen Politik des Durchwurstelns auf EU-Ebene wird viel Geld für Streitkräfte und Waffen aufgewendet. Doch das Resultat kann weder die europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitiker, noch die Steuerzahler und erst recht nicht die an Sicherheit und Frieden interessierten Bürger befriedigen. Für die Sicherheits- und Verteidigungspolitiker sind die europäischen militärischen Fähigkeiten zu schwach, für die Steuerzahler ist die Verschwendung öffentlicher Mittel horrend und für die an Frieden und Sicherheit interessierten Bürger ist die Militarisierungstendenz gefährlich.

Zivilmacht im Kampfanzug

Seit Ende der 1990er Jahre ist die ESVP in einem Tempo vorangetrieben worden, wie dies in 50 Jahren zuvor nie der Fall war. Vorrangig soll die Fähigkeit entwickelt werden, international militärisch intervenieren zu können. Die EU-Kommission erhielt Kompetenzen in sicherheitspolitischen Bereichen. Diese Politik setzte primär an institutionellen Veränderungen an, ohne dass diesem Prozess eine abgestimmte und ausformulierte Strategie oder ein gemeinsames außen- oder friedenspolitisches Konzept zugrunde lag. Die Schaffung der Struktur folgte nicht einer Strategie, sondern geradezu umgekehrt. Zunächst schuf man neue Komitees und Institutionen, formulierte globale Ziele für die Streitkräfte und erst im Dezember 2003 einigte sich der Europäische Rat auf eine Strategie.1 Beflügelt wurde dieser Prozess durch den Kosovokrieg 1999 und den Irakkrieg 2003. Der Kosovokrieg verlieh dem Wunsch europäischer Politiker zur Bildung autonomer europäischer Streitkräfte zusätzlichen Schub; denn die Europäer (NATO-Europa wie EU)2 hatten Schwierigkeiten, einen relevanten militärischen Beitrag zu leisten. Es mangelte vor allem an Transportkapazitäten und Aufklärungsmitteln. Die politische Elite in der EU hat daraus die Konsequenz gezogen, für künftige Konfliktfälle und Interventionen militärische Kapazitäten aufzubauen. Die unterschiedlichen Positionen und Politiken der EU-Mitgliedsländer pro und contra einer Beteiligung am Irakkrieg im Frühjahr 2003 verdeutlichten die Zerrissenheit der EU in der Außen- und Sicherheitspolitik drastisch. Von einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), in die die ESVP eingebettet sein soll, ist die EU weit entfernt.

Das beträchtliche Tempo, in dem die Europäischen Sicherheitsstrategie formuliert und verabschiedet wurde, innerhalb eines dreiviertel Jahres nach Beginn des Irakkrieges, darf jedoch nicht über die Differenzen in der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik hinwegtäuschen. Die französischen und britischen Nuklearwaffen sind nach wie vor ein Tabuthema und werden in der EU-Sicherheitsstrategie nicht einmal erwähnt. Das komplizierte Verhältnis der EU zur NATO und zu deren Führungsmacht USA ist ebenso wenig geklärt, wie der mögliche zivile und militärische Mix bei künftigen internationalen Interventionen der EU. Zwar enthält die EU-Strategie den Hinweis, dass die gesamte Palette der zur Verfügung stehenden Instrumente, „einschließlich unserer Maßnahmen im politischen, diplomatischen, militärischen und zivilen, handels- und entwicklungspolitischen Bereich3 genutzt werden soll, de facto hinkt die zivile Krisenreaktion der EU jedoch hinter der militärischen deutlich hinterher. Die Stärkung militärischer Fähigkeiten und die Aufstockung militärischer Mittel werden als erste Priorität genannt, obwohl sich die EU selbst gerne als Zivilmacht darstellt. Interessanterweise wird das von den EU-Mitgliedsländern, im Gegensatz zur US-Regierung, sonst immer hoch gehaltene Prinzip der Notwendigkeit von Abrüstung und Rüstungskontrolle in der neuen Sicherheitsstrategie nur angesprochen, wenn es um die Abrüstung in Entwicklungsländern geht, vor allem um deren Massenvernichtungsmittel. Im gescheiterten Entwurf einer EU-Verfassung wurde bis ins Detail eine Europäische Rüstungsagentur beschrieben, die inzwischen auch etabliert ist – ein weltweit einmaliger Artikel in einer Verfassung. Die Begriffe »Abrüstung« oder »Rüstungskontrolle« tauchten im Verfassungsentwurf jedoch an keiner Stelle auf.

Papiertiger auf dem Sprung

Die kombinierten Militärausgaben der heutigen 27 EU-Mitgliedsländer betrugen im Jahr 2006 rund Euro 200 Mrd. (über US $ 260 Mrd.),4 pro Einwohner Euro 425 jährlich. Damit wird in der EU knapp unter 2% des Bruttosozialproduktes für die Streitkräfte aufgewendet. In den Streitkräften dienen fast 1,9 Millionen Soldaten und über 450.000 Zivilbeschäftigte.5 Im Jahresdurchschnitt wurden 2005 73.500 Soldaten bei Auslandsinterventionen eingesetzt. Dies sind 4% der gesamten Truppenstärke.6 Die Planer beklagen, dass nicht viel mehr Soldaten eingesetzt werden können. Sie rechnen für die Vorbereitungs-, die Einsatz- und die Rekreationszeiten jeweils die gleiche Zahl. Das heißt, von den rund 2,35 Millionen militärisch und zivil Beschäftigten im Militärbereich der EU können rund 225.000 Soldaten eingesetzt werden. Dieses Bild wird durch die Bundeswehr bestätigt. Es wird immer wieder betont, dass nicht mehr als 10.000 (zurzeit 7.600) Soldaten im Auslandseinsatz sein könnten – bei einer Truppenstärke von 250.000 und rund 100.000 Zivilbeschäftigten.

Die Rüstungspolitik in der EU wird von den Befürwortern erhöhter militärischer Anstrengungen zumeist mit dem Vergleich zu den USA begründet, wo der Haushalt mit knapp US $ 550 Mrd. zur Zeit mehr als doppelt so hoch wie die kombinierten Militärhaushalte in der EU ist; und die Zahl der in Kriegen eingesetzten US-Truppen ist mit 227.000 (von insgesamt 1,4 Millionen) mehr als drei Mal so hoch wie die der EU.7 Die USA reservieren mit 4,1% des Bruttosozialproduktes ebenfalls mehr als doppelt soviel finanzielle Mittel und für jeden US-Bürger ist die jährliche finanzielle Belastung drei Mal so hoch. Betrachtet man aber die Rüstungsanstrengungen aus der Perspektive der Mehrheit der Länder dieser Welt, ergibt sich ein völlig anderes Bild. Zwar klafft zwischen den USA und der EU bei den Militärausgaben eine beträchtliche Lücke, insgesamt liegt aber der Anteil der Militärausgaben der USA an den weltweiten Militärausgaben bei 47% und der Europas bei 22%. Die übrigen cirka 165 Länder der Welt (einschließlich China, Russland, Indien und Japan) teilen weniger als ein Drittel der Militärausgaben unter sich auf.

Aus den Größenverhältnissen lassen sich zwei Schlussfolgerungen ziehen: Erstens zeigen die Höhe der Militärausgaben und die Zahl der in Kriegen eingesetzten Truppen, dass die USA weiterhin die dominierende Militärmacht der Welt sind. Zweitens wird aber deutlich, dass die EU keineswegs primär mit zivilen Mitteln Krisenbewältigung betreibt. Im Gegenteil: Sie folgt militärisch bereits auf Platz zwei. Die militärische Dominanz der NATO wird deutlich, wenn man berücksichtigt, dass die meisten EU-Mitgliedsländer auch Mitglieder der NATO sind. Trotzdem klagen die Militärplaner in der EU, dass nicht genügend Personal für Auslandseinsätze vorhanden ist, dass die finanziellen Mittel nicht ausreichen und dass es trotz der großen Zahl der vorhandenen konventionellen Waffensysteme am notwendigen Gerät für die neuen Interventionsaufgaben fehlt.

Nationale Kirchturmpolitik

Gemessen an den eigenen Ansprüchen der EU wird trotz aller politischer Deklarationen und offizieller Berichte die Sicherheits- und Verteidigungspolitik nur äußerst unvollkommen umgesetzt. Der Grund hierfür ist vor allem in national geprägter egoistischer Kirchturmpolitik zu suchen.

Die Entwicklung der ESVP und mit ihr die europäische Rüstungspolitik wird nachhaltig von den Interessen und dem wirksamen Lobbyismus der Rüstungsindustrie geprägt. Hierbei gehen Politik und rüstungsindustrielle Interessen Hand in Hand und große, an jeweils nationalen Standorten orientierte Rüstungskonzerne spielen eine entscheidende Rolle. Rüstungsindustrielle Vertreter befürworten unisono eine europäisch orientierte Rüstungsindustrie und einen integrierten EU-Binnenmarkt für Waffen und andere militärische Geräte. Gleichzeitig aber wachen dieselben Firmen sorgfältig darüber, dass sie bei der Auftragsvergabe möglichst den Anteil an Aufträgen erhalten, der dem Finanzvolumen ihres Landes in einem Beschaffungsprojekt entspricht.

Über den Umfang der Rüstungsindustrie in Europa, über Umsatz, Forschungs- und Entwicklungsaufwand, Beschäftigtenzahlen oder Gewinne, liegen keine systematischen Zahlen vor. Bekannt ist jedoch, dass von den rund 200 Mrd. Euro in den Militärhaushalten pro Jahr rund 80 Mrd. Euro in Form von Forschungs-, Beschaffungs- und Reparaturaufwendungen an die Industrie fließen. Dieser so genannte investive Anteil am Militärhaushalt ist in den letzten Jahren verhältnismäßig konstant geblieben, obwohl die Rüstungsplaner immer wieder eine Erhöhung der Investitionsausgaben gefordert haben.8

Die Zahl der Beschäftigten in der Rüstungsindustrie in den 27 EU-Mitgliedsländern beträgt rund 750.000; am Ende des Kalten Krieges waren es mindestens doppelt so viele.9 Die 100 größten Rüstungsfirmen der Welt (ausschließlich chinesischer Firmen) hatten im Jahr 2005 einen Jahresumsatz (Rüstungsbeschaffung und Waffenexport) von US $ 290 Mrd. Der Umsatz der 30 Hauptrüstungsfirmen mit Sitz in der EU beträgt US $ 85 Mrd., also 29% des Gesamtumsatzes dieser Top 100.10 Die 40 amerikanischen Firmen in der Liste der Top 100 zeichnen für fast zwei Drittel des Gesamtumsatzes verantwortlich. Auch diese Zahlen sind ein Hinweis auf die US-Dominanz in der Rüstungsproduktion und auf die globale Bedeutung der Rüstungsproduktion in der EU.

Es ist trotz intensiver und zahlreicher Bemühungen während der letzten Jahrzehnte nicht gelungen, die stark national organisierte Rüstungsindustrie zu einer europäischen Industrie zu verschmelzen, um so eine kosteneffiziente Belieferung mit technologischen Spitzenwaffensystemen zu gewährleisten. Obwohl keines der EU-Mitgliedsländer in der Lage ist, das gesamte Spektrum der Rüstungstechnologie zu finanzieren und eine rüstungstechnologische industrielle Basis national zu gewährleisten, erfolgt die Rüstungsbeschaffung nach wie vor weitgehend national. Anspruch und Wirklichkeit klaffen weiterhin auseinander, vor allem, weil sich der Lobbyismus der großen Rüstungsfirmen, die sich als »nationale Champions« verstehen, immer wieder durchsetzt. Es werden zudem Waffen beschafft, zum Teil noch während des Kalten Krieges konzipiert, auf die sich die heimische Industrie spezialisiert hat, die aber nicht unbedingt für die Auslandseinsätze geeignet sind.

Die größten Firmen sind in Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien lokalisiert. Das Argument, den eigenen Standort, die technologischen Fähigkeiten und Arbeitsplätze zu erhalten, ist bei den meisten Beschaffungsvorhaben ausschlaggebender als wirtschaftliche Überlegungen.11 Ein Beispiel aus jüngster Zeit ist die Beschaffung von Fregatten für die Bundesmarine. Von europäischen Lösungen, wie immer wieder beschworen, kann keine Rede sein. Im Juni 2007 gab der Haushaltsausschuss des Bundestages grünes Licht für ein milliardenschweres Rüstungsprojekt. Beschlossen wurde eine rein nationale Lösung. Vier Fregatten vom Typ 125 werden für 2,6 Mrd. Euro beschafft. Die deutsche Werftindustrie zog einen großen Auftrag an Land und die ausländische Konkurrenz hatte das Nachsehen. Die Dänen bauten vor drei Jahren ähnliche Fregatten für ein Drittel des deutschen Preises und auch andere Länder bieten Fregatten preiswerter an. Das Bundesverteidigungsministeriums schloss von vorneherein eine sehr viel kostengünstigere Kooperation aus und setzte auf einen nationalen Alleingang, um die heimische Werftindustrie zu versorgen. Die deutschen Kriegsschiffe werden nicht nur zu teuer eingekauft, die Industrie setzte außerdem durch, dass der Preis jährlich um bis zu 3% steigen kann, obwohl in den Richtlinien des Verteidigungsministeriums maximal 2% vorgesehen sind. Und weiterhin: Bei Lieferung der ersten Fregatte werden 81% des Gesamtpreises fällig. Die drei anderen, dann noch gar nicht fertig gestellten Schiffe, werden zum großen Teil gleich mitbezahlt. Ein ähnlicher ‚nationaler Protektionismus’ ist in fast allen EU-Staaten anzutreffen.

Es sind schon einige Beschaffungsprojekte in der EU durchgeführt worden, an denen zwei oder mehr Länder beteiligt waren. Doch die Erfahrungen mit Kooperationsprojekten sind sehr zwiespältig. Viele Kooperationsprojekte wurden genutzt, um die jeweils heimischen rüstungsindustriellen Interessen zu verwirklichen. Kooperiert wird in der Regel nur, wenn das Projekt die eigenen Finanzierungsmöglichkeiten übersteigt. Das Prinzip des juste retour, mit dem geregelt ist, dass die Aufträge entsprechend dem Finanzierungsanteil im Beschaffungsprojekt verteilt werden, führt zu höheren Kosten, da nicht der technisch versierteste und wirtschaftlich günstigste Anbieter zum Zuge kommt. Meist kommt es aber nicht einmal zu Kooperationsprojekten. In der EU werden vier verschiedene Kampfpanzer gebaut, 7 verschiedene Kampfhubschrauber, 8 verschiedene Luft-Luftraketen; es existieren 16 verschiedene nationale Programme für gepanzerte Mannschaftswagen, drei verschiedene Kampflugzeuge werden – trotz konkurrenzfähiger Angebote aus den USA – entwickelt und Duplizierungen sind vor allem im Bereich von IT und Kommando- und Kontrollsystemen an der Tagesordnung.12

Auch der Rüstungssektor hat in den letzten Jahren Firmenaufkäufe und Firmenzusammenschlüsse erlebt. Neue und größere Firmen sind entstanden, doch grenzüberschreitende Firmenaufkäufe oder Übernahmen sind in dieser Branche die Ausnahme. Das Argument der Sicherung von Standorten, Technologie und Arbeitsplätzen erweist sich als schlagkräftige Legitimation für überteuerte Beschaffungen. Die Folgen der national orientierten Kirchturmpolitik in der Rüstungsbeschaffung sind Überkapazitäten in der Rüstungsindustrie, die auf weitere Aufträge und Waffenexport drängen, Duplizierungen bei Waffensystemen, mangelnde Standardisierung der Waffen in den EU-Ländern, nicht genutztes Potenzial für Rationalisierungen und schließlich deutlich überhöhte Kosten. Die Gründe hierfür sind im Lobbyismus der Industrie zu suchen und in den Entscheidungen der Beschaffungsbehörden, die zwar im Prinzip für europäische Lösungen sind, im Zweifelsfalle aber die „nationalen Champions“ bevorzugen.

Zahlreiche länderübergreifende Projekte verzeichneten Kosten- und Terminüberschreitungen. Artikel 296 des Europäischen Vertrages schließt die Rüstungsindustrie ausdrücklich vom Europäischen Binnenmarkt aus. Schließlich sollte nicht unterschätzt werden, dass es zwischen den militärischen Ambitionen von NATO und EU gravierende Unterschiede gibt, die sich auch in der Rüstungspolitik niederschlagen. Und obwohl es eine Reihe von Organisationen und bürokratischen Ungetümen wie die European Defence Agency, den sogenannten Letter of Intent, ein Framework Agreement, die Harmonisation of Military Requirements, die European Headline Goals und einen Code of Conduct für Rüstungsbeschaffung gibt, die sich samt und sonders um kostengünstige und aus militärischer Sicht effiziente Rüstungsbeschaffung bemühen, kann von einer Europäischen Rüstungspolitik nicht gesprochen werden. Denn weiterhin wird weniger als ein Fünftel aller Beschaffungen in Kooperation mit zwei oder mehr EU-Mitgliedern getätigt.13

Rüstungsexporte

Die globalen Rüstungstransfers sind seit dem Jahr 2003 wieder deutlich gestiegen.14 Zu den Hauptimportländern gehören China, Indien, Griechenland, die Vereinigten Arabischen Emirate und Südkorea. Eine Reihe weiterer Länder des Nahen und Mittleren Ostens zählt zu den Hauptkunden. Die größten Lieferanten waren die USA, Russland, Deutschland, Frankreich und Großbritannien.

In der Europäischen Union existieren zahlreiche Dokumente, in denen Zurückhaltung im Rüstungsexport angekündigt und gelobt wird. In der Praxis kann jedoch hiervon keine Rede sein. Im Jahr 1998 verabschiedete die EU einen »Verhaltenskodex für Rüstungsexport«, der primär zur Harmonisierung der Exportpolitiken der Mitgliedsländer und zur Schaffung gemeinsamer Standards gedacht ist. Mit ausschlaggebend für diesen Kodex war die schärfere Konkurrenz der Rüstungsindustrie bei damals sinkenden Rüstungsimporten. Diese Rüstungsexportrichtlinien enthalten acht Kriterien, die bei der Vergabe von Rüstungsexportlizenzen an die Rüstungsindustrie berücksichtigt werden sollen. Dazu gehört unter anderem das Respektieren der Menschenrechte in den Empfängerländern (Kriterium 2), die Erhaltung regionaler Stabilität und Frieden (Kriterium 4) und die Vereinbarkeit von Rüstungsexporten mit der technischen und wirtschaftlichen Entwicklung des Empfängerlandes (Kriterium 8). Positiv zu bewerten ist, dass die Rüstungsexporte aus der EU transparenter geworden sind, da jährlich einmal ein Rüstungsexportbericht von der EU veröffentlicht wird.15 Kritikwürdig ist, dass sich nicht alle EU-Länder der Berichtspflicht vollständig unterziehen. SIPRI bemängelt, dass auch einige ältere EU-Mitgliedsländer unzureichende Berichte abliefern (so Belgien, Großbritannien, Italien und Schweden), obwohl diese sich für mehr Transparenz einsetzen. Im Gegensatz dazu haben alle 10 Staaten, die 2004 der EU beitraten, ihre Daten vorgelegt, im Wesentlichen deshalb, weil dies eine Voraussetzung für den Beitritt in die EU war.16

Der Verhaltenskodex zum Rüstungsexport in der EU ist eine politische Verpflichtung, die jedoch nicht juristisch bindend ist. So ist auch der große Anteil der Rüstungsimporte des Mittleren Ostens aus den EU-Ländern zu erklären: Dort werden in vielen Ländern die Menschenrechte mit Füßen getreten, und die Region ist nun wirklich nicht durch Stabilität oder Frieden gekennzeichnet. Nach den EU-eigenen Kriterien ist dies eigentlich ein Ausschlussgrund für Waffenlieferungen. EU-Länder sind aber für 35% der Exporte von Großwaffensystemen in diese Region verantwortlich. Deutschland ist nach Angaben von SIPRI der drittgrößte Waffenexporteur der Welt. Wenn auch die meisten Waffenexporte von deutschen Rüstungsfirmen in EU- und NATO-Länder gehen, so taucht dennoch eine Reihe von Ländern aus der Krisenregion Mittlerer Osten als Importeur von in Deutschland gefertigten Waffen auf, so etwa Ägypten, Iran, Israel, Jordanien, Katar, Kuwait, Oman, Saudi Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate.17 (siehe Tabelle)

Tabelle Rüstungsimporte aus dem Mittleren Osten ausgewählte Länder, Transfers 1997 – 2006 (nur Großwaffen, in Millionen US $, Preisbasis 1990)
Importeure Exporteure
USA Russland China EU andere Gesamt
Irak 63 68 0 131 135 397
Iran 0 3437 840 10 237 4524
Israel 5503 0 0 1121 0 6624
Saudi Arabien 5253 0 0 3274 108 8635
Syrien 0 512 0 0 92 604
VAE 3220 310 0 5519 314 9363
andere GKR* 1499 94 89 1783 74 3539
Gesamt 15538 4421 929 11838 960 33686
* andere Länder des Golfkooperationsrates ·
Quelle: SIPRI Yearbook 2007, S.398

Widersprüchliche Politik

Die heutige Rüstungspolitik in den Mitgliedsländern der EU kann nicht als europäische Politik bezeichnet werden. Sie ist zwar einerseits durch Ambitionen gekennzeichnet, eine stärkere Rolle in Krisen und Konflikten zu spielen, andererseits aber prägen nationale Egoismen, vor allem wirtschaftliche Interessen die Entscheidungen. Aus der Perspektive der europäischen Steuerzahler handelt es sich hierbei um eine massive Verschwendung öffentlicher Mittel. Aus friedenspolitischer Perspektive muss man die Frage stellen, wie eine europäische Rüstungspolitik aussehen würde, wenn sie kosteneffizient durchgeführt würde. Es ist kaum zu erwarten, dass die dann möglichen Mitteleinsparungen beim Militär für zivile Krisenprävention und Entwicklungszusammenarbeit aufgebracht werden würden. Vielmehr muss man befürchten, dass eine Steigerung der Effizienz den vorhandenen Militarisierungstrend verschärfen würde.

Anmerkungen

1) Europäischer Rat 2003, http://www.consilium.europa.eu/uedocs/cmsUpload/031208ESSIIDE.pdf.

2) Folgende EU-Mitgliedsländer gehören nicht der NATO an: Finnland, Irland, Malta, Österreich, Schweden und Zypern.

3) Europäischer Rat 2003, http://www.consilium.europa.eu/uedocs/cmsUpload/031208ESSIIDE.pdf., S.11.

4) SIPRI Yearbook 2007, Oxford, S.314-315.

5) European Defence Agency, European-US Defence Expenditure 2005, http://www.eda.europa.eu/genericitem.aspx?area=Facts&id=178.

6) In den USA betrug der Anteil nach Angaben der European Defence Agency 16%.

7) European Defence Agency, European – US Defence Expenditure 2005, http://www.eda.europa.eu/genericitem.aspx?area=Facts&id=178.

8) Siehe den Forderungskatalog der European Defence Agency, An Initial Long-Term Vision for European Defence Capability and Capacity Needs, 3. Oktober 2006, http://www.eda.europa.eu/genericitem.aspx?area=Organisation&id=146.

9) BICC, BICC Conversion Survey, Anhang, verschiedene Jahrgänge.

10) SIPRI Yearbook 2007, S.376-380.

11) Eine gewisse Ausnahme bildet Großbritannien. Dort holt die Regierung konsequenter als in den übrigen Ländern Konkurrenzangebote ein und vergibt Aufträge eher nach Kostengesichtspunkten. Die größte britische Rüstungsfirma, BA Systems, hat sich inzwischen auch auf dem US-Markt etabliert.

12) UNISYS, Intra-Community Transfer of Defence Products, Bericht für die Europäische Kommission, Brüssel, 2005. http://ec.europa.eu/enterprise/regulation/inst_sp/defense_en.htm#study.

13) European Defence Agency, European Defence Expenditure 2005, http://www.eda.europa.eu/genericitem.aspx?area=Facts&id=170

14) SIPRI Yearbook 2007, S.387-430.

15) Official Journal of the European Union, C250 (16. Oct. 2006), abrufbar unter http://www.bicc.de/ruestungsexport/pdf/misc/EU_8th%20Annual%20Report%20Code%20of%20Conduct%20Arms%20Exports.pdf.

16) SIPRI Yearbook 2007, S.415.

17) Angaben laut SIPRI für den Zeitraum 1997-2006, http://armstrade.sipri.org/arms_trade/values.php.

Prof. Dr. Herbert Wulf ist Vorsitzender des Vorstandes von W&F und war früher Direktor des Bonn International Centre for Conversion (BICC). Er ist weiterhin Research Associate am BICC und Guest Scholar am Australian Centre for Peace and Conflict Studies (ACPACS) an der Universtiy of Queensland, Brisbane

Raketen und die Spaltung Europas:

Raketen und die Spaltung Europas:

Ein neues Wettrüsten bahnt sich an!

von Götz Neuneck

Der Streit um die amerikanischen Raketenabwehrpläne beherrscht nach Jahren relativer Ruhe, aber technischer Entwicklung und kontinuierlicher Finanzierung wieder die Weltpresse. Von einem »unvermeidbaren Wettrüsten« ist die Rede, insbesondere seit der russische Präsident Wladimir Putin im Falle einer Realisierung der amerikanischen Raketenabwehr in Ost-Europa nicht nur mit »Vergeltungsschritten« gedroht hat, sondern auch die »Möglichkeit eines nuklearen Konfliktes« als wahrscheinlicher bezeichnet hat.1

Die US-Administration betrachtet die geplante neue, vorgeschobene Abwehrkomponente für Raketen in Osteuropa (die dritte neben Abfangstellungen in Alaska und Kalifornien) ihres »Ground-based Midcourse Missile Defense Systems« (GMDS, bodengestützte Raketenabwehr für die mittlere Flugphase) als »begrenzte Abwehr«, die insbesondere gegen die ballistischen Raketen der sog. »Schurkenstaaten« wie Nordkorea und Iran, nicht jedoch gegen Russland oder China ausgerichtet sei.2

Russland fühlt sich auch vor dem Hintergrund einer fortschreitenden NATO-Ausdehnung, ungelöster Probleme um den Kosovo und des fortschreitenden Ausbaus der militärtechnischen Überlegenheit der USA (Stichworte sind Weltraumbewaffnung, Global Strike etc.) provoziert. Sogar die Kündigung wichtiger Rüstungskontrollverträge wie des multilateralen Vertrags über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) oder des US-russischen Intermediate Nuclear Forces-Vertrags (INF) von 1987 über die vollständige Abschaffung von Mittelstreckenraketen wird von russischer Seite in Betracht gezogen.

Vor neuen »Trennlinien« in Europa als Konsequenz einer Stationierung warnte im März der damalige französische Präsident Chirac, und Außenminister Steinmeier befürchtete eine Spaltung des »alten und neuen Europas«. Gerät Europa ein weiteres Mal zwischen die Mühlsteine der USA und Russlands, die auf eine neue nukleare Konfrontation zusteuern? Was ist der Anlass für diese Kontroverse?

Seit Januar 2007 führen Emissäre der Bush-Administration offiziell Verhandlungen mit den Regierungen in Polen und Tschechien, um in den beiden Ländern die Stationierung einer Abwehrstellung mit zehn sog. »Ground-based Interceptors« (GBI, bodengestützten Raketen mit Abfangflugkörpern) bzw. eines hochauflösenden X-Band Radar (FBX) auszuhandeln.3 Die beiden osteuropäischen Regierungen unterstützen diese Pläne vehement. Ihnen geht es dabei weniger um Schutz gegenüber bisher nicht existierenden Raketen aus dem Iran, sondern um eine starke sicherheitspolitische Ankoppelung an die USA. Die Bevölkerung, besonders in Tschechien, lehnt die Pläne hingegen weitgehend ab. Die US-Pläne haben, wenn sie unkoordiniert umgesetzt werden, mehrere Konsequenzen:

  • Sie werden die Weiterverbreitung und den Bau von Raketen in Iran und Russland eher beschleunigen statt verlangsamen.
  • Da die jetzigen Pläne nicht ganz Europa abdecken, werden sie die Stationierung weiterer Abwehrsysteme z.B. im NATO-Kontext, nach sich ziehen.
  • Im Falle eines Abfangvorganges können die dabei entstehenden Trümmer über Russland oder Europa abstürzen und Schaden anrichten.
  • Die begrenzte Einsatzfähigkeit des GMD-Systems wird die Stationierung weiterer Interzeptoren und möglicherweise neuer Abwehrstellungen der USA, z.B. im Kaukasus, nach sich ziehen. Großbritannien, Dänemark und die Ukraine haben ebenfalls bereits Interesse signalisiert.
  • Die nukleare Abrüstung wird begraben werden, da nur der Erhalt des russischen offensiven Abschreckungsarsenals eine begrenzte Abwehr »ausgleichen« kann, wenn man die Abschreckungsidee aufrecht halten möchte, die ja im Wesentlichen auf einer einsetzbaren Zweitschlagsfähigkeit beruht.

Raketenabwehr »sobald technisch möglich«

Eine Kooperation mit Russland hingegen könnte diese Entwicklung in vernünftige Bahnen lenken. Des Weiteren würde die Lösung der Nuklearkrise mit Iran die Abwehr in Osteuropa überflüssig machen. Die US-Pläne wurden im Wesentlichen ohne vorherige umfassende Konsultationen mit den Verbündeten und Russland verfolgt. Nachdem sich Widerstand in Europa abzeichnete, wurde eine Charmeoffensive hochrangiger Beamter aus Washington gestartet. Außenministerin Condoleezza Rice und Verteidigungsminister Robert Gates schrieben in einer Kolumne: »Gerede über ein neues ›Wettrüsten‹ mit Russland ist anachronistisch und wirklichkeitsfremd«.4 Den sichtbaren Gegenbeweis lieferte Russland: Im Mai testete es eine neue mobile Interkontinentalrakete RS-24, die für Mehrfachsprengköpfe zur Überwindung der Raketenabwehr geeignet ist. Auch Kurzstreckenraketen vom Typ Iskander-N (500 km Reichweite) wurden getestet. Weitere Systeme sind in der Entwicklung.5 Kann ein neues Wettrüsten, in das Europa einbezogen wird, dennoch vermieden werden?

Vor fünf Jahren, am 13. Juni 2002, vollzogen die USA die Kündigung des Raketenabwehrvertrages, um eine begrenzte, aber globale Raketenabwehr aufzubauen und zu stationieren, »sobald dies technologisch möglich ist«.6 Seit 2002 wurden von den USA für Entwicklung und Bau der Raketenabwehr ca. 41 Milliarden US-Dollar aufgewendet, dennoch war in dem Zeitraum nur ein Test am 1. September 2006 erfolgreich.7 Insgesamt hatten von zehn Abfangversuchen seit dem Jahr 2000 lediglich fünf Erfolg. Von einer funktionierenden Abwehr kann deshalb nicht die Rede sein, zumal die Tests nicht unter operativen Bedingungen stattfinden, sondern sorgfältig vorgeplant sind und sich technischer Tricks bedienen, um noch nicht existente Komponenten des Gesamtsystems zu simulieren. Die Achilles-Ferse des GMD-Systems, die Überwindung durch einfach realisierbare Gegenmaßnahmen (Ballone, Attrappen etc., die im Weltraum gemeinsam mit den Sprengkörpern aus der Rakete freigesetzt werden können), ist nach wie vor vorhanden.

Der US-Kongress kürzte die Ausgaben der Missile Defence Agency (MDA, Behörde für Raketenabwehr im US-Verteidigungsministerium) auch für die europäischen Komponenten mit dem Hinweis, die Systeme hätten noch nicht ihre Funktionsfähigkeit gezeigt. Phil Coyle, ehemaliger hoher Pentagon Beamter, und während seiner Amtszeit verantwortlich für die Entwicklung und das Testen von US-Waffensysteme, stellte fest: »Die MDA war bisher noch nicht in der Lage, die effektive Fähigkeit eine idealisierte Bedrohung unter realistischen operativen Bedingungen nachzuweisen«. Diese sehr begrenzte Fähigkeit ist auch den russischen Planern bekannt. Wieso reagiert Putin dennoch so heftig mit dem Hinweis auf eine veränderte strategische Stabilität im Falle der Stationierung von Raketenabwehrkomponenten in Europa?

Raketenrüstung gegen Raketenabwehr

Die russischen Planer gehen zunächst stets vom »best case« aus und nehmen an, die USA werden die genannten technischen Schwierigkeiten überwinden. Für sie ist die GMD-Stellung in Europa nur die Spitze eines Eisbergs. Sie sind überzeugt, dass sukzessive weitere Stellungen und Interzeptoren folgen werden. Natürlich können diese geplanten zehn Anti-Raketen-Raketen zunächst nichts gegen die ca. 493 landgestützte Interkontinentalraketen Russlands ausrichten. Dieses Argument ist zwar zutreffend, lässt aber außer Acht, dass die Zahl der russischen Langstreckenraketen altersbedingt in den nächsten Jahren sinken und die Überlegenheit der US-Systeme weiter steigen wird.

Russische Ängste vor einem Erstschlag werden geschürt, zumal das Radar in Tschechien wichtige Startinformationen von aufsteigenden Raketen aus Russland in Richtung USA an diverse andere Raketenabwehrstellungen in Nordamerika8 melden (oder auch Testflüge von russischen Raketen detailliert beobachten) kann. Insbesondere das Aussetzen der Sprengköpfe und Attrappen kann von Tschechien aus beobachtet werden. Die Einführung umfassender Raketenabwehr und damit die Möglichkeit der USA, einen russischen Zweitschlag abzuwehren, würde die strategische Balance langfristig ändern. Auch die überall kolportierte Aussage des MDA-Direktors General Obering, dass in Polen stationierte Interzeptoren russische Raketen nicht erreichen könnten, trifft nicht zu. Simulationen einer Arbeitsgruppe am Massachusetts Institute for Technology (MIT) widerlegen diese Aussage für die drei westlichen Raketenfelder und die dort stationierten Interkontinentalraketen Russlands – die erheblich näher liegen als der Iran. Ein Ausbau russischer Raketenabwehrsysteme ist in diesem Fall fast unvermeidlich.

Auch die US-Abwehrstellungen in Osteuropa mit russischen Raketen zu bedrohen, ist militärtechnisch »logisch«, trägt aber ebenfalls nicht zur Lösung der Krise bei, denn auf Drohungen reagieren die Osteuropäer mit dem Hinweis, dass ihre Ängste gegenüber Russland offensichtlich doch berechtigt sind. Dass dies als Konsequenz des durch die Raketenabwehr veränderten strategischen Gleichgewichts betrachtet werden muss, wird dann schnell vergessen sein.

Beim G-8-Gipfel in Heiligendamm im Juni 2007 schlug Präsident Putin zur Überraschung des Westens vor, statt des FBX-Radars in der tschechischen Republik ein russisches Frühwarnradar in Gabala/Aserbaidschan zu nutzen bzw. den Irak oder die Türkei in die Raketenabwehr einzubeziehen. Der vorgeschlagene Standort in Aserbaidschan hat den Vorteil, dass ein dort positioniertes Radar einen guten Blick auf den Iran bietet, aufgrund der Kaukasus-Berge und der Erdrundung jedoch nicht signifikant in das russische Territorium hineinschauen und russische Raketen verfolgen kann. Die Tatsache, dass Russland das Radar betreiben würde, missfällt dem Pentagon jedoch. Immerhin hat Präsident Bush den Vorschlag als interessant bezeichnet, und es wurde eine amerikanisch-russische Arbeitsgruppe eingesetzt, die Einzelheiten diskutieren soll. Hier wird sich zeigen, ob die USA ihre oft wiederholtes Angebot, mit Russland in Sachen Raketenabwehr zusammenzuarbeiten, auch ernst meinen oder ob der Aufbau der Raketenabwehr letztlich doch auch gegen Russland gerichtet ist. Im Juli werden sich die beiden Präsidenten am Sommersitz der Familie Bush in Kennebunkport treffen. Dann wird sich zeigen, ob eine Einigung möglich ist.

Ginge es den USA und der NATO tatsächlich nur um eine potenzielle iranische Bedrohung, wäre eine Zusammenarbeit mit Russland sowie ein ernsthaftes Bemühen um eine Lösung des Nuklearstreits mit dem Iran die naheliegende Lösung. Gelingt eine Einigung nicht, so ist ein neues Wettrüsten fast unvermeidlich. Leidtragende wären in erster Linie die Europäer und auch die europäischen Rüstungskontrollerfolge wie z.B. der KSE- oder der INF-Vertrag, jahrelang wesentliche Stabilitätsanker in Europa, könnten zusammenbrechen. Die wieder aufflammende Kontroverse um die Raketenabwehr zeigt, dass die beiden großen Nuklearmächte immer noch nicht aus der Falle nuklearer Abschreckung und Überrüstung entkommen sind, die sie selbst im Kalten Krieg aufgebaut haben.

Anmerkungen

1) Süddeutsche Zeitung, 4. Juni 2007, 07:16 [http;77www.sueddeutsche.de/ausland/artikel/922/116806/].

2) White House: National Policy on Ballistic Missile Defense Fact Sheet, 20. Mai 2003 [http://www.whitehouse.gov/news/releases/2003/05/20030520-15.html].

3) S. Hildreth/C. Ek: Long-Range Ballistic Missile Defense in Europe, 22. Juni 2007, Congressional Research Service Report for Congress, Washington D.C. 22. Juni 2007.

4) Süddeutsche Zeitung 16. April 2006, S.1.

5) Florian Rötzer: Neue russische Raketen gegen US-Raketenabwehrsystem, Telepolis 30.05.2007 [http://www.heise.de/tp/r4/html/result.xhtml?url=/tp/r4/artikel/25/25391/1.html&words=Putin&T=Putin].

6) National Missile Defense Act of 1999, Public Law 106-38 [http://Thomas.loc.gov/cgi-bin/query/z?c106:S.269:].

7) Wade Boese: Missile Defense Five Years after the IBM-Treaty, Arms Control Today, Juni 2007.

8) Zur Zeit sind ca. 20 Interzeptoren in Alaska und Kalifornien stationiert. Diese Zahl soll ausgebaut werden. Das taktische System THAAD (Terminal High Altitude Area Defense) zum Abschuss von Sprengkörpern kurz vor dem Wiedereintritt in die Erdatmosphäre kann sogar über 1.000 Interzeptoren verfügen.

Dr. Götz Neuneck ist Wissenschaftlicher Referent am IFSH und Leiter der Interdisziplinären Forschungsgruppe Abrüstung, Rüstungskontrolle und Risikotechnologien

Der Trend weltweiter Aufrüstung hält an

Der Trend weltweiter Aufrüstung hält an

von Peter J. Croll

Es scheint so, als seien die ersten Jahre nach Ende des kalten Krieges »die Sternstunde der Abrüstung« gewesen. Man erforschte und betrieb Konversion. Die Rüstungsausgaben sanken. Dass die Großen dieser Welt nun wieder aufrüsten, belegt der BICC-Jahresbericht 2006/2007. Knapp die Hälfte der weltweiten Militärausgaben in Höhe von über 1.000.000.000.000 (1 Billion) US-Dollar entfallen auf die USA. Russland rüstete für etwa 21 Mrd. US-Dollar (d.h. um 34 Prozent mehr als 2001); Indien gab 20,4 Mrd. US-Dollar in 2005 aus (2002: 12,3 Mrd.) und China geschätzte 41 Mrd. US-Dollar in 2005 (von 26,1 Mrd. US-Dollar 2001). Ging es am Ende des Kalten Krieges noch um eine Friedensdividende, hält der Ruf nach kriegerischen Handlungen und militärischen Aktionen zunehmend Einzug in die internationale Politik.

Dies ist auch im US-Präsidentschaftswahlkampf zu beobachten: »Bomb bomb bomb – bombbomb‘ Iran« sang John McCain, einer der Präsidentschaftskandidaten der Republikaner nach der Melodie von »Bar bar bar, Barbar’ Ann«. Das war vielleicht noch ein – geschmackloser – Witz. Mitbewerber Duncan Hunter war bezüglich des Iran todernst: »I would authorize the use of tactical nuclear weapons if there was no other way to pre-empt those particular centrifuges«. Mit solchem Gedankengut einer selbst erklärten Weltmacht können weder weltweit Sicherheit noch nachhaltiger Frieden erreicht werden. Der Widerspruch zwischen den globalen Führungsansprüchen der US Regierung und ihrem Scheitern bei der Lösung von Konflikten ist unübersehbar.

Die für die Verteidigungsausgaben Verantwortlichen geben für Rüstung doppelt so viel aus, wie das gesamte Bruttoinlandsprodukt aller Länder des südlichen Afrikas zusammen. Dagegen nehmen sich die in Aussicht gestellten zusätzlichen zwei Mrd. Euro für die Entwicklung Afrikas wie Almosen aus. 75 % der globalen Militärausgaben stammen aus den 30 OECD-Staaten, und 707 Mrd. US-Dollar der weltweiten Militärausgaben aus den G8-Staaten. Die Gesamtausgaben für die globale Entwicklungszusammenarbeit (EZ) betrugen in 2005 nur 106,8 Mrd. US-Dollar. Damit lag das Verhältnis von Militärausgaben in den Industrieländern zu den Gesamtausgaben für die globale EZ bei erschreckenden 7:1. Dies macht die Aufrufe zum Kampf gegen die Armut zur Farce. Mehr als 1 Billion US-Dollar für Aufrüstung sind obszön, wenn wir sie mit den weltweiten Anstrengungen für die Bekämpfung von HIV/AIDS vergleichen.

Die Aufrüstung scheint sich auch in den Weltraum auszudehnen. Die Bush Regierung hat ernsthaftes Interesse an der Entwicklung von Anti-Satelliten Waffensystemen (ASAT) bekundet und angekündigt, diese im Rahmen ihres Weltraumraketenabwehrsystems 2008 auch testen zu wollen.

Die weltweiten Investitionen in Rüstung und Militär zeigen, dass auch die Rüstungskontrolle in einem beklagenswerten Zustand ist. Der Vertrag zur Nichtverbreitung von Kernwaffen wird durch die Mächtigen der Unterzeichnerstaaten ausgehöhlt. Die USA und Großbritannien haben die Modernisierung ihrer Nuklearwaffen schon ins Auge gefasst; die Folge ist weltweit ein verstärktes Drängen nach Nuklearwaffen. Auch der über sechs Jahre bis 2006 anhaltende Versuch der UNO, den legalen Handel mit Waffen zu regulieren, illegale Waffen aufzuspüren und zu vernichten sowie eine breite Kontrolle des Waffenbesitzes einzuführen, ist kläglich gescheitert – am Veto mächtiger Staaten wie den USA.

Die Spirale der Aufrüstung geht weiter. Die Argumente sind immer die gleichen: »Wir benötigen Waffen und Waffensysteme um unsere Sicherheit zu erhöhen«. Die Diskussion um das iranische Atomprogramm und die beabsichtigte Raketenstationierung in Europa unterstreichen diesen Trend. Durch die amerikanischen Raketenabwehrpläne in Osteuropa fühlt sich Russland provoziert: Ein weiteres »unvermeidbares Wettrüsten« wird die Folge sein. Selbst das großzügig scheinende Angebot Putins an die USA, Russlands Satellitenstation in Aserbaidschan mitbenutzen zu dürfen, wird sowohl an den technischen Möglichkeiten als auch an der amerikanischen »go-it-alone«-Strategie scheitern. Teil der Aufrüstungsspirale ist auch die russische Überlegung, den Vertrag über die Konventionellen Streitkräfte in Europa und den Vertrag über die vollständige Abschaffung von Mittelstreckenraketen zu kündigen.

Wie kann aber die fatale Logik der Aufrüstung, der fast nicht mehr funktionierenden Rüstungskontrolle, durchbrochen werden? Es gibt Handlungsoptionen, auch auf nationaler Ebene:

  • Waffen müssen kontrolliert, eingesammelt und vernichtet werden. Denen, die sie benutzt haben, muss eine Möglichkeit zur friedlichen Integration in die Gesellschaft geboten werden.
  • Kreative und innovative Lösungen zur Konfliktvermeidung müssen erforscht und komplementär zu traditioneller Rüstungskontrolle angewendet werden, so etwa der Kimberley-Prozess.
  • Zivile Krisenprävention, Konfliktbeilegung und Friedenskonsolidierung müssen eine Bedeutung haben wie der Klimaschutz.
  • Eine Integrative Sicherheitsstrategie bedarf einer konzeptionellen Klärung und einer engeren Diskussion und Koordination zwischen AA, BMZ, BMVg.
  • Stärkeres Engagement der EU und der Bundesregierung zur Reduzierung der weltweiten Rüstungsausgaben.
  • Höhere Investitionen in präventive Maßnahmen, z.B. des Beirats für zivile Krisenprävention.

Bei den Bemühungen der Regierenden zur Abrüstung, Rüstungskontrolle und Sicherheitsforschung gibt es noch immer eine nicht hinnehmbare Kluft zwischen Worten und Taten.

Peter J. Croll ist Geschäftsführer des Internationalen Konversionszentrums Bonn – Bonn International Center for Conversion (BICC)

Der Einfluss des US-Militärs

Nanotechnologieforschung in Lateinamerika:

Der Einfluss des US-Militärs

von Guillermo Foladori

Die Nanotechnologie stellt die weitreichendste technologische Revolution unserer Zeit dar. Die Firma Lux Research, die 2006 die Kommerzialisierung in der Nanotechnologie untersucht hat, schätzt, dass im Jahr 2005 9,6 Mrd. US$ in Forschung und Entwicklung der Nanotechnologie investiert wurden. Auch wenn ein gewisser Grad an Polemik über den potentiellen Nutzen und die Nutznießer der Nanotechnologie vorherrscht, so lässt sich bei genauerer Betrachtung der potenziellen Nanotechnologieprodukte, isoliert von ihren spezifischen sozialen Kontexten, feststellen, dass sie zu einer Verbesserung der Lebensbedingungen der Mehrheit der Weltbevölkerung beitragen können. In diesem Zusammenhang genügt der Hinweis auf die revolutionären Verfahren zur Entsalzung, Klärung und Gewinnung von Trinkwasser; zur Energiegewinnung durch Solarzellen; zur sicheren medizinischen Diagnose, dem Einsatz von Medikamenten, die gezielt nur betroffene Zellen und Organe ansteuern sowie die Verwendung von neuartigen Implantaten und Prothesen. Ihrer revolutionären Technologie entsprechend kommt der Nanotechnologie aber auch im Rüstungsbereich eine immer größere Bedeutung zu.

Wie jedes andere Produkt auch, so muss der Einsatz von Nanotechnologieprodukten seine Marktfähigkeit beweisen, indem er seine Überlegenheit gegenüber konventionellen Produkten durch einen höheren Nutzen und/oder überlegenen Preis demonstriert. Rüstungsprodukte werden ebenfalls durch ihre Konsumenten bewertet, aber im Unterschied zu zivilen Produkten vollzieht sich ihre Verwendung in kriegerischen Auseinandersetzungen. Der Nutzen dieser Produkte wird gemessen an ihrer Effizienz im Gefechtsfall, an ihrer Effizienz zur Überwindung feindlicher Verteidigungsanlagen, ihrer Spionagetauglichkeit etc. Auch wenn dies z.B. nicht der Fall bei Überwachungs- oder Verteidigungssystemen ist, so sind die Grenzen auf diesem Gebiet äußerst schwammig und die »Feuerprobe« neuartiger Technologien findet immer noch in Kriegssituationen statt. So ist es wenig verwunderlich, dass die Flotte der Vereinigten Staaten es als eine der Hauptaufgaben der Nanoelektronik ansieht, „die Überlebensfähigkeit durch effizientere Frühwarnsysteme zu erhöhen“, die „Kostenreduzierung während der Operation zu erreichen“, die „Durchschlagskraft (zuerst sichten, zuerst schießen, sicher treffen) sowie Verwendbarkeit der C4ISR1 zu erhöhen“, und „die logistischen Spuren des Einsatzes zu verringern“ (Lau, 2004).

Seit Gründung ihres Programms für die Förderung der Nanotechnologie haben die USA 1/4 bis 1/3 der Gelder für rein militärische Zwecke zur Verfügung gestellt (EOPUS, 2005). Dies ist schon für sich ein alarmierendes Anzeichen, denn wie Altmann (2006) bemerkte, führt dies zu einem Rüstungswettlauf verschiedener Länder innerhalb der Nanotechnologie.

Wissenschaftliche Neutralität in der Diskussion

Es ist wahrscheinlich, dass die Mehrzahl der lateinamerikanischen Wissenschaftler, die an Forschungsprojekten oder an wissenschaftlichen Kongressen finanziert durch US-amerikanische Militärinstitutionen teilnehmen, ihre eigenen Forschungsarbeiten als reine Wissenschaft betrachten.2 Sprich: Nach ihrer Auffassung betreiben sie Nanowissenschaft und nicht Nanotechnologie, Grundlagenforschung und keine Anwendung! Seit den Atombombenabwürfen über Hiroshima und Nagasaki gegen Ende des Zweiten Weltkriegs besteht diese ewige Diskussion. Es lohnt sich jedoch zweifellos, zwei Aspekte hervorzuheben, die, wenn schon nicht neu, so heutzutage jedoch offensichtlicher erscheinen. Der erste bezieht sich auf die jedes Mal geringere zeitliche Distanz zwischen der sogenannten theoretischen Grundlagenwissenschaft und ihrer darauffolgenden praktischen Anwendung. Burrus (1993) zeigte bereits, wie sich der Erfindungszeitpunkt und der daraus resultierende Produktionszeitpunkt einander immer weiter annähern.

Die Nanotechnologie ist gegenwärtig ein geeignetes Beispiel für die sich immer weiter verkürzende Dauer zwischen Entwicklung und Anwendung. Heutzutage ist es schwer zu behaupten, dass man nicht wisse, inwiefern Forschungsergebnisse verwendet würden, angesichts der Tatsache, dass Entwicklung und Anwendung fast zeitgleich geschehen. Gemäß eines Berichts des Verteidigungsministeriums der Vereinigten Staaten steht an erster Stelle von fünf Basisempfehlungen bezüglich Forschung und Entwicklung im Materialbereich, dass der Zeitraum zwischen Entwicklung und Anwendung mit verschiedenen Mitteln verkürzt werden solle.

Auch wenn für die durch den militärisch-industriellen Komplex der USA finanzierten lateinamerikanischen Wissenschaftler ein Unterschied zwischen reiner Wissenschaft und ihrer Anwendung besteht, so ist für das US-amerikanische Verteidigungsministerium jegliche Forschung auch gleichzeitig Anwendung. Gemäß dem Mansfield-Antrag aus dem Jahr 1973, der ausdrücklich die Geldzuwendungen an das Verteidigungsministerium auf rein militärische Forschungsprojekte begrenzt, wird allein schon dadurch rechtlich die Möglichkeit ausgeschlossen, dass das US-Verteidigungsministerium oder seine Unterorganisationen reine Wissenschaft ohne militärische Anwendungsmöglichkeiten finanzieren.

Der zweite Aspekt, bei dem sich die Grenzen zwischen Wissenschaft und Anwendung oder Nanowissenschaft und Nanotechnologie verwischen, ist die Tatsache, dass in Forschung und Entwicklung vermehrt Physiker, Chemiker oder Biologen mit Ingenieuren, Informatikern und anderen Technikern zusammenarbeiten. Die Nanotechnologieinitiative der Vereinigten Staaten spricht von den sogenannten Converging Technologies, wenn Nanotechnologie, Biotechnologie, Informationstechnologie und Kognitionswissenschaften zusammentreffen. Ein von der UNESCO veröffentlichtes Dokument über die »Ethik und Politik in der Nanotechnologie« argumentiert, dass ein großer Bestandteil der Grundlagenwissenschaft auf diesem Gebiet solche Instrumente, Praktiken, Werkstoffe und Techniken nutzt, die rein technologischer Natur sind, wie Computer, Software, komplexe Mikroskope und Instrumente für physikalische und chemische Veränderungen und Messungen (UNESCO, 2006).

Aus der Sicht der beteiligten Wissenschaftler gibt es sicherlich einen Unterschied. Da die Nanotechnologie als eine ihrer hervorstechendsten Eigenschaften ihre geringe Größe und die besonderen Eigenschaften ihrer Werkstoffe hat, kann diese Technologie praktisch in jedem Produktions- und Dienstleistungssektor eingesetzt werden. Die Erfindungen im Rüstungssektor können für den zivilen Sektor umkonstruiert werden und umgekehrt. Als ob diese Vielseitigkeit nicht schon ausreichend wäre, so ist die Rüstungsindustrie in der Lage, praktisch jede zivile Erfindung zur militärischen Anwendbarkeit zu bringen. 1999 beauftragte das US-Verteidigungsministerium eine Kommission mit der Durchführung von Forschungsarbeiten zur Identifizierung von neuartigen Werkstoffen, die die Verteidigungsfähigkeit der USA revolutionieren sollen. Diese Kommission, genannt National Materials Advisory Board, veröffentlichte im Jahr 2003 einen Bericht (NMAB 2003), in dem sie fünf Schlüsselgebiete identifizierte:

  • Strukturell neuartige und multifunktionale Werkstoffe,
  • Hochleistungswerkstoffe,
  • elektronische und photonische Verbundstoffe,
  • organische und hybride Werkstoffe sowie
  • biotechnologische Werkstoffe.

Wie die Kommission mitteilte, war die Vielfalt so groß, dass man gezwungen war, einzelne Gruppen zu bilden, um alle Teilgebiete zu erfassen. Das Ergebnis dieser Politik ist, dass das US-Militär so präsent in der Wirtschaft der USA sowie der Welt ist, dass es unwahrscheinlich erscheint, dass es nicht am zivilen, wissenschaftlichen Fortschritt partizipiert. Was also wäre der Unterschied zwischen einer Forschung, die direkt durch das Militär finanziert wird oder durch eine zivile Institution? Die Antwort darauf kann nur eine ethische sein: Entweder für den Frieden oder für eine Wissenschaft und Technologie, die sich zunehmend militarisiert.

Es ist auch möglich, dass viele lateinamerikanische Wissenschaftler, die durch das US-Militär finanziert werden, nicht die wahren Absichten der USA bezüglich ihrer Forschungsergebnisse verstehen. Letztendlich interagieren sie ja mit amerikanischen und anderen Wissenschaftlern aus allen Teilen der Erde, viele von diesen ebenfalls mit Lehraufträgen an US-amerikanischen Universitäten. Sie sprechen die gleiche Sprache und teilen Sitten und Gebräuche. Es geht z.B. um Sensoren und multifunktionale Werkstoffe und um Nanoröhren, etwas, das sie schwerlich in Verbindung mit militärischer Nutzung bringen. Zweifellos ist die Verbindung für das amerikanische Verteidigungsministerium offensichtlich, für dieses gibt es wenig, was sich nicht mit seinen militärischen Interessen in Verbindung bringen lässt, wie das NMAB am Anfang seines kürzlich veröffentlichten Berichts von 2003 klarstellt.

Direkte Präsenz des US-Militärs in der Forschung

Auch wenn bereits in den neunziger Jahren in einigen Forschungszentren Lateinamerikas zur Nanotechnologie geforscht wurde, so kam der größte Impuls mit Beginn des neuen Jahrtausends. Die ersten offiziellen Aktivitäten in Brasilien begannen 2001, auch wenn erst ab 2004 mit einem Regierungsprogramm zur Förderung der Nanowissenschaften und –technologie begonnen wurde. 2005 wurde die argentinische Forschungskommission zur Nanotechnologie gegründet. In Mexiko gibt es noch kein offizielles Regierungsprogramm, es wird aber von ungefähr 500 Wissenschaftlern ausgegangen, die in zwölf Forschungszentren arbeiten. Diese Länder bilden gleichzeitig die Speerspitze lateinamerikanischer Forschungsarbeit (Foladori, 2006).

Das Interesse des US-Militärs an lateinamerikanischer Forschungsarbeit in diesem Bereich ist explizit; auch wenn viele Informationen über Finanzierung und den Personaleinsatz innerhalb lateinamerikanischer Forschungsprojekte zur Nanotechnologie im Internet erhältlich sind, so sind es doch die direkten Kontakte, die die zukünftige Zusammenarbeit fördern sollen. Darum organisierten die US-Luftwaffe und -Marine im April 2004 eine Diskussionsplattform, genannt Latin America Science & Technology Forum, mit der expliziten Zielsetzung, die „Vorherrschaft der USA in Wissenschaft und Technik für ganz Amerika auszubauen“ (ONRG, 2004a). Hohe Repräsentanten ziviler Forschungseinrichtungen aus Argentinien (der Vizedirektor der CONICET), aus Chile (Direktor der FONDEF-CONACYT) und aus Mexiko (Direktor der wissenschaftlichen Forschungsarbeit der CONACYT) präsentierten zu diesem Anlass die Wissenschafts- und Technologiefortschritte ihrer Länder; so als ob es Aufgabe dieser zivilen Institutionen wäre, das US-Militär über lateinamerikanische Forschungsfortschritte zu informieren. Diese Kontakte werden ergänzt durch offizielle Besuche hochrangiger US-Repräsentanten in Lateinamerika. Ende März 2002 besuchte der Vizedirektor des internationalen Büros der US-Marine die Universidad de Concepción in Chile, mit dem Ziel, potentielle Forschungsbereiche herauszufiltern, die für eine eventuelle Kooperation geeignet sind (Concepción, 2002).

Die Streitkräfte der Vereinigten Staaten verfügen mit der Armee, der Marine und der Luftwaffe über drei verschiedene Segmente, die wissenschaftliche Forschung (unter anderem Nanotechnologie) an privaten und öffentlichen Universitäten und Forschungszentren in unterschiedlichen Ländern finanziell unterstützen. Die drei Teilstreitkräfte arbeiten auch in den sogenannten internationalen Technologiezentren zusammen. Insgesamt gibt es drei durch das US-Militär finanzierte Technologiezentren. Das ITC-Atlantic, mit Sitz in London und zuständig für Europa, Afrika und Teile Asiens, darunter auch das Gebiet der ehemaligen Sowjetunion. Das ITC-Pacific, mit Sitz in Tokio und zuständig für den Rest Asiens und den Süden Afrikas, und schließlich wurde im Jahr 2004 das ITC-America in Santiago de Chile gegründet, zuständig für ganz Amerika und die Karibik, darunter Kanada (U.S. Army ITC-Atlantic; IDUSARDEC, 2004). Die Zielsetzung des ITC-America ist die gleiche wie für die anderen internationalen Forschungszentren.

Aus der Webseite der US-Marine geht hervor, dass sie bereits seit 2004 zusammen mit dem argentinischen Forschungszentrum »Centro Atómico Bariloche de la Argentina«, der Universität von Michigan, der Brown Universität und dem Marine-Forschungszentrum ein Projekt betreibt, sowie ein weiteres aus dem gleichen Jahr zusammen mit der Universität von San Pablo in Brasilien (ONRG, 2004b). Um aber eine sinnvolle Finanzierung zu bekommen, musste das US-Militär zuerst die Wissenschaftler identifizieren, die für seine Belange von Interesse sind. Aus diesem Grund organisierten die US-Marine und die Luftwaffe drei internationale Workshops zu einem der Hauptinteressensgebiete des US-Verteidigungsministeriums in Lateinamerika. Dieses Hauptinteressensgebiet sind multifunktionale Werkstoffe (NMAB, 2003), also Materialien, die strukturelle Eigenschaften wie Festigkeit, Langlebigkeit und Robustheit besitzen und darüber hinaus über elektrische, magnetische, optische, thermische und biologische Eigenschaften verfügen. Basis dieser neuartigen Materialien sind die Mikro- und Nanotechnologie, eines der Hauptforschungsgebiete in Wissenschaft und Technik Lateinamerikas sowie der US-amerikanischen Marine und Luftwaffe (AFOSR, 2005).

Die Workshops wurden durch Lateinamerikaner, die an US-amerikanischen Universitäten arbeiten, sowie durch US-Amerikaner organisiert, um so die Kontaktherstellung zu lateinamerikanischen Wissenschaftlern zu vereinfachen. Auch wenn es sich bei der Mehrzahl der Wissenschaftler um US-Amerikaner handelte, so wuchs die Zahl lateinamerikanischer Wissenschaftler mit dem Verlauf der Workshops von einem Viertel auf ein Drittel der Teilnehmer.

Die Präsenz des US-Militärs in lateinamerikanischer Forschungsarbeit zur Nanotechnologie reduziert sich also nicht nur auf militärische Forschungsanstalten. Sogar auf Regierungsebene wird nach Möglichkeiten zur zukünftigen Zusammenarbeit gesucht, so wie im Fall der mexikanischen Regierung, die 2005 zusammen mit Kanada und den USA den Vertrag »Security and Prosperity Partnership of North America« (SPPNA) schloss. Dieser Vertrag beinhaltet die wissenschaftliche Zusammenarbeit bei Forschung und Entwicklung von Bio- und Nanotechnologien, unter direkter Beeinflussung des US-Militärsektors (SPPNA, 2005). Die Zusammenarbeit beschränkt sich allerdings nicht auf den zivilen und militärischen Sektor der USA, auch das lateinamerikanische Militär selbst ist am Forschungsfortschritt interessiert. Das wurde im Juni 2006 in Buenos Aires offensichtlich, als Militärexperten aus Argentinien, Bolivien, Brasilien, Kanada, Chile, Kolumbien, Ecuador, El Salvador, Mexiko, Guatemala, Nicaragua, Paraguay, Peru, Uruguay, der Dominikanischen Republik und Venezuela an einer Konferenz mit dem Thema »The Contribution of Science and Technology to support Peace Keeping Operations and Disaster Relief Operation in Catastrophes« teilnahmen.

Die Zielsetzungen gingen dabei weit über das hinaus, was der Titel der Konferenz glauben machen wollte, wie man an den Themen der zukünftig abzuhaltenden Konferenzen ablesen kann. Dabei wird es um folgende Sachverhalte gehen: Anwendung von nicht-letalen Technologien zur Kontrolle von Massenveranstaltungen, Trinkwassergewinnung und -verteilung, Erzeugung von Elektrizität und Haltbarmachung von Lebensmitteln (USARSO, 2006).

Nicht alle sind einverstanden

In Argentinien entwickelte sich eine polemische Debatte über die Einbeziehung des US-Militärs in die Nanotechnologieforschung in Lateinamerika und darüber, welche Konsequenzen sich aus den neuen Technologien innerhalb Lateinamerikas ergeben.

Im Oktober 2004 kündigte das argentinische Wirtschaftsministerium einen Regierungsplan an, um die Nanotechnologieforschung im Land zu intensivieren. Es kündigte in diesem Zusammenhang eine verstärkte Zusammenarbeit mit der amerikanischen Firma Lucent Bell Technologies an. Diese Zusammenarbeit sieht unter anderem vor, dass argentinische Wissenschaftler die Laboratorien der Firma in New Jersey nutzen können (Sametband, 2005). Die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. Die Zeitung Página 12 veröffentlichte mehrere Artikel, die besagten, dass ein Großteil argentinischer Forschung vom US-Verteidigungsministerium finanziert wurde (Ferrari, 2005a, 2005b, 2005c). Daraufhin veröffentlichte der nationale argentinische Ausschuss für Ethik in Wissenschaft und Technik ein Kommuniqué, in dem es zu einer Regulierung ausländischer Forschungsunterstützung aufrief und forderte, Finanzierung durch ausländische Streitkräfte stark zu begrenzen (Ferrari, 2005b). Zur gleichen Zeit forderte der Ausschuss für Wissenschaft und Technik im argentinischen Abgeordnetenhaus einen offiziellen Bericht darüber an, welche Art von argentinischen Forschungsaktivitäten durch das US-Verteidigungsministerium unterstützt werden (Puig de Stubrin et al, 2005).

In diese Debatte fiel 2005 die Planung für das Seminar über multifunktionale Werkstoffe, das im März 2006, finanziert durch Marine und Luftwaffe der Vereinigten Staaten, abgehalten werden sollte. Die argentinische Presse schaltete sich sofort ein (Ferrari, 2006a, 2006b). Der verantwortliche Leiter des Forschungszentrums »Centro Atómico Bariloche«,der mitverantwortlich für die Organisation des Seminars war, hinterfragte öffentlich die Legitimität des Seminars (Ferrari, 2006b).3 Die Arbeitergewerkschaft des betreffenden argentinischen Bundesstaates veröffentlichte ebenfalls ein kritisches Kommuniquée (ATE, 2006). Schließlich verlangte der argentinische Kongress 2006 einen offiziellen Bericht zum Thema (CNDA, 2006). Die Unstimmigkeiten vertieften sich, und schließlich trat der Leiter des Forschungszentrums »Centro Atómico Bariloche» zurück (Rio Negro, 2006a, 2006b).

Schlussfolgerungen

Technischer Fortschritt gilt gemeinhin als vorteilhaft für die menschliche Zivilisation. Auch wenn dies nicht immer zutrifft, da von technologischen Neuerungen stets einige mehr profitieren als andere, so hat sich doch die Auffassung durchgesetzt, dass langfristig gesehen alle innerhalb der Gesellschaft am Fortschritt partizipieren. Diese Illusion von zukünftigen Vorteilen wurde schon durch die Umweltbewegungen kritisiert, die anhand der Industrialisierung aufzeigten, dass kurzfristig erreichte Vorteile sich langfristig gesehen in Nachteile verwandeln können.

Wir befinden uns augenblicklich erneut vor einer technologischen Revolution; nach einigen Analysen geht sie weitreichender und schneller vonstatten als jemals zuvor. Dies ist die Nanotechnologierevolution. Auch wenn es zu früh erscheint, jetzt schon den potenziellen Nutzen der Nanotechnologierevolution zu bewerten, so ergeben sich bereits einige bemerkenswerte Unterschiede, wenn man diese aktuelle Revolution mit den vorherigen vergleicht. Die Agrarrevolution revolutionierte die Produktivität bezüglich der Produktion von Lebensmitteln; die industrielle Revolution garantierte essenzielle Fortschritte in der Bekleidungsindustrie und praktisch bei allen Produkten des täglichen Gebrauchs. Die Revolution im Transportwesen gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatte klare Produktivitätssprünge beim Warenaustausch zur Folge. Die Besonderheit bei der Nanotechnologie ist ihre enge Verbindung zum militärischen Sektor. Die von den USA anlässlich ihrer National Nanotechnology Iniative zur Verfügung gestellten Mittel fließen zu einem Drittel direkt in die militärische Forschung. Dies könnte zur Folge haben, dass andere Staaten mit ihrer Mittelaufteilung ebenso verfahren und dadurch zwar erfolgversprechende Hochtechnologie entwickelt, diese aber in großem Stil nur im Militärsektor angewendet wird.

Die Entwicklung der Militärtechnik ist das Resultat des Kampfes um wirtschaftliche und politische Hegemonie mit den Mitteln der direkten Konfrontation. Dies ist kein technologiespezifisches Problem, sondern hat mit dem imperialistischen Charakter zu tun, der der Forschung in Wissenschaft und Technik aufgezwungen wird. Die Wissenschaftler bewegen sich innerhalb einer großen Unsicherheit, oft nicht wissend, welche ihrer Forschungsprojekte direkt oder indirekt durch das Militär finanziert werden.

Es ist außerordentlich wichtig, dass sich in der Welt und in Lateinamerika eine Debatte über die zukünftige Richtung von Wissenschaft und Technik entfaltet. Es müssen Ethikkommissionen geschaffen werden, die sich mit Technologieprojekten und ihrer Finanzierung kritisch auseinandersetzen, so wie es beispielhaft schon in de Biotechnologie der Fall ist. Angesichts der Tatsache, dass die Mehrheit der Forschungsprojekte innerhalb Lateinamerikas staatlich finanziert werden, ist es unabdingbar, dass die Forschungsergebnisse der Mehrheit der Bevölkerung zu Gute kommen und nicht partikulären Militärinteressen.

Literatur

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Anmerkungen

1) C4ISR steht für Kommando, Kontrolle, Kommunikation, Computer, Nachrichten, Überwachung und Aufklärung

2) Ein argentinischer Wissenschaftler, der Gelder vom Office of Naval Research der USA erhält, antwortete einem Journalisten mit den folgenden Worten: „Ich möchte an keiner Forschung teilhaben, die eine potenzielle militärische Anwendung vorsieht“ (zitiert nach Ferrari, 2006a).

3) Die Leitung des Forschungszentrums betrachtete die Einbeziehung des US-Militärs in die Finanzierung des Seminars äußerst kritisch. Sie verwies vor allem darauf, dass es hauptsächliche Zielsetzung des Sponsors sein würde, eine verbesserte Anwendbarkeit seiner Waffentechnologie zu erreichen, auch im Hinblick auf das bestehende Nukleararsenal. Erklärung der Leitung des CAB, José Granada, in einer veröffentlichten Mail. Entnommen aus Gorosito, (Gorosito, 2006).

Guillermo Foladori ist Professor im Fachbereich Development Studies der Universität von Zacatecas, Mexiko. fola@estudiosdeldesarrollo.net. Der Autor dankt Christopher Coenen und Jürgen Altmann für ihre Kommentare und ihre Unterstützung bei der Übersetzung.

Ein Investment-Fonds als außenpolitisches Instrument?

Carlyle:

Ein Investment-Fonds als außenpolitisches Instrument?

von Werner Ruf

Die Geschäftserfolge von Carlyle erscheinen geradezu märchenhaft. Doch nicht jeder Anleger erhält das Privileg, hier sein Kapital vermehren zu dürfen. Nach welchen Kriterien das Screening der Kunden durchgeführt wird, ist nicht transparent. Doch dürfte Carlyle noch mehr sein als nur ein erfolgreicher Investment-Fonds: Die Nähe des Managements zum politischen Establishment dürfte nicht nur die Geschäftserfolge erklären, sie könnte den Fonds auch zu einem Instrument der US-Außenpolitik machen. Auch mit seiner schon früh erfolgten Beteiligung an dem privaten militärischen Unternehmen Vinnell zeigte Carlyle nicht nur seine glückliche Hand als Investor in dieser boomenden Branche, die Firma begab sich damit auch in jene Grauzone, wo Politik, Geschäft und die Durchsetzung politischer Ziele mittels Gewalt in einander fließen.

Die Firma wurde 1987 von vier Investoren mit einem Kapital von fünf Mio. US$ gegründet. Heute liegt sie auf Rangplatz neun der großen Investmentfirmen.1 Sie verwaltet derzeit 30,9 Mrd. US$.2 Die sehr nüchterne und nicht sehr explizite homepage der Firma versichert den Anlegern „außerordentliche Rückflüsse“. Die Firma selbst hat über 600 Beschäftigte. In den Firmen, an denen sie beteiligt ist, arbeiten über 131.000 Menschen. Carlyle, benannt nach dem Gründungsort, dem Carlyle Hotel in New York, basiert auf privater Partnerschaft, das heißt, dass die Firma einer »Gruppe von Individuen« gehört, von denen die meisten Manager bei Carlyle sind. Sie werden offensichtlich aus einem Personenkreis rekrutiert, der engste Beziehungen zum politischen und wirtschaftlichen Establishment hat. Die Investoren sind öffentliche und private Institutionen sowie sehr vermögende Individuen, ihre Namen sind nur selten bekannt. Explizite Politik der Firma ist es, hoch qualifizierte Fachkräfte der Investment-Branche zu rekrutieren, die eine „große Reputation in ihren jeweiligen lokalen Märkten haben und über etablierte Kontakte zu hohen Geschäftskreisen verfügen.“3 Diese Anforderungen könnten auch gelesen werden als Auswahlkriterien für die wichtigsten Investoren, die großenteils zugleich Management-Funktionen in der Firma innehaben. Im Verwaltungsrat von Carlyle finden sich folgerichtig:4

  • der ehemalige US-Präsident George Bush sen., zuvor Vizepräsident der USA und Direktor der CIA.
  • Frank Carlucci, vormals US-Verteidigungsminister und stellvertretender Direktor der CIA.
  • James Baker III, vormals Außen- und Finanzminister, von Präsident George W. Bush im Dezember 2003 zu seinem persönlichen Beauftragten für die Umschuldung des Irak ernannt.
  • John Major, vormals britischer Premierminister, der dem europäischen Zweig der Firma vorsteht.
  • Fidel Ramos, vormals Präsident der Philippinen, Aufsichtsratsmitglied von Carlyle-Asia.

Zu den wichtigsten privaten Anlegern der Firma gehören George Soros, Prinz Alwaled bin Talal bin Abdul Aziz Al-Saud. Auch die Familie Osama bin Ladens zählte zu diesem Kreis, liquidierte allerdings ihre Einlagen im Oktober 2001 (spekuliert wird über den bescheidenen Betrag von 2 Mio. US$). Carlyle glänzt auch in der Außendarstellung durch Prominenz: International renommierte Personen treten als Festredner auf – so der ehemalige US-Außenminister Colin Powell oder der Vorsitzende von AOL Time Warner, Steve Case, ebenso wie der frühere Bundesbank-Präsident Karl Otto Pöhl. Vater Bush soll pro Rede bis zu 100.000 US$ Honorar erhalten5 – eine gute Voraussetzung für weitere Investitionen.

Als »private global investment firm« ist Carlyle keine Aktiengesellschaft. Aus diesem Grunde gibt es auch keine Rechenschaftsberichte, bleiben Geschäftsgebaren, Gewinne und Verluste der Firma im Dunkeln.6 Allerdings sind auf der homepage (alle?) die Firmen aufgeführt, an denen Carlyle Beteiligungen hält, wobei der Umfang der Beteiligung nicht immer erkennbar ist. Carlyle entscheidet selbst, wer »qualifizierter Anleger« ist und in diesen ausgewählten Kreis aufgenommen wird.7 Als Beteiligungsgesellschaft nimmt Carlyle Kapital von seinen Mitgliedern auf, um es in Form von Management Buyouts, Venture Capital, strategischen Minderheitsbeteiligungen zu investieren. Insgesamt gehören der Firma 550 Investoren aus 55 Ländern an. 21 Niederlassungen existieren in den USA, Europa (so in Frankfurt, München, London und Paris) und Asien. Die wichtigsten Branchen von Carlyle sind:

  • Flugzeugbau und Verteidigung
  • Kfz – Technik
  • Industrie
  • Energie
  • Gesundheitswesen
  • Informationstechnologie/Telekommunikation und Medien
  • Immobilien

Carlyle selbst gliedert seine Beteiligungen folgendermaßen:8 (sh. Grafik)

Die Investitionen von Carlyle sind also breit gestreut, der Rüstungssektor nimmt trotz der in der Grafik auf 1% veranschlagten Investitionen einen gewaltigen Bereich der Beteiligungen ein. Immerhin nennt sich die Firma selbst den „führenden Investor in Luftfahrt- und Verteidigungsindustrie“ mit einem Investitionsvolumen von 7,4 Mrd. US$.9 Jedoch muss und kann davon ausgegangen werden, dass rüstungsrelevante Investitionen weit über den reinen Rüstungsbereich hinausgehen: Gerade in den Branchen des Fahrzeugbaus, der Informationstechnologie, aber auch der Medizin gibt es vielfältige Formen des »double use«: Die Produkte und Systeme sind oft sowohl zivil wie militärisch nutzbar. Ein weiterer strategischer Schwerpunkt der Investitionen/Beteiligungen von Carlyle ist der geopolitisch relevante Energiesektor, auf die umfangreichen und einschlägigen Beteiligungen kann hier nicht eingegangen werden. Im engeren Bereich der Rüstungsindustrie hält Carlyle – unter vielen Anderen:

  • 49% des Kapitals von United Defense, dem führenden Entwickler und Produzenten von Kampffahrzeugen, Artillerie, Schiffsgeschützen, Raketenabschussbasen und Präzisionsmunition. Die Firma ist zugleich die größte Schiffsreparaturwerft, und ihr gehört der schwedische Rüstungskonzern Bofors.
  • Hinzu kommt United States Marine Repair Inc., die insbesondere auf die Reparatur, Modernisierung und Wartung der US-Kriegsflotte, aber auch ziviler Schiffe spezialisiert ist.
  • AvioSpa erwarb Carlyle zusammen mit Finmeccanica im September 2003 von der Fiat-Gruppe für 1,6 Mrd. &, wobei Calyle 70%, Finmeccanica 30% der Anteile hält. Die Firma ist spezialisiert auf Entwicklung und Produktion von militärischen und zivilen Flug-, Schiffs- und Raumfahrtsantriebssystemen. Bei diesem Erwerb – so Carlyle auf seiner homepage – kamen der Firma ihre „sektorielle Erfahrung und lokale Kenntnisse“ zu Gute.10 Die Avio-Gruppe kaufte am 7. Juni 2005 von Royal Philips Electronics 80% von Philips Aerospace (Eindhoven), den führenden Produzenten von komplexen Komponenten für General Electric, Boeing, Rolls Royce, Lockheed Martin und BAE Systems. in der Folge wurde die Firma umbenannt in DutchAero B.V.
  • Aviall ist der führende Zulieferer für Flugzeug- und Schiffbauindustrien. Die Firma sicherte sich einen Zehnjahresvertrag für die Wartung von Rolls-Royce-Turbinen, die Standard-Ausrüstung der Transportmaschine Herkules 130 und weiterer Flugzeugtypen.
  • Indigo Systems Inc. ist Produzent von Infrarot-Systemen, die Wärmequellen in Dunkelheit, Nebel und durch bauliche Widerstände hindurch orten können. Eine Investition von 10 Mio. US$ im Jahre 2002 brachte im Folgejahr Einnahmen in Höhe von 30 Mio. US$.
  • Stellex Aerostructures, Inc. ist einer der führenden Hersteller von Titan- und Aluminium-Komponenten für die Luft- und Raumfahrt sowie für die Rüstungsindustrie.
  • US Investigations Services, Inc. ist der größte Hersteller von Geräten im Bereich der investigativen und professionellen Sicherheitsdienste in Nordamerika.11
  • Mit QinetiQ erwarb Carlyle 2003 Anteile am größten Technologie-Konzern in Europa und wurde so zum »strategischen Partner« des britischen Verteidigungsministeriums. Auch bei diesem Vertragsabschluss waren die „Expertise im Bereich des Verteidigungs- und Luftfahrtsektors“, ebenso entscheidend wie „die lokalen Kenntnisse unseres britischen Investment-Teams.“12
  • Am 27. September 2005 erwarb Carlyle außerdem die britische Firma NP Aerospace zum Preis von 54 Mio. US$. Sie ist einer der führenden Hersteller im Luftfahrt- und Verteidigungssektor.

Diese Auflistung könnte noch lange fortgesetzt werden. Die Erarbeitung einer Verflechtungs- und Beteiligungsmatrix von Carlyle geriete zur Sisyphos-Arbeit, vor allem, wenn man die »nicht-militärischen« Bereiche noch auf ihre Relevanz für den Rüstungssektor untersuchen wollte. Deutlich wird allerdings bereits aus der obigen Aufzählung, dass die Firma nicht nur eine finanzpolitische Bedeutung, sondern auch ein politisch-strategisches Potential besitzt. Es wäre verwunderlich, wenn dieses nicht genutzt würde – zur Gewinnmaximierung ebenso wie zur politischen Einflussnahme, die zum Ersteren ja nicht in Widerspruch zu stehen braucht.

Denn Carlyle ist gewissermaßen das Scharnier zwischen privaten Geschäftsinteressen und Investitionen der US-Regierung im Bereich der Verteidigung, der Energieversorgung und der Informationstechnologien. Die Firma operiert „im so genannten Dreieck von Industrie, Regierung und Militär“,13 also dem »inner circle« des amerikanischen militärisch-polit-ökonomischen Komplexes. Es sind die personellen Verflechtungen im Schnittpunkt dieses Dreiecks, die die gigantischen Wachstumsraten der Firma in weniger als zwei Jahrzehnten erklären. Sie sind das Resultat geradezu einzigartig enger Beziehungen zwischen Personen wie Georges Bush, Frank Carlucci oder James Baker III mit dem Pentagon und seinem derzeitigen Chef Donald Rumsfeld, mit Vize-Präsident Dick Cheney und vielen Anderen: Firmen, die der Carlyle-Gruppe angehören, erhielten allein im Jahr 2002 Rüstungsaufträge von insgesamt 1,4 Mrd. US$.14 Auf der anderen Seite beschränken sich diese Verflechtungen wie auch die Interessen15 keineswegs auf das US-amerikanische Establishment: Sie sind im Wortsinne global und verschmelzen führende Rüstungs- und Technologieunternehmen weltweit. Diese Verflechtung zwischen Finanzwelt, Politik und den Verwertungsinteressen der Rüstungskonzerne macht es möglich, Einfluss und Profite ungeheuren Ausmaßes zu sichern. Denn nirgendwo sind diese Profite leichter und größer als in der Kriegswirtschaft, sind doch Rüstungsprojekte weitestgehend der Geheimhaltung unterworfen, so dass sich offene Ausschreibungen verbieten. Und da sie von monopolistischen Abnehmern – Regierungen – vergeben werden, sind sie oft Quelle gigantischer Extraprofite. Genau hier zeigt sich der strategische Vorteil von Carlyle: Die Nähe zum politischen Establishment erschließt frühzeitig Wissen darüber, wo, wann und wie der nächste Krieg geführt werden soll und welche Waffensysteme hierfür vorgesehen sind. Kurz, es geht darum zu wissen, wo die Regierung(en) Geld ausgeben werden, um »vorsorgend« zu investieren.

Auch bei der Privatisierung der Gewalt lag Carlyle schon früh im Trend der Zeit und beteiligte sich an privaten militärischen Unternehmen, die, wenn sie sich nicht selbst an kriegerischen Aktionen beteiligen, vor allem in der Ausbildung tätig sind und so zugleich eine wichtige Vermittlerfunktion bei der Beschaffung von Rüstungsgütern darstellen.16 Bereits 1992 erwarb Carlyle die Vinnell Corporation.17 Die Firma ist schwerpunktmäßig tätig in der Ausbildung ausländischer Streitkräfte im Rahmen des International Military Education and Training – Programms der US-Regierung, aber auch für die US-Armee, die US-Air Force und das Department of Homeland Security. Zugleich tritt sie als Beschaffer der notwendigen Waffensysteme auf. Ein weiterer Schwerpunkt ist nachrichtendienstliche Tätigkeit.18 Wichtigster Klient war bisher Saudi-Arabien, wo Vinnell seit 1975 die Nationalgarde ausbildet. Bei einem Anschlag auf die Wohnungen des Personals von Vinnell kamen dort im Frühjahr 2003 sieben US-Amerikaner ums Leben. Inzwischen ist Vinnell auch in Ägypten, Qatar, Oman, Kuweit und der Türkei aktiv. 2003 erhielt das Unternehmen einen 48-Mio.-Auftrag zur Ausbildung der irakischen Armee.

Die Exklusivität und Qualität der Beziehungen zwischen den Spitzen der US-Administration, herausragenden Personen aus Politik und Hochfinanz und kapitalträchtigen Anlegern schaffen nicht nur ein Geflecht für lukrative Geschäfte, sie beinhalten zugleich das Potential, zu einem wichtigen politischen Instrument der Sicherung der US-Hegemonie zu werden: Die Kontrolle der militärischen Spitzentechnologien erscheint zunehmend als wesentlicher Bestandteil des sich verschärfenden hegemonialen Gegensatzes zwischen der EU und den USA. Der Kampf um die Kontrolle rüstungsrelevanter Spitzentechnologien in Europa begann offen mit der Übernahme von AvioSpa und der beiden oben genannten britischen Firmen durch Carlyle. Er fand einen vorläufigen Höhepunkt im Versuch Carlyles, einen erheblichen Anteil an der Howaldtswerke-Deutsche Werft zu erwerben. Dies scheint durch massive Intervention der Bundesregierung verhindert worden zu sein: Mit dem Closing am 05. Januar 2005 wurde der Zusammenschluss von ThyssenKrupp Werften und HDW vollzogen, eine 25%ige Beteiligung erhielt der – zivilere – Konkurrent One Equity Partners (OEP). Damit war der Startschuss für den Werftenverbund ThyssenKrupp Marine Systems gefallen.19

Die Auseinandersetzungen um den Aufkauf europäischer Rüstungsfirmen durch die US-Konkurrenz, an deren Spitze Carlyle als eine Art Ober-Holding agiert, fallen zeitlich zusammen mit der Schaffung der »Europäischen Verteidigungsagentur«, die im Verfassungsentwurf für die Europäische Union festgeschrieben wurde. Der Schwerpunkt der Arbeit dieses Amtes liegt in den Bereichen Fähigkeiten, Beschaffung und Forschung. Trotz des Scheiterns des Verfassungsentwurfs aufgrund der Ablehnung in Frankreich und den Niederlanden hat die Agentur inzwischen ihre Tätigkeit aufgenommen. Ihre Aufgabe ist es, auf EU-Ebene „bei der Ermittlung der Ziele im Bereich der militärischen Fähigkeiten der Mitgliedstaaten … mitzuwirken; auf die Harmonisierung des operativen Bedarfs … hinzuwirken; … die Forschung auf dem Gebiet der Verteidigungstechnologie zu unterstützen“ und „dazu beizutragen, dass zweckdienliche Maßnahmen zur Stärkung der industriellen und technologischen Basis des Verteidigungssektors und für einen gezielteren Einsatz der Verteidigungsausgaben ermittelt werden, und diese Maßnahmen gegebenenfalls durchzuführen“ (Art. III-311 Verfassungsentwurf). Ziel dieser Maßnahmen ist es, die Rüstungsindustrie der 25 EU-Staaten als genuin europäische zu erhalten und zu sichern, insbesondere um ausländische (=US-amerikanische) Einflussnahme abzuwehren.

Das Amt hat zwei zentrale Aufgaben, wie eine pünktlich erstellte Studie des Instituts für Sicherheitsstudien, des strategischen »think tanks« der EU in Paris, feststellte:20 Erstens sicherzustellen, dass der Bedarf an Fähigkeiten der europäischen Streitkräfte gedeckt wird, zweitens die Effizienz der Rüstungskooperation zwischen den Partnern zu steigern, um so zu Kosteneinsparungen zu gelangen. Nicht zuletzt wird, wie der Untertitel der Studie programmatisch verheißt, als weiteres Resultat eine Stärkung des Euro erwartet („getting a bigger bang for the Euro“), und zwar vor allem im Bereich der Anteile am weltweiten Rüstungsexport, die dann nicht mehr in Dollar, sondern in Euro, zu fakturieren wären. Es geht also darum, die europäische Rüstungsindustrie zunehmend von den USA unabhängiger und selbständig zu machen bzw. den Aufkauf europäischer Industrien zu verhindern. Die europäische Aufrüstung erscheint so als der harte Kern jener Formel, die in gaullistischer Tradition in Frankreich immer wieder beschworen, in der vergangenen rot-grünen Koalition übernommen wurde: Mit den USA „auf gleicher Augenhöhe“ verkehren.

Hier kann nicht darüber spekuliert werden, ob und inwieweit die europäischen Militarisierungsträume aufgehen und zur Etablierung einer gleichwertigen Militärmacht neben den USA führen werden. Doch: Europäische Handlungsfähigkeit soll bis zum Jahr 2008 erreicht werden, wenn das satellitengestützte Aufklärungs- und Nachrichtenübertragungssystem Galileo fertig gestellt ist und die neuen Marschflugkörper und Luft–Luftraketen, Kurz- und Mittelstreckenraketen wie auch die Raketensysteme zur Abwehr von taktischen ballistischen Raketen einsatzfähig sind.21 Diese Programme, vor allem aber Galileo, an dem auch China beteiligt ist und Beteiligungsinteressen seitens Indiens und Israels bestehen, hat in der US-amerikanischen Politikberatung zu geradezu alarmistischen Analysen geführt:22 Festgestellt wird hier, dass der Anteil der USA am internationalen Waffenexport von 47% (1999) auf weniger als 24% (2003) gesunken ist und dass, sollte die Europäische Verteidigungsagentur erfolgreich sein, die „bipolare Orientierung des transatlantischen Verteidigungssektors“ kaum mehr aufzuhalten sein wird.23 Und da befürchtet wird, dass die Bush-Administration die derzeitige Aufrüstungspolitik nicht mehr lange durchhalten können wird, sehen andere Autoren schon generell ein neues bipolares Zeitalter heraufziehen.24

Es ist nicht nachweisbar, ob ein Zusammenhang besteht zwischen der internationalen Investitionstätigkeit von Carlyle und den globalstrategischen Rivalitäten zwischen den USA und einer sich von der NATO-Führungsmacht abkoppelnden Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU. Im Kontext der transatlantischen Beziehungen ist Carlyle sicherlich nur ein Element, aber insofern nicht unwichtig, als gerade dieser Fonds auch nach politischen Entscheidungskriterien agieren dürfte. Dass ihre Geschäftserfolge seit Ende 2001 geradezu explosionsartig stiegen, ist nach dem Aufrüstungsboom, der dem 11. September 2001 folgte, nicht verwunderlich. Wesentliche Teile dieses Erfolges dürften sich allerdings aus der ungeheuren Nähe der Firma zum neo-konservativen politischen Establishment der derzeitigen US-Administration erklären, für das die Firma zugleich eine Art Rentenkasse zu sein scheint. Jenseits des Profite, die durch gut strukturierte politische Beziehungen gesichert und gesteigert werden, scheint es, als ob Carlyle gerade wegen seiner »Nähe zur Macht« auch eine strategische Zielsetzung in der sich herausbildenden hegemonialen Rivalität zwischen Europa und den USA verfolgt. Dies zeigen eindeutig die strategischen Beteiligungen von Carlyle am europäischen Rüstungssektor wie auch die europäische Reaktion, die zur Gründung der »Verteidigungsagentur« geführt hat. Wenn es um die Kernsubstanz der nationalen Machtmonopole geht, scheint es also möglich, die Bewegungsgesetze der Globalisierung und das Agieren der »unsichtbaren Hand des Marktes« außer Kraft zu setzen – und sie, mit Hilfe einer Firma wie Carlyle, auch politisch wirksam zu nutzen.

Anmerkungen

1) Die bisher einzige Monografie zu Carlyle ist: Briody, Dan: The Iron Triangle. Inside the Secret World of the Carlyle Group, New Jersey 2003. Vgl. Auch die sehr informative Arbeit von Sturn, Barbara: Der militärisch-industrielle Komplex und die Privatisierung vom Krieg am Beispiel von Carlyle. Seminar für Politikwissenschaft der Universität Wien, Sept. 2005.

2) http://www.thecarlylegroup.com/eng/company/l3-company737.html#6 abgerufen 30.Nov. 2005.

3) http://www.carlyle.com/eng/geo/investment2138.html abgerufen 30. Nov. 2005.

4) http://www.hereinreality.com/carlyle.html abgerufen 30. Nov. 2005.

5) Freitag Nr. 23, 31. Mai 2002.

6) http://www. thecarlylegroup.com/profile.htm abgerufen 23. Juli 2005.

7) http://www.thecarlylegroup.com/eng/company/l3-company737.html#6 abgerufen 30. Nov. 2005.

8) http://www.carlyle.com/eng/company/l3-company735.html abgerufen 6. Dez. 2005.

9) http://www.carlyle.com/eng/industry/topcasestudy-495.html abgerufen 30. Nov. 2005.

10) http://www.carlyle.com/eng/industry/casestudy-2826.html abgerufen 30. Nov. 2005

11) http://www.carlyle.com/eng/portfolio/portfoliol5-1908.html abgerufen 30. Nov. 2005.

12) http://www.carlyle.com/eng/industry/casestudy-2827.html abgerufen 30. Nov. 2005.

13) http://www.ratical.org/ratville/JFK/JohnJudge/linkscopy/Carlyle Scrts.html, abgerufen 07. April 2003.

14) Brody a. a. O. S. 149f.

15) So war Carlyle einer der wichtigsten Bieter beim Verkauf des deutschen Werftriesen HDW und ist derzeit bemüht um den Kauf der Rüstungsfirma MTU, die von Daimler-Chrysler abgestoßen werden soll (Financial Times Deutschland, 9. Sept. 2005).

16) Ruf, Werner: Private Militärische Unternehmen; in: Ders. (Hrsg.): Politische Ökonomie der Gewalt. Staatszerfall und die Privatisierung von Gewalt und Krieg, Opladen 2003, S. 76 – 90.

17) Vinnell (http://www.vinnell.com/) wurde 1997 von TRW aufgekauft. Diese wiederum wurde 2002 von Northrop Grumman übernommen, dem Produzenten von atomgetriebenen Flugzeugträgern, beteiligt am Bau von Interkontinentalraketen, am ABM-System und an Weltraum-Teleskopen, Hersteller eines taktischen Hoch-Energie-Lasers. http://www.northropgrumman.com/ abgerufen 2. Dez. 2005.

18) Makki,Sami: Militarisation de l’humanitaire, privatisation du militaire. Paris 2004, S. 54.

19) Die neue Unternehmensgruppe umfasst Howaldtswerke-Deutsche Werft GmbH, Kiel, Nobiskrug GmbH, Rendsburg, Blohm + Voss GmbH und Blohm + Voss Repair GmbH, Hamburg, Nordseewerke GmbH, Emden sowie Kockums AB, Schweden, und Hellenic Shipyards S.A., Griechenland. ThyssenKrupp hält 75% der Anteile an dem Werftenverbund und übernimmt die industrielle Führung. http://www.thyssenkrupp-marinesystems.com/de/index.php?page_id=NAV_HOME abgerufen 2. Dez. 2005.

20) Schmitt, Burkhard: The European Union and armaments. Getting a bigger bang for the Euro. Chaillot-Paper Nr. 63, Paris, Aug. 2003, S. 40.

21) Zu den geplanten Rüstungsvorhaben s. ausführlich: Oberansmayr, Gerald: Auf dem Weg zur Supermacht. Die Militarisierung der Europäischen Union, Wien 2004, insbes. Tabelle S. 106f.

22) s. u. A.: Nardon, Laurence: Galileo and GPS: Cooperation or Competition? The Brookings Institution 2005. http://www.brookings.edu/fp/cusf/analysis/nardon.pdf; abgerufen 10. Juli 2005. Shambaugh, David: China and Europe: The Emerging Axis. The Brookings Institution, Sept. 2004. http://www.brookings.edu/views/articles/shambaugh/20040901.pdf abgerufen 10. Juli 2005.

23) Jones, Seth G.: The rise of Europe’s Defense Industry, the Brookings Institution 2005. http://www.brookings.edu/fp/cuse/analysis/jones20050505.pdf abgerufen 9. Juli 2005.

24) Guay, Terrence R.: The Transatlantic Defense Industrial Base: Restructuring Scenarios and their Implications, April 2005. http://www.strategicstudiesinstitute.army.mil/pubs/display.cfm?PubID=601 abgerufen 7. Dez. 2005

Prof. em. Dr. Werner Ruf lehrte bis 2003 Internationale und intergesellschaftliche Beziehungen und Außenpolitik an der Universität Kassel.

Werbung für Waffen

Werbung für Waffen

Marketingstrategien deutscher Rüstungsunternehmen

von Stefanie van de Kerkhof

In den letzten Jahren werden verstärkt auch in den Industriestaaten Privatisierungstendenzen am Rande und in den staatlichen Machtapparaten, inklusive des Militärs, verzeichnet. Die Zuliefererindustrie für das Militär – Produktion und Forschung – war dagegen in den kapitalistischen Staaten schon früher weitgehend privatwirtschaftlich organisiert. Wie sich deutsche Rüstungsunternehmen am Markt behaupteten, wie sie ihre Marketingstrategien in den letzten hundertfünfzig Jahren dem »Zeitgeist« anpassten, untersucht die Autorin in folgendem Beitrag.

Ökonomen und Wirtschaftshistoriker haben in neueren Veröffentlichungen betont, dass die Entwicklung eines »Corporate Images« für Unternehmen im Laufe des 20. Jahrhunderts immer wichtiger wurde.1 Doch was bedeutet dies für Rüstungs- und Waffenproduzenten wie Krupp, Rheinmetall und andere, die eng gebunden sind an eine sehr spezifische Marktstruktur? Als Instrumente der Marketingstrategien von Waffenproduzenten dienten von Beginn an nationale Gewerbemessen und internationale Ausstellungen, ebenso wie besondere Events für die Abnehmer im engeren Sinne. Hier wurden nicht nur Kontrakte geschlossen und neue Projekte besprochen, sondern auch nationale, transnationale oder sogar global wirksame Bilder der Unternehmen und ihrer Produkte kreiert und transportiert. Eine bisher kaum beachtete Rolle spielte dabei die Entwicklung von Markenprodukten und eigenen Logos mit hohem Wiedererkennungswert, die teilweise zu Symbolen mit nationalem oder internationalem Charakter aufgeladen wurden. Im 20. Jahrhundert führten die Markenstrategien ähnlich wie in anderen Branchen dazu, dass ein eigenes »Corporate Design« oder sogar eine »Corporate Identity« entwickelt wurde. Mit diesen Mitteln der Kommunikations- und Unternehmenspolitik erschufen Rüstungsunternehmen nicht nur ein Bild von sich selbst und ihren Produkten, sondern auch von den Wettbewerbsvorteilen ihrer technologischen Standards. Interessant ist die wirtschaftshistorische Betrachtung dieser Entwicklung auch im Hinblick auf die neuen Werbestrategien europäischer Rüstungskonzerne wie EADS. Die ersten Ergebnisse eines größeren historischen Forschungsprojektes auf europäischer Ebene können hier vielleicht Anstöße zu weiterer Diskussion bieten.

Marktstrukturen versus Absatz- und Marketingstrategien?

Viele Rüstungsgüter verfügen über einen Dual-use-Charakter und können sowohl zivil als auch militärisch eingesetzt werden. Daher bietet es sich an, im Sinne einer besseren Abgrenzung von Waffenindustrie oder Rüstungsunternehmen im engeren Sinne zu sprechen. Sie umfasst Investitionsgüter wie Panzer, Bomber, Gewehre und Munition. Häufig haben Wirtschafts- und Unternehmenshistoriker unterschätzt, welche Rolle die Waffenproduktion in Großunternehmen gespielt hat, weil der Grad der Abhängigkeit von militärischen Aufträgen stark schwankte. Dies deutet auf ein generelles Quellenproblem hin, wenn Unternehmen betrachtet werden, die keinen klar abgegrenzten militärischen Charakter ihrer Produktpalette aufweisen.2

Ökonomisch betrachtet sind Rüstungsgüter und Waffen sehr spezielle Investitionsgüter. Die Marktstruktur ist tendenziell monopsonistisch, eine Marktform in der ein einzelner Nachfrager wie der Staat über viele Anbieter dominiert. Da für Unternehmen oft aber auch andere Staaten als Abnehmer infrage kommen, gibt es auch oligo-, dyo- oder tripolistische Züge. Sowohl kleinere als auch Großkonzerne wie Krupp versuchten von Beginn ihren Absatz zu steigern, indem sie Waffen an andere Staaten bzw. deren Regierungen verkauften. Außerdem werden wie bei anderen Investitionsgütern direkte Absatzformen, z.B. Verhandlungen mit Ingenieuren und Spitzenmanagern, häufiger eingesetzt als bei Konsumgütern. Dies hat auch Auswirkungen auf die Preisgestaltung. Preise werden häufig nicht nach marktwirtschaftlichen Prinzipien fixiert, sondern hängen von den speziellen staatlichen Vertragsbedingungen ab mit Expansionen (cost-plus-contracts) und Bezahlung von Kostensteigerungen (follow-on-imperative).3 Die Verbindungen zwischen Unternehmen, Regierungen, Beschaffungsstellen, Wissenschaftlern und Militärs beeinflussen nicht nur die Marktstrukturen, sondern auch die Eigentums- und Verfügungsrechte (property rights). Sie sind insgesamt viel stärker als in anderen Branchen an die Entwicklung von nation-building-Prozessen gebunden.

Der Übergang von Verkäufern- zu Käufermärkten

Insgesamt hat die historische Forschung über Konsum und Marketing in Deutschland bisher nur zögerlich und im internationalen Vergleich sehr verspätet eingesetzt. Wie Ökonomen gezeigt haben, scheint es »on the long run« aber auch für Maschinenbauer und für die Investitionsgüterindustrie insgesamt ein Bedürfnis nach einer erweiterten Palette von Marketingstrategien und Kommunikationspolitik gegeben zu haben. Für Letztere spielten häufig persönliche Verbindungen und Verkaufsverhandlungen eine prominentere Rolle. Die Ursache dafür ist vor allem im komplexen und technologisch ambitionierten Charakter der Produkte zu sehen. Daher haben Instrumente der persönlichen Kommunikation einen höheren Stellenwert wie geführte Werksbesichtigungen, spezielle Events, Messen, Ausstellungen und besondere Treffen. Werbung in Fachzeitschriften und Zeitungen haben in diesem Sektor eine eher unterstützende als bedarfsweckende Funktion.

Betrachtet man Konsum im allgemeinen, so gingen Ökonomen und Wirtschaftshistoriker bis vor kurzem noch davon aus, dass es in den 1950er/60er Jahren einen Übergang von Verkäufer- zu Käufermärkten gegeben habe. Dadurch sei es erst zu neuen Marketingstrategien mit Instrumenten wie Marktforschung, Werbung, Public Relations, Verkaufsplanung und Absatzkontrolle gekommen. Die Wirtschaftshistoriker Kleinschmidt und Triebel haben aufgrund der Forschungslage in Frage gestellt, ob dieser branchenspezifisch unterschiedlich verlaufende Prozess nicht früher anzusetzen sei.4 Für die internationale Rüstungsindustrie wurde von SIPRI-Forschern die These vertreten, der Übergang läge erst in den 1980er Jahren.5 Diese Frage wird sich erst deutlich bei einer genaueren Untersuchung der Marketingstrategien von Unternehmen wie Krupp und Rheinmetall beantworten lassen.

Krupp und Rheinmetall als Marketing-Pioniere

Die frühen Gewerbemessen in Deutschland zeigten ebenso wie ihre Vorläufer in Frankreich ein janusköpfiges Gesicht. Auf der einen Seite repräsentierten sie Modernität und das Paradigma technischen und gesellschaftlichen Fortschritts verbunden mit ökonomischem Wachstum. Auf der anderen Seite waren es patriotische Anlässe, bestens geeignet den deutschen Anspruch auf Weltmachtstatus und Überlegenheit der deutschen Kultur zu demonstrieren. Außerdem verbanden sich – wie bei anderen bürgerlichen Festen – mit diesen Ambitionen auch Hoffnungen auf eine einigende Wirkung im deutschen Staatsbildungsprozess. Krupp als bedeutendstes privates Rüstungsunternehmen entdeckte schon früh die Gewerbemessen als wichtige Institution, um Werbung, Image-Entwicklung und »networking« voranzutreiben.6 Auf der Zollvereins-Messe 1844 präsentierte Krupp neben mächtigen gusseisernen Glocken auch zwei gegossene Schusswaffen. Er wählte die Waffen nicht wegen ihrer relevanten Stellung in der Produktpalette, sondern vor allem weil sie mehr Aufmerksamkeit und Publizität in der preußischen Öffentlichkeit erhielten als andere Produkte. Neben der Produktpräsentation entwickelte Krupp schon zu diesem frühen Zeitpunkt eigene Werbematerialien wie Broschüren, Kataloge und Hinweise auf Referenzen. Insgesamt war schon dieser frühe Auftritt auf den nationalen Gewerbemessen ein großer Erfolg für Krupp. Seine Produkte wurden weltweit in Zeitungen und Journalen erwähnt. Möglicherweise hat diese außergewöhnliche Welle an Aufmerksamkeit auch dazu geführt, dass Krupp mit militärischen Produkten zu einem Pionier im internationalen Ausstellungswesen wurde.

Die Rolle der Weltausstellungen für Rüstungsunternehmen ist bisher – ähnlich wie die der nationalen Messen – nur in Ansätzen erforscht. Am Beispiel von Krupp ist aber deutlich zu sehen, dass Rüstungsunternehmen sehr früh die Chancen nutzten, die sich durch diese neue Form von Öffentlichkeit und die damit einhergehenden Kontakte zu internationalen Massenmedien ergaben. Hier konnten nicht nur die Absätze deutlich gesteigert werden, sondern auch ein Image kreiert werden, mit dem sich der weltbekannte Status und die technologische Reputation des Unternehmens vermarkten ließ. Auf der ersten Weltausstellung in London im Jahre 1851 präsentierte Krupp wiederum sowohl zivile als auch militärische Produkte: einen riesigen Block aus Gusseisen und eine überdimensionierte Kanone. Für den Block erhielt Krupp die »Council Medal« des veranstaltenden Komitees. Die Historikerin Wolbring sah in der enormen öffentlichen Aufmerksamkeit und dem Gewinn der bedeutendsten Auszeichnung auch einen symbolischen Akt. Der Block wurde von einem einfachen Ausstellungsgegenstand zu einem »nationalen Monument«. Er markierte nämlich den erfolgreichen Wettlauf Preußens mit der bis dato deutlich überlegenen Wirtschafts- und Handelsmacht England. Zusammen mit der riesigen Kanone versuchte Krupp ein individuelles, sorgfältig arrangiertes und strategisch geplantes Unternehmensimage zu transportieren. Es verband Qualität, Haltbarkeit, technischen Perfektionismus, Modernität und ein weitreichendes Verständnis von Innovation mit Patriotismus und Konkurrenzkampf. Das für Krupp persönlich, publizistisch und ökonomisch äußerst erfolgreiche Auftreten auf der internationalen Szene wurde zum Modell für spätere Unternehmenspräsentationen. Bekanntheitsfördernd und Image prägend war bei allen diesen Ausstellungen, dass Krupp jedes Mal die größte Kanone der Welt einem staunenden internationalen Publikum und bedeutenden Staatsgästen präsentierte. Nach der Reichsgründung gewann dieser Prozess zu stärkerer Militarisierung und nationalistischem Auftreten mehr Dynamik. Das Prinzip des vermeintlich friedlichen Wettkampfes schwand bis 1914.7 Obwohl es auf internationaler und nationaler Ebene zu Kritik am militaristischen Gepräge des Kruppschen Auftritts kam, setzte der Unternehmer selber weiterhin auf ein Image des »Industriefürsten« verbunden mit einer Nobilitierung als »Kanonenkönig«. Produkte wie die »Dicke Bertha« sorgten für einen hohen Bekanntheitsgrad, ebenso Werbeslogans à la »Hart wie Kruppstahl«.

Andere Unternehmen wie der Bochumer Verein verzichteten darauf, sich als patriotische Waffenproduzenten zu präsentieren, was teils an hohen Kosten lag. Auf der Pariser Ausstellung 1878 setzte der französische Konkurrent Schneider-Le Creusot ein Zeichen gegen den Kruppschen Anspruch. Das Unternehmen stellte einen riesigen Dampfhammer für Befestigungsmaterial aus Panzerplatten aus. Damit präsentierte es sich und die »grande nation« als bereit zur Verteidigung gegen die deutschen Kanonen. Dies stand in starkem Kontrast zum militaristischen Auftreten Krupps auf den vorhergehenden Weltausstellungen.

Im Laufe des 20. Jahrhunderts, insbesondere nach der Brüsseler Weltausstellung 1958 nahm die Bedeutung dieser Art von Ausstellungen für Unternehmen wie Krupp zugunsten höher spezialisierter industrieller Fachmessen ab. Dies ist ein Trend, der nicht nur bei Rüstungsproduzenten, sondern bei verschiedenen Branchen beobachtet werden konnte. Diese Messen dienten nicht einer weiteren Öffentlichkeit, sondern sie wurden zu Spezialmessen für Vertragspartner, Wissenschaftler und Lobbyisten. Bisweilen sprachen sie wie die Internationale Luft- und Raumfahrtausstellung (ILA) auch beide Seiten – vergleichbar dem Dual-use-Charakter der Produkte – an. Ausstellungen bzw. Messen wie die ILA richteten ihr Augenmerk neben den Vertragsverhandlungen und direkten Verkäufen stärker auf Information und Kommunikation mit einer breiten Öffentlichkeit.8 Ihre Rolle müsste letztlich aber noch genauer untersucht werden. Denn eine Reihe von Fragen nach den Marketingstrategien und der Kommunikationspolitik von Unternehmen auf diesen neueren, teils staatlich finanzierten Spezialmessen und Ausstellungen bleibt zu untersuchen.

Neuartiges Event-Marketing

Bei einer weiteren Form von personeller Absatzpolitik können Rüstungsunternehmen zu den Pionieren gezählt werden: beim Event-Marketing. Wiederum zählte hier Krupp zu den deutschen Unternehmen, die früh eigens organisierte Besucher-Aktionen erdachten. Für Staatsgäste, Großkunden und Interessenten wie den Kaiser, den Zar und später den Schah wurden nicht nur in Essen Besuchstouren in Werk und Villa organisiert. Es gab auch Sondervorführungen auf dem Schießplatz, öffentliche Schiffstaufen und Treffen mit hochdekorierten Offizieren. Die Ereignisse wurden photographiert und geschmückte Fotoalben als Erinnerungsgeschenke den potentiellen Kunden überreicht. Für die Organisation wurde sogar eine eigene Abteilung im Unternehmen gegründet. Diese moderne Form der Unternehmenskommunikation wurde immer weiter ausgebaut und verfeinert. Nach dem Zweiten Weltkrieg begann man in den 1950er Jahren wieder, an diese Vorkriegstradition anzuknüpfen. Das Unternehmensimage, das dem Betrachter in zahlreichen Werbematerialien vermittelt werden sollte, ähnelte dabei dem Auftritt auf den Ausstellungen und Messen: Krupp als ein modernes, sauberes, innovatives, sozial verantwortliches und vertrauenswürdiges Unternehmen. Die Produkte repräsentierten dagegen stärker eine andere Seite des Images: die (wehrtechnische) Überlegenheit der Firma, Macht und Stärke. Krupp persönlich legte allerdings bei den veröffentlichten Photographien großen Wert darauf, dass Krieg und Aggression nicht dargestellt wurden. Dies kann als moderne Form der preußisch-deutschen Waffenpräsentation gesehen werden.

Werbung, Branding und Logo-Design in der historischen Analyse

Dies galt auch für die frühe Einführung der Werbung von Alfred Krupp. Schon 1866 begann er mit aktiver Medienpolitik. Artikel bezahlter Journalisten unterstrichen wichtige Verkaufsargumente gegen europäische Konkurrenten: Qualität, Härte, Haltbarkeit und technologische Vorteile. Diese Medienkampagnen können als erste Schritte zu modernen Public Relations und Corporate Image-Entwicklungen europaweit gesehen werden. Seit 1890 richtete Krupp ein spezielles »Nachrichtenbureau« für Presseauswertung, Kontaktpflege und Organisation der Werkstouren ein. Ähnliche innovative Schritte zu einer »open house policy« unternahmen die meisten internationalen Großkonzerne erst lange nach dem Zweiten Weltkrieg. Doch im Gegensatz zu den Marketingstrategien des späten 20. Jahrhunderts waren diese frühen Touren bei Krupp beschränkt auf den engeren Kundenkreis.9 Im Werbegeschäft, das sich an eine breitere Öffentlichkeit richtete, folgte Krupp erst 1921 den Beispielen von Markenartiklern des Nahrungs- und Genussmittel-Sektors mit einer eigenen Fachabteilung. Sie sollte dem lahmenden Absatz nach dem Ersten Weltkrieg neue zivile Märkte erschließen.

Dem Aufbau einer eigenen »Marke« im Rüstungssektor, die beworben werden konnte, dienten spezielle Logos und eingetragene Warenzeichen. Hier war Krupp mit den drei ineinander verschlungenen Ringen wiederum Vorreiter. Krupp wählte eine Stilisierung des nahtlos gewalzten Eisenbahnrades – die aber auch als drei Geschützrohre gedeutet werden kann. Die klare, abstrakte und schmucklose Grafik kann als Symbol für Perfektion gedeutet werden. Durch die pyramidale Form und die Zahl drei spielten die Ringe auch auf die göttliche Trinität an. Obwohl die drei Ringe nicht ineinander verschlungen sind, erzeugen sie die Illusion von enger Verbindung und Nähe beim Betrachter. Dies kann als Anspielung auf die Idee des Unternehmens als sozialer Institution gesehen werden. Anders als bei Rheinmetall wurden die »drei Ringe« nahezu zum Metonym für das Unternehmen. Rheinmetall als ein follower im Aufbau eines eigenen Images wählte 1892 ebenfalls ein stilisiertes Logo der wichtigsten Innovation, des Press- und Ziehverfahrens für nahtlose Röhren, Geschützläufe und Munition. Es erreichte als Symbol aber nie den Bekanntheitsgrad wie das Krupp-Logo. Dies schaffte Rheinmetall erst nach dem Zweiten Weltkrieg mit international bekannten militärischen Markenartikeln wie dem »Leopard«, dem »Büffel«, dem »Fuchs« und dem »Wiesel«. Ebenso wie Konkurrent und später Partner Krauss-Maffei setzte Rheinmetall mit bildhaften Marken aus dem Tierreich für hoch technisierte Waffensysteme auf Werbestrategien mit transnationalem Charakter. In den letzten Jahren gibt es eine neue Werbekonzeption außerhalb der engeren Fachpresse, die noch stärker auf Wohlbefinden, Vertrauen, Sicherheit und Freundschaft statt Betonung der technischen Daten setzt. Hier könnte der Aufschwung linguistischer und visueller Analyseverfahren nach dem linguistic bzw. dem pictorial turn noch viele Erkenntnisse für die historische Erforschung der Marketing- und Diskursstrategien von Rüstungsunternehmen bieten.

Anmerkungen

1) John T. Balmer/Stephen A. Greyser (Ed.): Revealing the Corporation. Perspectives on identity, image, reputation, corporate branding, and corporate-level marketing, London/New York 2003; Roland Marchand: Corporate Soul. The Rise of Public Relations and Corporate imagery in American big Business, Berkeley 1998; Heribert Meffert (Ed.): Strategische Markenführung und Marketing, Wiesbaden 1988.

2) Vgl. Norbert Zdrowomyslaw/Heinz-J. Bontrup: Die deutsche Rüstungsindustrie. Vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik. Ein Handbuch, Heilbronn 1988; .Stefanie van de Kerkhof: Rüstungsindustrie und Kriegswirtschaft, in: Th. Kühne/B. Ziemann (Hg.): Was ist Militärgeschichte?, Paderborn 2000, S. 175-194.

3) Vgl. Mary Kaldor: The Weapons Succession Process, in: World Politics 38 (1986), S. 577-595 und William Baldwin: The Structure of the Defense Market, 1955-1964, Durham 1967.

4) Christian Kleinschmidt/Florian Triebel: Plädoyer für eine (unternehmens-)historische Marketing-Forschung, in: Dies. (Hg.): Marketing. Historische Aspekte der Wettbewerbs- und Absatzpolitik, Bochum 2004, S. 9-13.

5) Vgl. Frank Barnaby: Arms Industry – A Sellers’ Market, in: Bulletin of Atomic Scientists 37,5 (1981), S. 10ff. und Hartwig Hummel: Rüstungsexportbeschränkungen in Japan und der Bundesrepublik Deutschland, Hamburg/Münster 1991, v.a. S. 79.

6) Ausführlich zum Folgenden Barbara Wolbring: Krupp und die Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert. Selbstdarstellung, öffentliche Wahrnehmung und gesellschaftliche Kommunikation, München 2000.

7) Christoph Cornelissen: Die politische und kulturelle Repräsentation des Deutschen Reiches auf den Weltausstellungen des 19. Jahrhunderts, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 52 (2001), S. 148-161.

8) Vgl. die Artikel in ami von Stefan Gose, in: ami 6/00, S. 21-25; Christopher Steinmetz, in: ami 6/02, S. 3f. und Nina Odenwälder, in: ami 7/98, S. 23f.

9) Ausführlicher Susanne Hilger: »Amerikanisierung« deutscher Unternehmen. Wettbewerbsstrategien und Unternehmenspolitik bei Henkel, Siemens und Daimler Benz 1945–1975, Stuttgart 2004.

Dr. Stefanie van de Kerkhof arbeitet als Wirtschafts- und Sozialhistorikerin an einem Forschungsprojekt über »Kommunikationspolitik europäischer Rüstungsunternehmen im Kalten Krieg« und koordiniert den interdisziplinären Studiengang »Master of Peace Studies« am Institut Frieden und Demokratie der FernUniversität in Hagen

Triebfedern der Rüstung

Triebfedern der Rüstung

von Regina Hagen

Der wissenschaftlich-technisch-militärisch-industrielle Komplex (Lichterman), komplettiert um die machtpolitische Komponente, dient als Leitmotiv für etliche Betrachtungen über »Triebfedern der Rüstung« in dieser Ausgabe von W&F.

Dabei sind, auch dies zeigen manche der Autoren auf, die Erwartungen an eine Befriedung der Erde durch technische Mittel eigentlich hoch. Wolfgang Neef zitiert Otto Lilienthal, der von der Erfindung des Flugzeugs Großes erhoffte: „Ich bin überzeugt, dass meine Erfindung den Frieden in der Welt möglich macht.“ Statt dessen erwies sie sich als ideale Angriffswaffe.

Die zivil-militärische Ambivalenz technischer Erfindungen verkörpert beispielhaft Eugen Sänger (1905-1965). Ein Pionier der Raketen- und Raumfahrttechnik, hob Sänger bereits an der TH Wien hervor, dass die Rakete, zu deren theoretischer Entwicklung er bis dato Bahnbrechendes beigetragen hatte, „notfalls eine Kriegswaffe von außerordentlicher Wirkung bilden“ könne (»Raketenflugtechnik«, 1933). 1936 nahm er das Angebot des deutschen Reichsluftfahrtministeriums an, seine Forschungs- und Entwicklungsarbeiten unter Aufsicht des Militärs mit optimaler Ausstattung fortzuführen. Sänger befasste sich bis 1945 mit Raketenantrieben, Staustrahlantrieben für Flugzeuge und dem Konzept eines Raketen-Raumflugzeuges. »Über einen Raketenantrieb für Fernbomber« (1944) beschreibt das Prinzip eines Raumgleiters, der von Europa aus auf der Stratosphäre schlitternd Amerika erreichen kann und die Bombardierung von Washington und New York ermöglicht.

Die militärische Nutzung seiner Raketentechnologie war Sänger allerdings nur Mittel zum Zweck. Wie viele andere, die sich zur Verwirklichung ihrer technischer Ideen in den Dienst des Militärs begaben, richtete sich seine Hoffnung mehr auf die Eroberung von Luft- und Weltraum denn auf die Vernichtung der Erde. „Der Umstand, dass die fliegenden Körper in diesen ersten vier Jahrzehnten hauptsächlich militärische Verwendung im Krieg zwischen Menschen fanden, hat zwar ihre technische Entwicklung sehr gefördert; doch haben wir alle das Empfinden, auf diesen Umstand heute nicht mehr besonders stolz sein zu dürfen“, bekannte Sänger einige Jahre später. Die Erwartung, dass „die technische Entwicklung sich offenbar aus naturgesetzlichen Ursachen von der militärischen Anwendung im heutigen Sinn, also der Waffenanwendung, abkehrt“ verleitet ihn zu der kühnen These, dass sich unter den „zwischen 1960 und 2000 voraussichtlich neu entstehenden Fluggerätenkein einziges Kriegsgerät befindet“. Sein Appell gipfelt im Aufruf „wir müssen uns an der Raumfahrtentwicklung – die Luftwaffen wie Atomwaffen naturgesetzlich gegenstandslos macht – mit allen unseren Kräften beteiligen und so den Verzicht auf Atombomben auf der ganzen Welt erzwingen, indem wir mithelfen, den Krieg technisch zu überholen“ und in der Überzeugung „dass, wer Frieden will auf Erden, Raumfahrt wollen muss“. (»Raumfahrt – technische Überwindung des Krieges«, 1958).

Naturgesetzlich trägt, im Widerspruch zu diesen Zitaten, die wissenschaftlich-technische Entwicklung nicht zur Befriedung der Nationen bei – die Autoren dieser Ausgabe beschreiben das genau (Scheffran, Neef). Nein, das Gegenteil ist wahr: Das Wechselspiel aus wissenschaftlichen Erkenntnissen, technischen Möglichkeiten, militärischen Dominanzbestrebungen, industriellem Profitdenken und politischen Machtprojektionen führt zu zügellosem Rüsten. (Vermeintliche) technische Machbarkeit weckt Begierden vor allem beim Militär, in der Luft- und Raumfahrtindustrie findet es willige Bündnispartner (Hennes). Insbesondere der Weltraum ist also weiterhin im Fokus der Beteiligten. So wird Sängers Weltraumbomberkonzept von den US-Waffenentwicklern für das »Hypersonic Cruise Vehicle« rigoros einer Wiederverwendung zugeführt.

Die Konsequenz aus alledem scheint unseren Autoren klar: Technologiefolgenabschätzung, präventive Rüstungskontrolle, strikte Trennung von ziviler und militärischer Forschung, Stärkung des Völkerrechts, Abrüstung, Vorrang für nichttechnische Problemlösungsstrategien, auch: ein Bewusstsein für die „Notwendigkeit der Gestaltung von Forschung und Technik insgesamt“ (Liebert).

Zweifellos, all das ist dringend notwendig. Eine naturgesetzliche Implementierung dieser Konzepte gibt es aber nicht. Europa bewegt sich vielmehr exakt in die andere Richtung. Hier soll die neue Rüstungsagentur laut Verfassungsvertrag „die permanente EU-Aufrüstung und die globale Kriegsführungsfähigkeit“ organisieren (Schulze), und das, wo doch „Friedensunterstützung und nicht-provokative Stabilisierung in Krisenregionen“ eigentlich „in übergreifende politische Konzepte eingebettete Friedensunterstützung“ erfordert (Unterseher).

Es liegt auch an uns, Akteuren in Friedensforschung, -wissenschaft und -bewegung, bei den Regierenden friedenspolitisch kompatibles Handeln einzufordern. Das setzt Wissen voraus – dieses Heft soll dabei helfen.

Ihre Regina Hagen

Unternehmen gegen Europa?

Unternehmen gegen Europa?

Die Europäisierung der Rüstung

von Lutz Unterseher

Aus den größeren Rüstungsunternehmen, die bereits europäisch verbandelt sind, von mit ihnen sympathisierenden Politikern aus dem Mitte-Rechts-Spektrum sowie militäraffinen Publizisten ist mit anschwellender Verve zu vernehmen, dass Europa als gobaler Akteur, womit auch die Befähigung zu entsprechender Machtprojektion impliziert sei, eine leistungsfähige, integrierte wehrtechnische Produktionsbasis brauche. Voraussetzung dafür sei die Erfüllung folgender Bedingungen: Die verteidigungspolitische Zusammenarbeit in Europa (mit »Europa« sind typischerweise jene Staaten des alten Kontinents gemeint, die sich in NATO und/oder EU zusammengeschlossen haben) müsse so vertieft werden, dass sich am Ende eine einheitliche strategische Konzeption ergibt, aus der die militärischen Anforderungen an die Rüstungstechnik stringent abgeleitet werden können. Dem müsse eine Produktionsbasis entsprechen, die durch eine Neuordnung und Kapazitätsbereinigung »Doppelarbeit« vermeide: was zum einen eine Spezialisierung im internationalen Rahmen und zum anderen die Bildung industrieller Konglomerate erfordere, in denen das Beste, was auf vormals nationaler Ebene zu finden war, gleichsam »aufgehoben« sei. In mehrerlei Hinsicht geht es also um die Überwindung nationaler Autonomie.

Fast frenetisch gefeiert werden jene – bislang allerdings seltenen – Rüstungsvorhaben, bei denen es gelungen ist, für mehrere Staaten einen gemeinsamen Ausrüstungsbedarf zu beschließen, der dann von einem projektbezogen integrierten Industriekonsortium internationalen Zuschnitts befriedigt werden soll. Nur auf diese Weise komme man zu den großen Stückzahlen, die eine kostengünstige Produktion erlauben. Und nur durch eine Zusammenfassung von Mitteln und Entwicklungspotenzialen sei es möglich, an der Spitze des technologischen Fortschritts zu marschieren bzw. dahin vorzurücken. Mit derlei Vorschusslorbeeren bedacht erscheinen solche Vorhaben geradezu als Pionierleistungen auf dem Wege zu einem einigen, auch nach außen handlungsfähigen Europa und werden damit virtuell zu heiligen Kühen.

Die Sache mit der europäischen Rüstungskooperation, die vermittels der Konstruktion einer Europäischen Rüstungsagentur in der EU inzwischen gar Verfassungsrang hat, erscheint freilich in mehrfacher Hinsicht nicht ganz koscher. Beginnen wir unsere kleine Untersuchung mit der Problematik der Formulierung eines einheitlichen verteidigungspolitischen Willens, samt wirklich instruktiver strategischer Konzeption, die den meisten Expertenstimmen gemäß eine wesentliche Voraussetzung für die Schaffung einer eindrucksvollen europäischen Rüstungsbasis ist!

Wille und Weg

Der Diskurs über die verteidigungspolitisch-konzeptionelle Integration Europas und deren Relevanz für die Rüstungsplanung hat bisher einen großen blinden Fleck. Zwar wird zur Kenntnis genommen, dass es national divergente Politiken gibt. Doch diese erscheinen als zufalls- bzw. historisch bedingte Abweichungen von einem Pfad, über dessen Richtung nicht weiter diskutiert zu werden braucht. Mit einiger Anstrengung werde sich – im Zuge des Zusammenwachsens Europas in zahlreichen Bereichen von Gesellschaft, Wirtschaft und Politik – auch auf dem hier interessierenden Felde ein gemeinsamer Wille bilden. Der Weg, nämlich die Orientierung auf militärische Machtprojektion hin, sei für einen globalen Akteur im Wesentlichen vorgegeben.

Dem muss energisch widersprochen werden. Hier ist die eigentliche Kontroverse erst noch auszutragen. Dass ihr aus dem Wege gegangen wird, mag zum einen den honorigen Grund haben, dass man den schwierigen Prozess der europäischen Integration nicht noch zusätzlich belasten will, zum anderen aber auch damit zusammenhängen, dass an der militär- und rüstungspolitischen Generalorientierung, wie sie sich bisher schon abzeichnet, manifeste Interessen hängen, die das Tageslicht scheuen. Worum geht es konkret?

Mit der durch die NATO vermittelten Präsenz der Vereinigten Staaten in Europa und insbesondere auch dadurch, dass Neumitglieder der Allianz zur Schärfung ihres nationalen Profils beflissen die amerikanische Karte spielen, hat für zahlreiche Vertreter der sicherheitspolitischen Eliten des alten Kontinents die militärpolitische Entwicklung in den USA Vorbildcharakter gewonnen. Man möchte nicht nur im Hinblick auf die Verteidigungsausgaben, sondern auch die militärische Doktrin und die Ausrüstung betreffend das gegenüber den Vereinigten Staaten wahrgenommene Defizit verringern, um bei gemeinsamen Operationen – als Juniorpartner – endlich ernst genommen zu werden. Auch auf die Entscheidungsträger in der Europäischen Union scheint diese Attitüde abgefärbt zu haben. Ob man zum Lager derjenigen gehört, die Europa als atlantischen Junior sehen, oder zum Lager jener anderen, die eine echte Emanzipation von den USA gerade auch auf militärischem Sektor anstreben: In beiden Fällen geht es zumeist um die Befähigung zu weitreichender Machtprojektion mit Einsatzkräften, die insbesondere auch für intensive Kriegführung geeignet sind und dabei auf den Gebieten der Aufklärung, Kommunikation (Vernetzung!) sowie Bewaffnung über Erzeugnisse der Hochtechnologie verfügen.

Trotz der Bedrohung durch den modernen Terrorismus, der eher polizeipräventive Bemühungen erfordern würde (wobei militärische Aufklärung allenfalls Hilfestellung leisten könnte) und trotz des hohen Bedarfs an Kräften für Friedensunterstützung und nicht-provokative Stabilisierung in Krisenregionen steht im Zentrum die Entwicklung von Kräften, die sich für massive Angriffsoperationen aller Art eignen: also auch etwa für Bestrafungsfeldzüge oder Rückeroberungen nach dem Gusto der Administration des Mr. Bush jr.

Eine solche Orientierung kommt aus leicht nachvollziehbaren Gründen den Interessen gerade der besonders durch Hochtechnologie geprägten Sparten der Rüstungsindustrie und auch den Statusaspirationen der auf die USA als militärischem Trendsetter fixierten Führungen der Streitkräfte in Europa entgegen. Eine alternative Perspektive, die sich zuvörderst am militärischen Bedarf einer Sicherheits- und Verteidigungspolitik festmacht, die in übergreifende politische Konzepte eingebettete Friedensunterstützung vorsieht, würde zu anderen, weniger problematischen Ansprüchen an die Rüstungsindustrie führen.

Was man können möchte, hat mit hoher Wahrscheinlichkeit mit den tatsächlich zu bewältigenden Aufgaben nur sehr wenig zu tun. Und das ist den Verantwortlichen sogar klar. Diese Schizophrenie, mit der man ohne Diskussionsbedarf glaubt leben zu können, tritt dem Vernehmen nach besonders prächtig in einem aktuellen Planungsdokument des Deutschen Heeres zutage: Darin ist davon die Rede, dass Deutschland im Regelfall situationsadäquate Heereskräfte für die vorsichtige Stabilisierung »vor Ort« in die Ferne entsenden müsse; zugleich werden aber Eingreiftruppen für den »richtigen Krieg« kreiert, die den Stabilisierungskontingenten vom Personal- und Materialbedarf her sowie organisatorisch das Wasser abgraben.

Projekte und Probleme

Von der Problematik des Rüstungsbedarfes und seiner Bestimmung zur Frage nach dem Angebot, also der Bedarfsdeckung! Wie werden in Europa wichtige Waffensysteme entwickelt? Um diesen Komplex systematisch erschließen zu können, empfiehlt sich der Blick auf einen Rüstungssektor, in dessen Rahmen im Ergebnis vergleichbare, aber im Entstehungsgang stark differierende Produkte entstanden sind. Damit haben wir es gleichsam mit einer Versuchsanordnung zu tun, deren Evaluation – begrenzt – verallgemeinerbare Erkenntnisse verspricht.

In diesem Sinne wurden drei Projekte taktischer Kampfflugzeuge bestimmt, deren Entwicklung in der ersten Hälfte der 80er Jahre begann und die als die europäische Antwort auf die sogenannte dritte Generation von Kampfjets erschienen, die in den 70er Jahren in den USA (F-14/15/16/18) und bald danach in der damaligen UdSSR (MiG-29, Su-27) das Tageslicht erblickte. Bei den ausgewählten Projekten handelt es sich um: Eurofighter, Rafale und Gripen. Abgesehen von der in besonderem Maße gegebenen Vergleichbarkeit spricht für diese Auswahl, dass es sich um die zu ihrer Zeit größten Rüstungsvorhaben in Europa handelt und dass dabei in ganz erheblichem Maße High-Tech im Spiel ist. Beim Vergleich, bei dem als »externe Referenz« auch noch Eindrücke aus den USA berücksichtigt werden, geht es um die Zusammenhänge, die einen Projekterfolg (zeitlicher Ablauf, Systemleistung, Kosten) begünstigen oder behindern. Es bleibt also die durchaus legitime Frage ausgeklammert, ob denn in einem zu präferierenden Konzept politisch dominierter militärischer Stabilisierung überhaupt taktische Kampfflugzeuge in immer noch großer Zahl und mit zunehmender Leistungsfähigkeit vorgehalten werden müssen.

Fall 1: Eurofighter

Beteiligt waren an diesem Vorhaben ursprünglich Deutschland, Großbritannien, Italien und Spanien. Inzwischen ist Österreich als erster und bislang einziger Importeur hinzugekommen. Offiziell geht es immer noch um einen kumulierten Bedarf von über 600 Maschinen – zu einem Preis pro System, der gegen 100 Mio. Euro tendiert. Allerdings gibt es aktuell zumindest in Großbritannien angesichts wiederholter Projektverzögerungen und einer überaus dynamischen Preisentwicklung die Tendenz, aus einem Teil der geplanten Bestellung auszusteigen – oder mit dieser Drohung die Kostenbelastung zu drücken. (In Deutschland wird offenbar in Kauf genommen, dass die Beschaffungsplanung der Luftwaffe den Modernisierungsspielraum vor allem des Heeres so verengt, dass dieses seiner wesentlichen Aufgabe – nämlich Friedensunterstützung – immer weniger genügen kann.)

Entwicklung und Bau des Flugzeuges werden von einem internationalen Konsortium getragen, das aus den Luft- und Raumfahrtriesen BAe Systems (UK) und EADS (deutsche Tochter) sowie zwei kleineren Unternehmen in Italien und Spanien besteht, wobei letzteres vor nicht allzu langer Zeit von EADS (International) geschluckt wurde.

Beim Eurofighter handelt es sich um einen schweren Jäger und Jagdbomber (wobei die prinzipielle Bombereignung vor allem in Deutschland aus politischen Gründen lange Zeit verschwiegen wurde). Die ersten Muster sind 2003/4 den Luftstreitkräften der ursprünglichen Partnerländer zugelaufen. Allerdings ist bisher nur ein probeweiser Flugbetrieb möglich und zwar unter sehr restriktiven Sicherheitsauflagen. Man hofft, die noch bestehenden zahlreichen technischen Mängel bis 2007 beheben zu können. Diese Hoffnung wird aber im relevanten Expertenkreis keineswegs einhellig geteilt. Und auch wenn ab 2007 ein normaler Dienstbetrieb möglich sein sollte, wird es sich um ein Flugzeug handeln, das in etlichen Leistungsmerkmalen signifikant unter den beschlossenen Vorgaben bleibt.

Die wiederholten Projektverzögerungen und Preisschübe sind von interessierter Seite damit gerechtfertigt worden, dass es sich um die unvermeidliche Auswirkung des Bemühens um technologische Innovation handele. Dem widerspricht, dass der Eurofighter seine eigenen Spezifikationen nicht erreicht und dass zumindest ein anderes in diesem Zusammenhang zu diskutierendes Vorhaben ähnlichen technologischen Niveaus weniger Verzögerungen und eine geringere Kostendynamik aufweist.

Beim Eurofighter ist es zwar auf eindrucksvolle Weise gelungen, die Nachfrage zu bündeln. Die damit entstandene Marktmacht wurde jedoch dadurch verspielt, dass sich die Partnerländer frühzeitig von der Gnade eines internationalen Konsortiums abhängig machten (welches sich überdies als Göttin Europa persönlich geriert). Konkurrierende Entwürfe und Angebote gab es nicht. Der Anbieter erhielt so ein Monopol, das er offenbar weidlich ausgenutzt hat. Hinzu kam der kostenträchtige Effekt der Friktion, die aus der Notwendigkeit resultiert, Vertreter unterschiedlicher Unternehmenskulturen miteinander kooperieren zu lassen. Besonders der Blick auf die anderen hier vorzustellenden Vorhaben lässt die Schutzbehauptung hohl klingen, es habe einfach kein anderes Konsortium in Europa gegeben, das ein Vorhaben solchen Niveaus hätte bewältigen können.

Wenn mit dem Argument, »Doppelarbeit« vermeiden zu wollen, der Marktmechanismus eskamotiert wird, müssen Streitkräfte und Steuerzahler büßen. Der in diesem Zusammenhang gerne gebrauchte Hinweis auf das »Modell Amerika« zieht nicht: Zwar ist der Konzentrationsprozess in der US-Rüstungsindustrie weiter fortgeschritten als in Europa, doch haben bislang Politik und Streitkräfte in den Vereinigten Staaten sorgfältig darauf geachtet, dass insbesondere bei technologischen Großvorhaben zumindest zwei Systemanbieter miteinander konkurrieren. Dies hat wesentlich dazu beigetragen, dass die Ausstattung der US-Streitkräfte in Schlüsselbereichen weltweit eine führende Stellung genießt. Beispielsweise sind die Kampfflugzeuge F-22 (RAPTOR) und F-35 (Joint Strike Fighter) dem Eurofighter eine ganze Entwicklungsgeneration voraus (!).

Fall 2: Rafale

Bei diesem Vorhaben handelt es sich um einen Alleingang Frankreichs. Zwar waren Regierung und Rüstungsindustrie dieses Landes anfänglich für ein europäisches Kooperationsvorhaben offen. Wegen konzeptioneller Differenzen und weil bei einer Beteiligung am Eurofighter-Programm (damals: Jäger 90) eigener Einfluss und Industrieanteil zu gering erschienen, fiel die Entscheidung, sich auf nationale Entwicklungskapazitäten zu stützen. Vor dem Hintergrund einer Nachfrage der französischen Luft- und Seeluftstreitkräfte in der Größenordnung von nach wie vor etwa 300 Jägern und Jagdbombern eines einheitlichen Typs bekam das erfahrene »Systemhaus« Dassault den Zuschlag und damit das Angebotsmonopol. (Ein ähnlich kompetentes anderes französisches Unternehmen gab es nicht.)

Diese Tatsache und die Vorgabe, möglichst nur inländische Komponentenhersteller zu beauftragen, womit also der internationale Markt weitgehend ausgeschaltet wurde, bedingten von Anfang an hohe Preiserwartungen. Diese waren zu einem Leistungsprofil in Beziehung zu setzen, das in wesentlichen Aspekten 10-15 Prozent unter dem liegen sollte, was für den Eurofighter projektiert war. Insofern fühlten sich die an diesem internationalen Vorhaben Beteiligten bestätigt. Mittlerweile hat sich aber eine deutlich andere Lage ergeben: Der Eurofighter ist in seiner Kostendynamik auf dem Überholkurs und entspricht nicht mehr den ursprünglichen Leistungserwartungen. Hinzu kommt, dass die ersten Maschinen des Typs Rafale bereits seit 2001 den Dienst versehen und zwar zunächst bei den Marineluftstreitkräften Frankreichs (Zertifizierung für den Luftkampf: Frühjahr 2004).

Dieses Beispiel lässt zweierlei erkennen: Zum einen zeigt sich wiederum, dass für die Ausschaltung des Marktmechanismus ein Preis zu zahlen ist. Zum anderen wird aber auch deutlich, und zwar insbesondere im Hinblick auf den Zeitbedarf, welchen Vorteil die »Einhandsteuerung« durch ein Systemhaus hat, womit aufwendigste industrielle Abstimmungsprozesse entfallen.

Fall 3: Gripen

Auch in diesem Fall handelt es sich um einen nationalen Alleingang, der allerdings von demjenigen Frankreichs in wesentlicher Hinsicht abweicht. Der Typ JAS-39 (Gripen) ist ein leichtes Mehrrollenflugzeug, für das die schwedischen Luftstreitkräfte einen Bedarf von gut 200 Exemplaren angemeldet haben. Mit Entwicklung und Bau wurde auch hier nur ein erfahrenes Systemhaus beauftragt – nämlich Saab. Mögliche Konkurrenten gab es in Schweden ebenfalls nicht. Entwickelt wurde unter sehr stringenter – also nicht vordergründig unternehmensfreundlicher – Kostenkontrolle durch den Auftraggeber. Hinzu kam als äußerst wichtiges kostendämpfendes und leistungssteigerndes Moment die Entscheidung (bzw. bewährte Unternehmenspraxis), alle wesentlichen Komponenten auf dem – internationalen – Markt zu beschaffen, so dass der Firma selbst »nur« die Aufgaben von Design und Systemintegration blieben.

Im Ergebnis entstand ein Flugzeug, das dem technologischen Niveau des Eurofighter zumindest gleichkommt. In einigen Merkmalen, wie Reichweite und Waffenlast, liegen die Werte – durch das geringere Systemgewicht bedingt – unter jenen für das internationale bzw. das französische Muster. Dagegen lässt sich Ebenbürtigkeit, teilweise sogar besseres Abschneiden, feststellen, wenn es um jägertypische Eigenschaften geht: Im Hinblick auf Geschwindigkeit und Wendigkeit hat das schwedische Muster den Vergleich nicht zu scheuen. Bemerkenswert auch, dass der Gripen, die ersten Maschinen sind übrigens bereits in der zweiten Hälfte der 90er Jahre der Truppe zugelaufen, in den Beschaffungs- und vor allem auch den Betriebskosten sehr deutlich unter den hier diskutierten Konkurrenten liegt.

Seine Robustheit, es kann von relativ kurzen, provisorischen »runways« aus operiert werden, und der geringe Wartungsbedarf (Wartung durch nicht-professionelles Personal!) lassen den Gripen vor allem auch für out-of-area-Engagements geeignet erscheinen (wenn denn solche mit Luftwaffenelementen überhaupt für notwendig erachtet werden). Und das besonders günstige Preis-Leistungsverhältnis deutete zunächst auf sehr gute Exportchancen hin. Bisher haben sich allerdings »nur« Südafrika, Ungarn (Mietkauf) und Tschechien (Leasing mit Kaufoption) für diesen Typ entschieden. Andere europäische Länder, wie etwa die neutralen Alpenrepubliken und die Neumitglieder der NATO (letztere mit den genannten Ausnahmen) scheinen sich eher an US-amerikanischen Angeboten oder dem des Eurofighter-Konsortiums zu orientieren. Offenbar werden hier Angebote gemacht, etwa in Gestalt dubioser Kompensationsgeschäfte oder verquickt mit indirekter politischer Pression, die sich so leicht nicht ablehnen lassen. Dabei fällt auf: Die Vertreter von EADS scheinen sich auch nicht viel anders aufzuführen als die »imperialistischen Amis«. Anders ausgedrückt: Potenziell hat der Gripen das Zeug zum wirklichen Eurojäger.

Anmerkung: Saab Aerosystems hat sich mittlerweile unter die Fittiche von BAe Systems begeben. Dies wohl eher aus ökonomischen Erwägungen (Verstetigung der Auslastung!) als etwa wegen der Sorge, von Hochtechnologie abgekoppelt zu werden. Jedenfalls lässt sich dieser Vorgang nicht in dem Sinne interpretieren, dass kleinere Unternehmen gleichsam a priori Knowhow-Defizite haben.

Steuerung und Störung

Die im Kontext des europäischen Verfassungsprozesses konzipierte Rüstungsagentur kann vor dem Hintergrund eines in diesem Politikbereich nach wie vor intergouvernementalen Entscheidungsverfahrens die Transformation der Rüstungsindustrien in Europa sicherlich nicht im Sinne direkter Steuerung beeinflussen. Doch ist durchaus nicht auszuschließen, dass diese neue Einrichtung, die sich wie eine Spinne im Mittelpunkt relevanter Interessenverknüpfungen situieren kann, institutionelles Eigengewicht zu gewinnen vermag, welches zumindest indirekte Strategien der Einflussnahme ermöglicht.

Das Problem ist, ob die Europäische Rüstungsagentur mit akzeptabler Wahrscheinlichkeit jene Linien verfolgen könnte, die sich als Einsichten dieser kleinen Studie ergeben: Würde diese Institution einen Diskurs darüber einleiten (oder einleiten helfen), der danach fragt, welche Art von Rüstung gebraucht wird, welches Struktur- und Ausrüstungsmuster einer europäischen Politik des Ausgleichs und der nicht-provokativen Krisendämpfung kongenial ist? (Dies vor dem Hintergrund der Erkenntnis, dass eine auch verteidigungspolitisch zunehmend integrierte Europäische Union sich wegen der Vielfalt der Mitgliedschaft nicht auf Rachefeldzüge und Rechtsbrüche als gemeinsame Anliegen verständigen könnte.) Und: Würde diese Agentur – angesichts der durch die Schrumpfung der Rüstungsnachfrage bedingten Kapazitätsbereinigungen – in der Lage sein, im Zuge einer internationalen Arbeitsteilung und Spezialisierung jene (darunter auch kleinere) Systemhäuser zu stützen, die einen komparativen Vorteil besitzen? Würde sie diese – der Verstetigung der Auslastung und der Qualitätskonkurrenz wegen – Märkte erschließen können: etwa auch in den USA oder in der Russischen Föderation?

Wahrscheinlich nicht. Eher ist anzunehmen, dass sich jene industriell-politischen Kräfte auch in dieser neuen Institution durchsetzen, welche die Frage nach der Grundorientierung der Rüstungsanstrengungen möglichst ausblenden oder verdrängen möchten. Diese Kräfte sind übrigens weitgehend mit jenen identisch, für die eine Bildung internationaler, politisch verhakelter Konglomerate mit dem Charakter von Angebotsmonopolen zu einem Synonym für die Europäisierung geworden ist. Sie werden die Agentur wahrscheinlich in ganz besonderem Maße prägen und deren etwaiges institutionelles Eigengewicht als Interessenverstärker zu nutzen trachten.

Doch auch wenn die Europäische Rüstungsagentur nicht zum Spielball partikularer Interessen verkommen würde, wäre die Entwicklung einer wirkungsvollen, von nachvollziehbaren Kriterien geleiteten Strategie der Einflussnahme ein äußerst prekäres Unterfangen. Das Wechselspiel nationaler Egoismen und der oft über die Bande ausgetragenen Interessen der europäischen Industrie wird nämlich noch durch einen zusätzlichen Störfaktor kompliziert und damit weniger beherrschbar: US-Kapital geht in den Gefilden europäischer Rüstung zunehmend und gezielt auf Schnäppchenjagd. Bemerkenswert: Dabei kauft man sich weniger in Konsortien denn in kleinere, profilierte Systemhäuser ein (etwa bei Produzenten gepanzerter Fahrzeuge oder von konventionellen U-Booten) und zwar nicht so sehr weil dies weniger kostet, als vielmehr weil hier die Technologie zu holen ist, die dem US-Empire am meisten zu nützen verspricht.

Dr. Lutz Unterseher, Politikwissenschaftler und Soziologe, international tätiger Politikberater in Fragen der Streitkräfteplanung, Lehrtätigkeit an den Universitäten Münster und Osnabrück sowie an Militärakademien.
Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Friedensforum Östereich, dort erschienen in 5/6-2004.

Ein Schwerlaster ohne Bremsen

Ein Schwerlaster ohne Bremsen

Der amerikanische Militarismus rollt unaufhörlich weiter

von Andrew Lichterman

Viele Menschen verbanden mit der Präsidentschaftswahl in der USA die Hoffnung auf ein Referendum über den Irakkrieg, auf einen Richtungswechsel: Beendigung der aggressiven Politik nach außen und mehr Demokratie im Innern. Hatten sie übersehen, dass John Kerry als Kongressabgeordneter für den Irakkrieg stimmte und sich bis heute nicht von dem Krieg distanziert hat, dass der demokratische Parteitag so choreographiert war, dass die demokratische Partei sich an die Spitze der Militärparade setzen und Kerry sich »zum Dienst melden« konnte? Beide Parteien – Republikaner und Demokraten – zeigten im Wahlkampf kaum Meinungsunterschiede über den Irakkrieg; es ging mehr darum wer eine Nation in ihren Kriegen am besten führt und nicht darum, wer das Land in den Frieden führen kann. Deshalb konnte die Wahlentscheidung auch nicht zu einer Entscheidung über Krieg und Frieden werden.

George W. Bush hat die Wahl gewonnen, er beginnt seine zweite Amtszeit aber als unpopulärer Präsident, der einen unpopulären Krieg führt. Weder der Irakkrieg noch Bush erhalten in Meinungsumfragen heute hohe Zustimmungsraten. Das ist für einen Präsidenten in den ersten Monaten seiner zweiten Amtszeit recht ungewöhnlich. Trotzdem sind kaum interne oder externe Ereignisse oder Kräfte vorstellbar, die in absehbarer Zeit zu einer Kehrtwende der US-amerikanischen Außen- und Militärpolitik führen könnten. Mit Ausnahme einiger demokratischer Hinterbänkler schweigen die Volksvertreter beider Parteien zum aggressiven und illegalen Charakter des Irakkriegs und der Besetzung.1

Gleichzeitig sind die absoluten Militärausgaben der USA so hoch oder sogar höher als zur Zeit des Kalten Krieges. Der Anstieg beschleunigte sich nach dem 11. September, die Grundlagen dafür wurden aber bereits unter der Regierung Clinton gelegt.2 Zahlreiche der High-Tech-Waffenprogramme – von Kernwaffen mit neuen Fähigkeiten bis hin zu Raketenabwehrsystemen und neuen Waffentypen für den Weltraum-Einsatz – stammen aus den 1990ern; allerdings war das entsprechende Budget damals noch nicht so hoch.3 Die nationalen Sicherheitseliten beider großen Parteien waren bereit, die Etats der meisten dieser Programme anzuheben, als sich nach dem 11. September die Gelegenheit dazu bot. Die National Security Advisory Group, ein Beratergremium, das von führenden demokratischen Senatoren einberufen wurde und dem ein Großteil des nationalen Sicherheitsteams der Clinton-Regierung angehört, kam damals zum Schluss, dass „im Sog der verheerenden Angriffe auf unsere Heimat die Amerikaner bereit waren, einen drastischen Anstieg der Verteidigungsausgaben zu unterstützen. Dieser Anstieg ist erforderlich und verdient Unterstützung. Er bietet eine historische Chance zu einer echten Transformation – eine Chance, die wir ergreifen sollten.“ Dieselbe Gruppe lobte die Regierung Clinton für ihre Rolle bei der Entwicklung militärischer Systeme, denen „eine Schlüsselrolle zukam, als die erheblichen Militärkräfte des Irak innerhalb weniger Tage besiegt wurden.“4

Quer durch die Eliten der politischen Mitte wurde die Phase nach dem Kalten Krieg nicht als Zeit für Demobilisierung und Abrüstung angesehen sondern als Gelegenheit, eine beispiellose militärische Überlegenheit zu erlangen. Unter Präsident Clinton, nicht etwa unter den Präsidenten Bush I oder II, kündigte das US-Militär an, Ziel sei „die Fähigkeit zur raschen globalen Machtausübung, um Dominanz über das volle Spektrum zu erlangen“ (full spectrum dominance).5 Nach einer kurzen Phase zu Beginn der 1990er Jahre steckte der wissenschaftlich-technisch-militärisch-industrielle Komplex fast das komplette Kalte-Krieg-Arsenal in eine neue Verpackung und bot es jetzt unter der Rubrik Gegenproliferation von Massenvernichtungswaffen an. In der zweiten Hälfte der 1990er führten die USA eine Propagandakampagne durch, mit der sie der Öffentlichkeit den Eindruck vermitteln wollten, chemische und biologische Waffen seien das gleiche wie nukleare Waffen. Dadurch stieg die Gefahrenwahrnehmung, was wiederum dabei half, die Aufrechterhaltung des riesigen US-amerikanischen Kernwaffenarsenals, die neue Aufrüstung mit High-Tech-Waffen und eine immer aggressivere globale militärische Haltung zu rechtfertigen.

In dieser Zeit begnügten sich die USA aber keineswegs mit der Optimierung von Waffen und der Neuformulierung von Doktrinen. Sie führten Kriege, die an die Versuche der europäischen Mächte nach dem Ersten Weltkrieg erinnerten, als diese ihre imperialen Grenzen mit überlegener Technologie sichern wollten. Was damals Doppeldecker und Maschinengewehre waren, sind heute Marschflugkörper, Düsenjets und Präzisionsbomben. Der Jugoslawienkrieg von 1999 ermöglichte die weitere Expansion des US-Militärs in das Gebiet des ehemaligen Ostblocks. Es wurden militärische Kooperationsabkommen mit ehemaligen Sowjetrepubliken in Mittelasien abgeschlossen, wo die multinationalen US-Konzerne sich ein Wettrennen um die Ausbeutung der Ölvorkommen rund um das Kaspische Meer lieferten. Nach dem 11. September und der Invasion von Afghanistan zahlte sich diese Zusammenarbeit aus, sie ermöglichte die Einrichtung langfristiger Basen in Ländern wie Kirgistan, Usbekistan und auch direkt in Afghanistan.6

Die High-Tech-Version des »low intensity warfare«, den die USA während der 1990er Jahre im Irak führten – die jahrelange Erzwingung von »Flugverbotzonen« durch ständige und intensive Bombenabwürfe und Cruise Missile-Angriffe – wurde begründet mit der Eindämmung der angeblichen Produktion von Massenvernichtungswaffen des Irak. Damit wurde eine massive und permanente Präsenz des US-Militärs im Nahen Osten und am Persischen Golf gerechtfertigt. Begleitet wurde dieses Szenario von der fortwährenden Erweiterung des amerikanischen »empire of bases« in der Region. Die New York Times, ein zuverlässiges Sprachrohr der politischen Mitte bei Themen der nationalen Sicherheit, entlarvte 1998 die Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen mit erstaunlicher Offenheit als Propaganda. Die Zeitung hielt den Rückgriff auf solche Propagandamethoden, selbst wenn nichts dahinter steckte, offenbar für zulässig, um das Klima von Angst und Hass anzuheizen, das die Rechtfertigung für Militäraktionen bot:

„Wenn Clinton von den Schrecken der biologischen Kriegsführung redet und von der Gefahr, dass »unsere Kinder« ihnen ausgesetzt seien, dann ist er sich bewusst, dass er eine schlagkräftige Propagandawaffe schwingt Egal welchen Stellenwert die Sorgen der USA wegen biologischer Waffen haben, auf gewisse Weise hat Clinton inzwischen selbst Saddam übertrumpft. Indem sie Saddam als denjenigen hinstellen, der die Welt mit biologischer Kriegsführung überziehen könnte, nutzten die Amerikaner die Bedrohungsgefühle in den letzten Tagen äußerst erfolgreich, um die Notwendigkeit eines Angriffs auf Saddam mit noch mehr konventioneller Munition zu begründen. Neben moralischer Entrüstung ist die Konfrontation mit Irak schließlich auch Ausdruck des frontalen Zusammenstoßes wesentlicher US-Interessen mit einem besonders mörderischen Diktator. Über die Zerstörung von chemischen und biologischen Waffen hinaus könnte ein Bombardement letztlich auch mehreren langfristigen Interessen der USA in der Region dienen: der Erhaltung eines Iraks, der zwar schwach ist, aber doch nicht so schwach, der er auseinander fällt; der Stärkung der konservativen Golfregime und dem billigen Nachschub von Öl; der Aufrechterhaltung eines ungefähren Machtgleichgewichts zwischen Irak und Iran.“7

In den Vereinigten Staaten herrscht immer noch der Eindruck, dass sowohl der Aufstieg der Regierung Bush II als auch die Angriffe vom 11. September den Gang der Dinge erheblich veränderten. Es wäre vielleicht sinnvoller zu fragen, was das Bush-Regime und sein Vermögen, die Nation in den Krieg zu führen, und zwar nicht nur gegen Afghanistan sondern auch gegen den Irak, über die Machtverhältnisse in den Vereinigten Staaten aussagen. In einem breiteren Kontext haben die Angriffe vom 11. September wohl lediglich denjenigen Elementen der US-Gesellschaft mehr Freiraum verschafft, die längst entschlossen waren, alle Hürden aus dem Weg zu räumen – im Zweifel auch mit vorgehaltener Cruise Missile –, die den mächtigsten Staat der Erde daran hindern könnten, »offene Märkte« und den »Zugang zu Rohstoffen« zu möglichst vorteilhaften Bedingungen zu bekommen.

Die momentane US-Regierung ist vielleicht gar nicht vorrangig um Öl in den Krieg gezogen. Vermutlich ging es auch um die Durchsetzung einer ideologischen Vision, um die Vorstellung, dass man Südwestasien und den Nahen Osten »demokratisieren« könnte (dabei hat ihre Vorstellung von Demokratie weniger damit zu tun, die Macht an gewöhnliche Menschen zu übergeben, als vielmehr damit, neue Teile der Welt für Unternehmensinvestitionen zu öffnen). Die USA hätten aber den Krieg am Persischen Golf nicht vom Zaun brechen können, hätten sie dort nicht zuvor mit hohem Aufwand eine gigantische militärische Infrastruktur aufgebaut. Diese Infrastruktur – Basen, vorne stationierte Ausrüstung und logistische Fähigkeiten für globale Truppenverlegungen – wurde über Jahrzehnte hinweg von demokratischen wie von republikanischen Kongressen und Präsidenten aufgebaut, und zwar hauptsächlich, um die Kontrolle über die Erdölvorkommen im Nahen Osten und am Persischen Golf zu behalten.

Und gerade so, wie Bush seine Kriege nicht ohne die enorme Militärmaschinerie haben konnte, so konnte er diese Kriege auch nur befehlen, weil das politische System immer stärker von den konzentrierten wirtschaftlichen Interessen der Ölindustrie, des Militärs und der Militärfirmen beherrscht wurde. Die Bush-Dynastie ist ein Produkt dieses Systems: eine Familie, die Geld und Macht anhäufte, indem sie in Öl, Waffenhandel und Einfluss investierte, und die sich in einer selbstverstärkenden Aufwärtsspirale von Einfluss, Macht und Profit zwischen kommerziellen und Regierungsgeschäften hin- und herbewegte.

Hannah Arendt zufolge bringt der Imperialismus eine »neue Klasse« hervor, die „kolonialen Verwaltungsbeamten, welche diese Macht verwalteten“ und „einen entschiedenen Einfluss auf den politischen Körper des Mutterlandes [hatten], unbeschadet der Tatsache, dass sie selbst den größten Teil ihres Lebens in den Kolonien verbrachten. Da sie selbst im Grund nichts als Funktionäre der Gewalt waren,“ schrieb Arendt, „schien es ihnen nur natürlich, Politik überhaupt mit Machtpolitik gleichzusetzen.“ Das Neue an dieser Klasse und ihrer politischen Philosophie sei allerdings nicht die Betonung von Gewalt und Macht als Mittel der Politik, „der Unterschied ist nur, dass weder Gewalt noch Macht je das ausdrückliche und letzte Ziel politischen Handelns gewesen waren.“8

Das Regime, das in den USA jetzt an der Macht ist, besteht offensichtlich aus solchen „verbeamteten Funktionären der Gewalt“, die im Bündnis mit den Unternehmen, die am meisten von einer aggressiven militärischen Haltung der USA profitieren, ihre eigene Herrschaft sichern. Immer mehr hochrangige »zivile« Ämter werden entweder von Ex-Militärs oder von Führungskräften der militärischen Subunternehmer besetzt. An der Führungsspitze der »zivilen« Außenpolitik stand vier Jahre lang der ehemalige US-Stabschef Colin Powell; sein Stellvertreter war Richard Armitage, der zu Reagans Zeiten im Verteidigungsministerium saß. Vizepräsident Dick Cheney, für viele der mächtigste Mann in der Regierung, entwickelte als Verteidigungsminister von Bush I die Pläne für die profitorientierte Privatisierung militärischer Aufgaben, die Jahre zwischen den beiden Bush-Regierungen verbrachte er im »Privatsektor«, wo er Halliburton, ein führendes Öl- und Militärunternehmen, dafür trimmte, ein Hauptprofiteur dieses Systems zu werden.

Ihr Ziel legte diese Regierung im Jahr 2002 in der »Nationalen Sicherheitsstrategie der Vereinigten Staaten von Amerika« dar: die unbegrenzte Anhäufung von Macht durch Gewalt, das Vorhalten von Kräften, die „stark genug sein [werden], potenzielle Gegner von ihren Aufrüstungsvorhaben abzubringen, die sie in der Hoffnung auf Überlegenheit oder Gleichstellung im Hinblick auf die Macht der Vereinigten Staaten betreiben.“9

Hannah Arendt verwies auf die Ressentiments der »Funktionäre der Gewalt« gegenüber den politischen Klassen zu Hause, die die systematische Brutalität, mit der ganze Völker einer Fremdherrschaft unterworfen wurden, weder zugaben noch offen unterstützen, aber dennoch die Früchte des Empire willig entgegennahmen.10 So bekundete Winston Churchill, er sei „hochgradig schockiert“, als 1920 in Bagdad in Folge der Ablösung von Bodentruppen durch die Luftwaffe Frauen und Kinder aus der Luft mit Maschinengewehren umgebracht wurden.11 Und immer aufs Neue, von Vietnam bis Irak, werden Folter, Massaker und »Kollateralschäden« als Fehlentwicklungen abgetan, wird denjenigen die Schuld zugeschoben, die in den Krieg geschickt wurden und nicht denjenigen, die sie in den Krieg schickten.

Seit Vietnam erleben wir immer wieder, wie bei Skandalen die einfachen Soldaten nach vorne geschoben werden. So bleibt die Rolle derer im Dunkeln, die die imperialen Abenteuer verantworten und verwalten, die vom Krieg profitieren und dabei reich und mächtig werden. Die Legendenbildung vom gerechten Krieg und den tapferen Kriegern funktioniert, weil keine wichtige Interessensgruppe aus der politischen Mitte der USA jemals willens war, auch nur im Ansatz zuzugeben, dass ein Krieg der USA eventuell ungerecht sein könnte. Die Debatte beschränkte sich immer auf die Frage, wie man Kriege mit möglichst wenig »Kollateralschäden« führen kann, oder im besten Fall, welche Kriege man überhaupt führen sollte. Sogar die Reichen und Mächtigen in den Vereinigten Staaten, die nicht direkt von Krieg und Waffen profitieren, verschließen bereitwillig ihre Augen davor, dass sie zu einem »investitionsfreundlichen Klima« in immer größeren Teilen der Welt beitragen, und lassen so den Aufbau eines militärisch-technologisch-industriellen Komplexes zu, der inzwischen selbst politische Macht ist, ein virtueller Staat im Staate. Die kapitalistischen Unternehmenseliten, die eine nicht so direkte Form der Gewalt dessen ausüben, was David Harvey als die „Akkumulation durch Enteignung“ bezeichnete – beispielsweise indem ganze Gesellschaften durch permanente Zyklen der Kreditabhängigkeit, Währungsmanipulation und unsymmetrischen Handels- und Investitionsbeziehungen in den Bankrott getrieben werden – könnten ironischerweise jetzt feststellen, das der Aufstieg der raueren imperialen Klassen sie bei ihrer bevorzugten Methode des Profitscheffelns stört.12 Einmal entfesselt, neigt die imperialistische Dynamik zur totalen Zerstörung. „Denn Macht an sich“, warnte Arendt, „kann nur mehr Macht erzeugen, und Gewalt, die um der Macht willen (und nicht um des Gesetzes willen) angewandt wird, entwickelt sofort einen Zerstörungsprozess, der zum Stillstand erst kommen kann, wenn nichts mehr übrig ist, das nicht vergewaltigt wäre.“13

Eine kohärente politische Opposition gegen ein imperialistisches Regime setzt voraus, dass dieses als solches benannt und diskutiert wird. Aber die Analyse von Imperialismus als extremer Ausdruck des systemischen Drucks des Kapitalismus, neue Profitquellen zu erschließen, bleibt in den USA ein Tabu und wird lediglich in einigen marginalisierten Universitätszirkeln und Aktivistengruppen geführt. Der Imperialismusdiskurs unter Aktivisten wie Akademikern bleibt jeweils abgeschottet und abstrakt. Aktivistengruppen kommen aus Mangel an institutionellen Forschungsmöglichkeiten oder aus Mangel an Zeit für Reflektion selten über die Formulierung von Parolen hinaus. Intellektuelle an Universitäten haben Zeit und die Möglichkeit zu Forschung und Reflektion, beteiligen sich aber nur selten an praktischen Organisationsversuchen. Daher können sie nicht die Analysen liefern, die sich mit den Auswirkungen der Dynamiken auf größere Strukturen an den Orten beschäftigen, an denen die Menschen leben, arbeiten, und sich organisieren. Die Menschen aber werden gebraucht, um Strategien für einen sozialen Wandel zu definieren. Dies hat sich trotz mehrerer Jahrzehnte des postmodernen akademischen Diskurses über die Mikropolitik des Alltagslebens nicht geändert. Gleichzeitig sind die Aktivistenzirkel kaum daran interessiert, eigene intellektuelle Institutionen aufzubauen. Damit laufen sie Gefahr, sich entweder in Verschwörungstheorien zu verstricken oder doch wieder in die üblichen Lobbykampagnen eingebunden zu werden.

In den Vereinigten Staaten ist dringend ein intellektueller wie politischer Aufschwung nötig, und zwar außerhalb der dominanten Institutionen, im Rahmen der erst ansatzweise vorhandenen sozialen Bewegungen. Vor zwei Jahrzehnten, in einer vollkommen anderen Welt, mit der wir doch so vieles unverändert teilen, schrieb E. P. Thomson: „Wir versuchen, aus dem Zusammenbruch früherer Traditionen eine neue internationalistische Wählerschaft aufzubauen, eine, die mit Dringlichkeit und Wirksamkeit zu agieren versteht. Wir können unsere Kochrezepte nicht lässig im Salon verfassen und sie dann an die Dienstbotenetage weiterreichen (obwohl einige das immer noch versuchen.) Wir müssen unsere Rezepte improvisieren, während wir vor dem Küchenfeuer schwitzen.“14

Anmerkungen

1) Siehe A. Lichterman und J. Burroughs: War Is Not the Path to Peace: The United States, Iraq, and the Need for Stronger International Legal Standards to Prevent War, Lawyers‘ Committee on Nuclear Policy and Western States Legal Foundation, Oktober, 2002; http://www.wslfweb.org/docs/iraqlaw2.htm.

2) Siehe Congressional Budget Office: The Long-Term Implications of Current Defense Plans: Detailed Update for Fiscal Year 2005, September 2004, und Office of the Under-Secretary of Defense (Comptroller): National Defense Budget Estimates for FY 2005 (Green Book), März 2004, Tabelle 7-2, S. 206 ff.

3) Eine Übersicht über einige dieser Programme am Ende der Clinton-Zeit enthält Andrew Lichterman: Looking for New Ways to Use Nuclear Weapons: U.S. Counterproliferation Programs, Weapons Effects Research, and »Mini-Nuke« Development, Western States Legal Foundation Information Bulletin, Winter 2000-2001.

4) National Security Advisory Group: An American Security Policy: Challenge, Opportunity, Commitment, Juli 2003, S. 41 und S. 1.

5) U.S. Joint Chiefs of Staff: Joint Vision 2020, 2000, S. 6.

6) Zur Reichweite des US-amerikanischen »Basen-Empire« früher und heute, siehe Chalmers Johnson: The Sorrows of Empire: Militarism, Secrecy, and the End of the Republic, New York, Metropolitan Books, 2004.

7) Roger Cohen: The Weapon Too Terrible for the Parade of Horribles, The New York Times, 8. Februar 1998 (Internet-Ausgabe).

8) Hannah Arendt: The Origins of Totalitarianism, hier zitiert nach der von Arendt übertragenen und neubearbeiteten deutschen Ausgabe: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Teil II: Imperialismus, Frankfurt am Main, Europäische Verlagsanstalt, 1962, S. 215.

9) The White House: The National Security Strategy of the United States of America, 2002, S. 30; deutsche Übersetzung unter http://www.us-botschaft.de/germany-ger/img/assets/9436/nss.pdf, S. 40.

10) Hannah Arendt, op.cit., S. 209-211.

11) Zitiert in Sven Lindquist: A History of Bombing, New York, The New Press, 2000, S. 43.

12) Siehe David Harvey: The New Imperialism, Oxford University Press, 2003.

13) Hannah Arendt, op.cit., S. 215.

14) E.P Thompson: The Heavy Dancers: Writings on War, Past and Future, Pantheon Books, New York, 1985, S. 151.

Andrew Lichterman ist Rechtsanwalt und seit langem zu Friedens- und Umweltthemen aktiv, vor allem in der Region San Francisco, Kalifornien. Er ist Programmdirektor der Western States Legal Foundation. Kontaktmöglichkeit besteht über seine Website http://www.al.marginalnotes.org.
Übersetzt von Regina Hagen
Übersetzung der Zitate, so nicht anders angegeben, durch Regina Hagen.