Rüstungsindustrie und Hegemonie

Rüstungsindustrie und Hegemonie

von Michael Hennes

Die internationale Politik zu Beginn des 21.Jahrhunderts vollzieht sich im Rahmen einer Hegemonialordnung, bestimmt von den Vereinigten Staaten als einzig verbliebener Supermacht der Welt. Mit der Wiederwahl von US-Präsident George W. Bush hat die Mehrheit der amerikanischen Wähler der unilateralen Interessenpolitik ihres Präsidenten die Absolution erteilt. Die hegemoniale Machtpolitik der USA folgt den Interessen und Stimmungen einer neokonservativen Mehrheit im Land. Zu den diskreten Nutznießern dieser Politik zählt ein Militärisch-Industrieller Komplex, vor dem bereits 1961 der scheidende US-Präsident Dwight D. Eisenhower gewarnt hat.1

Laut Harry S. Truman waren die Repulikaner schon immer „die Partei der großen Wirtschaftsinteressen.“ 2 Doch überdeckt von den Feindbild-Fixierungen des Kalten Krieges wurde die industriepolitische Dimension der amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik weithin übersehen. Wäre die Bipolarität das alles bestimmende Kennzeichen der internationalen Ordnung nach dem Zweiten Weltkrieg gewesen, hätte der Zusammenbruch des Kommunismus in Osteuropa und der Sowjetunion zu einer nachhaltigen Absenkung der Militärausgaben führen müssen. Tatsächlich gelang dies der Clinton-Administration nur über wenige Jahre hinweg.

Die Bush-Administration vertrat umgehend nach ihrem Amtsantritt und noch vor den Terroranschlägen des 11. September 2001 die Geschäftsinteressen der amerikanischen Luft- und Raumfahrtindustrie, die ein zentrales Element der amerikanischen Hegemonie seit dem Zweiten Weltkrieg bildet. Mit den Rüstungsaufträgen des Weltkriegs wurde die amerikanische Luftfahrtindustrie zum größten Industriezweig des Landes.3 Zugleich zeigte der Weltkrieg ganz im Sinne von Keynes, dass sich mit einer Steigerung der Staatsausgaben das Wirtschaftswachstum der USA antreiben ließ. Im Korea-Krieg wurden die Verteidigungsausgaben von der Truman-Administration gezielt als Instrument des »deficit spending« eingesetzt.4 Durch die Demobilisierung nach dem Weltkrieg war die Luftfahrtindustrie allerdings zunächst in große Auftragsprobleme geraten. Während sie 1944 noch 96.000 Flugzeuge hergestellt hatte, sank die Produktion bis 1947 auf 1.800 Maschinen ab5, obschon noch 1948 rund 90 Prozent ihrer Aufträge militärischer Natur waren.6 Die Unternehmen starteten eine öffentliche Kampagne und Präsident Truman beantragte für 1949 deutliche Haushaltssteigerungen für die militärische Luftfahrt.7 Der Korea-Krieg trieb die Militärausgaben auf breiter Front in die Höhe und löste den »Korea-Boom« aus, ehe die Sparpolitik des republikanischen Präsidenten Eisenhower das Land 1954 in eine neue Rezession führte.8

Eisenhower war der letzte US-Präsident vor Bill Clinton, der das nominale Wachstum der US-Militärausgaben nachhaltig eindämmen konnte. Seit der Ära Kennedy stiegen die Militärausgaben kontinuierlich an, in der Ära Reagan gingen sie in ein rasantes Wachstum über. Rechnet man die Preissteigerungen heraus, ergibt sich ein aufschlussreiches Bild: Real stiegen die US-Militärausgaben nur mit dem Zweiten Weltkrieg, dem Korea-Boom, dem Vietnam-Krieg und in der Ära Reagan deutlich an, anschließend führten die US-Regierungen das Militärbudget wieder ungefähr auf das jeweils vor diesen Wachstumsschüben erreichte reale Ausgabenniveau zurück (vgl. Schaubild, S. 21). Alleine unter den Präsidenten Ronald Reagan ab 1981 und unter George W. Bush ab 2001 konnte das Pentagon und die Rüstungsindustrie ein reales Wachstum der Militärausgaben auch ohne bzw. vor aktuellen Kriegsanstrengungen durchsetzen.

Der Rüstungsboom des George W. Bush

Der wichtigste Indikator für die Bedeutung des Militärisch-Industriellen-Komplexes ist die Entwicklung von staatlichen Forschungs- und Beschaffungsausgaben, die im Gegensatz zu den Personal-, Verwaltungs- und Betriebskosten direkt in die Kassen der amerikanischen Rüstungsindustrie fließen. Auf Grund eines kontinuierlichen, preisbedingten Anstiegs der Betriebskosten und des tariflich bedingten Anstiegs der Personalkosten sinkt in Zeiten stagnierender Verteidigungsausgaben der Anteil der Rüstungsaufträge am Militärhaushalt kontinuierlich ab. Möglich waren Steigerungen der Rüstungsaufträge in den USA seit 1945 also nur durch eine Aufblähung des gesamten Pentagon-Etats. Vor der Ära Reagan gelang dies nur unter dem Druck der Kriege in Korea und Vietnam. Clinton nutzte das Ende des Kalten Kriegs in seinen ersten Amtsjahren für eine Friedensdividende. In der Ära Bush stiegen die Pentagon-Ausgaben für Beschaffung, Forschung und Entwicklung von 95,4 Mrd. Dollar im Haushaltsjahr 2001 auf 138,3 Mrd. Dollar im Haushaltsjahr 2004, also um nominal durchschnittlich 13 Prozent pro Jahr, an.9 Der Rüstungsboom begann unmittelbar nach dem Amtsantritt im Januar 2001.

Die Rüstungsunternehmen waren vital an Ausgabensteigerungen interessiert. Finanziert wird der amerikanische Rüstungsboom seit dem Haushaltsjahr 1999 durch wachsende Defizite im Bundeshaushalt. Zentraler Nutznießer dieser republikanischen Variante eines »deficit spending« ist das Oligopol der amerikanischen Rüstungsindustrie, die im bevölkerungsreichsten Bundesstaat der USA, in Kalifornien, sogar zum größten Industriezweig geworden ist. Der Militärisch-Industrielle-Komplex der USA ist heute eine durch finanzielle Interessen und langjährige Personalunion geschmiedete Verbindung aus den Spitzen der Verteidigungsbürokratie, aus zahlreichen Abgeordneten im US-Kongress mit den Führungsetagen der Rüstungsindustrie, die in den Vereinigten Staaten den Kern der Luft- und Raumfahrtindustrie mit 800.000 gut- bis hochbezahlten Mitarbeitern bildet.10 Das Pentagon kauft etwa ein Drittel aller Produkte dieser Branche, wodurch das seit dem 11. September 2001 in vielen Betrieben defizitäre Geschäft mit der zivilen Luftfahrt aufgefangen wird. Das zentrale Problem der amerikanischen Luft- und Raumfahrtindustrie ist ihre wachsende Konkurrenz aus Europa, die zu einem starken Verlust an Weltmarktanteilen im zivilen Flugzeuggeschäft geführt hat.11 Die Kompensation floss seit dem Amtsantritt von Bush aus den Kassen des Pentagon: Die Ausgaben des US-Verteidigungshaushaltes für Beschaffung, Forschung und Entwicklung liegen seit dem Haushaltsjahr 2002 im dreistelligen Milliardenbereich und erreichten im Jahr 2004 ein Volumen von 138 Mrd. Dollar.12 Der Rüstungsboom unter George W. Bush wurde bereits im November 1994, als die Halbzeitwahlen im US-Kongress zu republikanischen Mehrheiten in beiden Häusern des Kongresses führten, eingeleitet.13 Im Wahlkampf hatten die Republikaner explizit gefordert, dass die Verteidigungsausgaben wieder erhöht werden müssten.14

Heute verfügt der Militärisch-Industrielle Komplex über hochrangige Interessenvertreter in der US-Regierung. So wählte der Präsidentschaftskandidat Bush im Frühjahr 2000 den ehemaligen Verteidigungsminister seines Vaters, Richard B. Cheney, zum »running mate«. Mit der Nominierung des Halliburton-Präsidenten war die Aussicht auf ein Aufrüstungsprogramm verbunden: 1997 hatte sich Cheney mit anderen Neokonservativen der Reagan-Ära in einem Think Tank zusammengeschlossen, dem »Project for the New American Century«. Die Gründungserklärung am 3. Juni 1997 unterschrieben unter anderem Donald Rumsfeld und Paul Wolfowitz. Das neokonservative Projekt verkündete, dass die Vereinigten Staaten ihr Militärbudget wieder erhöhen müssten, um auch im 21. Jahrhundert die amerikanischen Interessen in der Welt wirksam sichern zu können.15 Die republikanische Botschaft wurde in der Rüstungsindustrie aufmerksam registriert. Nach den Fusionen der 1990er Jahre besteht die Branche im Kern aus nur noch fünf Großunternehmen: Lockheed-Martin, Boeing, Northrop-Grumman, Raytheon und General Dynamics. Der Vorstandsvorsitzende von General Dynamics, Nicholas D. Chabraja, warf der Clinton-Administration im Oktober 1999 ganz gegen die Gepflogenheiten der verschwiegenen Branche öffentlich vor, mit ihren Haushaltseinsparungen die nationale Sicherheit gefährdet zu haben.16 Für die von einem republikanisch beherrschten Kongress herbeigezwungene Trendwende fand Chabraja Worte des Lobes: „Der Verteidigungshaushalt, der letzte Woche unterzeichnet wurde, beginnt einige dieser Probleme anzugehen. Er beginnt, einen 13 Jahre langen Niedergang der Beschaffungsausgaben zu revidieren – und er erneuert die Verpflichtung der Nation, unseren Kriegern die Waffen zu geben, die sie brauchen. Es ist nur ein Anfang. Aber es ist eine Verpflichtung, die unsere Unterstützung verdient. Nicht nur in diesem Jahr – sondern im nächsten Jahr und in allen weiteren Jahren vor uns.“17

Seither steigen die Rüstungsaufträge stärker als die Inflationsrate an. Mit dem Amtsantritt der Bush-Administration begann ein neuer Rüstungsboom. Donald H. Rumsfeld, der sich nach dem Irak-Krieg deutlich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hat, zeichnet als Verteidigungsminister alle Rüstungsprojekte ab und schleust sie mit einem engen Kreis von Mitarbeitern durch den Kongress. Die interne Planung und Budgetierung der Programme vollzieht sich im Verborgenen, denn die Details militärischer Projekte stehen bis zur Einführung der Waffensysteme unter Geheimhaltung. Der Rüstungsboom erhielt nach dem 11. September 2001 den »Krieg gegen den Terror« als programmatische Klammer. Doch schon unmittelbar nach seinem Amtsantritt erteilte Präsident Bush dem neuen Verteidigungsminister Rumsfeld den Auftrag, die amerikanischen Streitkräfte auf die neuen Bedrohungen des 21.Jahrhunderts vorzubereiten: „Sie reichen von Terroristen, die mit Bomben drohen, bis hin zu Tyrannen in Schurkenstaaten, welche die Absicht haben, Massenvernichtungswaffen zu entwickeln.“18 Als militärische Supermacht sind die USA allen Staaten der Welt weit überlegen. Gegen terroristische Angriffe gibt es keine wirklich geeigneten Abwehrwaffen, solange Terroristen nicht den Fehler begehen, eine offene Feldschlacht mit den US-Streitkräften zu suchen. Terrornetzwerke wie El-Kaida nutzen die Möglichkeiten offener Grenzen und tauchen in der zivilen Gesellschaft unter, wie der 11.September 2001 schlagartig verdeutlichte. Für den Rüstungsboom der Bush-Administration gab es keine rationale sicherheitspolitische Begründung. Die groß angelegten Aufrüstungsprogramme sollten vielmehr das amerikanische Machtprestige in der Welt stärken und die nationale Luft- und Raumfahrtindustrie subventionieren.

Die Rüstungsindustrie in der Ära Bush

Verteidigungsminister Rumsfeld verstand sich von der ersten Stunde an als ein Modernisierer, der das Pentagon im Dienste des Hochtechnologiesektors umbauen sollte. Der Minister finanziert seither die Digitalisierung der US-Streitkräfte auf allen Ebenen, womit jedes Jahr Milliardenaufträge an amerikanische Zuliefererbetriebe in der Elektroindustrie und der Softwarebranche fließen. Die Hauptnutznießer sind die fünf Großunternehmen der Rüstungsindustrie:

Der in Bethesda/Maryland beheimatete Rüstungskonzern Lockheed-Martin ist der größte Rüstungshersteller der Welt und erzielt mit 130.000 Mitarbeitern19 über 90 Prozent seines Umsatzes (Geschäftsjahr 2003: 31,8 Mrd. Dollar) aus dem Verkauf militärischer Güter.20 Die wichtigsten Geschäftsfelder sind Kampfflugzeuge (F-16/22), militärische Transportflugzeuge (C-130), Satellitentransporte, Lenkwaffen und Verteidigungselektronik. Von den rückläufigen Beschaffungsaufträgen der Ära Clinton wurde das Unternehmen stark getroffen. In den Geschäftsjahren 1997 bis 2001 brach der Umsatz um 14,5 Prozent ein; durch den Rüstungsboom der Bush-Jahre kletterten die Umsätze in nur zwei Jahren wieder um 32,7 Prozent nach oben.21 Das Jahr des Irak-Kriegs schlug sich äußerst positiv in den Auftragsbüchern nieder, alleine 2003 zog der Umsatz um 19,7 Prozent an. Die Ertragsentwicklung des Unternehmens stellt sich bei Umsatzrenditen von 8,6 Prozent (Cash-Flow 2002) und 6,3 Prozent (Bilanzgewinn 2003) für die Verhältnisse eines Großunternehmens sehr positiv dar.22

Persönliche Verbindungen bis hinein in höchste Regierungskreise sichern den Geldfluss. Die Ehefrau des heutigen Vizepräsidenten der USA, Lynne Cheney, wurde 1994 in den Aufsichtsrat von Lockheed-Martin berufen. Als Cheney im Januar 2001 Vizepräsident wurde, legte seine Ehefrau ihr Mandat im obersten Aufsichtsorgan des Konzerns zwar nieder; bis dahin hatte sie allerdings durch Unternehmensaktien und Tantiemen über 500.000 Dollar verdient.23 Lockheed-Martin sichert seinen Einfluss nach wie vor auch durch direkte persönliche Verbindungen ab. Im Aufsichtsrat des Unternehmens sitzen z.B. der vormalige Pentagon-Staatssekretär für Rüstungsbeschaffung und ehemalige Staatssekretär der Luftwaffe, Edward C. Aldridge, sowie der frühere NATO-Oberbefehlshaber Gen. Joseph W. Ralston.

Dass amerikanische Rüstungsaufträge zu einem erheblichen Anteil den Charakter von Subventionen tragen, verdeutlicht vor allem das Beispiel Boeing. Das Weltunternehmen aus Chicago leidet seit der Jahrtausendwende unter einem rückläufigen Umsatz im zivilen Flugzeugbau, der sich mit der Krise der Luftfahrtbranche nach dem 11. September 2001 verschärft hat. Das Unternehmen konnte sich nur durch drastischen Personalabbau in den schwarzen Zahlen halten. Als Reaktion auf die Krise im zivilen Flugzeugbau wurde die Rüstungssparte stetig ausgebaut; im Geschäftsjahr 2003 erreichte der Rüstungsanteil am Konzernumsatz nach mehreren strategischen Übernahmen24 einen Wert von 54 Prozent.25 In Südkalifornien ist die Rüstungssparte von Boeing mittlerweile zum größten Arbeitgeber der Region geworden.

Alleine in den Monaten Mai bis August 2003 erteilte das Pentagon dem Luftfahrtriesen drei Multi-Milliarden-Aufträge. Durch gezielte Indiskretionen einzelner Abgeordneter im Kongress und des Wettbewerbers Lockheed-Martin wurden seither aufschlussreiche Details über den Lobbyismus des Konzerns bekannt. Im Mai 2003 beauftragte die US-Air-Force das Unternehmen, 100 Jumbos vom Typ 767 zu Tankflugzeugen umzubauen, die von der Luftwaffe über sechs Jahre geleast und anschließend gekauft werden sollten. Für das Lobbying im Weißen Haus hatte Boeing im Dezember 2001 den republikanischen Sprecher des Repräsentantenhauses, J. Dennis Hastert, gewonnen.26 Hastert, der für den Boeing-Heimatstaat Illinois im Kongress sitzt, soll Präsident Bush als Gegenleistung für den Auftrag zugesagt haben, die zweite Runde der Steuersenkungen im Repräsentantenhaus durchzusetzen.27 Nach Berechnungen des US-Bundesrechnungshofes war der Leasingpreis für die 100 Tankflugzeuge mit 26 Milliarden Dollar jedoch viel zu hoch angesetzt. Eine komplette Modernisierung der bestehenden Tankerflotte der Luftwaffe wäre um acht Milliarden billiger gewesen.28 Nach heftigem Widerstand im US-Kongress reduzierte Boeing den Gesamtpreis auf 21 Mrd. Dollar, wobei der Vertrag immer noch eine Gewinnspanne von bis zu 15 Prozent vorsah.29 US-Verteidigungsminister Rumsfeld schaffte es mit diesem Zugeständnis, das Projekt durch drei der vier zuständigen Ausschüsse im Kongress zu schleusen.

Im August 2003 machte die unabhängige Haushaltsbehörde des Parlaments publik, dass ein kompletter Neukauf von 100 Tankflugzeugen immer noch um 5,6 Mrd. Dollar billiger als der Leasing-Vertrag wäre.30 Einige Republikaner unter Führung des Bush-Gegenspielers John McCain probten den Aufstand. Am 4. September 2003 verweigerte der Streitkräfteausschuss des Senats die Zustimmung und beauftragte das Pentagon mit einer neuen Kostenanalyse.31 Senator McCain nutzte die Gelegenheit, um seinen Intimfeind Bush mit brisanten Details aus internen Unterlagen von Boeing in Schwierigkeiten zu bringen. Demzufolge verriet die stellvertretende Abteilungsleiterin für Rüstungsbeschaffung bei der US-Air-Force, Darleen Druyun, dem Unternehmen vertrauliche Details über die Konkurrenzangebote von Airbus. Boeing besserte das eigene Angebot nach und im Januar 2003 wechselte Darleen Druyun in das Topmanagement des Konzerns.32 McCain veröffentlichte auch Firmenkorrespondenz über Kontakte zwischen dem Boeing-Management und dem Staatssekretär der Luftwaffe, James G. Roche. Der enge Vertraute des Ministers hatte den Unterlagen zufolge versprochen, dass sich Rumsfeld persönlich für die Projektgenehmigung im Weißen Haus und im Kongress einsetzen werde.33 Am Rande des Skandals wurde zudem bekannt, dass der Flugzeughersteller und seine Angestellten während des Präsidentschaftswahlkampfs 2000 Spenden in Höhe von zwei Millionen Dollar an das Bush-Lager geleistet hatten.34

Mit den Veröffentlichungen schien das Projekt zunächst erledigt zu sein. Der Vorstandsvorsitzende von Boeing, Phil Condit, entließ Finanzvorstand Michael Sears sowie Darleen Druyun und trat später selbst zurück.35 Der Wissenschaftliche Beirat des Pentagon, das »Defense Science Board«, kam im Mai 2004 nach intensiver Analyse zu dem Ergebnis, dass es „weder überzeugendes Material noch überzeugende finanzielle Gründe“ für die neue Tankerflotte gäbe.36 Der geschäftliche Schaden für Boeing war groß, zumal der Hauptkonkurrent Lockheed-Martin im Juli 2003 einen Diebstahl interner Firmenunterlagen durch Boeing bekannt gemacht hatte. Das Pentagon sah sich daraufhin zu einer Vertragsstrafe in Höhe von einer Milliarde Dollar gezwungen.37 Trotzdem erhielt Boeing mit dem »Future Combat System« im Mai 200338 und der Entwicklung einer neuen Flugzeugbombe im August 200339 umgehend zwei neue Milliardenaufträge aus dem Verteidigungsministerium.

Ein aufschlussreiches Beispiel für die Pflege politischer Beziehungen bietet auch Northrop Grumman. Durch den Aufkauf von 16 Rüstungsfirmen zwischen 1994 und 2002 ist das Unternehmen mit Stammsitz in Los Angeles und Filialen in allen 50 Bundesstaaten der USA40 zum weltweit größten Produzenten von Verteidigungselektronik geworden.41 Das zweite Standbein des Unternehmens, das heute mindestens 55 Prozent seines Umsatzes mit Rüstungsgütern erzielt,42 ist der Schiffsbau. Northrop Grumman hat in den Geschäftsjahren 2000 bis 2003 Umsatz und Belegschaft mehr als verdreifacht.43 Der sensationelle Umsatzsprung um 52 Prozent alleine im Geschäftsjahr 2003 ist vor allem durch die bevorzugte Auftragsvergabe des Pentagon zu erklären.

Im Mai 2003 ersetzte Verteidigungsminister Rumsfeld den Staatssekretär der US-Army, Gen. Thomas White, nach wiederholten Differenzen durch den Staatssekretär der US-Luftwaffe, James G. Roche. Die Personalie Roche zeigt an herausgehobener Stelle, wie eng die Bush-Administration mit den Interessen der großen Rüstungskonzerne verflochten ist. Der heutige Staatssekretär James Roche wechselte als Marine-Kapitän 1985 zum Rüstungsproduzenten Northrop und arbeitete sich dort ins Topmanagement hoch; aus der Chefetage von Northrop Grumman berief ihn Rumsfeld 2001 direkt als Staatssekretär an die Spitze der Luftwaffe.44 Bei der US-Air-Force trieb der Experte für Verteidigungselektronik die Digitalisierung der Waffen- und Kommunikationssysteme voran. Die gleiche Aufgabe verfolgte er seit dem Mai 2003 als Staatssekretär des Heeres. Der weltweit wichtigste Produzent der neuen Verteidigungselektronik ist sein früherer Arbeitgeber, das Unternehmen Northrop Grumman.

Lediglich zwei weitere Großunternehmen komplettieren den Kern der amerikanischen Rüstungsindustrie. Raytheon in Massachusetts konzentriert sich seit dem Jahr 2000 ebenfalls immer stärker auf die Rüstungsproduktion und erreicht mittlerweile einen Rüstungsanteil am Geschäftsumsatz von mindestens 60 Prozent.45 Im Geschäftsjahr 2003 konnte das zuvor kriselnde Unternehmen ein deutliches Umsatzwachstum von 8,05 Prozent erzielen.46 Das wichtigste Produkt von Raytheon ist das Patriot-Raketenabwehrsystem. Das Unternehmen ist zugleich Hauptauftragnehmer beim NMD-Programm einer nationalen Raketenabwehr der USA (National Missile Defense). Bereits im Mai 2001 kündigte Präsident Bush den umfassenden Ausbau des Programms an. In den Fünfjahresplan 2003-2007 stellte die Administration ein Programmvolumen von 45,8 Mrd. Dollar ein, was gegenüber dem vorherigen Fünfjahresplan der Clinton-Administration eine Steigerung um 47 Prozent bedeutete.47 Bush drängte darauf, bereits im Oktober 2004 mit der Stationierung der von Raytheon entwickelten Abfangraketen in Alaska und Kalifornien zu beginnen, obschon zwischen 1999 und 2003 nur fünf von neun Testabschüssen unter vereinfachten Versuchsbedingungen stattgefunden hatten.48 Nach wie vor ist das System unausgereift und gilt der strategische Wert als äußerst zweifelhaft. Dem US-Konzern Raytheon aber bringt das Projekt Jahr für Jahr Pentagon-Aufträge in Höhe von mehreren Milliarden Dollar ein.

Seit 1997 baut General Dynamics in Falls, Virginia, seine Rüstungsproduktion kontinuierlich aus. Das Unternehmen ist auf die Herstellung von Kampffahrzeugen (z.B. Kampfpanzer M1-Abrams) und Kriegsschiffen spezialisiert. Für das Jahr 2000 wurde der Rüstungsanteil am Geschäftsumsatz auf über 60 Prozent geschätzt;49 alleine durch die Übernahme der Rüstungssparte von General Motors im Jahr 2002 stieg der Umsatz um 1,1 Mrd. Dollar50 und der Rüstungsanteil auf mindestens 70 Prozent an. Das Unternehmen steigerte im Geschäftsjahr 2003 seinen Umsatz um über 20 Prozent.51

Ein Oligopol der Aufrüstung

Die fünf Großunternehmen bilden ein Angebotsoligopol, das in direktem Zusammenspiel mit dem Nachfragemonopol des Pentagon den Wettbewerb weitgehend auszuschalten versucht. Im Geschäftsjahr 2003 erzielten die fünf Konzerne mit 542.000 Mitarbeitern mit Rüstungsgütern einen Umsatz von mindestens 93 Mrd. Dollar, was gegenüber dem Vorjahr eine Umsatzsteigerung von 19 Prozent bedeutete. Kalkuliert man mit einem Exportanteil von höchstens zehn Prozent des Geschäfts,52 ergibt sich eine aufschlussreiche Zahl: Im Haushaltsjahr 2003 flossen mindestens 70 Prozent der Beschaffungs- und Forschungsaufträge des US-Verteidigungsministeriums (121 Mrd. Dollar) in die Kassen der fünf Großunternehmen. Es handelt sich um eine gezielte Subventionierung eines Oligopols in der amerikanischen Luft- und Raumfahrtindustrie.

Die Rüstungsriesen betreiben einen massiven Lobbyismus in Washington. Sie haben ehemalige Berufsoffiziere auf ihre Lohnlisten übernommen und in die Aufsichtsräte werden regelmäßig pensionierte Generäle berufen. Die Konzerne verteilen ihre Waffenfabriken und –labors über das ganze Land und können dadurch auf die Unterstützung einer großen Zahl an Kongressabgeordneten setzen, die an die Arbeitsplätze in ihren Wahlkreisen denken müssen und auf Wahlkampfspenden hoffen. Streitkräfte, Rüstungsindustrie und ein Teil der Kongressabgeordneten leben diskret in einer Art von symbiotischer Beziehung. Der Militärisch-Industrielle Komplex ist heute ein fester Bestandteil der gesellschaftlichen Elite der USA. Hegemoniale Machtpolitik und wirtschaftliche Interessen der USA hängen bis hinein in die Mikrobeziehungen des Big Business eng zusammen. Das lässt sich nicht nur am Beispiel der Rüstungsindustrie zeigen – die Ölbranche in Kalifornien und Texas unterhält bekanntlich ähnliche Beziehungen.

Anmerkungen

1) Vgl. hierzu auch Hennes, Michael (2003): Der neue Militärisch-Industrielle Komplex in den USA, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 46/03 (10.11.), S. 41-46.

2) Truman, Harry S. (1956): Memoiren, Bd. II: Jahre der Bewährung und des Hoffens (1946-1953), Stuttgart, S. 191.

3) Hooks, Gregory (1991): Forging the Military-Industrial Complex, Urbana/Chicago, S. 159.

4) Vgl. Note By the Executive Secretary to the National Security Council On the United States Objectives and Programs for National Security (NSC-68), Washington D.C., 14.4.1950. Dok. in: U.S. Department of State, 1977: Foreign Relations of the United States 1950, Bd.1, S. 282-286.

5) Yergin, Daniel (1979): Der zerbrochene Frieden, Lemgo, S. 328.

6) Ebd.

7) Ebd.: S. 328 f.

8) Van der Wee, Herman (1984): Der gebremste Wohlstand. Wiederaufbau, Wachstum und Strukturwandel der Weltwirtschaft seit 1945, München, S. 63-79.

9) Ebd.

10) Vgl. Douglas, John W.: President of the Aerospace Industries Association. Statement before the Subcommittee on Military Procurement. U.S. Congress. House Armed Services Committee, Washington D.C., 19.3.2002 (www.armedservices.house.gov), S. 1.

11) 1985 hielten US-Unternehmen noch 72 Prozent des Weltmarktes, heute nur noch 52 Prozent; vgl. ebd.

12) Ebd.

13) Czempiel, Ernst-Otto (1996): Rückkehr in die Führung: Amerikas Weltpolitik im Zeichen der konservativen Revolution. HSFK-Report 4/96, Frankfurt a.M., S. 5.

14) Ebd.: S. 7.

15) Project for the New American Century (1997): Statement of Principles, 3.6.1997 (www.newamericancentury.org).

16) Chabraja, Nicholas D. (1999): Rede vor dem Economic Club of Washington, 14.10.1999 (www.economicclub.org/pages/archive/fulltext/arch-chabraja.htm).

17) Ebd.

18) Bush, George W.: Address of the President to the Joint Session of Congress, Washington D.C., 27.02.2001, S. 4 (www.whitehouse.gov).

19) Lockheed Martin Reports 2003 Results, 27.1.2004 (www.lockheedmartin.com).

20) Im Geschäftsjahr 2001 erzielte der Konzern nur 6,2 % seines Umsatzes auf dem privaten Markt; vgl. Lockheed Martin 2001: United We Serve, 1.3.2002, S. 67 (ebd.).

21) Lockheed Martin 1999 Annual Report, 24.2.2000; Lockheed Martin Reports 2001 Earnings, 25.1.2002 (ebd.).

22) Ebd.

23) Nach: Vice president-elect’s wife steps down from Lockheed board, in: Washington Business-Journal, 5.1.2001 (www.washington.bizjournals.com).

24) Boeing erwarb 1997 den Flugzeughersteller McDonnell-Douglas und den Raketenbauer Rockwell sowie im Jahr 2000 Teile des Hubschrauber- und Raumfahrtkonzerns Hughes.

25) Der Bilanzgewinn schwankte in den Jahren 2000 bis 2003 zwischen 1,0 und 6,1 % des Umsatzes, der operative Cash-Flow zwischen 6,7 % und 11,6 % (vgl. Boeing Reports 1997, Full Year and 4<^>th<^*> Quarter Results, 27.1.1998 (www.boeing.com).

26) Vgl. Stan Crock/Lorraine Woellert u.a.: Inside Boeing’s Sweet Deal, in: Business Week, 7.7.2003, S. 33.

27) Ebd.

28) Vgl. Robert D. Novak: Pay Dirt For Boeing, in: Washington Post, 29.5.2003, S.A25.

29) Vgl. Stan Crock/Lorraine Woellert u. a.: Inside Boeing’s Sweet Deal, in: Business Week, 7.7.2003, S. 32.

30) Vgl. Leslie Wayne: Heat rises on U.S.-Boeing lease deal, in: International Herald Tribune, 28.8.2003, S. 13.

31) Renae Merle: Alternative to Boeing Tanker Deal Proposed, in: Washington Post, 5.9.2003, S. A4.

32) Peter Pae: Pentagon to Investigate Boeing Jet-Leasing Bid, in: Los Angeles Times, 4.9.2003, S. C4.

33) Vgl. Leslie Wayne: Boeing’s links with Pentagon face new scrutiny, in: International Herald Tribune, 4.9.2003, S. 13.

34) Stan Crock/Lorraine Woellert u .a.: Inside Boeing’s Sweet Deal, in: Business Week, 7.7.2003, S. 33.

35) Leslie Wayne: No need to replace U.S. air tankers, panel says, in: International Herald Tribune, 14.5.2004, S. 15.

36) Zit. n. Renae Merle: New Tankers Not Needed, Report Says, in: Washington Post, 13.5.2004, S. E1.

37) Boeing musste zur Entschädigung sieben Satellitentransporte an Lockheed-Martin abgeben; vgl. US-Air-Force banishes Boeing, in: International Herald Tribune, 26./27.7.2003, S. 10.

38) Das Zukunftsprojekt der US-Army zur digitalen Vernetzung des Heeres erstreckt sich über einen Zeitraum von mehr als zehn Jahren und ist vorläufig auf 14,92 Mrd. Dollar kalkuliert. Der Gesamtwert könnte auf bis zu 100 Milliarden steigen, wenn sich das Heer zur Einführung von unbemannten Kampffahrzeugen entscheiden sollte; vgl. Renae Merle: Boeing Wins Contract for Army Modernization, in: Washington Post, 16.5.2003, S. E1, E10.

39) Die US-Air-Force hat 25.000 Stück zu einem Gesamtpreis von 2,5 Mrd.Dollar in Auftrag gegeben; nach: BOEING CO.: $2,5 billion deal to deliver small bombs over 15 years, in: Chicago Tribune. Online edition, 29.8.2003 (www.chicagotribune.com).

40) Northrop Grumman Reports Record 2002 Fourth Quarter Results, 28.1.2003, S. 3 (www.irconnect.com).

41) Vgl. Seth Lubove, We See You, Saddam, in: Forbes, 6.1.2003, S. 102-108.

42) Berechnet nach Sköns, Elisabeth/Baumann, Hannes: Arms production, in: Stockholm International Peace Research Institute, SIPRI Yearbook 2003. Armaments, Disarmament and International Security, Oxford, S. 379.

43) Vgl. Northrop Grumman Reports Strong 2000, Year-End And Fourth Quarter Results, 24.1.2001; Northrop Grumman 2003 Annual Report (www.irconnect.com).

44) Vgl. Thomas E. Ricks, Air Force‘s Roche Picked to Head Army, in: Washington Post 2.5.2003, S. A29.

45) Angabe für das Jahr 2000 bei Sköns, Elisabeth/Baumann, Hannes: Arms production, in: SIPRI 2003 (Fn.43): S. 380.

46) Vgl. Raytheon 1998 Annual Report; Raytheon Reports 1999, Full Year and Fourth Quarter Results, 23.1.2000 (www.prnewswire.com).

47) Wolfowitz, Paul: Prepared Statement for the Senate Armed Services Committee Hearing On Military Transformation, Washington D.C., 9.4.2002, S. 2 (www.defenselink.mil).

48) Vgl. Paul Richter: Agency Faults Haste of Missile Defense Development, in: Los Angeles Times, 5.6.2003, S. A8; Bradley Graham: GAO Cites Risks in Missile Defense, in: Washington Post, 5.6.2003, S. A6.

49) Vgl. Sköns, Elisabeth/Baumann, Hannes: Arms production, in: SIPRI 2003 (FN. 43): S. 380.

50) Ebd.: S. 381.

51) Vgl. die Geschäftsberichte unter General Dynamics Fourth Quarter per Share Earning Increase 5 Percent, 27.1.1999 (www.generaldynamics.com).

52) Die gesamten Rüstungsexporte der USA beliefen sich im Jahr 2002 auf 10,241 Mrd. Dollar; vgl. International Institute for Strategic Studies. 2003: The Military Balance 2003-2004, Oxford, Tab.34, S. 341.

Dr. phil. Michael Hennes ist Lehrbeauftragter und Habilitand am Institut für Politikwissenschaft der Universität Duisburg-Essen

Roboter für den Krieg?

Roboter für den Krieg?

von Jürgen Altmann

Kriegsroboter wecken Assoziationen an Science Fiction – und scheinen damit weit entfernt oder fiktiv. Dieser Eindruck war Jahrzehnte lang richtig – trotz vielen Geldes und vieler Arbeit, die in militärische Roboterforschung und -entwicklung geflossen sind, wurden die Erwartungen auf schnellen Erfolg bisher nicht erfüllt. Inzwischen gibt es jedoch bei Werkstoffen und Energiespeichern, bei Sensoren und Aktoren, vor allem aber bei Elektronik, Rechnern und Software so große Fortschritte, dass Stationierung und Einsatz erster militärischer Roboter absehbar werden. Man versteht unter Robotern bewegliche Systeme mit Sensoren und Aktoren, die (mehr oder weniger) autonom die Umgebung erfassen und auf sie einwirken.1 Sie müssen nicht Menschen ähnliche Körper oder Arme mit Manipulatoren haben – auch autonome Fahrzeuge mit Wirkmechanismen fallen unter diese Definition. Einige Roboter-Vorformen sind schon beim Militär eingeführt: Minen, Marschflugkörper (die mit Geländehöhenvergleich oder Bilderkennung navigieren), zielsuchende Submunition. Der Angriff der USA auf ein Auto im Jemen mit einem von einer Predator-Drohne abgeschossenen Hellfire-Flugkörper, bei dem sechs mutmaßliche Al-Qaida-Terroristen getötet wurden, deutet an, was Kampfroboter bewirken können.2
Auf dem zivilen Markt gibt es schon Roboter zum Rasenmähen, und die ersten selbständigen Staubsauger werden gerade angeboten. Auch elektronische Spieltiere und -puppen sind erhältlich. Es wird sicher noch über zehn Jahre dauern, bis Serviceroboter komplizierte Aufgaben wie Geschirr spülen oder Bettwäsche wechseln erfüllen können. Wenn im zivilen Leben einfache Haushalts- u.a. Arbeiten in breitem Umfang durch Roboter erledigt werden, wird man den Streitkräften kaum verwehren können, sie auch beim Kasernenputzen oder zum Transport von Munitionskisten einzusetzen. Robotern aber wichtige Funktionen im Krieg zu übertragen oder sie gar für den Kampf einzusetzen, das wäre weit mehr als der »normale« technische Fortschritt bei den Gewaltmitteln. Das spüren auch Militärautoren, wenn sie z.B. schreiben: „Über technische Hindernisse hinaus stellt die Möglichkeit wirksamer Schlachtfeldroboter eine ganze Reihe strategischer, operativer und ethischer Probleme, insbesondere wenn oder sobald Roboter vom Tragen zum Töten übergehen. Die Vorstellung eines tötenden Systems ohne direkte menschliche Kontrolle ist erschreckend.“3 Auch das Rüstungskontrollproblem wird benannt: „Die Überwachung der Rüstungskontrollbezüge (von unbemannten Kampfflugzeugen – Unmanned Aerial Combat Vehicle – UCAV, J.A.) sollte auf der Prämisse basieren, dass der UCAV-Entwurf genügend fortgeschritten ist um zu schließen, dass sich diese Systeme für Rüstungskontrollzwecke an Kampfflugzeuge und nicht an Marschflugkörper anschließen. UCAVs mögen schließlich dem KSE-Vertrag unterliegen, sollten aber nicht unter den INF-Vertrag fallen. Ob UCAVs als Kampfflugzeuge oder als neue Waffenkategorie angesehen würden, ist noch nicht entschieden.“4 Auch die Exportkontrolle sowie die Einbindung in die Flugsicherung wurden als Probleme benannt.5

Wie soll die internationale Gemeinschaft mit militärischen Robotern umgehen? Dieser Diskussionsbeitrag zeigt mögliche militärische Anwendungen auf und stellt erste Überlegungen zur präventiven Rüstungskontrolle an.

Militärische Roboterprojekte

Seit vielen Jahrzehnten wird militärische Forschung und Entwicklung (FuE) für Roboter betrieben, vor allem in den USA.6 Wie dort üblich, wurden viele der Universitätsprojekte in der Robotik durch die Defense Advanced Research Projects Agency (DARPA) finanziert.7 Für Entwicklung sind die Teilstreitkräfte zuständig, sie haben 1990 ein Joint Robotics Program gegründet.8 Ein ganzer Zoo verschiedenartiger Prototypen ist entwickelt und im Labor oder auf Übungsgeländen erprobt worden.9 Für den Afghanistan-Krieg wurden einige Kleinroboter auf die Schnelle einsatztauglich gemacht und zur Erkundung von Höhlen u.a. eingesetzt.10

Weil die USA in Militärtechnik führen und ihre FuE-Aktivitäten und -Ausgaben erheblich offener darstellen als die anderen Länder, kann man mögliche Entwicklungen gut abschätzen, wenn man die US-FuE betrachtet. Es gibt FuE-Programme für Roboter in allen Medien: auf dem Land, in und unter Wasser und in der Luft.11 Zunächst geht es um die Ersetzung des Menschen in Fahrzeugen mit herkömmlicher Größe. Damit lässt sich einiges an Komponenten und Gewicht einsparen, was insbesondere bei Flugzeugen kritisch ist. Auf Land gibt es Projekte für Unmanned Ground Vehicles (UGV) für Transport und Aufklärung, aber auch für Unmanned Combat Ground Vehicles (UCGV) für den Kampf. Bei der Navy geht es um Über- und Unterwasserfahrzeuge – Unmanned Surface Vehicles (USV) und Unmanned Undersea Vehicles (UUV). Für Air Force, Army und Navy wird an Luftfahrzeugen ohne sowie mit Bewaffnung gearbeitet (Unmanned Aerial Vehicles (UAV) bzw. Unmanned Combat Aerial Vehicles (UCAV)) – sowohl solchen mit Tragflügeln als auch Hubschraubern. Für die Steuerung solcher Systeme wie auch neuartiger Roboter gibt es große Softwareprojekte.12Mit den Fortschritten bei der Mikroelektronik und vor allem der Mikrosystemtechnik kamen dann auch Klein- und Kleinstroboter in den Blick. Sie wären weniger als einige Dezimeter groß, zukünftig bis unter 1 Millimeter.13 Auf Land wird an Rad- und Kettenantrieb gearbeitet, aber auch an krabbelnden und hüpfenden Robotern; auf und im Wasser geht es um Schraubenantrieb sowie um schlängelnde und kriechende; Projekte für die Luft haben starre Flügel mit Propeller- oder Düsenantrieb, ähneln Hubschraubern oder schlagen wie Insekten mit den Flügeln. Die DARPA fördert Dutzende Projekte in den USA und sogar eines in Deutschland: Das Fraunhofer-Institut für Autonome Intelligente Systeme hat einen achtbeinigen »Scorpion« von 60 cm Länge entwickelt, der in der Wüste über Tage und Wochen zu einem 40 km entfernten Ziel und wieder zurück gehen kann.14 Neben künstlichen Systemen sind auch biologisch-technische Hybride möglich, z.B. Insekten, Vögel oder Ratten, die mittels Elektroden gesteuert werden, die zusätzliche Sensoren tragen oder von deren Sinnesnerven man Signale ableitet. Ratten konnten so schon durch eine komplizierte Umgebung gesteuert werden.15 Bei Kleinrobotern gibt es auch das Konzept, Schwärme einzusetzen. Spezielle Projekte entwickeln die Software zu deren autonomer Kooperation sowie allgemeiner Steuerung.16Zehntausendfach kleiner wären Roboter auf der Nanometer-Skala. Gemäß mancher Visionen sollen Nanoroboter in Körperzellen die genetische Information reparieren oder sich zunächst selbst vermehren und dann nützliche Produkte herstellen – oder aber als Waffen eingesetzt werden. Ob diese Vision realisierbar ist, ist umstritten und gegenwärtig nicht entschieden.17 Gentechnik und Proteomik (Verständnis und Beeinflussung der Eiweißprozesse in der Zelle) werden jedenfalls auch ohne visionäre Nanotechnologie schon bald Möglichkeiten für neue, z.B. gezielt wirkende, biologische Waffen zur Verfügung stellen – modifizierte oder künstlich erzeugte Bakterien und Viren, die man als biologische Nanoroboter bezeichnen könnte.Bei Robotern sind verschiedene Grade an Autonomie möglich. Zu Beginn wird man die Systeme i.d.R. fernsteuern, etwa von einer Bodenstation oder einem Kontrollflugzeug in einiger Entfernung aus. Systeme ohne jede Autonomie sind im eigentlichen Sinne noch keine Roboter, die Steuerung könnte aber ohne äußerlich sichtbare Änderung schnell umgestellt werden. Die nächste Stufe ist Teilautonomie – ferngesteuert nur noch in kritischen Bewegungsphasen, z.B. bei Start, Landung oder beim Waffeneinsatz. Volle Autonomie stellt die höchsten Anforderungen an die künstliche Intelligenz der Steuerprogramme – und birgt sicher die größten Fehlermöglichkeiten. Selbst wenn anfangs für den Waffeneinsatz menschliche Überwachung und Steuerung verlangt werden, so ist doch abzusehen, dass auf einem von Sensoren sowie kleinen und großen automatischen Kampfmaschinen dominierten Schlachtfeld die simple militärische Notwendigkeit ein Agieren in Sekunden(bruchteilen) erfordert – ein Mensch in der Befehlsschleife wäre zu langsam und könnte zur Niederlage führen.18

Andere Länder haben erheblich kleinere FuE-Programme für militärische Robotik als die USA. In Bezug auf autonome Kampfflugzeuge wurde berichtet, Frankreich habe Testflüge durchgeführt, Deutschland und England studieren die Möglichkeiten, Israel habe ein aktives Programm, Italien sei am Kauf von US-Systemen interessiert, und in Russland gebe es Bestrebungen, auf Basis vorhandener Drohnen größere Systeme für Bomben und Flugkörper zu entwickeln.19

Mögliche militärische Anwendungen von Robotern

Für den Kampf und die Kampfunterstützung können Roboter vielerlei Aufgaben übernehmen, darunter:

  • Aufklärung des Gefechtsfeldes, Abhören von Funk, Überwachung gegnerischer Aktivitäten,
  • Sensoren vorbringen, etwa für chemische/biologische Agenzien, Fahrzeuge, Flugzeuge, Raketenstarts,
  • Störsender vorbringen,
  • Relaisstation für Kommunikation mit Systemen kurzer Funkreichweite (z.B. Bodensensoren, Kleinroboter),
  • Attrappe/Täuschkörper,
  • Funkbake oder Lasermarkierer für zielsuchende Waffen oder Munition,
  • Minensuche und -räumung,
  • Erkundung eingestürzter oder gefährlicher Gebäude, Tunnel usw.,
  • Verwundete bergen,
  • Waffen tragen oder als Waffensystem wirken.

Einige wenige dieser Anwendungen werden heute schon von unbemannten Kleinflugzeugen (Drohnen) durchgeführt. Gestärkte Autonomie, neue Sensoren u.a. werden bei ihnen zu höherer Leistung führen. Bei neuartigen Systemen oder Anwendungen kann sich aber durchaus ergeben, dass sie unter militärischen Gesichtspunkten, auch in Bezug auf mögliche Gegenmaßnahmen, nicht wirksam genug oder zu teuer sein werden. Insbesondere klein(st)e Systeme sind beschränkt in Bezug auf Nutzlast, Beweglichkeit, Energieversorgung und Kommunikationsreichweite.

Echte Autonomie zu erreichen, stellt jedenfalls eine extreme Herausforderung dar, insbesondere, wenn man an die Reaktionen eines Gegners denkt. Von daher stellen sich militärische Projekte der USA begrenzte Teilziele, z.B. wird für das Unmanned Ground Vehicle Betrieb auf dem menschlichem Niveau für 2020 angepeilt, als Grundlagenfähigkeit geht es zunächst um Chauffeur-ähnliches, nicht-militärisches Fahren auf der Straße.20Aus rein militärischer Sicht versprechen robotische Systeme eine Reihe von Vorteilen:21 Bisherige Operationen können mit leichterem Gerät schneller, flexibler und effektiver durchgeführt werden. Weniger eigene Soldaten sind einem Verwundungsrisiko ausgesetzt. Neue Einsätze werden möglich. In der Logistik kann erhebliches Personal eingespart werden. Eine Beurteilung unter Gesichtspunkten von Frieden und Sicherheit muss jedoch auch die Wechselwirkungen im internationalen System einbeziehen.

Überlegungen zur Rüstungsbegrenzung

Gründliche Untersuchungen zur Frage, wie militärische Roboter unter Kriterien der präventiven Rüstungskontrolle zu beurteilen sind, stehen noch aus.22 Hier sollen einige erste Überlegungen vorgestellt werden. Roboter, die nur zum Minensuchen oder zur Bergung Verwundeter eingesetzt würden, wären eher unproblematisch. Die meisten Roboter wären aber universell einsetzbar, und die Probleme steigen, je näher sie am Kampfeinsatz sind.

In Bezug auf das Völkerrecht gibt es die Gefahr, dass Abrüstungsverträge unterlaufen werden, etwa der KSE-Vertrag, der Obergrenzen für die bisherigen Kategorien konventioneller Streitkräfte vorsieht (Panzer, gepanzerte Kampffahrzeuge, Artillerie, Kampfflugzeuge und Kampfhubschrauber).23 Da Roboter nicht so bald in der Lage sein werden, Kombattanten und Zivilbevölkerung zu unterscheiden oder zu erkennen, ob ein Soldat außer Gefecht ist oder sich ergeben will, ist auch das Kriegsvölkerrecht betroffen.

Kriterien bezüglich der Stabilität sind betroffen, weil automatische Systeme z.B. zur Aufklärung in einer Krise früher in gegnerisches Territorium geschickt werden könnten und die Entscheidung zum Krieg schneller fallen könnte, da weniger eigene Tote und Verwundete zu befürchten wären. Die breite Einführung militärischer Roboter wäre mit einem technologischen Wettrüsten, auch bei Gegen- und Gegengegenmaßnahmen, verbunden. Eine Weiterverbreitung in Krisenregionen ist abzusehen, später auch die eigene Produktion in Schwellenländern.

In Bezug auf Mensch und Gesellschaft wird die militärische Entwicklung bei großen Robotern kaum besonderen Einfluss haben – die Gesellschaft wird sich mit den vielen Fragen, die weit verbreitete mobile Roboter stellen, in jedem Fall auseinandersetzen müssen;24 militärische Technologieentwicklung kann hier und da zur Beschleunigung beitragen. Bei kleinen Robotern jedoch, für die es fast keinen zivilen Bedarf gibt, wäre bei massenhafter Einführung ins Militär die Diffusion in die Zivilgesellschaft kaum zu vermeiden. Sie könnten von Polizei und Geheimdiensten, aber auch Unternehmen oder Verbrechern zum Lauschen und Spähen benutzt werden – mit spezieller Ausstattung, aber auch für die Schädigung von Gerät und Personen, was neue Möglichkeiten für Terroristen, gerade auch für Attentate, mit sich bringen würde.

Weil Roboter im zivilen Bereich verschiedenartigen Nutzen versprechen, ist ein grundsätzliches Technologieverbot nicht sinnvoll (abgesehen davon, dass es auch auf extremen Widerspruch aus vielen Richtungen treffen würde). Weil militärische Roboter aber klare Risiken mit sich bringen, scheint es für den internationalen Frieden und die Sicherheit besser, bei ihnen vorbeugende Begrenzungen einzuführen.

Wie könnten solche Begrenzungen aussehen? Große autonome Systeme – wie Panzer ohne Mannschaft, pilotenlose Flugzeuge usw. – sind nicht leicht zu verstecken. Der Typ und die vorgesehenen Einsatzform – Transport, Aufklärung, Waffe – sind i.d.R. von außen zu erkennen. Man könnte also wie bisher nur die Waffen bzw. -träger begrenzen, und wie beim KSE-Vertrag könnten Vor-Ort-Inspektionen für die Überprüfung genügen. Jedoch sind Roboter prinzipiell universell einsetzbar und könnten bei modularem Aufbau schnell umgerüstet werden. Weil Kampfroboter ganz neue Waffenkategorien bedeuten und außer Drohnen und Marschflugkörpern bisher fast keine anderen autonomen Systeme stationiert sind, wäre ein generelles Verbot aller neuen militärischen Roboter sinnvoll. Wenn das nicht durchsetzbar ist, könnte man an ein Verbot aller neuen Kampfroboter denken – hier sind dann jedoch schwierige Definitions- und Abgrenzungsfragen zu lösen. Gewisse Verbotsausnahmen, etwa für die Minensuche, könnten vereinbart werden.

Bei Kleinrobotern ist die Lage anders: Sie sind leicht zu verstecken, und ihre Funktion ist durch Beobachtung von außen aus gewissem Abstand kaum zu erkennen – die Schwierigkeiten steigen mit fallender Größe. Überprüfung spezieller quantitativer Beschränkungen (jeder Staat darf x unbewaffnete und y bewaffnete Miniaturflugzeuge der Größenklasse A haben, usw.) wäre sehr schwierig und aufwendig. Bei Kleinrobotern scheint ein grundsätzliches Verbot, unabhängig von der Funktion, sinnvoll, insbesondere, weil es bisher praktisch keine ähnlichen Systeme gibt – eingeführte Drohnen sind deutlich größer als ein m. Ein Verbot aller künstlichen beweglichen Systeme unterhalb z.B. 0,2 oder 0,5m würde die Risiken durch militärische Nutzung oder Missbrauch ausschließen. Für die wenigen positiven Anwendungen kleiner Roboter, die wirklich wichtig sind (Erkundung eingestürzter Gebäude, Kontrolle von Rohrleitungen, Erkundung auf Himmelskörpern) könnten eng umgrenzte Ausnahmen eingeführt werden. Bei einer solchen makroskopischen Größenschwelle könnten Vor-Ort-Inspektionen in militärischen Einrichtungen und Testgeländen für die Überprüfung weitgehend ausreichen.25

Empfehlungen und Ausblick

Die Einführung von Robotern in die Streitkräfte wird voraussichtlich Frieden und Sicherheit nicht stabiler machen, sondern neue Gefährdungen bringen. Das gilt insbesondere für Roboter, die im Kampf eingesetzt werden. Vorformen gibt es schon, aber die Einführung auf ganzer Breite könnte in 5-10 Jahren beginnen. In einem längeren Prozess würden Schritt für Schritt immer mehr Funktionen auf autonome Steuerung und autonome Systeme übertragen; ein klarer qualitativer Sprung ist vor allem am Anfang des Prozesses gegeben. Von daher sollte die internationale Gemeinschaft jetzt beginnen, sich mit dem Problem auseinanderzusetzen und über Regelungen nachzudenken. Naturwissenschaftlich-technische sowie militärische und politische Aspekte sollten in interdisziplinärer Friedensforschung untersucht werden.

Aus heutiger Sicht lassen sich vorläufige Empfehlungen formulieren:

  • Als Mindestforderung sollten große Kampfroboter (Fahr- und Flugzeuge), die den Kategorien des KSE-Vertrages ähnlich sind, bei diesen mitgezählt werden.26 Für einen systematischen Ansatz sollten für andere große Kampfroboter neue Kategorien eingeführt und quantitative Begrenzungen – am Besten jeweils Null – vereinbart werden.
  • Nuklearwaffen sollten nicht auf neuartige autonome Träger gebracht werden, und das Verbot landgestützter Marschflugkörper des INF-Vertrags zwischen USA und Russland sollte auf alle Staaten mit Kernwaffen erweitert werden.
  • Als grundsätzliches Herangehen ist ein Verbot aller Roboter als Waffe oder Waffenträger wünschbar. Dabei sind jedoch schwierige Abgrenzungen zu schon vorhandenen Systemen (z.B. Marschflugkörper, Abstandsflugkörper) sowie in Bezug auf Teilfunktionen (Ziele markieren) zu lösen. Solche Regeln sollten weltweit, nicht nur für Europa, eingeführt werden und sich auch auf die Meere erstrecken.
  • Kleinroboter unter einer bestimmten Größe sollten generell (militärisch und zivil) verboten werden, mit sehr wenigen, eng umgrenzten Ausnahmen (s.o.).

Gibt es Aussichten für internationale Verhandlungen über militärische Roboter? Bei der gegenwärtigen US-Regierung, die auf umfassende militärtechnologische Überlegenheit setzt und generell nicht viel von Rüstungsbegrenzung hält, ist kein Entgegenkommen zu erwarten. Die USA werden aber kein Monopol bei großen und kleinen Kampfrobotern haben, so dass abzusehen ist, dass im Endergebnis die Bedrohung der USA – durch potentielle militärische Gegner, aber auch durch Terroristen – steigen wird. Ähnliches lässt sich für andere Bereiche sagen, z.B. bei Weltraumwaffen oder Nanotechnologie. Die Einsicht in diese Wechselwirkung hat in den USA ebenfalls eine Tradition. Hier wieder anzuknüpfen, braucht eine politische Wende, für die paralleles Wirken verbündeter Regierungen, der internationalen Öffentlichkeit und kritischer Stimmen in den USA selbst erforderlich ist.

Die Bundesregierung hat sich in den Koalitionsverträgen von 1998 und 2002 explizit für präventive Rüstungskontrolle bei neuen Waffentechnologien ausgesprochen, dies jedoch bisher nur zaghaft oder gar nicht umgesetzt. Neue Initiativen mit Verbündeten, OSZE-Partnerländern und in der UNO sind nötig, um nicht nur bei Robotern Gefahren durch neue Militärtechnologien einzudämmen. Direkte Einflussmöglichkeiten europäischer Länder gibt es z.B. bei Überflugrechten – zumindest solange zivile Flugzeuge noch mit Piloten fliegen, kann man begründet argumentieren, dass für militärische fliegende Roboter Europa zu dicht besiedelt ist.27

Anmerkungen

1) Bei ortsfesten Industrierobotern ist die Beweglichkeit stark eingeschränkt.

2) Lizenz zum Töten, SZ 7.11.2002

3) S. Metz: Parameters 30, 40-53, Autumn 2000, http://carlisle-www.army.mil/usawc/parameters/00autumn/metz.htm

4) C. L Barry, E. Zimet: UCAVs – Technological, Policy, and Operational Challenges, Defense Horizons, no. 3, Oct. 2001, http://www.ndu.edu/inss/DefHor/DH3/HD_03.pdf

5) A. J. Lazarski: Legal Implications of the Uninhabited Combat Air Vehicle, Air & Space Power Chronicles, 27 March 2001, http://www.airpower.maxwell.af.mil/airchronicles/cc/lazarski.html. Der INF-Vertrag (Intermediate Range Nuclear Forces) verbietet den USA und Russland landgestützte Marschflugkörper mit über 500 km Reichweite.

6) Für Beispiele siehe G. von Randow: Roboter – unsere nächsten Verwandten, Reinbek: Rowohlt, 1977

7) Z.B. http://www.darpa.mil/tto Programs, Unmanned Systems

8) http://www.jointrobotics.com

9) Siehe z.B. »Robotics at Space and Naval Warfare Systems Center«, http://www.spawar.navy.mil/robots/

10) Robotics Update 2, no. 3, 7 Oct. 2003, http://www.spawar.navy.mil/robots/

11) Im Weltraum, wo andere Bedingungen herrschen, geht es u.a. um Kleinsatelliten zum Andocken und Manipulieren.

12) Z.B. »Perception for Off-Road Robotics«, http://www.darpa.mil/tto Programs, FCS PerceptOr

13) J. Altmann: Military Uses of Microsystem Technology: Dangers and Preventive Arms Control, Münster: agenda, 2001 (Kurzfassung unter http://www.ep3.ruhr-uni-bochum.de/bvp/fonassr2.html)

14) The Scorpion, http://ais.gmd.de/BAR/Scorpion

15) Siehe K. Talwar et al.: Rat navigation by remote control, Nature 417: 37-38 (2 May 2002)

16) Z.B. »Software for Distributed Robotics«, http://www.darpa.mil/ipto/research/sdr/

17) Siehe z.B. Spektrum der Wissenschaft, Nanotechnologie, Spezial 2/2001

18) „Military systems (including weapons) now on the horizon will be too fast, too small, too numerous, and will create an environment too complex for humans to direct.“ T. K. Adams: Future Warfare and the Decline of Human Decisionmaking, Parameters 31, no. 4 (Winter 2001), http://carlisle-www.army.mil/usawc/Parameters/01winter/adams.htm

19) Barry/Zimet (Anm.)

20) Robotic Vision 2020, http://www.darpa.mil/ipto/research/proceedings/mars01mar/RV2020-010322.ppt

21) Siehe auch A. Adler: DARPA Technologies For Future Combat Systems, http://www.darpa.mil/fcs/linked/adler.ppt

22) Zu den Kriterien siehe G. Neuneck, C. Mölling: Methoden, Kriterien und Konzepte für präventive Rüstungskontrolle, Dossier 38, Wissenschaft und Frieden, 2001; zu Kleinrobotern siehe Altmann (Anm.)

23) Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa, http://www.auswaertiges-amt.de/www/de/aussenpolitik/friedenspolitik/abr_und_r/konv-vertraege_html

24) Siehe T. Christaller u.a.: Robotik – Perspektiven für menschliches Handeln in der zukünftigen Gesellschaft, Berlin usw.: Springer, 2001

25) Wären auch Millimeter große Roboter erlaubt, müsste die Überprüfung erheblich stärker in militärische und zivile Produktionsbereiche eindringen. Bei noch kleineren Systemen müssten Laborbesuche, Probennahme u.a. Methoden verwendet werden, wie sie für das – nun auf Eis liegende – Verifikationsprotokoll zur B-Waffen-Konvention diskutiert wurden.

26) Die Definitionen des KSE-Vertrages zielen auf technische Parameter (z.B. Panzer: ab 16,5 Tonnen, ab 75 mm Kaliber); Fahrer/innen oder Pilot(inn)en werden nicht erwähnt. Bei wörtlicher Auslegung würden manche autonomen Kampffahrzeuge erfasst. Zur Anpassung an leichtere und kleinere Systeme könnte man die Parameter ändern.

27) Dafür müssten eventuelle eigene Interessen an militärischen autonomen Flugzeugen natürlich hinten anstehen.

Dr. Jürgen Altmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachbereich Physik der Universität Dortmund. Er forscht seit 1985 zu naturwissenschaftlich-technischen Fragen von Abrüstung und Frieden. Publikationen u.a. zu Laserwaffen, Raketenabwehr, Sensorverifikation, Mikrosystemtechnik und Nanotechnologie.

Information Warfare

Information Warfare

Krieg in den Netzen – und darüber hinaus

von Ralf E. Streibl

Informatik und Computertechnik gewannen seit dem Zweiten Weltkrieg für das Militär zunehmend an Bedeutung (vgl. Keil-Slawik 1985; Eurich 1991; Bernhardt & Ruhmann 1991). Der Fokus lag dabei zum einen auf der Waffenentwicklung (z.B. ballistische Berechnungen, Raketensteuerung, »intelligente« Landminen), zum anderen in der Verteilung und Verarbeitung von Informationen (z.B. Aufklärungssysteme, Frühwarn- und Entscheidungssysteme). Auch das auf den ersten Blick so zivil erscheinende Internet war nicht als zivile Einrichtung geplant, sondern entwickelte sich aus einem Projekt der 1957 auf Betreiben des US-Verteidigungsministeriums gegründeten »Advanced Research Projects Agency« (ARPA), welches das Ziel hatte, militärische Einrichtungen und rüstungsbezogene Forschungsinstitutionen zu vernetzen. Unter der Leitidee »Information Warfare« werden vielfältige Ansätze seit einem knappen Jahrzehnt zusammengefasst, intensiviert und erweitert. Recht unklar bleibt, welche Bedrohungen und Einsatzmöglichkeiten real und welche Fiktionen sind.
Anders als zu Beginn des »Informationszeitalters« ist das Militär zwar heute nicht mehr als der Protagonist der Informatik anzusehen, dennoch fließen noch immer erhebliche Mittel aus militärischen Quellen. Vor allem prüft das Militär informationstechnische Entwicklungen umgehend auf ihre Verwendbarkeit. Die Bedeutung der Informationstechnik für »moderne Kriege« ist in der militärischen Aufklärung sowie bei Planung, Koordination und Durchführung von Kampfeinsätzen immens gestiegen. Insofern richten sich strategische Planungen heute immer auch gegen die informationstechnische Infrastruktur des jeweiligen Gegners.

Information Warfare

Unter dem seit Mitte der 90er Jahre zunehmend verwendeten Begriff »Information Warfare« versteht man jegliche Aktivität, Informationen des Gegners auszuwerten, zu bestreiten, zu verfälschen oder zu zerstören, während eigene Informationen gegen ähnliche Maßnahmen geschützt und für militärische Operationen genutzt werden – so eine Definition der US-Air Force (Fogleman & Widnall 1995). In der im Juni 2000 veröffentlichten »Joint vision 2020«, einem Masterplan der US-Streitkräfte für die nächsten 20 Jahre, werden »information operations« als wesentlich für die Gewährleistung einer umfassenden Überlegenheit in Friedenszeiten wie in Krisen und Konflikten angesehen. Information wird dabei gleichermaßen als Ziel, Waffe, Quelle oder Einsatzfeld verstanden. Der Bereich der Information wird den klassischen Gefechtsfeldern See, Land, Luft und Weltraum gleichgestellt (Joint Chiefs of Staff 2000). Die enge Verquickung von Aufklärung, Kriegsführung und Technik klingt entsprechend in der »National Security Strategy« der USA durch: „Innovation within the armed forces will rest on experimentation with new approaches to warfare, strengthening joint operations, exploiting U.S. intelligence advantages, and taking full advantage of science and technology.“ (The President of the United States 2002, S.30)

Konzepte des Information Warfare reichen von physischer Zerstörung bis zu elektronischen Attacken. Konventionelle Angriffe richten sich beispielsweise gegen die informationstechnische Infrastruktur des Gegners, mit dem Ziel, durch Störung von Kommunikation und Informationsflüssen ein koordiniertes Handeln des Gegners unmöglich zu machen (parallel zu Angriffen auf Brücken und Verkehrsknotenpunkte, mit denen die Mobilität des Gegners eingeschränkt werden soll). Die Zerstörung von Medien- und Telekommunikationseinrichtungen ist elementarer Bestandteil des »Command and Control Warfare«. Darüber hinaus soll sie zur Verunsicherung der Bevölkerung beitragen, insbesondere in Verbindung mit der Verbreitung eigener Propaganda. Hierfür wurde im Kosovo, in Afghanistan und im Irak beispielsweise das mit Rundfunk- und Fernsehsendern ausgestattete amerikanische Flugzeug »EC-130 Commando Solo« eingesetzt, das in der Lage ist, in weitem Umkreis bestehende Sender mit eigenen, von Einheiten für psychologische Kriegführung produzierten Sendungen zu überlagern.

Auch Computernetze werden so zum Schlachtfeld: Logische Angriffe (z.B. »denial-of-service«) legen Netzknoten und -segmente lahm. Viren- und Hackerangriffe zielen auf Zerstörung von Daten oder Manipulation von Informationen. Das Ausspionieren gegnerischer Rechner sowie die über Netze wie das Internet vergleichsweise einfache Verbreitung von Desinformationen sind weitere Teile des Information Warfare, die Konzepte psychologischer Kriegführung aufnehmen und fortsetzen.

Aufgrund der zunehmenden Abhängigkeit der Gesellschaft von Informations- und Kommunikationstechnik und des fließenden Übergangs zwischen ziviler und militärischer Infrastruktur können informationelle Angriffe ebenso gravierende Folgen haben, wie zerstörerische Angriffe gegen Telekommunikationsanlagen. Kennzeichnend für Information Warfare ist dabei auch der Ansatz deutlich unterhalb der Schwelle klassischer militärischer Auseinandersetzungen. Ohne »offiziell« Krieg zu führen, lassen sich Information-Warfare-Operationen wirksam durchführen (vgl. Bernhardt & Ruhmann 1995). Angriffe auf die Informationsinfrastruktur des Gegners, beispielsweise durch Hacker, können lange Zeit verdeckt gehalten werden. In seiner »Theory of information warfare« unterschied Szafranski (1995) deutlich zwischen »war« und »warfare«. Letzterer setzt demnach nicht unbedingt Krieg voraus, ist auch nicht auf zwischenstaatliche Auseinandersetzungen beschränkt und soll alle Aktivitäten – tödliche wie nicht-tödliche – zur Unterwerfung eines gegnerischen oder feindlichen Willens umfassen. Außer den USA beschäftigen sich inzwischen viele weitere Länder mit derartigen Konzepten, darunter China (vgl. Zhang 2001), die Russische Föderation, Frankreich, Indien und Israel.

Kosovo als Testfeld

Der Kosovokrieg 1999 zeigte in vielfältiger Weise Aspekte eines Informationskrieges. Er stellte somit gleichermaßen einen Vorboten wie eine Legitimationsinstanz weiterer Entwicklungen in dieser Richtung dar (vgl. Minkwitz & Schöfbänker 2000). Neben den schon aus dem Golfkrieg geläufigen Angriffen zur Bekämpfung der Kommando-, Führungs- und Kommunikationsstrukturen des Gegners durch gezielte Bombardierung und elektronische Störung sollte umfassende Aufklärung mittels Satelliten, Flugzeugen und unbemannten Drohnen die Informationsüberlegenheit der NATO sicherstellen. In den ersten vier Wochen zerstörten Bombenangriffe sowohl das Gebäude des serbischen Rundfunks in Belgrad als auch 23 Rundfunktransmitter im Kriegsgebiet (Claßen 1999). Die Zerstörung der serbischen Telefonzentrale im Kosovokrieg zielte u.a. darauf ab, den Gegner zu zwingen, die leichter abhörbare Mobilfunk-Kommunikation zu benutzen. Radio, Fernsehen und das Internet wurden zum Schauplatz von Propagandaschlachten im Kampf um die mediale Repräsentation dieses Krieges.

Publizistisch ausgeschlachtet wurden auch die vielfältigen wechselseitigen Attacken im Internet, die für den Kriegsausgang wohl eher nebensächlich waren. So berichtete das Magazin »Newsweek«, Präsident Clinton habe die CIA ermächtigt, in die Computersysteme von Banken einzudringen, in denen Milosevic Konten besaß, um diese zu manipulieren. Der Wahrheitsgehalt dieser Geschichte ist zwar umstritten, doch sorgte sie für Unsicherheit hinsichtlich der Möglichkeiten der Geheimdienste. Hackerangriffe gehen nicht nur von Geheimdiensten oder vom Militär aus – auch dies hat der Kosovokrieg gezeigt. Hacker auf beiden Seiten und auch aus Drittstaaten versuchten Computer der anderen Seite lahm zu legen oder Daten zu verändern. Beispielsweise griffen chinesische Hacker nach der Bombardierung der chinesischen Botschaft in Belgrad durch die NATO gezielt die Webseiten amerikanischer Institutionen (u.a. der amerikanischen Botschaft in Peking) an und veränderten deren Inhalte, was zumindest einen deutlichen Imageschaden hinterlassen hat (vgl. Bendrath 1999a). Der Verlauf des Kosovokrieges stellte neben vielem anderen auch die Tragfähigkeit von Information Warfare zur Disposition (vgl. Ruhmann 1999). In einer offiziellen Analyse des amerikanischen Verteidigungsministeriums wurden jedoch andere Schlüsse gezogen: Trotz kritischer Anmerkungen im Einzelnen wurde der Krieg als erfolgreicher „real-world test of information superiority concepts“ in einem „real-world laboratory“ gewertet (DoD 2000).

Sicherheitswahn und Überlegenheitsbestrebungen

Während früher vor allem vor Gefahren durch die Unzuverlässigkeit und Unsicherheit informationstechnischer Systeme gewarnt wurde und die Probleme vor allem im Bereich von Unfällen und technischem Versagen gesehen wurden, trat im Laufe des letzten Jahrzehnts zunehmend die Angst vor gezielter Sabotage in den Vordergrund. In Schreckensszenarien wird vor Information-Warfare-Attacken und Cyber-Terrorismus gewarnt. Molander, Riddile und Wilson stellten in ihrer vielbeachteten Studie (1996) deutlich heraus, dass Information Warfare keine Frontlinie kennt, das Schlachtfeld sei überall, auch das Staatsgebiet der Vereinigten Staaten werde dadurch verletzlich. In der Zeitschrift »Wired« veröffentlichte der Pentagon-Berater John Arquilla 1998 ein globales Terror-Szenario (angesiedelt im Jahr 2002!), das diese Befürchtungen plastisch und publikumswirksam illustrierte. Moderne Gesellschaften sind in zentralen Bereichen vom Funktionieren von Informationstechnik abhängig. Versorgungseinrichtungen, Sicherheitsinfrastrukturen, Verkehrssteuerung, der gesamte Kommunikationsbereich etc. bauen darauf auf. Die weltweite Vernetzung – so die Befürchtungen – ermögliche es den Angreifern, diese Bereiche unerkannt von überall anzugreifen. Die Komplexität heutiger IT-Strukturen verstärke die Unüberschaubarkeit und Nicht-Beherrschbarkeit, so dass Angriffe gar nicht oder erst spät erkannt und bekämpft werden könnten.

Nicht zuletzt durch den Terroranschlag vom 11. September 2001, der – wenngleich auf ganz andere Weise – die Verletzlichkeit technisierter Gesellschaften ins Bewusstsein brachte, bekam die Debatte um Information Warfare und Cyber-Attacken neuen Schub. Unmittelbar nach dem Anschlag auf das World Trade Center warnten Militärstrategen und Sicherheitsexperten vor kommenden Cyber-Attacken und propagierten einmal mehr die Gefahr eines „Elektronischen Pearl Harbor“ (vgl. Verton & Brewin 2001). Sowohl die Angst vor Angriffen von außen als auch das unverhohlene Bestreben, selbst entsprechende Maßnahmen, z.B. beim »Krieg gegen den Terror«, zu ergreifen, führt zu einer massiven Aufrüstung in diesem Bereich. Zusammen mit der NASA gibt die US-Regierung 70 Milliarden Dollar für die Forschung und Entwicklung von Sicherheits- und Militärtechnologie aus – inzwischen mehr als die Forschungsausgaben für den Medizin-/Gesundheitssektor (Weiss 2003).

Bereits 1999 wurde eine Studie des amerikanischen Verteidigungsministeriums publiziert, in der die Position vertreten wird, dass koordinierte Computer-Attacken völkerrechtlich einem bewaffneten Angriff gleichzusetzen seien und damit nach der UN-Charta Selbstverteidigung in Form eigener Computerattacken oder traditioneller militärischer Operationen zulässig sei (DoD 1999). Derartige Interpretationen legen die Befürchtung nahe, dass Hackerangriffe zum Anlass für Computerattacken oder auch für militärische Angriffe in anderen Ländern genommen werden könnten (vgl. auch Ruhmann 2000). Eine Rüstungskontrolle in diesem Bereich wird erschwert durch den »dual-use«-Charakter von Informationstechnik: Die für Cyber-Attacken eingesetzten Mittel unterscheiden sich wenig von der im privaten und kommerziellen Bereich eingesetzten Technik. Rüstungskontrollexperten halten es jedoch auch angesichts dieser Situation für dringend geboten, wenigstens durch Selbstverpflichtungen und internationale Festschreibungen (z.B. Aufnahme von bestimmten Teilen des Information Warfare in das Völkerrecht) einen Einstieg in die Bearbeitung dieses Sicherheitsproblems zu erlangen (Mölling & Neuneck 2001). Bestrebungen in Richtung internationaler Regelungen stehen die USA jedoch skeptisch bis ablehnend gegenüber. Die nationale Sicherheit soll – »Joint Vision 2020« verdeutlicht dies – vor allem durch eigene Stärke und Überlegenheit, nicht zuletzt im Informationsbereich, gewährleistet werden.

In einer aktuelle Studie des »Defense Science Board« des amerikanischen Verteidigungsministeriums ist von der Gründung einer Spezialistengruppe für aggressive, präventive Operationen die Rede, die u.a. aus Experten für Information Warfare und Information Operations, verdeckte Aktionen, psychologische Kriegführung, Aufklärungsspezialisten und Spezialeinsatzkräften bestehen soll (DSB 2002; Arkin 2002). Die »Proactive, Preemptive Operations Group« (P2OG) genannte Einheit soll u.a. Geheimoperationen durchführen, mit dem Ziel, Reaktionen terroristischer Gruppen hervorzurufen, gegen welche dann wiederum militärisch vorgegangen würde. Nicht zuletzt solle dies Staaten, die Terroristen beherbergen, signalisieren, dass ihre Souveränität auf dem Spiel steht. Die Verantwortlichkeit für P2OG soll einem Mitglied des Nationalen Sicherheitsrates übertragen werden, dessen Vorsitz der Präsident selbst führt. Parlamentarische Kontrollrechte für Geheimdienstoperationen würden hierdurch de facto ausgehebelt.

Technische Überlegenheit wurde als legitimatorisches Argument für die politisch-militärische Machbarkeit des Irakkrieges 2003 herangezogen, wie Ruhmann (2003) in einer ersten Analyse herausstellt. IT-unterstützte Kriegführung ist – so sein Fazit – angesichts der gegenwärtigen politischen Voraussetzungen zu einem neuen sicherheitspolitischen Risikofaktor geworden.

Der vernebelte Informationskrieg

Nach einer Studie der Arizona State University ist ein Netz wie das Internet aufgrund der Tatsache, dass es einige Knoten mit sehr hoher Datenlast gibt, grundsätzlich anfällig. Gezielte Angriffe können zu kaskadenartigen Überlastungsfehlern und dem Zusammenbruch effizienter Kommunikation zwischen diesen Knoten führen, was in der Folge das gesamte Netzwerk lähmen könnte (Motter & Lai 2002). Im Januar 2003 warnten bei einem Expertenhearing im Massachusetts Institute of Technology einige Teilnehmer vor einem aktiven Engagement der USA in Cyber-Attacken. Aufgrund der enormen Abhängigkeit des Landes von Computern und Netzen sei eine hohe Verwundbarkeit bei entsprechenden Gegenangriffen zu befürchten (Graham 2003). Ernstgemeinte Warnungen dieser Art werden von Militär, Geheimdiensten, Sicherheitsindustrie und weiteren Protagonisten eines aktiven und offensiven Information Warfare gerne aufgenommen und – verquickt mit den vielen kursierenden Mythen und Behauptungen über tatsächliche Angriffe (vgl. u.a. Smith 1998) – funktionalisiert, um weitere Investitionen in diesem Bereich zu fordern sowie weitere Überwachung zu rechtfertigen.

Die Idee des Informationskrieges machte intensiv Karriere parallel zum Boom des Internets. Bereits 1995 war Information Warfare das Leitbild für alle Forschungs- und Entwicklungspläne des amerikanischen Militärs. Gleichzeitig rückten die Einheiten für psychologische Kriegführung verstärkt ins Zentrum strategischer und taktischer Überlegungen (Bendrath 1999b). Aus dem militärischen Sprachgebrauch stammende Begriffe wie »chirurgische Präzisionsschläge«, »information operations« und »virtuelle Schlachtfelder« scheinen einen weniger blutigen Krieg zu versprechen. Doch Information Warfare ist keinesfalls eine Konzeption unblutiger Kriege, vielmehr geht es darum, den klassischen Krieg zu effektivieren und gleichzeitig die gewaltsame Interessendurchsetzung auch unterhalb der Schwelle eines »offiziellen« Krieges leichter zu ermöglichen. Die Konsequenz ist eine Militarisierung des Alltags: Die uns im zivilen Leben direkt umgebende Informationstechnik wird mehr und mehr zum Gegenstand militärischer Überlegungen und damit ein sicherheitsrelevantes Objekt, das der Logik militärischer Kontrolle und Sicherheitsanforderungen genügen muss (vgl. Ansorge & Streibl 1997). Schon 1998 warnte das »Electronic Privacy Information Center« in diesem Sinne vor der zunehmenden Einschränkung von Bürgerrechten und der Gefährdung der Privatsphäre (EPIC 1998). Die praktischen und rechtlichen Entwicklungen im Bereich Überwachung nach dem 11. September 2001 in den USA und auch hierzulande weisen in diese Richtung.

Die zunehmende Flut von Veröffentlichungen zum Thema Information Warfare zeichnet sich in vielen Fällen durch Spekulationen, Mutmaßungen, Gerüchte und zyklische Verweise aus. Auch offizielle Papiere machen da keine Ausnahme. Es bleibt weitgehend unklar, welche Bedrohungen und Einsatzmöglichkeiten real sind und was – zumindest derzeit – Fiktion ist. Die massive Geheimhaltung und das fehlende Wissen über die tatsächlichen Entwicklungen in diesem Bereich verhindern zugleich aber auch den politischen Diskurs über den aktiven Einsatz. Eines ist jedenfalls klar: Mit der Idee des Information Warfare lässt sich trefflich Information Warfare betreiben – denn die Angst des Gegners davor, was alles möglich sein könnte, ist ebenso wichtig wie oder gar wichtiger als die tatsächlichen Fähigkeiten und Potenziale. Und mit der Angst der eigenen Bevölkerung lassen sich problemlos sowohl eigene militärische Anstrengungen in diesem Sektor als auch verstärkte Überwachung und weitere Eingriffe in die Persönlichkeitsrechte begründen und durchsetzen.

Literatur

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Arkin, W. M. (2002): The secret war frustrated by intelligence failures. Los Angeles Times, 27.10.2002, http://globalresearch.ca/articles/ARK211A.html.

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Online-Quellen: Stand 16.05.2003

Ralf E. Streibl, Diplom-Psychologe, arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Studiengang Informatik an der Universität Bremen. Er ist Mitglied im Forum Friedenspsychologie sowie im Vorstand des Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung.

Effizienz kontra Transparenz

Effizienz kontra Transparenz

Das Netzwerk europäische Rüstungsindustrie

von Hannes Baumann

Seit Ende des Kalten Krieges ist die europäische Rüstungsindustrie zu einem transnationalen Netzwerk aus Beteiligungen und Joint Ventures zusammengewachsen.1 Diese Strukturveränderung beeinflusst auch das Verhältnis zwischen nationalen Regierungen und der Industrie. Einerseits ist es nicht gelungen, das volle Potenzial der Internationalisierung für den Abbau von Überkapazitäten zu realisieren. Andererseits verschlechtert sie die Transparenz der Rüstungsproduktion, gibt den großen Rüstungskonzernen gesteigerte Marktmacht und könnte zu einer Aushöhlung der Exportkontrollpraxis führen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg organisierten die westeuropäischen Staaten ihre Rüstungsproduktion auf nationaler Ebene. Der Sektor war durch Artikel 223 der Verträge von Rom und später durch Artikel 296 der Amsterdamer Verträge von der Liberalisierung des Binnenhandels ausgeschlossen. Nach Ende des Kalten Krieges hinterfragten die europäischen Regierungen dieses System. Das hatte drei Gründe. Erstens verteuerte sich der Preis anspruchsvoller Militärtechnik immerfort. Staaten konnten es sich gar nicht mehr leisten, die gesamte Palette an Waffensystemen in Eigenregie herzustellen. Zweitens sanken die Beschaffungshaushalte, nachdem die Gefahr einer sowjetischen Invasion gebannt war. Regierungen bestellten immer geringere Stückzahlen der sich verteuernden Waffensysteme, was den Einzelpreis weiter in die Höhe trieb. Drittens hatte die liberale Wirtschaftspolitik der 80er Jahre ein Klima geschaffen, in dem die strikte Regulierung des Rüstungssektors zunehmend als anachronistisch angesehen wurde.

Diese Faktoren schufen ein Freihandelsparadigma für den europäischen Rüstungsmarkt, das unter anderem von der Interessenvertretung der Industrie, der European Defence Industries Group (EDIG), vertreten wird.2 Demnach würde die Liberalisierung des Handels mit Rüstungsgütern zu entscheidenden Effizienzsteigerungen führen. Die Industrie würde grenzüberschreitend konsolidieren. Rüstungskonzerne wären in der Lage, Synergien und Größenvorteile zu realisieren und so Überkapazitäten abzubauen. Verschiedene Länder könnten sich auf bestimmte Waffensysteme spezialisieren, denn in einem vereinigten Europa brauchten die Staaten keine Angst vor gegenseitigen Abhängigkeiten zu haben. Der freie Wettbewerb zwischen den Anbietern würde die Verhandlungsposition der Regierungen verbessern, da mehr Wettbewerb unter den Rüstungsanbietern herrschen würde. Allerdings müsste ein gemeinsamer europäischer Rüstungsmarkt geschaffen und eine europäische Beschaffungsagentur eingerichtet werden, um die Nachfrage zu vereinheitlichen. Die großen Konzerne könnten außerdem in Konkurrenz mit ihren amerikanischen Rivalen besser bestehen, und es könnte ein ausgewogener transatlantischer Rüstungsmarkt entstehen. Die Exportkontrollpolitik von EU-Staaten mit Drittländern müsste harmonisiert werden, um die von der Industrie empfundene Benachteiligung der Unternehmen in Länder mit restriktiveren Kontrollen zu beenden. Ein Verteidigungsökonom, der diesen Standpunkt vertritt, errechnete, dass die europäischen Beschaffungskosten auf diese Weise um bis zu 17 Prozent sinken könnten.3

So weit die Theorie. Doch wie weit wurde diese Internationalisierung und Liberalisierung realisiert? Und was sind die Folgen für das Verhältnis von Regierungen und Industrie?

Im Sommer 1999 zimmerten deutsche, französische und spanische Industrielle das erste grenzüberschreitende Rüstungs- und Luftfahrtunternehmen zusammen. Aus DASA (Deutschland), Aérospatiale Matra (Frankreich) und CASA (Spanien) entstand die European Aeronautic Defence and Space Company (EADS). Die deutsche, französische und spanische Regierung unterstützten die Fusion, die von der Industrie forciert wurde.4 Neben EADS gehören die britische BAE Systems und das französische Thales zu den Rüstungsgiganten des Kontinents. BAE Systems hat eine starke transatlantische Orientierung und erwirtschaftet 34% seines Umsatzes in Nordamerika.5 Thales hat Tochterunternehmen in 53 Ländern und beschreibt sich selbst als eine »multi-domestic company« – eine Unternehmen, dass überall zu Hause ist.6Die Entstehung großer Firmenimperien entbehrt nicht einer gewissen Dramatik, und die Evolution der EADS traf auf starkes Medieninteresse. Das wahre Ausmaß der Verflechtung findet jedoch jenseits der Militär- und Finanzpresse nur ein geringes Echo. Seit 1989 dokumentiert das SIPRI Arms Production Project die Strukturveränderungen in der Rüstungsindustrie.7 Es entstanden unzählige grenzüberschreitende Joint Ventures, Fusionen, Übernahmen und Beteiligungen. Die Tabellen 1 und 2, die dem SIPRI Jahrbuch 2003 entnommen sind,8 geben einen Eindruck dieser Verflechtung. Das Ausmaß der Internationalisierung lässt sich nur schlecht quantifizieren, da die Firmen ihre militärische und zivile Produktion meist nicht getrennt verbuchen.Die Internationalisierung hat eine transatlantische Dimension, denn es kam auch hier zu Übernahmen und JointVentures. Die bevorzugte Kooperationsform sind jedoch »teaming arrangements«, bei denen transatlantische Konsortia sich um Beschaffungsaufträge bewerben. In Ländern außerhalb der USA engagieren sich europäische Unternehmen vor allem im Rahmen so genannter direkter Offsets. Demnach verlangen Regierungen bei der Vergabe von Rüstungsaufträgen, dass ein Teil des Kaufpreises in Rüstungsunternehmen des Landes reinvestiert wird. Die europäische Rüstungsindustrie ist also in ein globales Netzwerk eingebunden. Manche Analysten sprechen gar von einer »Globalisierung« der Rüstungsproduktion.9 Doch erstens ist die Internationalisierung vor allem ein europäisches Phänomen. Zweitens sind die »globalen Produktionsnetzwerke« in der Rüstungsindustrie weit weniger entwickelt als in anderen verarbeitenden Industrien. Während zum Beispiel in der zivilen Schiffbauindustrie die Produktion von Schiffskörpern in Länder wie Südkorea und Japan verlagert wurde, verlangen die Vergabeaufträge der meisten europäischen Marinestreitkräfte, dass der Schiffskörper im Heimatland gefertigt wird.Trotz der Initiativen der Industrie konnten die erhofften Effizienzsteigerungen nur teilweise realisiert werden. Der Abbau von Überkapazitäten oder die Realisierung von Synergien ist nur selten das Ziel bei Beteiligungen und Joint Ventures. Durch Investitionen in fremde Rüstungsindustrien hoffen Unternehmen vielmehr, Zugang zum Rüstungsmarkt dieser Länder zu erhalten. Das Beispiel des Raketenherstellers MBDA ist symptomatisch. Das Joint Venture von EADS, BAE Systems und Finmeccanica wurde im Dezember 2001 formell gegründet, hat aber die zu Beginn angekündigte Rationalisierung durch Entlassungen bisher nicht realisiert. Das Unternehmen hat nach wie vor rund 10.000 Beschäftigte an 12 Standorten.10Die europäischen Rüstungsgiganten sind keine multinationalen Unternehmen, wie sie im zivilen Bereich existieren. Sie sind »multi-domestic«, denn sie bedienen keinen gemeinsamen europäischen Markt, sondern viele nationale (»domestic«) Märkte mit militärischem Gerät, das auf nationale Anforderungen zugeschnitten ist und vor allem in nationalen Produktionsstätten gefertigt wird. Außerdem haben Regierungen die Freiheiten des Artikels 296 genutzt, um nationale Produktionskapazitäten zu bewahren. Während Großprojekte im zivilen Bereich europaweit ausgeschrieben werden müssen, dürfen Regierungen ihre Streitkräfte bevorzugt mit einheimischem Gerät ausrüsten. Rüstungsunternehmen dürfen auch in einem Maße subventioniert werden, wie es unter EU-Wettbewerbsregeln im zivilen Bereich unmöglich wäre. Das beste Beispiel ist das französische Staatsunternehmen GIAT. Seit 1991 hat die französische Regierung den Panzerhersteller mit 3,5 Milliarden Euro unterstützt, und sie hat weitere 1,1 Milliarden Euro bis zum Jahr 2006 bereitgestellt.11 Anstatt also Kapazitäten aufzugeben – zum Beispiel durch Spezialisierung verschiedener Länder auf bestimmte Waffensysteme – haben Regierungen versucht, möglichst viele Produktionskapazitäten im eigenen Land zu erhalten.Das Verhältnis zwischen Regierung und Industrie wird zu großen Teilen durch die relative Marktmacht der beiden Seiten bestimmt. Grob gesagt verbessert sich die Verhandlungsposition einer Regierung mit steigender Anzahl an Bewerbern für Beschaffungsaufträge. Die Internationalisierung birgt Chancen und Risiken für den Wettbewerb. Einerseits können Regierungen den Wettbewerb von Unternehmen außerhalb des Landes nutzen, um preiswertere Waffensysteme zu erwerben. Gerade die britische Regierung verfolgt schon seit Mitte der 80er Jahre eine solche Beschaffungspolitik. Trotzdem hat sie große Probleme, dieser Strategie treu zu bleiben. Im vergangenen Jahr traten BAE Systems und Thales gegeneinander an, um zwei Flugzeugträger für die britische Marine zu bauen. Der britische Verteidigungsminister signalisierte, dass BAE Systems nicht bevorzugt würde, nur weil es ein britisches Unternehmen sei.12 BAE Systems hatte gefordert, Großaufträge automatisch zugeschlagen zu bekommen, da sonst Großbritannien seine Fähigkeiten in der Rüstungsproduktion auf lange Sicht hin verlieren würde.13 BAE Systems unterstrich die Dramatik ihrer Forderung indem sie 1.000 Werftarbeiter entließen.14 Am Ende vergab die Regierung Blair den Auftrag an BAE Systems. Die Episode zeigt, wie schwer sich nationale Regierungen tun, den offenen Wettbewerb gegen industrielle Interessen durchzusetzen. Die Internationalisierung beinhaltet die Gefahr, dass ein »Oligopol« auf der Anbieterseite entsteht, dass also Regierungen bei der Beschaffung von einer kleinen Anzahl transnationaler Rüstungsgiganten abhängig werden. In den USA ist die Konsolidierung bereits so weit fortgeschritten, dass die wenigen übrig gebliebenen Konzerne eine besorgniserregende Marktmacht erlangt haben.15Bei der Internationalisierung sind aber nicht nur die Effizienzversprechungen enttäuscht worden, sie birgt auch friedenspolitische Risiken, da die Transparenz der Rüstungsproduktion sinkt. Ein Beispiel ist der niederländische Elektronikhersteller Hollandse Signaalapparaten, der zu Thales gehört. Seit 2001 veröffentlichen die Franzosen keine Zahlen zur Rüstungsproduktion dieses Unternehmens mehr.16 Das schafft zwar ein sauberes Image, doch es verschleiert die Herstellung von Kriegsmaterial vor der Öffentlichkeit und erschwert die Debatte über die Rüstungsindustriepolitik. Die Initiative der Europäischen Kommission, die Industrie mit Hilfe von Daten ihres Statistikbüros EUROSTAT und des Europäischen Statistischen Systems (ESS) zu überwachen, könnte Abhilfe schaffen.17 Es bleibt zu hoffen, dass diese Daten öffentlich zugänglich gemacht werden.Der zweite Schwachpunkt ist der Effekt der Internationalisierung auf die Exportkontrolle von Rüstungsgütern. Die wichtigsten Dokumente für die Europäisierung der Exportkontrollpolitik sind das »Framework Agreement« von 200018 und der Verhaltenskodex der EU für Waffenausfuhren von 199819. Das »Framework Agreement« wurde unter großer Geheimhaltung von den Regierungen Deutschlands, Frankreichs, Großbritanniens, Italiens, Schwedens und Spaniens unter Beteiligung der Rüstungsindustrien dieser Länder ausgehandelt. Das Ziel ist eine Vereinfachung des Transfers von militärischen Gütern zwischen diesen Ländern, aber auch eine Harmonisierung der Regeln für Exporte in Drittländer. Es ist die bisher deutlichste Manifestation des Freihandelsparadigmas. Der EU-Verhaltenskodex zielt ebenfalls auf eine Harmonisierung der Exportkontrollen ab, er wurde allerdings öffentlich unter Beteiligung von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) erstellt. Die Rüstungsindustrie war gegen den Kodex, da er Exportmöglichkeiten zu beschneiden drohte.20Durch eine Harmonisierung der Exportkontrolle könnten Länder mit restriktiveren Bestimmungen unter Druck geraten, ihre Regulierung zu lockern. Deutschland und Schweden werden hier gerne als Beispiele angeführt. EDIG fordert zum Beispiel, dass Regierungen ihr Vetorecht aufgeben sollen, wonach Länder, die Komponenten für kooperativ hergestellte Waffensysteme liefern, ein Mitspracherecht bei der Wahl der Endempfänger besitzen.21 1999 zum Beispiel verweigerte die Bundesregierung eine Lizenz zur Ausfuhr von deutsch-französischen Tiger Helikoptern in die Türkei. In der Praxis wird von dem Vetorecht jedoch nur selten Gebrauch gemacht.22 In dem »Framework Agreement« wurde das nationale Veto aufgeweicht. Demnach geben die Regierungen die fallweise Lizensierung für Komponententransfers für kooperative Rüstungsprojekte zwischen den Unterzeichnerstaaten auf. Stattdessen stellen sie eine »weiße Liste« derjenigen Länder zusammen, in die das Waffensystem exportiert werden darf. Die Liste wird in Verhandlungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit und ohne parlamentarische Kontrolle zusammengestellt und auch später nicht veröffentlicht. Nationalen Regierungen bleibt immer noch eine Notbremse, denn durch ein einseitiges Veto können sie Länder von der Liste streichen. Allerdings steht zu befürchten, dass die Länder mit dem größerem Anteil an kooperativen Programmen – also normalerweise die größten Rüstungsproduzenten Frankreich und Großbritannien – auch den größeren Einfluss auf die Zusammenstellung der Liste haben werden. Und gerade in diesen Ländern hat die Industrie auch den größeren Einfluss auf die Exportkontrollpolitik.23EDIG geht jedoch noch weiter und fordert, nationalen Regierungen die Kontrolle über den Transfer von Rüstungskomponenten gänzlich zu nehmen. Dasjenige EU-Land solle die endgültige Exportentscheidung treffen, in dem ein Waffensystem endproduziert wird.24 Eine solche Regelung wäre ein Anreiz für die Industrie, die Endproduktion in Länder mit einer weniger restriktiven Exportkontrollpolitik zu verlagern. Umgekehrt kämen Länder mit restriktiveren Regeln unter Druck, diese abzuschwächen, um die Rüstungsproduktion im eigenen Land zu halten. Weder das »Framework Agreement« noch die jüngste Mitteilung der EU-Kommission gehen so weit, den EDIG Vorschlag realisieren zu wollen. Allerdings zeigt das Beispiel, wie ein falsch konstruierter gemeinsamer europäischer Rüstungsmarkt dazu führen könnte, dass die Industrie auf Kosten nationaler Regierungen an Einfluss gewinnt.

Die Europäisierung der Rüstungsexportkontrolle hält allerdings auch ein Beispiel für demokratische Partizipation und Transparenz auf EU-Ebene bereit. Das Europäische Parlament schlug 1992 den EU-Verhaltenskodex vor. Im Gegensatz zu den geheimen Regierungsverhandlungen über das »Framework Agreement« wurde die Formulierung des EU-Verhaltenskodex von NGOs begleitet. Der Kodex enthält einen Mechanismus gegenseitiger Konsultationen, der verhindern soll, dass die restriktivere Exportkontrollpolitik einiger Staaten von anderen Ländern ausgenutzt und unterwandert wird (Operative Bestimmungen 3). Im Vordergrund steht also nicht die Liberalisierung des Rüstungsmarktes, sondern eine Harmonisierung der Exportkontrolle auf der Basis restriktiver Regelungen.

Am Ende sollte noch erwähnt werden, wie vielschichtig das Verhältnis zwischen Regierungen und Industrie ist. Der europäische »militärisch-industrielle Komplex« ist keineswegs ein monolithischer Block, denn entscheidende Gegensätze zwischen Industrien verschiedener Länder sind bestehen geblieben. Es ist symptomatisch, dass jede nationale Industrie ihre Interessen vor allem durch Industrievereinigungen im eigenen Land vertritt, dass EDIG also relativ schwach ist. Das ist natürlich nur so lange der Fall, wie die Nationalstaaten das letzte Wort in der Rüstungsindustriepolitik haben. Allerdings verstärkt es auch die Gegensätze zwischen den nationalen Industrien. Eine Spezialisierung bestimmter Länder auf bestimmte Waffensysteme würde die Verlierer eines solchen Prozesses auf die Barrikaden treiben – gegen die nationale Regierung. Das Beispiel der britischen Flugzeugträger beweist, dass sich die Industrie gegen Einschnitte zu wehren weiß. Obwohl EDIG einer der lautstärksten Vertreter der Freihandelsidee ist, werden nationale Industrien die Nachteile ablehnen, die mit der Rationalisierung einhergehen. Zu den Verlierern könnte zum Beispiel der deutsche Luftfahrtbereich oder die französische Heeresindustrie gehören. Vor allem Unternehmen in kleineren Ländern, wie zum Beispiel Spanien, profitieren vom Protektionismus im Rüstungsbereich, da sie sich nicht gegen die stärkeren Industrien Frankreichs, Deutschlands und Großbritanniens durchsetzen könnten.25

Die versprochenen Effizienzsteigerungen durch die Internationalisierung der Rüstungsindustrie wurden nicht ausreichend realisiert, weil das einen gemeinsamen europäischen Rüstungsmarkt voraussetzen würde. Die Schaffung eines solchen Marktes birgt allerdings Risiken. Die Transparenz der Rüstungsproduktion könnte leiden, es könnte zu einer »Kartellisierung« unter den Konzernen kommen, die Kontrolle des Transfers von Rüstungsgütern innerhalb der EU und in Drittländer könnte schwieriger werden. Nationale Regierungen müssen also weiter zwischen zwei Zielen lavieren. Einerseits die Kosten der Rüstungsproduktion auf ein erträgliches Maß zu reduzieren und andererseits die Kontrolle über den Rüstungssektor zu behalten. Der EU-Verhaltenskodex ist ein Beispiel dafür, wie Aspekte der Rüstungspolitik auf europäischer Eben unter Mitwirkung zivilgesellschaftlicher Gruppen reguliert werden können.

Anmerkungen

1) Mit der europäischen Rüstungsindustrie sind Unternehmen in den Ländern der Europäischen Union gemeint.

2) Siehe dazu u.a. European Defence Industries Group (EDIG): EDIG Contribution to the Convention on the Future of Europe for ESDP, Brüssel, 18. September 2002. Hartley, K.: The future of the European Defence Policy: An economic perspective, Defence and Peace Economics, 2003, Vol. 14(2).

3) Hartley, 2003, S. 110.

4) Schmitt, B.: From Cooperation to Integration: Defence and Aerospace Industries in Europe, Chaillot Paper no. 40, Western European Union Institute for Security Studies, Paris, July 2000, S. 29-39.

5) Sowohl im Rüstungs- als auch im zivilen Bereich. BAE Systems Annual Report 2002, Februar 2002, S. 53.

6) Thales Website, besucht am 23. Mai 2003, http://www.thalesgroup.com/home/countries/ow_all_companies/ow_all_companies.htm, http://www.thalesgroup.com/ga/profile/figures.htm

7) http://projects.sipri.se/milex.html

8) Sköns, E. und Baumann, H.: Arms Production, SIPRI: SIPRI Yearbook 2003: Armaments Disarmament and International Security, Oxford University Press, Oxford, 2003.

9) Hayward, K.: The Globalisation of Defence Industries, Survival, vol. 42, no. 2, Summer 2000, S. 115-132.

10) Hill, L. und Mulholland, D.: BAE, EADS and Finmeccanica seal missile merger deal, Jane’s Defence Weekly, 2. Mai 2001, S. 21. MBDA Pressemitteilung: MBDA and Bharat Dynamics Limited Signed a Strategic Memorandum of Understanding, 7. Februar 2003.

11) Giat Industries Job Losses Confirmed, Air Letter, 9. April 2003, S. 1.

12) British Ministry of Defence: Defence Industrial Policy, Policy Paper no. 5, Directorate General Corporate Communication, London, 2002, S. 4.

13) Nicoll, A.: Plain Speaker Waves the Union Jack, Financial Times, 3. Juli 2002, S. 21.

14) Odell, M.: BAE Cuts Jobs as Contract Decision Looms, Financial Times, 22. Januar 2003, S. 23.

15) Markusen, A. und Costigan, S. S.: The Military Industrial Challenge, Markusen, A. and Costigan, S. S.: Arming the Future, A Defense Industry for the 21st Century, Council on Foreign Relations Press, New York, 1999, S. 3-36.

16) Laut Nachfrage von Ton van Oosterhout, Mitglied im SIPRI Arms Production Network.

17) Kommission der Europäischen Gemeinschaften: Mitteilung der Kommission – Europäische Verteidigung – Industrie und Marktaspekte; Auf dem Weg zu einer Verteidigungsgüterpolitik der Europäischen Union, KOM(2003) 113, Brüssel, 11. März 2003, S. 15.

18) »Framework Agreement between The French Republic, The Federal Republic of Germany, The Italian Republic, The Kingdom of Spain, The Kingdom of Sweden and The United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland Concerning Measures to Facilitate the Restructuring and Operation of the European Defence Industry«, Farnborough, 27 July 2000, http://projects.sipri.se/expcon/loi/indrest02.htm.

19) Rat der Europäischen Union: Verhaltenskodex der Europäischen Union für Waffenausfuhren, 8. Juni 1998, http://www.bundesregierung.de/Themen-A-Z/Sicherheitspolitik-,1311/Verhaltenskodex-der-EU-fuer-Wa.htm

20) Davis, I.: Regulation of Arms and Dual-Use Exports in a Transnational Defence Industrial Environment: The EU Code of Conduct on Arms Exports, Serfati, C. (Hrsg.): The Restructuring of the European Defence Industry: Dynamics of Change, Office for Official Publications of the European Communities, Luxemburg, 2001, S. 92.

21) EDIG, Juni 2000.

22) Davis, 2001, S. 96.

23) Davis, 2001, S. 97.

24) EDIG, Juni 2000.

25) Walker, W. und Gummett, P.: Nationalism, Internationalism and the European Defence Market, Chaillot Paper No. 9, Western European Union Institute for Security Studies, Paris, September 1993, S. 24.

Hannes Baumann arbeitet seit Mai 2002 als Research Assistant im SIPRI Arms Production Project, Stockholm. Als Koautor mit Elisabeth Sköns trug er zum SIPRI Yearbook 2003 bei.

Das Rüstungspotenzial im Nahen und Mittleren Osten

Das Rüstungspotenzial im Nahen und Mittleren Osten

von Christian Mölling und Götz Neuneck

Ein neuer Krieg im Nahen Osten erscheint wahrscheinlich. Viel Aufmerksamkeit widmen Zeitungen und Kommentare dem vermuteten Rüstungspotenzial des Irak, das aufgrund der in Kraft befindlichen Sanktionen sicher nicht mehr die militärische Stärke besitzt, die sich Diktator Saddam Hussein vor dem zweiten Golfkrieg 1991 u.a. auch mit westlicher Unterstützung zugelegt hatte. Aber was ist mit den Nachbarn des Irak? Kann ein Krieg mittels der militärischen Überlegenheit der USA auf eine spezifische Region beschränkt werden? Wie steht es mit der Anwesenheit von Massenvernichtungswaffen in der Region? Diese Fragen sind Variablen einer hochkomplexen Gleichung, deren Antworten mit über Krieg und Frieden in einer gewaltträchtigen und mit Waffen angereicherten Region entscheiden können.
Der ehemalige US-Verteidigungsminister William S. Cohen bezeichnete 1997 die Bedrohung im Mittleren Osten als eine „chronische Krankheit“. In dieser Region gab es zwischen 1948 und 1982 fünf große israelisch-arabische Kriege. Am Arabisch-Persischen Golf fanden zwei Golfkriege statt: 1981 bis 1988 zwischen dem Irak und Iran und 1991 – nach der Besetzung Kuwaits – zwischen einer westlichen Allianz, angeführt von den USA, und dem Irak. Ein erneuter Waffengang dürfte weitreichende Auswirkungen auf die Region haben. Eine politische Ordnung für die Zeit nach einem neuen Irakfeldzug ist hingegen nicht in Sicht. Eine Verschärfung der Konfrontation insbesondere zwischen Israel und den Palästinensern wäre wahrscheinlich. Beide Konfliktszenarien, Irak und Israel-Palästina könnten weitere Staaten in schwere Auseinandersetzungen verwickeln. Die Präsenz der US-Truppen am Golf entscheidet dabei mit über die innere Stabilität der arabischen Staaten und die Sicherheit Israels.

Die folgende, im Schwerpunkt quantitative Beschreibung der militärischen Verhältnisse soll das enorme Gewaltpotenzial aufzeigen, das in der Region angehäuft ist. Bei der Summierung von Militärarsenalen und geheimen Programmen ist allerdings Vorsicht geboten. Viele Angaben zu den jeweiligen Streitkräften sind Schätzungen oder entstammen Geheimdienstquellen, die nicht als objektiv angesehen werden können. Zudem genügt für ein umfassendes Bild nicht allein die Feststellung der jeweiligen Kapazitäten. Das strategische Umfeld sowie politische, ökonomische und geografische Faktoren sind weitere wichtige Indikatoren. Auch ist heute nicht nur die Quantität von Waffensystemen ausschlaggebend, sondern auch deren Qualität und Einsetzbarkeit im Rahmen der jeweiligen Militärstrategie und der dahinterstehenden politischen Ziele.

Sicher ist, dass der Grad der Militarisierung in der Region extrem hoch ist, wenn man Faktoren wie die Zahl der Soldaten, die Rüstungsausgaben oder die Waffenarsenale als Indikatoren verwendet. Die Zahl der Soldaten in der Gesamtregion1 beträgt laut IISS ohne Reserven und paramilitärische Verbände ca. 2,9 Millionen. Dies entspricht einem Verhältnis von einem Soldaten auf 109 Einwohner. Noch höher ist die Dichte in der Kernregion des Nahen Ostens: Dort kommt ein Soldat auf 99 Einwohner.2

Die Militärausgaben in der Region sind in den letzten 10 Jahren (1992-2001) von 52,3 Mrd. US$ auf 72,4 Mrd. US$ gestiegen – dies entspricht einer Steigerung um 20,1 Mrd oder 38%. Ein Ende dieses Trends ist nicht in Sicht: Israel hat seinen Verteidigungsetat für 2002 um 983 Mio. US$ auf über 10 Mrd. US$ erhöht.3 Die damit verbundene Aufrüstung dürfte von den arabischen Nachbarn nicht unbeantwortet bleiben.Betrachtet man das letzte Jahrzehnt, so ist der Nahe Osten nach Ostasien die schwerstbewaffneste Krisenregion der Welt.4 Die Militarisierung der Region ist bei der Anzahl schwerer Waffen leicht rückläufig – was u.a. daran liegt, dass das Waffenembargo dem zuvor schwer bewaffneten Irak verbietet, neue schwere Waffen zu erwerben. Zudem veralten vorhandene Systeme und sind zunehmend unzuverlässig. Über 6% des BSP werden in der Region in Rüstung investiert. Führend sind hier Saudi-Arabien (11,6%), Israel (8,0%) und Jordanien (9,5%). Die Militärausgaben als Anteil am nationalen BSP sind heute leicht rückläufig, was wohl auf die Überrüstung nach dem 2. Golfkrieg und die schlechte wirtschaftliche Lage einiger Länder zurückzuführen ist.5 Bis heute stellen die großen Arsenale eine erhebliche Belastung für die Haushalte der betroffenen Staaten dar. Ein Krieg um den Irak könnte weitere Belastungen, Rüstungsimporte und Neuanschaffungen nach sich ziehen. Bei einer Neuordnung der Region könnte der Rüstungswettlauf wieder angeheizt werden.Der Nahe Osten ist und bleibt zudem der »größte Waffenmarkt der Welt«. Insbesondere nach den Kriegen 1967 und 1973 gab es Aufrüstungswellen, die erheblich von der Sowjetunion (Irak und Syrien bis Ende der 80er Jahre), den USA sowie Frankreich und Großbritannien unterstützt wurden. Teilweise wechselten die Hauptlieferanten. Bis zum Nahostkrieg 1973 wurde Ägypten von der Sowjetunion, dann von den USA beliefert. Syrien erhält seine Waffen bis heute von den Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Jordanien, Kuwait und Saudi-Arabien werden heute von den USA beliefert. Israel wurde bis 1967 mit französischen Waffen versorgt, danach im wesentlichen durch die USA finanziell sowie durch Waffenlieferungen unterstützt.6Der Sechs-Tage-Krieg von 1967 war für Israel der Anlass, eine eigene Rüstungsindustrie aufzubauen. Der israelische Staat besitzt als Einziger in der Region eine eigenständige Rüstungsindustrie. Wenngleich rüstungstechnisch von den USA abhängig, besitzt die Atommacht eine eigene Waffenproduktion (insbes. Panzer, Raketen, Flugzeuge, unbemannte Flugkörper, Elektronik, Militärfahrzeuge und Kleinwaffen). Israel produziert jedoch nicht nur für den eigenen Markt, sondern gehört zu dem Dutzend der größten Waffenlieferanten. Für Israel ist der Waffenexport und die militärtechnische Zusammenarbeit (u.a. mit der Türkei, und China) ein beträchtlicher Wirtschaftsfaktor. Rund ein Viertel der israelischen Exporte bestehen aus Waffen und anderen Rüstungsgütern. Im Jahre 2000 verkaufte man Rüstungstechnologie im Wert von 3,5 Mrd. US$, das sind 2,2% des weltweiten Gesamtumsatzes.7 Doch weder Israel noch die arabischen Staaten sind rüstungstechnisch unabhängig. Alle Staaten des Nahen Ostens importieren den Großteil ihrer Waffen.Auch die Rüstungseinfuhren geben die fortschreitende Hochrüstung der Region wieder. Seit dem Ende des Ost-West-Konfliktes flossen ca. ein Viertel aller Waffentransfers in den Nahen Osten. Alle Staaten im Nahen Osten befinden sich im oberen Drittel der Importeursstatistik. An der Spitze der Importeure, und dabei unter den drei weltweit größten Waffenkäufern liegt Saudi Arabien, das 2001 für ca. 4,8 Mrd. US$ importierte, gefolgt von der Türkei. Der Schwerpunkt der Importprodukte liegt bei schweren Panzern, gepanzerten Fahrzeugen und Panzerabwehrwaffen, mobiler Luftabwehr, Kampfhubschraubern und Kampfflugzeugen. Das wichtigste Rüstungsziel ist die allgemeine Modernisierung der vorhandenen Rüstungen. Das Gesamtvolumen der Importe in die Region betrug 2001 2,1 Mrd. US$. Diese Zahl übersteigt die Rüstungseinfuhren nach Südasien (2,0 Mrd.). Zum Vergleich: Europa führte für 3,9 Mrd. US$ Waffen ein.8

Konventionelle Streitkräfte der wichtigsten Staaten im Nahen Osten

Hier sollen kurz die schweren Landwaffen und die Luftstreitkräfte vorgestellt werden, die bei großen Militäraktionen ausschlaggebend sind.9

Irak

Entgegen der öffentlichen Meinung ist der Irak nachhaltig geschwächt. Die Sanktionen und Embargos haben ein Wiedererstarken verhindert. Die Republikanischen Garden stellen nur einen Macht(erhaltungs)faktor nach innen dar. Bei anderen Teilen der 400.000 Mann starken Armee liegt die Kampfeffektivität nur bei ca. 50%. Das Material ist weitgehend veraltet und es fehlen Ersatzteile. Die Luftwaffe kann laut IISS deswegen nur ca. 55% ihrer knapp 350 Maschinen nutzen. Die Artillerie umfasst ca. 2.200 Geschütze und 200 Raketenwerfer. Die Zahl von 2.600 Panzer erscheint zwar beeindruckend, doch sind diese veraltet (u.a: T-55). Insgesamt stellt der Irak keine konventionelle Gefahr wie noch 1991 dar.10

Syrien

Die syrische Armee (319.000 Mann) leidet, wie viele andere Armeen in der Region, unter einer schweren Modernisierungskrise. Quantitativ der israelischen Armee ebenbürtig, sind ihre Waffensysteme (3.700 Artilleriegeschütze; ca. 500 Raketenwerfer, 4.700 Panzer) veraltet. Eine moderne Luftabwehr ist ebenso wenig anzutreffen, wie eine funktionstüchtige Luftwaffe (ca. 600 Kampfjets).11

Isarel

Die israelische Armee (160.000 Mann) Armee ist ohne Frage die modernste der Region. Dies bezieht sich insbesondere auf den Großteil der 3.700 Panzer und auf die Luftwaffe. Auch die 2.800 Artilleriesysteme, 400 Raketenwerfer und 1.300 Startgeräte für die Panzerabwehr werden als relativ modern angesehen. Israel strebt nach der Verbesserung seiner Marine und seiner Aufklärungsfähigkeiten sowie nach der Schaffung des »battlefield management«. Ebenso genießt in Tel Aviv das »Arrow«-Abwehrsystem gegen Scud-Raketen hohe Priorität. Insgesamt will man dafür ca. 1,3 Mrd. US$ ausgeben. Außerdem besteht der Wunsch, die Marine stärker in die Kriegführung zu integrieren.12

Saudi Arabien

Die mit 124.000 Mann nicht sehr große Armee des Königreiches Saudi Arabien wird ebenfalls als sehr modern angesehen: 315 moderne »Abrams«-Panzer summieren den Bestand auf gut 1.000 solcher Fahrzeuge. Die Artillerie ist mit ca. 300 Geschützen und 60 Raketenwerfern eher von untergeordneter Bedeutung. Die Luftwaffe besteht aus 600 Maschinen unterschiedlichen Alters.

Iran

Im Iran wird auf der Basis des positiven ökonomischen Wachstums langfristig eine Modernisierung der Armee angestrebt. Insbesondere sollen Luftabwehrsysteme, Kampfflugzeuge und Panzer aus Russland erworben werden. Derzeit verfügt der Iran über ca. 1.500 Panzer mittleren Alters, eine große Anzahl von Artillerie (2.300), 900 Raketenwerfer, kaum Panzerabwehrraketen sowie eine veraltete Luftabwehr und eine größtenteils veraltete Luftwaffe. 520.000 Soldaten stehen unter Waffen. Jedoch ist die Wartung und damit die Einsatzfähigkeit nicht immer gewährleistet.

Ägypten

Ägypten modernisiert seine Streitkräfte (443.000 Mann) – insbesondere die Panzerstreitmacht – mit starker Unterstützung der USA (z.B. »Abrams«, »Apache«).13 Die Armee verfügt über ca. 3.900 Panzer (T-55, Abrams), die Zahl der Geschütze ist dagegen gering.

Kleinere Golfstaaten

Die kleineren Golfstaaten14 fallen zahlenmäßig nicht ins Gewicht – nimmt man all diese Staaten zusammen, so erreichen die quantitativen Kapazitäten kaum die der arabischen Ringstaaten15 oder Israels. Auch für die Zukunft sind hier keine entscheidenden Veränderungen zu erwarten. Ausnahme bilden die Vereinigten Arabischen Emirate, die u.a. 390 Panzer und ca. 140 Kampfflugzeuge bestellt und z.T. schon erhalten haben. Kuwait hat eine beträchtliche Zahl von Panzerabwehrraketen (728) bestellt.16

In Reaktion auf diese individuelle Schwäche haben sich die kleinen Golfstaaten mit Saudi Arabien zum Golf-Kooperationsrat (GCC) zusammengeschlossen. Ziel ist u.a. der Aufbau einer gemeinsamen Verteidigungspolitik. In der Hauptsache konzentriert man sich hier auf die Errichtung eines »supreme defence council«, einer schnellen Einsatztruppe von bis zu 20.000 Mann und den Aufbau gemeinsamer C317– Fähigkeiten.18

USA

Bereits in »Friedenszeiten« stellen die US-Kräfte ein beträchtliches militärisches Potenzial in der Region dar. Die Zahl der US-Truppen in der Region beläuft sich auf ca. 20.000, die sich hauptsächlich auf Basen in der Golfregion und der Türkei aufhalten. Sie stieg nach Schätzungen von »Global Security« im November auf ca. 48.000 Mann. Enthalten sind hier um die 400 Flugzeuge sowie auch zwei Flugzeugträgerkampfverbände. Die Bodentruppen sind ein Mix aus Spezialeinheiten und Expeditionstruppen. Eine genaue Zahl so wie qualitative Bewertung ist jedoch aufgrund der vielen unsicheren Informationen schwer möglich.19

Vergleich Israel – arabische Nachbarstaaten

Der wahrscheinlichste innerregionale Konflikt wäre der Israels gegen seine Nachbarstaaten. Zwar gibt es offene Feindseligkeit zwischen Israel und anderen arabischen Staaten – doch eine direkte militärische Bedrohung stellen diese Staaten z.Z. nicht dar. Denn auch wenn bei den wichtigsten Vergleichszahlen, diese zu Gunsten einer Allianz der arabischen Staaten stehen, kann Israel auf qualitativen Ausgleich setzen. Rechnet man z.B. die Truppenstärken der arabischen Ringstaaten zusammen, so kommt man auf ein Verhältnis von ca. 1:5 zu Ungunsten Israels. Bei den wichtigsten Waffensystemen sieht es ähnlich aus (Panzer: 1: 2.6; Artillerie 1: 2,8; Flugzeuge: 1: 2.7; Helikopter. 1: 1,6).20 Die Qualität der israelischen Armee wird aber als sehr hoch eingeschätzt. Sie ist sehr gut ausgebildet, verfügt über erstklassige Ausrüstung und steht permanent im Kampfeinsatz. Außerdem hat sich Israel die Entwicklungen der »Revolution in Military Affairs« weitaus extensiver zu Nutze gemacht, als seine Nachbarn. So verfügt die Armee als einzige in der Region über ein integriertes System, das von der Datensammlung bis zur Zielbekämpfung und dem Führen der Einheiten auf dem Schlachtfeld alle wichtigen Elemente vereint – inklusive präziserer Waffen. Darüber hinaus stehen neue Hightechwaffen auf der Bestellliste.21

Diese Fähigkeiten sind nicht nur auf den Import solcher Systeme zurückzuführen. Israel gibt als einziger Staat der Region einen signifikanten Teil seiner Militärausgaben für militärische F&E aus: Im Jahr 2000 ca. 10% ( USA: 13%, BRD: 4,3%).22 Hinzu kommt, dass man auf eine hohe Zahl an Reservisten zurückgreifen kann, die im Gegensatz zu den Reserven der arabischen Staaten als hochwertige Verstärkung gelten. So kann in Kriegszeiten von einer realistischen Relation von ca. 1: 1,3 angegangen werden.23 Die israelische Armee hat in allen Kriegen gezeigt, dass Qualität die quantitative Überlegenheit des Gegners kompensieren kann. Hinzu kommt die permanente Professionalisierung der Armee durch die andauernden Kampfhandlungen und die Vernetzung der Funktionseinheiten der Armee. Mit all diesem kann kein anderer Staat in der Region aufwarten. Trotzdem deuten die stationierten Truppen einiger arabischer Länder darauf hin, dass diverse auch gerade kleinere Militäraktionen möglich sind. Opfer wird in der dicht besiedelten Region stets die Zivilbevölkerung sein.

Massenvernichtungswaffen

Im Mittleren Osten gibt es zahlreichen Aussagen zufolge diverse Staaten, die Programme zur Herstellung von Massenvernichtungswaffen (MVW) betreiben bzw. bereits über einsatzfähige Arsenale verfügen. C-Waffen wurden vom Iran (1984-1988) und dem Irak (1983 und 1978-1988) bereits eingesetzt. Wie in Syrien, Ägypten und Libyen ist das Vorhandensein von C-Waffen-Arsenalen in diesen Ländern in Form von Artilleriemunition, Raketensprengköpfen und an Bord von Flugzeugen sehr wahrscheinlich. Darüber hinaus gibt es auch Anschuldigungen, Ägypten (1963-1967) und Libyen (1987) hätten ebenfalls C-Waffen eingesetzt. Israel besitzt sicher die Fähigkeit, die Produktion von B- und C-Waffen in kurzer Zeit aufzunehmen.

Ein einsatzfähiges israelisches Nukleararsenal gilt als gesichert. Die jeweilige Regierung hat weder die Existenz eines Nuklearwaffenprogramms noch sein Potenzial an Raketen bestätigt. Anderen Staaten wie z.B. dem Iran wird die Entwicklung einer eigenen Nuklearwaffe nachgesagt. Der Irak besaß ein Crash-Programm zur Entwicklung von Nuklearwaffen, das während des 2. Golf-Krieges und aufgrund der UNSCOM-Mission weitgehend zerstört bzw. eliminiert wurde.

Einige Staaten der Region verfügen schließlich über importierte, umgebaute oder selbstproduzierte Kurz- und Mittelstreckenraketen, die in der Lage sind, B- und C-Waffen zu transportieren.

Iran und Irak haben im Krieg Raketen extensiv gegeneinander eingesetzt. Iran, der als möglicher militärischer Antagonist für Israel angesehen wird, aber auch einige Nachbarstaaten, wie Syrien, Ägypten, Saudi-Arabien und Libyen, besitzen ballistische Raketen kurzer Reichweite. Diese fußen im wesentlichen auf der sowjetischen Scud-Technologie.

Israel

Israel ist die führende Raketenmacht in der Region und besitzt eine eigenständige technologische Basis, um Boden-Boden-Raketen von mittlerer Reichweite zu produzieren, sowie auch dislozierte Systeme, die nuklear bestückt werden können. Die israelische Rüstungsindustrie besitzt weitreichende Kenntnisse über den Bau von Marschflugkörpern und Drohnen und kann solche Systeme mit Reichweiten von 200 bis 400 km produzieren. Die Jericho-Rakete gibt Israel die Möglichkeit, Ziele in allen Nachbarländern sowie im Iran und in Teilen der Türkei, Griechenlands und Libyens zu treffen. Auf der anderen Seite ist Israel von Ländern umringt, die über ballistische Raketen mit geringer Reichweite verfügen oder von denen angenommen wird, dass sie Mittelstreckenraketen entwickeln. Das Raketenabwehrprogramm »Arrow« sowie die amerikanische »Patriot« soll einigen Bevölkerungszentren zusätzlichen Schutz gegen Scud-Raketenangriffe gewähren.

Irak

Während der UNSCOM-Inspektionen, die die UN-Resolution 687 von 1991 dem Irak auferlegte, wurde klar, in welchem Umfang das Land an verschiedenen nuklearen, sowie B- und C-Waffen bzw. dazugehörigen Trägersystemen gearbeitet hat. Wie schon der Golfkrieg von 1991 gezeigt hatte, verfügte der Irak über eine umfangreiche Raketenstreitmacht kleiner Reichweite (300-600km), hauptsächlich aus sowjetischen Importen. Es war gelungen, die Reichweite der importierten Scuds auf 600 km zu steigern sowie Raketenkomponenten selbständig zu entwickeln. Es wird nicht ausgeschlossen, dass der Irak auch heute noch Komponenten für Mittelstreckenraketen (Al-Hussein) eingelagert hat, da die Vernichtung der Raketen nicht vollständig nachgewiesen werden konnte. Die IAEO hat das irakische Crash-Programm (seit 1991) zur Entwicklung einer Nuklearwaffe weitgehend aufgedeckt und die dazugehörigen Anlagen und Materialien zerstört. Erst 1995 wurde durch die Flucht eines Schwiegersohnes von Saddam Hussein die Größe des B-Waffenprogramms bekannt.24 Der Verbleib einiger importierter Nährstofflösungen und nicht zerstörter Anthrax-Kampfstoffe ist z.Z. noch nicht geklärt und Gegenstand der geplanten UN-Inspektionen.

Der Irak hatte bis zum Beginn des 2. Golfkrieges die C-Kampfstoffe Senfgas, Sarin, Tabun und VX hergestellt, insgesamt ca. 3.850 Tonnen. Die irakischen Streitkräfte hatten ca. 2.900 Tonnen C-Waffenkampfstoffe beim Krieg (1981 – 1988) gegen den Iran eingesetzt. Spezielle Raketensprengköpfe und Artilleriegranaten zum Verteilen dieser Substanzen wurden entwickelt und getestet. Im Rahmen der UN-Inspektionen wurden große Teile dieser Bestände und Herstellungsanlagen unter Aufsicht zerstört, so dass nach UN-Angaben der Irak heute keine C-Waffen mehr herstellt. Der Verbleib von Vorproduktionen, insbesondere des sehr gefährlichen C-Kampfstoffs VX ist z.Z. noch nicht vollständig geklärt. Zwischen 1981 und 1985 war der Irak einer der größten Importeure von militärischer Ausrüstung.

Iran

Abgesehen von Israel und dem Irak, rückt verstärkt der Iran in das Zentrum rüstungspolitischer Diskussionen. US-amerikanische und israelische Experten und Politiker warnen vor einem »aggressiven Programm« zur Herstellung von Massenvernichtungswaffen sowie von ballistischen Raketen mit einer Reichweite bis zu 2.000 km. Kooperationsbeziehungen im zivilen Nuklearbereich mit China und Russland geben der Spekulation Auftrieb, der Iran könne als Land mit reichen Ölvorkommen auch auf eine Nuklearoption abzielen. Seit 1992 besteht ein russisch-iranischer Vertrag über den Bau zweier Atomkraftwerke. Während die russische Atomindustrie auf den Export ihrer Nukleartechnologie setzt, protestieren die USA immer wieder gegen die Kooperation, da sie dadurch einen Schub in den iranischen Nuklearambitionen befürchten.

Ein weiterer Anlass zur Sorge waren 1997 israelische Berichte über die eigenständige Entwicklung einer ballistischen Rakete (Shihab-3) mit einer Reichweite von 1.300 km, u.a. mit russischer und nordkoreanischer Hilfe. Weiterhin besitzt der Iran zwei Versionen von Scud-Raketen mit 300 bzw. 500 km Reichweite. Es wird auch angenommen, dass der Iran seit 1986 in der Lage ist, Giftgas zu produzieren und mindestens zwei Produktionsstätten errichtet hat. Mit der Produktion von Nervengas soll ca. 1994 begonnen worden sein. Im B-Waffenbereich werden dem Iran Forschungsaktivitäten und die Fähigkeit nachgesagt, im Bedarfsfall Anthrax und Botulin herstellen zu können. Die Bedrohungsanalyse der US-Geheimdienste NIE 2001 verweist darauf, dass der Iran mit Hilfe Nordkoreas auch Langstreckenraketen entwickelt. Die Ähnlichkeiten der Shihab-3- und der Nodong-Rakete scheinen dies zu bestätigen. Auch die teilweise zivilen Startplattformen Shihab-4, -5, -6 weisen einige bemerkenswerte Übereinstimmungen mit entsprechenden nordkoreanischen Raketenprojekten auf.

Ägypten

Ägypten besitzt neben Israel das am weitesten entwickelte industrielle Potential in der Region und produziert einige konventionelle Waffen selbst. Sowohl in den 50er (mit deutscher Hilfe) als auch in den 80er Jahren (mit Unterstützung durch Argentinien, Irak) wurde versucht, eigenständig ballistische Raketen (bis 1.000 km Reichweite) herzustellen. Die Streitkräfte verfügen über importierte Raketen (Frog-7, Scud-B) und über Antischiffsflugkörper aus China (HY-2 Silkworm). Produktionskapazitäten und begrenzte Bestände von Senf- und Nervengas werden vermutet. Im B-Waffenbereich und bei den Nuklearwaffen werden kleinere Forschungsaktivitäten angenommen.

Syrien

Die syrischen Raketenpotentiale und die militärische Ausrüstung waren lange Zeit abhängig von den Lieferungen aus der Sowjetunion. Syrien investierte viel Geld in seine Raketenprogramme und vernachlässigte seine Luftwaffe. Das sowjetische Regime hat Syrien mit Frog-7, Scud-B und SS-21 Raketen beliefert. Berichte sprechen davon, dass Syrien von Nordkorea auch eine begrenzte Zahl von Scud-Raketen mit größerer Reichweite erhalten hat. Syrien kann möglicherweise Nervengas selbst herstellen, was eine schwere Bedrohung für Israel darstellen würde. Syrien allerdings bestreitet die Entwicklung von C-Waffen. Es gibt auch Quellen, die annehmen, dass an B- Waffen im eingeschränkten Maße geforscht wird.

Saudi-Arabien

Saudi-Arabien ist besonders durch den Ankauf von chinesischen Mittelstreckenraketen hervorgetreten. 1988 erwarb die saudische Regierung eine unbekannte Anzahl von modifizierten CSS-2 von China. Die CSS-2 ist ein chinesischer Nuklearwaffenträger mit einer maximalen Reichweite von 3.500 km. Die CSS-2 könnte in der Lage sein, Städte mit einem konventionellen Sprengkopf anzugreifen. Mit der Rakete ist es der Ölmonarchie möglich, direkte Nachbarn sowie Teile von Iran und Türkei zu bedrohen. Der Staat ist Mitglied des nuklearen Nichtverbreitungsvertrages (NVV) und hat mehrmals bekannt gegeben, keine nuklearen oder chemischen Sprengköpfe auf seinen Raketen zu installieren. König Fahd erklärte, dass Saudi-Arabien die CSS-2 lediglich zur Selbstverteidigung, nicht jedoch für einen Erstschlag verwenden wird. Israel hat sich stets darüber beunruhigt gezeigt, dass die CSS-2 mit chemischen Sprengköpfen ausgerüstet sein könnte.

Schlussbetrachtung

Im Kontrast zu den im Nahen und Mittleren Osten vorhandenen Militärpotenzialen, sind in der Region Ansätze zur Rüstungskontrolle bisher nicht zu erkennen. Sowohl der am 11. April 1996 in Kairo unterzeichnete Vertrag von Pelindaba, der eine Nuklearwaffenfreie Zone (NWFZ) in Afrika errichtet, als auch weitere multilaterale Abkommen wie der NVV oder das Chemiewaffen-Übereinkommen (CWÜ) geben Möglichkeiten, erste Rüstungskontrollmaßnahmen zu etablieren. Eine Lösung in Bezug auf die angehäuften Raketenarsenale auf der Basis von ersten Vertrauensbildenden Maßnahmen ist ebenfalls überfällig.

Die Resolution 687 von 1991, die die Abrüstung des Irak beinhaltet, enthält auch die Aussage, dass die Schritte zur Überwachung und Zerstörung der MVW im Irak im Hinblick auf die „Errichtung einer Zone, die frei von Massenvernichtungswaffen und allen dafür vorgesehene Trägerraketen“ getroffen worden ist und dass das Ziel eines weltweiten Verbots von C-Waffen angestrebt wird. Hervorhebenswerte Anstrengungen, dies zu erreichen, hat es in den vergangenen Jahren nicht gegeben. Im Gegenteil, insbesondere die USA als de facto regionale Ordnungsmacht hat sich aus dem aktiven Rüstungskontrollprozess zurückgezogen. Sie exportiert lieber Waffen in die Region, als Stabilität, stimuliert die Nachfrage durch neue Kriege und setzt auf klassische Allianzpolitik. Auf globaler Ebene wurde ein Rüstungskontrollvertrag gekündigt, weitere treten erst gar nicht in Kraft. Für die Region existieren von keiner Seite aus ernsthafte Initiativen zur Regulierung des vorhanden Militärpotentials, geschweige denn zur Abrüstung. Lösungen werden wohl auf absehbare Zeit mit der Waffe nicht mit der Diplomatie gesucht werden.

Anmerkungen

1) Diese umfasst die Regionen Maghreb, Mashrek, Persisch-Arabischer Golf.

2) Details siehe: Margret Johannsen (2002): Rüstung und Rüstungskontrolle im Nahen Osten, in: Uta Klein/Dietrich Thränhardt (Hrsg.): Gewaltspirale ohne Ende? Konfliktstrukturen und Friedenschancen im Nahen Osten, Schwallbach/Ts., 190-229. Weltweit beträgt die Relation 1: 269 und für die europäische NATO-Region 1: 195, ebenda, S. 191.

3) SIPRI: http://projects.sipri.se/milex/mex_wnr_table.html (11.11.02); SIPRI Yearbook 2002 (2002): Armaments, Disarmament, and International Security, Oxford: 234, 266 . Berechnungsgrundlage: konstante US$ (1998); BICC (2002) Conversion Survey 2002 Global Disarmament, Demilitarization and Demobilization, Baden-Baden: 41.

4) Ebenda. Detaillierte Angaben dazu: Cordesman 2001: The Arab-Israeli Military Balance in 2001 A Graphic Analysis. Download: www.csis.org (11.11.02).

5) SIPRI 2002: 286 (eigene Berechnung). Weltweit sind dies 2,6 Prozent (SIPRI 2002: 231) und im europäischen NATO-Bereich 2,1 Prozent, IISS (2002): The Military Balance 2002-2003: 231. BICC 2002: 41.

6) Siehe Margret Johannsen 2002: 200.

7) SIPRI 2002: 356, 407. Vergleichsgrundlage: „konstante“ US$ (1990); Margret Johannsen 2002: 200.

8) SIPRI 2002: 376, 407; IISS 2002: 341.

9) Ein systematischer und tiefgehenderer Vergleich bietet Cordesman 2001.

10) IISS 2002: 103 ff. Die Flugstunden der Piloten liegen nicht über 120 h/ Jahr; BICC 2002: 41.

11) BICC 2002: 42; IISS 2002: 118.

12) SIPRI 2002: 413; IISS 2002: 96 ff., 283; BICC 2002: 41.

13) Cordesman 2001; IISS 2002: 278; SIPRI 2002: 422 f.

14) Bahrain, Katar, Kuwait, Oman, Vereinigte Arabische Emirate.

15) Syrien, Libanon, Jordanien, Ägypten.

16) IISS: 2002: 283 ff.

17) Command, Control, Communication.

18) IISS 2002: 98 f.

19) Ebenda: 23, 97; Siehe aktuell: GlobalSecurity.org: US-Forces Order of Battle – 11. November: www.globalsecurity.org/military/ops/iraq_orbat_021111.htm (13.11.02); Nicht hinzu gezählt wurden Truppen in unmittelbarer Nähe wie die 6. US-Flotte und europäische Verbände.

20) Berechnungen: Johannsen 2002: 194, auf der Grundlage von Cordesmann 2000: The Arab-Israeli Military Balance in 2000. Download: www.csis.org (15.11.02); BICC 2002: 40 ff.

21) Eine ausführliche Bewertung bei: Cordesman 2001.SIPRI 2002: 432; IISS 2002: 284.

22) BICC 2002: 46 – Die eigentliche Zahl könnte deutlich höher liegen, da das Nuklearwaffenprogramm hier wahrscheinlich nicht enthalten ist.

23) Johannsen 2002: 192 ff.

24) Ca. 50 – 100 Beschäftigte hatten sieben B-Waffentypen hergestellt und getestet. Anthrax, Botulin und Aflatoxin wurden in großen Mengen produziert und in Bomben, Granaten und Sprühbehältern abgefüllt. Feldtests wurden durchgeführt. 1995 gab der Irak erstmalig zu, B-Waffen in größeren Mengen hergestellt, diese aber 1990 vernichtet zu haben.

Christian Mölling ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hamburger Institut für Friedens- und Sicherheitspolitik (IFSH)
Dr. Götz Neuneck ist Leiter des Arbeitsbereiches »Abrüstung und Rüstungskontrolle« am IFSH

Hochrüstung gegen den Terror

Hochrüstung gegen den Terror

Die USA nach dem 11. September

von Lars Klingbeil

Die Attentate des 11. September haben viele sicherheitspolitische Fragen in den USA neu gestellt. Doch zwei Monate später sieht es so aus, als ob die USA auf die vielzitierten »neuen Bedrohungen« nur die alten Antworten hätten: Ausbau des Überwachungsstaates nach innen und Militäreinsatz nach außen. Lars Klingbeil, als Stipendiat der Friedrich-Ebert-Stiftung und während der Attentate in New York, verfolgte die sicherheitspolitische Diskussion in der US-Administration.
Bereits einen Tag nach den Attentaten verabschiedete der Kongress in einem Schnellverfahren ein Gesetz, mit dem Präsident Bush ermächtigt wurde „alle notwendigen und geeigneten Mittel gegen jene Nationen, Organisationen oder Personen einzusetzen, die die Terroranschläge vom 11. September 2001 planten, verübten oder unterstützten, oder die solchen Personen Unterschlupf gewährten, um für die Zukunft jegliche Angriffe des internationalen Terrorismus auf die USA durch solche Nationen, Organisationen oder Personen zu verhindern.“1 Der Senat verabschiedete diesen »Blanko-Scheck« für Bush mit 98:0, der Kongress mit 420:1 Stimmen. Lediglich die Demokratin Barbara Lee (Kalifornien) votierte gegen das Gesetz, da ihr die Befugnisse des Präsidenten zu hoch und die Einbindung des Parlaments zu gering erschienen.

Innerhalb der US-Regierung gab es verschiedene Einschätzungen über Ziele und Strategien in der amerikanischen Vorgehensweise nach den Attentaten. Der Verzicht auf eine Militäroperation stand dabei allerdings nie zur Diskussion. Die Differenzen zwischen dem als moderat geltenden US-Außenminister Colin Powell auf der einen Seite und den »Falken« um den stellvertretenden Verteidigungsminister Paul Wolfowitz, Vize-Präsident Dick Cheney und Verteidigungsminister Donald Rumsfeld auf der anderen Seite bezogen sich lediglich darauf, wie schnell militärisch reagiert werden müsse, ob und wie andere Staaten einbezogen werden sollten und gegen welche Staaten Militär eingesetzt werden solle.

Es ist vor allem auf das Wirken des Außenministers zurückzuführen, dass die USA umgehend Konsultationen mit anderen Staaten aufnahmen und versuchten, eine »breite Koalition gegen den Terrorismus« zu bilden. Powell befürchtete, dass ein unkoordiniertes Vorgehen und die Nichtrücksichtnahme auf muslimische bzw. islamische Staaten wie Pakistan verheerende Folgen für die Stabilität der Region haben könnten.

Differenzen gab es in der Bush-Administration auch über die Kriegsziele und die Partner. Während das Außenministerium die Nordallianz als Bündnispartner ablehnte, heiligt für Verteidigungsminister Rumsfeld der Zweck die Mittel.

Öffentlich ausgetragen wurden auch die Auseinandersetzungen um das Kriegsziel. Für die Nationale Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice ging es von Anfang an darum die Taliban zu stürzen, was das amerikanische Außenministerium dementierte. Auch aus dem Weißen Haus hieß es am 25. September 2001, die USA würden keinen Versuch unternehmen die Taliban zu stürzen, man wolle lediglich die Regierung in Kabul für die Unterstützung der Terroristen bestrafen.

Die momentane Kriegsführung zeigt, dass sich die Hardliner mit ihren Forderungen letztendlich durchgesetzt haben. Lediglich in der Frage, ob nur gegen Afghanistan Krieg geführt werden solle oder auch gegen den Irak, gegen die im Libanon sitzende Hisbollah und gegen radikale palästinensische Gruppen, hat sich bisher noch das Außenministerium durchgesetzt.

Innere Sicherheit

Die Bush-Administration hat als Reaktion auf die Attentate des 11. September umgehend das »Office of Homeland Security« eingerichtet. Geführt wird die Behörde vom ehemaligen republikanischen Gouverneur und langjährigen Freund Bushs Tomas J. Ridge aus Pennsylvania. Der »Homeland-Sicherheitsrat« wird als das inländische Pendant zum Nationalen Sicherheitsrat unter der Leitung von Condoleezza Rice gesehen, der die Regierung in außenpolitischen Fragen berät. Konzeptionell soll er Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung koordinieren. Ridge, dem ca. 100 Stabsmitarbeiter unterstellt sind, soll dabei die Arbeit von ca. 50 inländischen Behörden koordinieren. Dem »Homeland-Sicherheitsrat« gehören auch der Direktor der Bundeskriminalpolizei FBI und der Direktor der Federal Emergency Management Agency an. Unklar blieb aber bisher, welche Kompetenzen Ridge beim Zugang zu Geheiminformationen bekommt und wie groß sein Budget ist. Bezahlt wird die neue Behörde aus Mitteln des Weißen Hauses und es bedarf daher keiner Koordinierung mit dem Kongress.

Justizminister Ashcroft legte drei Wochen nach den Attentaten ein umfassendes Anti-Terror-Paket mit dem Titel »Uniting and Strengthening America by Providing Appropriate Tools Required to Intercept and Obstruct Terrorism Act 2001« (kurz: USA PATRIOT ACT 2001) vor. Kernforderungen Ashcrofts waren die Ausweitung der Überwachungsmöglichkeiten von Personen, die mit Terrorismus in Verbindung gebracht werden, die Möglichkeit, Verdächtige unbegrenzt in Gewahrsam zu nehmen und eine verstärkte Zusammenarbeit bzw. verstärkter Informationsaustausch zwischen den Geheimdiensten und staatlichen Behörden.

Im Bereich der Kommunikationsüberwachung wird es durch ein neues Gesetz möglich, subjektbezogen abzuhören. Musste bisher für jede einzelne Telefonleitung eine Befugnis beantragt werden, wird nun die Genehmigung ausgehändigt, sämtliche Kommunikationswege eines Verdächtigen zu kontrollieren.

Die Forderung Ashcrofts, Ausländer für einen undefinierten Zeitraum in Gewahrsam nehmen zu können, wenn lediglich der Verdachtsmoment besteht, sie könnten terroristische Aktionen planen, wurde von Bürgerrechtlern und Mitgliedern beider Parteien scharf kritisiert. Die zuständigen Mitglieder des Kongresses setzten sich mit der Forderung durch, Verdächtige höchstens sieben Tage in Gewahrsam zu nehmen, bevor Beweise für ihre Schuld erbracht werden müssen. Zudem kann der Verdächtigte eine Überprüfung des Verfahrens vor dem Bundesgericht in Washington beantragen.

Einen Schwerpunkt der Diskussion bildete die Frage, wie der Informationsaustausch zwischen staatlichen Behörden, dem FBI und dem Auslandsgeheimdienst CIA geregelt sein soll. War es dem CIA bisher untersagt, im Inland zu agieren, können zukünftig geheime Unterlagen bzw. Informationen aus Gerichtsverfahren an ihn weitergeleitet werden.

Ein wichtiger Kritikpunkt an dem mittlerweile beschlossenen Gesetz der Regierung ist die Definition des Begriffes »Terrorismus« als etwas „das bewusst die Staatsführung durch Gewalt oder Einschüchterung beeinflusst oder angreift“.2 Diese Definition ist so weit gefasst, dass zukünftig alles Mögliche – vom einfachen Steinwurf eines Demonstranten bis zum Computer-Hacken – als terroristischer Akt bestraft werden kann.

Im Gegensatz zu den Plänen Ashcrofts, der die Neuregelung dauerhaft durchsetzen wollte, ist das Gesetz durch den Kongress für »nur« vier Jahren begrenzt worden, es wird dann evaluiert, um gegebenenfalls seine Verlängerung zu beschließen.

Das Repräsentantenhaus hat das »USA Patriot Act 2001« Ende Oktober mit 357 zu 66 Stimmen verabschiedet. Der Senat hatte einen Tag zuvor mit 98 zu 1 zugestimmt. Die einzige Gegenstimme kam von demokratischen Senator Russell Feingold (Wisconsin), der in der neuen Gesetzgebung einen ungerechtfertigen Eingriff in die Freiheitsrechte der amerikanischen Bürger sieht. Insgesamt lässt sich festhalten, dass das Gesetz zwar nicht soviel Macht an Justizminister Ashcroft geben wird, wie es der Entwurf forderte, es aber zu einer massiven Stärkung der Regierung und somit zur Schwächung der parlamentarischen Kontrolle kommt. Die Freiheitsrechte, die mit dem Gesetz abgebaut werden, sind erheblich. Positiv an dem Gesetz ist lediglich die stärkere Kontrolle des Bankwesens um gegen Geldwäsche und Korruption vorzugehen.

Weitere innenpolitische Maßnahmen, die diskutiert werden, sind die Verstaatlichung des Sicherheitssektors an Flughäfen (das Repräsentantenhaus lehnt den Beschluss des Senats bisher ab) und die stärkere Restriktion bei der Vergabe von Studenten-Visa.

Einsatz von Militär im Innern

Das Pentagon hat Anfang Oktober den Brigadegeneral Thomas E. White zum »Homeland-Sicherheitskoordinator« benannt. Er soll die Zusammenarbeit zwischen dem Verteidigungsministerium und dem neu geschaffenen »Homeland-Sicherheitsrat« koordinieren, da für das Pentagon zukünftig die inländische Verteidigung einer ihrer vier Schwerpunkte sein wird. „Seit den Anfangstagen unserer Nation war die Armee, sowohl der aktive Dienst wie auch die Reserve, für die Sicherheit im Inland zuständig. Die Armee verfügt dazu über enorme Erfahrung, Fähigkeiten und Einsatzmöglichkeiten.“3, so White. Anfang Oktober legte Verteidigungsminister Rumsfeld den periodischen Vierjahresbericht über die US-Verteidigungspolitik vor. Angedeutet wird in dem Bericht der anstehende Umbau der Verteidigungsstrukturen, um den Gefahren des Terrorismus zu begegnen. Laut Angaben des Verteidigungsministeriums war der Bericht schon vor dem 11. September „substantially completed“ und wurde nur an einigen Stellen nachgebessert.

Die Administration wird eine „wesentliche Erhöhung der Verteidigungsausgaben im nächsten Jahr“4 festlegen und auch in den folgenden Jahren einen erhöhten Verteidigungshaushalt aufrechterhalten. Lag der Verteidigungshaushalt für das Jahr 2001 bei 310 Milliarden Dollar, so hat ihn der Kongress jetzt einstimmig auf 345 Milliarden erhöht. Mit 11% ist das eine der höchsten Steigerungsraten seit Mitte der 80er Jahre. Hinzu kommen Anteile des 40-Milliarden-»Notpaketes«, das der Kongress unmittelbar nach den Attentaten dem Präsidenten zur freien Verfügung bewilligte und aus dem Teilbeträge sicher in den Verteidigungshaushalt einfließen werden.

Das Gesetz zum Verteidigungshaushalt enthält zudem die Forderung nach einer substanziellen Erhöhung der Gelder für die Forschung, Entwicklung und Evaluation der Raketenabwehr. Der Senat hat hierfür einen Betrag von 8,3 Milliarden Dollar vorgeschlagen, wobei es dem Präsidenten offen steht, $1,3 Milliarden stattdessen in Antiterrorismusmaßnahmen zu investieren. Zur Zukunft von NMD gibt es verschiedene Einschätzungen. Einerseits wird kritisiert, dass sich die USA auf Fragen der Raketenabwehr und auf einen »Weltraumkrieg« vorbereiteten, während auf der anderen Seite die Kontrollen an Flughäfen große Mängel aufzeigten. Während die eine Seite also dafür plädiert, Abstand von den NMD-Plänen zu nehmen und sich auf eine Verstärkung der Inneren Sicherheit zu konzentrieren, fordert die andere Seite, gerade jetzt NMD zu forcieren, da die Gefahr eines Raketenangriffs ernsthaft einkalkuliert werden müsse. Da die USA in der gegenwärtigen Lage auf die Interessen anderer Länder in der »Antiterrorfront« Rücksicht nehmen müssen, wurden zuerst einmal sämtliche Aktionen, die den ABM-Vertrag von 1972 verletzen, auf Eis gelegt. Geplante Tests zu NMD wurden von der US-Regierung zunächst verschoben. NMD wird verschiedentlich sogar als Verhandlungsmasse gesehen, um die neugewonnenen sicherheitspolitischen Beziehungen, beispielweise mit Russland, zu festigen.

So sprach sich Senator Josef Biden (Demokratische Partei), der vor wenigen Monaten – nach den Änderungen der Mehrheitsverhältnisse im Senat – Jesse Helms als Vorsitzenden des Ausschusses für Auswärtige Beziehungen ablöste, für eine stärkere internationale Kooperation im Kampf gegen den Terrorismus aus und zog den ABM-Vertrag betreffend die Schlussfolgerung, dass die USA nichts überstürzen und keine Alleingänge unternehmen dürften: „Heute haben wir die Führungsrolle im Kampf gegen den Terrorismus, aber wir werden sie in diesem Konflikt nur behalten, wenn wir andere von unserer Umsicht überzeugen können und von unserem Bemühen ihre Belange zu berücksichtigen. Aus diesem Grunde unterminieren Aktivitäten zur Raketenabwehr, wie etwa unser einseitiger Rückzug vom ABM-Vertrag, unsere Kriegsanstrengungen.“5

Parallel zu den Veränderungen, die in nächster Zeit die militärische Planung betreffen, stehen in den USA umfassende Wechsel in der Strategie und Struktur des Auslandsgeheimdienstes an. Vorgeworfen wird der Central Intelligence Agency (CIA) unter anderem, sie habe zu lange Zeit falsche Prioritäten gesetzt und den menschlichen Faktor in der Anti-Terrorismuskonzeption vernachlässigt. Ebenso habe man zu lange an die absolute Wirksamkeit moderner Technik geglaubt. Gefordert wird ein offensiverer Spionagedienst. Als eine der ersten Maßnahmen soll die Produktion der »Global Hawk«, eines unbemannten Spionageflugzeugs und Nachfolgemodells des »Predator«, beschleunigt werden. Das Pentagon hat hierfür schon erhebliche Mittelerhöhungen angekündigt. Der zuständige Ausschuss des Repräsentantenhauses hat aufgerufen, eine »Kulturrevolution« in den Behörden des FBI und des CIA in Gang zu bringen und die nationalen Sicherheitsstrukturen umzubauen. Zugleich wird es eine bisher nicht festgelegte, jedoch erhebliche Aufstockung des Budgets der Geheimdienste geben. Rechtliche Beschränkungen der CIA, die im Jahre 1995 beschlossen wurden, werden nun aufgehoben, da sie einen »negativen Einfluss« auf die Fahndung nach Terroristen hätten. Auch der politisch motivierte Mord, der der CIA in den letzten Jahren untersagt war, ist ab sofort wieder erlaubt.

Multilateralismus à la carte

Von Mitarbeitern der US-Regierung heißt es, dass heute „beinahe jeder Aspekt der US-amerikanischen Außenpolitik in einem neuen Licht gesehen wird.“ Eine der Fragen, die sich dabei jetzt deutlicher stellen, betrifft das multilaterale Agieren der USA. Durch die vielen Konsultationen der USA mit ihren Verbündeten, mit Staaten wie Russland und China und sogar mit Staaten, die früher unter die Rubrik »Schurkenstaaten« fielen, wie Iran, erwecken die Amerikaner den Eindruck, dass es ihnen um den Aufbau einer breiten Front gegen terroristische Aktivitäten geht. Offen bleibt dabei aber die Frage, wie die USA diese Koalition begreifen: Handelt es sich um eine Allianz, in der einzig die USA das Sagen haben (praktisch eine Internationalisierung US-amerikanischer Politik), in der die USA nur höchst bedingt Kompromisse eingehen und dann auch nur solange, wie sie ihrem »nationalen Interesse« nicht entgegenstehen, oder sind die USA bereit, ihre außenpolitischen Konzeptionen zu überdenken und zu einem neuen Handeln überzugehen, bei dem sie – auch als Fazit aus den Hintergründen der Anschläge – auf eine verstärkte Kooperation setzen. Viele Staaten haben den USA Unterstützung im Kampf gegen den Terror zusagt, bestehen aber verständlicherweise auf einem koordinierten Vorgehen und eben nicht auf einer Koalition unter US-Kommando.

In diesem Zusammenhang muss auch das Verhalten der USA gegenüber internationalen Strukturen gesehen werden. Die wichtigste Frage betrifft hier sicher das Verhältnis der US-Außenpolitik zur UNO. Bisher fällt die Antwort zwiespältig aus: Der UN-Sicherheitsrat wurde nur rudimentär in die Planungen der Gegenschläge der USA eingebunden und zwei Tage nach den Anschlägen haben die USA als ihren neuen UN-Botschafter John Negroponte benannt. Negroponte war Anfang der 80er Jahre US-Botschafter in Honduras und ihm wird vorgeworfen zahlreiche Menschenrechtsverletzungen und Morde an politischen Gegnern geduldet, wenn nicht sogar aktiv unterstützt zu haben. Auch das nicht gerade ein ermutigendes Zeichen. Auf der anderen Seite haben die USA unmittelbar nach den Attentaten beschlossen, 582 Millionen Dollar an die UN zu zahlen um einen Teil ihrer Schulden abzugleichen.

Exkurs: Generalversammlung der UNO

Ursprünglich hatte das Thema Terrorismus als Tagesordnungspunkt Nr. 178 auf der Generalversammlung der Vereinten Nationen nur einen geringen Stellenwert. Durch den 11. September veränderte sich das wesentlich. In der Debatte sprachen insgesamt 167 Vertreter von UN-Staaten und es handelt sich damit um die größte Debatte, die innerhalb der Generalversammlung jemals zu einem einzelnen Thema geführt wurde.

In seiner Eröffnungsrede zur fünftägigen Debatte forderte Kofi Annan die Staaten dazu auf, die Gesetze zu verschärfen, was die Exporte von Technologien und Waren anbelangt, die zur Massenvernichtung benutzt werden können. Auch sprach er sich dafür aus, den Verkauf von Kleinwaffen an nicht-staatliche Gruppen zu verbieten. Annan weiter: „Aus dem Bösen kann Gutes entstehen. (…) Paradoxerweise haben die heimtückischen Angriffe auf unsere menschliche Gemeinschaft den Effekt gehabt, unsere Gemeinschaft zu stärken.“6 Er forderte die Mitgliedsstaaten auf, gemeinsam zu handeln, die 12 Konventionen der UNO gegen den Internationalen Terrorismus zu ratifizieren und sich nicht über die Definition des Terrorismus zu streiten, schließlich gehe es darum Menschenleben zu schützen. Trotzdem war genau das eines der Reizthemen. Viele befürchten eine schwammige Definition könne staatliche Gewalt gegen politische Gegner legitimieren. Innerhalb der Generalversammlung konnte dann auch keine Einigung gefunden werden, so dass nun über eine High-Level-Konferenz nachgedacht wird.

Lediglich 83 ihrer 189 Mitgliedsstaaten hatten vor den Anschlägen die 12 UN Konventionen gegen den Terrorismus ratifiziert. Auch die USA haben die Konventionen nur unterzeichnet, jedoch nicht ratifiziert. Die Nichtratifizierung wurde bisher damit begründet, dass die Konventionen dann Einfluss auf das bestehende US-amerikanische Rechtssystem hätten und somit dem »nationalen Interesse« entgegenstehen könnten. Bush drängt den Kongress nun darauf, die Konventionen möglichst bald zu ratifizieren. Die letzten beiden Konventionen stammen aus dem Jahre 1999 mit dem Titel »International Convention for the Supression of Terrorist Financing« und aus dem Jahr 1997 mit dem Titel »Convention on the Suppression of the Terrorist Bombing«.

Zwei neue Konventionen werden momentan durch die Generalversammlung verhandelt: die von Russland eingebrachte »International Convention for the Suppression of Acts of Nuclear Terrorism« und eine umfassende »Convention on International Terrorism«, die von Indien eingebracht wurde und in der in 27 Artikeln die Schlüsselpunkte der bisherigen Konventionen zusammengefasst sind. Die UNO hat mittlerweile ein beachtliches Regelwerk gegen den internationalen Terrorismus aufgestellt, deren Ratifizierung durch viele Mitgliedstaaten, u.a. auch die USA, jedoch bisher ausblieb.

Unterdessen haben die USA den Sicherheitsrat dazu gedrängt, eine Resolution zu verabschieden, die es erlaubt Sanktionen gegen Länder zu erheben, die US-geführte Anti-Terror-Maßnahmen nicht unterstützen. Die Resolution 1373 fordert Staaten auf, Informationen über Terroristen bekannt zu geben, ihre Geldmittel einzufrieren und Personen strafrechtlich zu verfolgen, die Terroristen unterstützen. Für die Implementierung der Resolution hat der Sicherheitsrat einen Ausschuss eingesetzt, der Druck auf die Mitgliedstaaten ausübt, innerhalb von 90 Tagen die Resolution zu ratifizieren. Gleichzeitig soll er Informationen sammeln. Zum Vorsitzenden des Ausschusses wurde der Botschafter Jeremy Greenstock (GB) gewählt. Der Einfluss Großbritanniens, dem engsten Verbündeten der USA, vergrößert sich damit abermals. Gebrochen wurde hier mit der Tradition, dass die Ausschussleitung nicht an permanente Mitglieder des Sicherheitsrates vergebeben wird. Jeder der 15 Staaten im Sicherheitsrat wird Vertreter in den Ausschuss senden. Zudem ergänzen ihn unabhängige Experten aus den Bereichen Justiz, Immigration und Wirtschaft. Die letztendliche Entscheidung Sanktionen gegen Staaten zu verhängen, die sich nicht an die Resolution halten, liegt allerdings beim UN-Sicherheitsrat selbst.

Ausblick

Der Versuch der USA, eine internationale Koalition gegen den Terrorismus aufzubauen, passierte in einer Zeit, in der Washington entschlossen unilaterale Politik praktizierte. „Wie können die Vereinigten Staaten Zusammenarbeit gegen den internationalen Terrorismus erwarten, wenn sie in anderen Fragen wie Klimawandel, Kleinwaffen, B-Waffen, Landminen und der Schaffung eines Internationalen Strafgerichtshofs nicht kooperieren“7, so der Militärexperte Michael Khatana (USA). Und weiter: „Wenn die USA den Terrorismus ausrotten wollen, müssen sie mit anderen Nationen in globalen Fragen zusammen arbeiten.“

Ende September hat sich die US-Regierung für die Annahme des »American Servicemember Protection Act« ausgesprochen. Das Gesetz verbietet dem Internationalen Strafgerichtshof in den USA Ermittlungen durchzuführen. Zudem dürfen sich danach US-Bürger nicht an UN-Friedensmissionen beteiligen, wenn nicht sichergestellt ist, dass sie von Strafverfolgung verschont bleiben. Entgegen einiger positiv zu bewertender Anzeichen deutet dies auf einen weiterhin unilateralen Kurs der USA hin. Multilaterales Handeln kann aber nicht erfolgreich sein, wenn es sich nur auf Teilbereiche bezieht, es muss die Bereitschaft zur wirklichen Kooperation beinhalten. Wer den Terrorismus wirklich eindämmen will, muss zu einer Stärkung der Internationalen Gemeinschaft und vor allem der Vereinten Nationen beitragen. Der Aufbau internationaler globaler Rechtsstrukturen ist dafür unumgänglich. Das müssen auch die USA begreifen.

Anmerkungen

1) Zitiert nach Rothschild, Matthew: A Blank Check for War, The Progressive, 17 September, 2001 (Internetausgabe).

2) LA Times: Lawmakers tone down terror bill, 2. Oktober 2001.

3) The New York Times: Homeland Security in an Pentagon Post, 3. Oktober 2001 (Internetausgabe).

4) Financial Times USA: Bush seeks big defence budget boost, 25. September 2001 (Internetausgabe).

5) Biden, Josef: Biden objects loosening of congressional oversight on missile defense amid current international crises, Presse Release, 26. September 2001.

6) UN Wire: An independent news briefing about the UN, 02. Oktober 2001.

7) IPS Terra: VIVA – the inter press service daily journal, Vol. 9 No. 169, 14. September 2001.

Lars Klingbeil (IFIAS) ist Student der Politikwissenschaften und Leiter der Bundeskommission Internationales des Juso-Bundesverbandes

Schritt für Schritt und immer schneller

Schritt für Schritt und immer schneller

Die Militarisierung der europäischen Integration

von Volker Böge

Anfang März 2000, also knapp ein Jahr nach Beginn des NATO-Krieges gegen Jugoslawien, haben neue – dezidiert militärpolitische – Gremien der Europäischen Union ihre Arbeit aufgenommen, darunter ein »Politisches und sicherheitspolitisches Interims-Komitee« und ein »Interimsgremium militärischer Delegierter«. Das Wörtchen »interim« in den Benennungen dieser Institutionen verweist auf ihren zwischenzeitlichen, provisorischen, ihren Übergangscharakter. Frage: Übergang wohin? Antwort: Zu einer Militärgroßmacht EU. Bei der Etablierung dieser Gremien handelt es sich lediglich um den jüngsten Schritt einer Entwicklung, die im offiziellen Jargon mit der Formel »Stärkung der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik« belegt wird.

Entsprechende Bestrebungen haben seit dem Krieg der NATO gegen Jugoslawien eine neue Dynamik gewonnen. Haben doch »die Europäer« – also die Regierungen der wichtigsten in der EU zusammengeschlossenen Staaten – ihre ganz eigenen »Lehren« aus Verlauf und Ausgang des Krieges gezogen. Dieser Krieg war auch eine Veranstaltung, mit der die USA den EuropäerInnen drastisch ihre militärische Überlegenheit vor Augen geführt und deutlich gemacht haben, dass in der westeuropäisch-nordamerikanischen Konkurrenz jedenfalls auf dem Felde von Rüstung, Militärtechnologie und militärischen Apparaten die EU-Staaten weit abgeschlagen sind.

Der Krieg als Vater
der EU-Militarisierung

Die Haupt»last« des Krieges haben eindeutig die USA getragen; letztlich wären sie durchaus in der Lage gewesen, die Operation militärisch im Alleingang durchzuziehen. Demgegenüber hätten die EU-EuropäerInnen den Krieg allein, ohne die USA, niemals führen können. Diese Verteilung der Gewichte hatte selbstverständlich auch Auswirkungen auf die Entscheidungsbildung auf politischem, strategischem und taktischem Gebiet – bis in die Zielauswahl hinein. Und so beklagten sich die EuropäerInnen denn auch über ihre relative Einflusslosigkeit hinsichtlich des konkreten Ablaufs der militärischen Aktionen.

Die Schlussfolgerung, die aus dieser Konstellation gezogen wurde, war: Um sich aus der Abhängigkeit von den USA – wenigstens ein Stück weit – zu lösen, müssten die EuropäerInnen ihre militärischen Anstrengungen verstärken, müsse namentlich die EU eine eigene sicherheits- und militärpolitische Kompetenz entwickeln.1 Nur so könne man sich in Zukunft gegenüber den USA mehr Gehör verschaffen. Der eigenen Öffentlichkeit wurde und wird diese Argumentation – insbesondere von der rot-grünen Bundesregierung – »friedenspolitisch« verbrämt und mit populärem anti-amerikanischen Unterton verkauft: In den USA herrsche ja bekanntlich eine militärische »Hau-drauf«-Mentalität vor, die sich aus der Arroganz der – militärischen – Macht speise; demgegenüber seien »wir Europäer« (und vor allem »wir Deutschen«) sehr viel zurückhaltender, stärker auf zivile Konfliktregelung orientiert und militärischem Draufschlagen eher abhold. Um dieser zivilisierteren europäischen Attitüde künftig mehr Gewicht zu verleihen, müssten »wir« allerdings auch gewisse Anstrengungen unternehmen, um uns militärisch von den USA unabhängig(er) zu machen.2

Neu ist dabei nicht so sehr die Absicht, sondern der frische Schwung, mit dem seit dem Krieg gegen Jugoslawien an die praktische Umsetzung herangegangen wird. Schon im Vertrag von Maastricht und noch prononcierter im Amsterdamer Vertrag ist die Rede davon, dass die EU eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik entwickeln müsse, die schließlich auch die Verteidigungspolitik umfassen und letztlich in die gemeinsame Verteidigung münden solle. Damit war zwar ein Ziel proklamiert; über den Weg dorthin und die Dauer, bis das Ziel erreicht sein würde, war allerdings noch nichts gesagt. Vielmehr herrschten hierüber Unklarheit und offensichtlich auch erhebliche Differenzen. Das hat sich seit dem Krieg geändert. Man ist in der EU stärker zusammengerückt und drückt aufs Tempo. Deutlich wird das etwa an einer britisch-französischen Annäherung in Fragen europäischer Militärpolitik, die in der jüngsten Vergangenheit sogar zu einigen gemeinsamen britisch-französischen Initiativen geführt hat.3 Das ist insofern bemerkenswert, als bisher Briten und Franzosen innerhalb der EU die am weitesten auseinander liegenden Vorstellungen über die europäische Militärpolitik hatten. Die Briten waren und sind traditionell stark transatlantisch und NATO-orientiert, pflegen ihre »special relationship« mit den USA und wollten eine Europäisierung von Sicherheits- und Militärpolitik nur in Unterordnung unter die NATO – und damit die US-Führung – zulassen. Die Franzosen hingegen strebten und streben in gaullistischer Tradition eine (weitestgehend) von den USA unabhängige eigenständige Militärgroßmacht Europa an.

Ein deutscher Masterplan

Diese Differenzen sind auch heute keineswegs vollends ausgeräumt, doch scheint man sich auf eine Kompromisslinie zu zu bewegen, die es erlaubt, einerseits durchaus schon einige Entscheidungen festzuklopfen und zugleich andererseits künftige Optionen offenzuhalten. Dass dies möglich wird – daran hat die rot-grüne Bundesregierung maßgeblichen Anteil; und sie – allen voran Außenminister Josef Fischer – ist auch noch stolz darauf, dass so der Militarisierung der EU ein neuer Schub gegeben wurde. Denn entgegen allen Beteuerungen insbesondere grüner Programme, man sehe Vorzug und Stärke der EU gerade darin, dass sie »Zivilmacht« sei, wurde von deutscher Seite während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 1999 ein ausgefeilter Plan erarbeitet und vorgelegt, der eine ganze Palette handfester Maßnahmen zur »Stärkung der gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik«4 vorsah. Damit wird das »Zivilmacht«-Image, welches schon immer wenig mit der Realität zu tun hatte – schließlich gehören die Schlüssel-Staaten der EU zu den am höchsten gerüsteten und militärisch mächtigsten der Welt und die EWG/EU war auch bereits zu Zeiten der Ost-West-Blockkonfrontation ein zentraler Bestandteil des westlichen Systems – endgültig ad acta gelegt.

Die rot-grüne Bundesregierung ließ sich bei ihrem Plan zur Militarisierung der EU von dem Gedanken leiten, dass sich die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) der EU „auf glaubwürdige operative Fähigkeiten stützen können (müsse), wenn die Europäische Union in der Lage sein soll, auf der internationalen Bühne uneingeschränkt mitzuspielen.“ Wenn man „uneingeschränkt mitspielen“ wolle, brauche man das entsprechende »Spielzeug«, sprich „autonome Handlungsfähigkeiten, die sich auf glaubwürdige militärische Fähigkeiten und geeignete Beschlussfassungsgremien stützen“. Man benötige mithin so aparte Strukturen und Gremien wie einen EU-Militärstab einschließlich eines Lagezentrums, ein Satellitenzentrum, einen EU-Militärausschuss, ein ständiges Gremium in Brüssel (politischer und sicherheitspolitischer Ausschuss) bestehend aus VertreterInnen mit politischer/militärischer Expertise sowie regelmäßige Treffen der Verteidigungsminister.

Das alles sei erforderlich, damit die EU in die Lage versetzt werde, die so genannten Petersberg-Aufgaben erfüllen zu können. Auf dem Petersberg bei Bonn hatte sich die WEU (Westeuropäische Union) anläßlich ihrer Außen- und Verteidigungsministertagung am 19. Juni 1992 bereits zuständig erklärt für „humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze, friedenserhaltende Aufgaben sowie Kampfeinsätze bei der Krisenbewältigung, einschließlich friedenschaffender Maßnahmen“ – also Militärinterventionen. Diese Petersberg-Aufgaben machte sich die EU mit dem Amsterdamer Vertrag zu eigen.

Nun geht es folglich darum, die militärischen Fähigkeiten der EU so zu entwickeln, dass sie „auch für Krisenbewältigungsoperationen geeignet sind“. Deswegen müssen die Streitkräfte der Zukunft folgende »Haupteigenschaften« haben: „Dislozierungsfähigkeit, Durchhaltefähigkeit, Interoperabilität, Flexibilität und Mobilität“. Das heißt, man orientiert sich auf eine eindeutig offensiv- und interventionsfähige Auslegung der eigenen militärischen Mittel. Es geht nicht um Verteidigung der Territorien der EU-Mitgliedstaaten, sondern um die Fähigkeit zur Militärintervention fern der Heimat.

Hierfür wiederum wurden im Plan der deutschen Ratspräsidentschaft zwei Varianten in Betracht gezogen, nämlich „EU-geführte Operationen unter Rückgriff auf Mittel und Fähigkeiten der NATO“ oder „EU-geführte Operationen ohne Rückgriff auf Mittel und Fähigkeiten der NATO“. Variante Nummer eins entfernt sich nicht allzu weit vom Status quo. In den letzten Jahren haben sich US-AmerikanerInnen und EU-EuropäerInnen in zähem Ringen darauf geeinigt, den europäischen Staaten die Möglichkeit zu eigenständigen militärischen Interventionen ohne Beteiligung der USA zu verschaffen – allerdings nur unter Rückgriff auf Strukturen und Potenziale der NATO und bei Zustimmung der NATO, womit sich die USA Einfluss und Kontrolle sicherten. Das 1998 von der NATO in Berlin verabschiedete Konzept der Combined Joint Task Forces (CJTF) setzt diese Einigung operativ um: NATO-Hauptquartiere können von Fall zu Fall für je spezifische NATO- oder EU/WEU-geführte Operationen herangezogen werden. Die Formel, die hierfür gefunden wurde, war: trennbar, jedoch nicht getrennt. Das heißt, einheitliche (nicht getrennte) militärische Strukturen und Potenziale können von Fall zu Fall getrennt zum Einsatz gebracht werden, je nachdem, ob es sich um eine NATO-Operation unter Beteiligung der USA oder um eine europäische Aktion ohne Beteiligung der USA handelt. Auf diese Weise sollten Duplizierungen militärischer Anstrengungen vermieden werden. Den USA war diese Regelung recht, weil so zum einen keine Parallelstruktur neben der (und letztlich in Konkurrenz zur) NATO aufgebaut wurde, die NATO also die einzige militärisch handlungsfähige Instanz blieb und damit die USA aufgrund ihrer Vormachtstellung in der NATO die Kontrolle behielten, und weil so zum anderen tatsächlich eine gewisse Entlastung der USA erreicht werden konnte: Sie konnten die EuropäerInnen allein aktiv werden lassen, wenn US-amerikanische Interessen ein Mitmachen nicht geboten erscheinen ließen. Den EuropäerInnen war diese Regelung fürs Erste auch recht, weil sie die Möglichkeit bekamen, gegebenenfalls allein aktiv zu werden, auch wenn die USA nicht mittun wollten, und dabei auf NATO-Strukturen zurückzugreifen, also Kosten zu sparen, weil man nicht in den Aufbau von Parallelstrukturen investieren musste. Es blieb das Dilemma, dass man letztlich weiterhin von den USA abhängig war.

Weitaus brisanter war daher die Variante Nummer zwei des deutschen Plans: EU-geführte Operationen ohne Rückgriff auf Mittel und Fähigkeiten der NATO. Sie nämlich verließ den Boden des mühsam ausgehandelten transatlantischen Kompromisses. Ginge es hier letztlich doch darum, eigenständige, von der NATO und damit den USA unabhängige militärische Interventionskapazitäten zu schaffen. Ob das tatsächlich realisierbar ist und von allen EU-Mitgliedern im Konsens angestrebt werden wird, war bei Vorlage des Plans im ersten Halbjahr 1999 noch offen – und ist es auch gegenwärtig noch. Die entsprechende Entwicklung steht ganz am Anfang. Vorerst hat man sich im EU-Kontext auf Maßnahmen verständigt, die sowohl immer noch in den Rahmen der Variante eins einpassbar sind als auch auf die Variante zwei hinführen können. Diese Doppelwertigkeit und Doppeldeutigkeit ist politisch gewollt; zum einen, um Konsens über die entsprechenden Schritte zu erhalten, zum anderen, um – wie bereits angesprochen – Optionen für die Zukunft offen zu halten.

Von der schrittweisen zur beschleunigten Militarisierung der EU

Vor diesem Hintergrund muss man die Beschlüsse interpretieren, die auf der Basis der oben ausführlich zitierten deutschen Vorlage5 auf dem Kölner EU-Gipfel am 3. und 4. Juni 1999 zur GASP getroffen wurden, die dann auf dem Dezember-Gipfel in Helsinki fortgeschrieben und konkretisiert wurden und die schließlich im Frühjahr 2000 zur Etablierung der oben genannten Interimsgremien geführt haben. In der Kölner Gipfelerklärung »Zur Stärkung der gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik«6 heißt es: „Wir sind davon überzeugt, dass der Rat bei der Verfolgung der Ziele unserer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und der schrittweisen Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik die Möglichkeit haben sollte, Beschlüsse über die gesamte Palette der im Vertrag über die Europäische Union definierten Aufgaben der Konfliktverhütung und der Krisenbewältigung, der sogenannten »Petersberg-Aufgaben«, zu fassen. Im Hinblick darauf muss die Union die Fähigkeit zu autonomem Handeln, gestützt auf glaubwürdige militärische Fähigkeiten, sowie die Mittel und die Bereitschaft besitzen, deren Einsatz zu beschließen, um – unbeschadet von Maßnahmen der NATO – auf internationale Krisensituationen zu reagieren.“ Entsprechend verpflichtete man sich auf „den Ausbau von wirksameren europäischen militärischen Fähigkeiten (…) und insbesondere die Stärkung unserer Fähigkeiten in den Bereichen strategische Aufklärung, strategischer Transport sowie Streitkräfteführung“ – also just jenen Bereichen, die für erfolgreiche Militärinterventionen fern der Heimat besonders wichtig sind und in denen Europa bisher den USA weit hinterher hinkt.

Konkret wurde in Köln beschlossen, das Amt eines Hohen Repräsentanten der EU für die GASP zu schaffen (»Mister GASP«) und diesem ein effektives Lage- und Krisenzentrum an die Hand zu geben. Von hoher symbolischer Bedeutung war, dass zum ersten »Mister GASP« ausgerechnet der damalige NATO-Generalsekretär Javier Solana bestellt wurde. Er trat sein neues Amt im Oktober 1999 an. Im November wurde er zudem Generalsekretär der WEU – auch dies ein bedeutendes Zeichen, verweist es doch auf die enge Anbindung dieses alten, aber stets im Schatten der NATO dahin kümmernden, westeuropäischen Militärbündnisses an die EU. In der Tat wurde in Köln auch das Ziel formuliert, bis Ende des Jahres 2000 die WEU in die EU zu integrieren. Damit würde die EU vollends eine militärische Komponente erhalten, und der Dauerdisput um die Rolle der WEU – ist sie nun eher europäischer Pfeiler der NATO oder eher militärischer Arm der EU ? – wäre zu Gunsten der zweiten Option entschieden.

Mit der Integration der Aufgaben, Kompetenzen und Strukturen der WEU in die EU wäre für die EuropäerInnen zudem das Problem gelöst, welches sich bisher daraus ergab. Dass der WEU vertragsgemäß der Aufbau einer eigenständigen militärischen Struktur zusätzlich zu jener der NATO nicht gestattet war; das gilt für die EU nicht, sie hat mithin in dieser Hinsicht sehr viel größeren Handlungsspielraum.7

Der EU-Gipfel in Helsinki am 10./11. Dezember 1999 brachte weitere wichtige Schritte: Beschlossen wurde, die EU „in die Lage (zu) versetzen, autonom Beschlüsse zu fassen und in Fällen, in denen die NATO als Ganzes nicht einbezogen ist, als Reaktion auf internationale Krisen EU-geführte militärische Operationen einzuleiten und durchzuführen“.8

Bis zum Jahre 2003 sollen dafür die Voraussetzungen geschaffen werden. Dann sollen 50 bis 60.000 Soldaten (etwa 15 Brigaden) sowie Luft- und Seestreitkräfte und die entsprechenden Kommandostrukturen für Krisenreaktionseinsätze der EU bereit stehen (wohlgemerkt: explizit für Einsätze außerhalb der EU; mit Verteidigungsanstrengungen hat das Ganze mithin nichts zu tun). Innerhalb von 60 Tagen sollen diese Kräfte einsatzbereit und auf einen fernen Krisen- und Kriegsschauplatz verlegbar sein; sie sollen eine Durchhaltefähigkeit von mindestens einem Jahr im Einsatz fern der Heimat haben. Stellt man in Rechnung, dass diese Kräfte regelmäßige Ablösungen brauchen, kommt man auf rund 180.000 Soldaten für diese EU-Interventionsstreitmacht. Freilich ist nicht die Aufstellung neuer Verbände beabsichtigt, sondern bereits der NATO assignierte Kräfte erhalten einen zweiten Auftrag.

Ferner einigte man sich in Helsinki – auch hierin dem deutschen Vorschlag im Wesentlichen folgend – darauf, dass zur institutionellen Absicherung künftiger militärischer Aktivitäten der EU ein ständiges sicherheitspolitisches Komitee auf Botschafterebene sowie ein Militärausschuss und ein militärischer Arbeitsstab etabliert werden.9

Die eingangs erwähnten Interimsgremien, deren Einrichtung die EU-Außenminister bei einem Treffen in Brüssel am 14. Februar 2000 beschlossen und die sich bereits Anfang März 2000 konstituierten, sind Vorläufer dieser Organe, die im Jahre 2001 ihre Arbeit aufnehmen sollen.10 Das »Politische und sicherheitspolitische Interims-Komitee« setzt sich aus VertreterInnen der Politischen DirektorInnen der Mitgliedsstaaten zusammen, es tagt wöchentlich und soll Empfehlungen für die Fortentwicklung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik erarbeiten. Das Interimsgremium militärischer Delegierter (Vorläufer des in Helsinki beschlossenen Militärausschusses) besteht aus Abgesandten der nationalen Generalstabschefs, trifft sich zweimal jährlich und berät als höchstes militärisches EU-Gremium das »Politische und sicherheitspolitische Interims-Komitee« und den »Mister GASP«. Zudem fanden sich auch bereits militärische Experten im EU-Ratssekretariat ein, die später den in Helsinki ebenfalls beschlossenen Militärstab bzw. einen EU-Generalsstab bilden sollen. Sie basteln schon mal an möglichen Einsatzszenarien für die EU-Streitmacht der Zukunft.11

Beim nächsten EU-Gipfel Ende 2000 in Nizza soll die Integration der WEU in die EU vollzogen und die militärpolitische Dimension der EU vertraglich fixiert werden. Dann soll auch geklärt werden, wie stark der personelle Beitrag der einzelnen Mitgliedsstaaten zur EU-Interventionsstreitmacht ausfallen kann. Deutschland will mit zwei bis drei Brigaden dabei sein. Das rot-grüne Projekt der Umstrukturierung der Bundeswehr zu einer kleineren, aber effizienteren und interventionsfähigeren Streitmacht ist auch und gerade aus dem Bestreben zu erklären, die deutsche Führungsrolle in der EU – und das heißt künftig eben auch in der Militärmacht EU – auszubauen und zu stärken. Folglich sollen die Krisenreaktionskräfte der Bundeswehr aufgestockt, weitreichende Transportkapazitäten geschaffen und die Logistik für länger dauernde heimatferne Expeditionen ausgelegt werden. Die Führungsstruktur der Bundeswehr wird durch die Aufstellung eines Einsatzführungskommandos als strategischem Hauptquartier und eines operativen Führungsstabes dementsprechend modernisiert.12

Hindernisse und Friktionen

Unklar ist allerdings noch, wer das bezahlen soll. Der Aufbau von weit reichenden Transportkapazitäten und der Logistik für längere Zeit heimatfern eingesetzte Expeditionskorps, die Schaffung von satellitengestützten Aufklärungs- und Kommunikationssystemen, die Entwicklung von hochmodernen (Langstrecken-)Präzisionswaffen usw. erfordern Unsummen. In Köln wurden zwar die Notwendigkeit einer „Stärkung der industriellen und technologischen Verteidigungsbasis“ und „die Umstrukturierung der europäischen Verteidigungsindustrien“ zwecks „engere(r) und effizientere(r) Zusammenarbeit der Rüstungsunternehmen“ angemahnt und gerade in jüngster Zeit hat es bedeutende Fusionen bei den europäischen Rüstungskonzernen gegeben; doch ob das angesichts knapper finanzieller Mittel reicht, um tatsächlich im Spurt den rüstungsindustriellen und militärtechnologischen Vorsprung der USA einzuholen, ist sehr fraglich. Jedenfalls „schwiegen sich die meisten europäischen Verteidigungsminister am 28. Februar 2000 bei einem informellen Treffen in Sintra nahe der portugiesischen Hauptstadt Lissabon (über die mögliche Finanzierung der Umsetzung der Pläne für die Eingreiftruppe – V.B.) aus. (…) zur Realisierbarkeit eines französischen Vorschlages, nach dem alle Mitgliedsländer 0,7% ihres Bruttoinlandproduktes für militärische Investitionen aufwenden sollen“ mochte sich auch kein EU-Partner äußern.13

Aber nicht allein am schnöden Mammon können sich die hochfliegenden Pläne brechen. Auch der einzig verbliebenen militärischen Supermacht auf dieser Welt passt die ganze Richtung offensichtlich immer weniger.14 Zwar mahnen die USA seit Jahren, ja, seit Jahrzehnten an, dass die EuropäerInnen im Rahmen einer „gerechteren Arbeits- und Lastenteilung“ unter den transatlantischen Bündnispartnern mehr Arbeit und Lasten übernehmen. Gerade beim Krieg gegen Jugoslawien hatte sich einmal mehr gezeigt, dass die europäischen Streitkräfte technologisch so weit hinter den US-amerikanischen zurück waren, dass eine gemeinsame Operationsführung darunter litt. Für die US-Seite war das Anlass zu fordern, die EuropäerInnen mögen sich doch bitte mehr anstrengen. US-Verteidigungsminister Cohen postulierte auf der diesjährigen Münchner Konferenz für Sicherheitspolitik: „Die europäischen Staaten müssen ihre Streitkräfte verbessern. Sie müssen mehr (finanzielle) Ressourcen bereitstellen und Reformen beschleunigen“.15 Aber selbstverständlich sollten diese Anstrengungen und die Übernahme von mehr Arbeit und Lasten unter US-Führung und Kontrolle erfolgen. Eine tatsächliche rüstungsindustrielle, militärpolitische und militärische Eigenständigkeit der westeuropäischen Staaten ist nicht im Sinne der USA. Um das zu verhindern, wollten und wollen sie das Primat der von ihnen geführten NATO sicherstellen.

Gegenwärtig aber droht sich in den Augen maßgeblicher US-Außen- und SicherheitspolitikerInnen eine Dynamik zu entfalten, die den USA entgleiten könnte. Der US-amerikanische Vize-Außenminister Strobe Talbott äußerte die Befürchtung, dass die europäische Verteidigungsidentität „erst in der NATO entsteht, dann aus der NATO herauswächst und schließlich sich von der NATO wegbewegt“16 – mit den Folgen von Duplizierung militärischer Anstrengungen und militärpolitischer Konkurrenz EU-USA. Seine Chefin Madeleine Albright warnt vor den drei d's,

  • dem »decoupling«, also der Loslösung EU-Europas von den USA;
  • der »duplication«, d.h. der Verdopplung von Strukturen und Kapazitäten (NATO plus EU-Militärorganisation) und schließlich
  • der »discrimination«, der Diskriminierung (soll heißen: Ausschluss von militärpolitischen Beratungen, Entscheidungen und Maßnahmen) jener NATO-Mitglieder, die nicht Mitglied der EU sind (womit sich die USA auch zum Anwalt insbesondere des geostrategisch wichtigen NATO-Staates Türkei macht).

Um diesen Gefahren zu begegnen, fordern die USA die eindeutige formale Festlegung einer Vorrangstellung der NATO gegenüber der EU bei der »Krisenbewältigung«. Einige EU-Mitglieder – allen voran Deutschland und Großbritannien – versuchen, die USA zu beschwichtigen, indem sie formelle Strukturen des Dialogs, der Konsultation und Koordinierung NATO-EU anbieten und auch bereit scheinen, eine offizielle Festschreibung einer Art Erstentscheidungsrechtes der NATO darüber, wer denn nun intervenieren darf (die NATO selber oder die EU), zu akzeptieren. Das allerdings behagt der französischen Regierung nicht, die keinerlei Einschränkungen des Rechtes der EU zu Militärinterventionen hinnehmen will. Mit anderen Worten: „Der Wettbewerb geht um die Frage, wer in Europa die Ultimaten stellt, wer die Exempel statuiert und wer den Finger am Abzug hält“.17 Noch haben die USA angesichts ihrer klaren militärischen Übermacht und ihres großen militärtechnologischen Vorsprungs in diesem Wettbewerb die Nase vorn; einer tatsächlich eigenständigen und eigenständig interventionsfähigen europäischen Militärmacht sind nach wie vor enge Grenzen gezogen. Doch auch wenn die militärische und militärpolitische Hegemonie der USA auf absehbare Zeit unanfechtbar bleibt, so wird doch andererseits die Militarisierung der europäischen Integration von herrschender Politik in den bedeutendsten EU-Staaten unbestreitbar forciert. Das Resultat: Dem für Konfliktbearbeitung untauglichen Mittel NATO wird ein weiteres untaugliches Mittel EU-Streitmacht beigesellt.

Ob und wie die innereuropäischen und transatlantischen Widersprüche sich entwickeln, ob und wie sie von herrschender Politik eingehegt und kleingearbeitet werden können oder ob und wie sie sich verschärfen, ist gegenwärtig noch nicht auszumachen. Gewisslich aber ist für antimilitaristische Politik nichts zu gewinnen, indem man sich auf die eine oder andere Seite schlägt. Positionen, die in den USA den Garanten zur Abwehr europäisch-deutscher Großmachtambitionen sehen, sind friedenspolitisch ebenso verfehlt wie Positionen, die in europäischer sicherheits- und militärpolitischer Eigenständigkeit die Chance zur Zurückdrängung der maßgeblich auf militärische Macht gestützten US-Hegemonie sehen. Friedenspolitisch ist die Wahl zwischen NATO und EU-Streitmacht eine solche zwischen Scylla und Charybdis.

Anmerkungen

1) Vgl. etwa die offizielle Position der Bundesregierung: „Der Konflikt im Kosovo hat der EU dramatisch vor Augen geführt, wie dringend und unverzichtbar die Stärkung der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik für Europa ist. Nur wenn es der EU gelingt, auch auf diesem Gebiet ihre Kräfte zu bündeln und eigenständig handlungsfähig zu werden, wird Europa seine Werte und Interessen in vollem Umfang zur Geltung bringen können.“ (http://www.auswaertiges-amt.de/4_europa/7/4-7-2g.htm).

2) „Ohne die überlegene Waffentechnologie der USA hätte der Luftkrieg gegen Belgrad nicht geführt werden können. Dagegen sollen nun ebenbürtige Einsatzmittel in europäischer Hand Abhilfe schaffen. »Wir müssen es selbst können, damit die Amerikaner es nicht ohne unser Wollen tun«, ließ Bundeskanzler Schröder in einem »Spiegel«-Interview besorgt verlauten“ (Mutz, Reinhard: Europa unter falscher Flagge, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 45. Jg., 2000, H. 2, S. 140-144, hier: S. 143). Vgl. auch Joffe, Josef: Ein Wunderwerk der Kontinuität. Parameter rot-grüner Außenpolitik, in: ebd., 44. Jg., 1999, H. 11, S. 1324-1335, hier: S. 1330.

3) Man kann die französisch-britische Erklärung von St. Malo vom 4. Dezember 1998, in dem die beiden Länder neue Initiativen zur Stärkung der europäischen militärischen Fähigkeiten im EU-Rahmen ankündigten, als Auftakt der gegenwärtig ablaufenden beschleunigten Militarisierung der EU sehen.

4) Siehe Bericht des Vorsitzes über die Stärkung der gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, in: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung. Bulletin, Nr. 49, 16. August 1999, S. 533-535. Die folgenden Zitate im Text aus ebd.

5) Die Bundesregierung sah mit der Billigung ihres Plans und den Beschlüssen des Kölner Gipfels „die wesentlichen Ziele“ ihrer Ratspräsidentschaft als „erreicht“ an, s. dazu Sommer, Peter-Michael: Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Ergebnisse der deutschen Doppelpräsidentschaft in EU und WEU, in: Europäische Sicherheit, H.12, 1999, S. 14-18, hier: S. 16.

6) Siehe Bulletin Nr. 49, a.a.O., S. 532f. Die folgenden Zitate im Text aus ebd.

7) Auf der anderen Seite enthält der WEU-Vertrag anders als der die NATO konstituierende Nordatlantikvertrag keine Beschränkung des geographischen Zuständigkeitsbereichs; die WEU und damit auch die EU haben mithin im Gegensatz zur NATO kein »out-of-area«-Problem.

8) Zitiert nach Streitkräfte und Strategien, 18.12.1999, Sendemanuskript, S. 7f.

9) Nicht mehr als eine Fußnote wert ist die Feststellung, dass in Helsinki auch Lippenbekenntnisse zur Stärkung und Verbesserung der zivilen Krisenpräventions- und -bewältigungsmechanismen der EU abgegeben wurden. Da geht es um Studien, Datenbanken, Bestandsaufnahmen. Das alles steht in überhaupt keinem Verhältnis zur Energie und zum Aufwand, mit dem die Implementierung der militärischen Maßnahmen betrieben wird.

10) Die Etablierung der Interimsstrukturen wurde notwendig, weil für die Umsetzung der Beschlüsse von Helsinki Änderungen des EU-Vertrags erforderlich sind.

11) Ebenfalls lediglich fußnotenmäßig sei festgehalten, dass selbstverständlich an eine demokratisch-parlamentarische Kontrolle aller dieser Militarisierungsschritte nicht gedacht ist; das Europäische Parlament spielt in diesem ganzen Prozess keine Rolle.

12) Vgl. dazu Scharping, Rudolf: Fähig zum Handeln. Wie Europa in der Sicherheitspolitik zum gleichberechtigten Partner Amerikas werden kann, in: Die ZEIT, Nr. 14, 30. März 2000,
S. 5.

13) Europa, quo vadis?, in: ami, 30. Jg., H. 3. März 2000, S. 11-15, hier: S. 13.

14) Noch eine Fußnote der Geschichte: Auch innerhalb der EU gibt es Bedenken und Reserven gegenüber der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, vor allem von Seiten der neutralen Staaten unter den EU-Mitgliedern.

15) Zitiert nach Handelsblatt, 7.2.2000, S. 12.

16) Zitiert nach Streitkräfte und Strategien, a.a.O., S. 8.

17) Mutz, a.a.O., S. 143. – Im Neuen Strategischen Konzept der NATO vom Frühjahr 1999 ist noch festgelegt, dass die EU nur und erst dann militärisch aktiv werden darf, wenn der NATO-Rat zuvor entschieden hat, dass sich die NATO nicht engagieren will. Doch stellt dieses Neue Strategische Konzept der NATO in der Tat nicht mehr als „einen situationsbedingten Kompromiss dar. (…) es beseitigt nicht die Spannungen zwischen der amerikanischen Dominanz und dem insbesondere von Frankreich artikulierten europäischen Wunsch nach Eigenverantwortung und Gleichberechtigung“ (Dembinski, Matthias: Von der kollektiven Verteidigung in Europa zur weltweiten Intervention?, HSFK-Standpunkte Nr. 3/ Juli 1999, S. 9).

Dr. Volker Böge ist im Vorstand des Komitees für Grundrechte und Demokratie

Auf dem Wege nach Europa?

Auf dem Wege nach Europa?

Die Britische Sicherheits- und Verteidigungspolitik

von Lutz Unterseher

In jüngster Zeit mehren sich die Anzeichen dafür, dass Großbritannien – genauer gesagt: die Labour-Regierung unter Tony Blair – gerade auch das Feld der Sicherheits- und Verteidigungspolitik nutzt, um näher an Europa heranzurücken. Da war zunächst das britisch-französische Treffen von St. Malo. Es kam dem Vernehmen nach auf eine britische Initiative hin zustande, fand im Dezember 1998 statt und wird gemeinhin so interpretiert, dass es dabei der französischen Führung gelang, den insularen Nachbarn stärker in die Perspektive einer europäischen sicherheitspolitischen Kooperation einzubinden. Eine andere Deutung, die durch die erstgenannte durchaus nicht völlig ausgeschlossen ist, besagt, dass Großbritannien und Frankreich im Sinne einer »Achse« zusammenrücken, um sich gegenseitig ihrer außen- und sicherheitspolitischen Privilegiertenrolle gerade auch gegenüber den anderen EuropäerInnen (einschließlich der Deutschen) zu versichern.

Ein weiteres wichtiges Ereignis ist in diesem Zusammenhang die auf der Ebene von Regierungs- bzw. Staatschefs der EU abgehaltene Konferenz von Köln, Anfang Juni 1999 – kurz vor Ende des Krieges der NATO gegen Rumpf-Jugoslawien. Dort zeigten sich die EuropäerInnen – einschließlich der BritInnen – durch das Vorgehen der Vereinigten Staaten im Kosovo-Konflikt düpiert und provoziert. Die dominante – militärisch substanziell unterfütterte – Rolle der USA, die manchen mehr als nur unterschwellig ein Ärgernis war und ist, ließ nun den Aufbau eines EU-eigenen Potentials an Streitkräften zur Krisenreaktion als vordringlich erscheinen. Man will im Falle eines Falles auch ohne die von den USA geführte NATO handlungsfähig sein (sagt allerdings, dass es nicht um ein Konkurrenzunternehmen gehe, sondern nur um militärische Optionen für die Eventualität, dass die Nordatlantische Allianz nicht handeln könne oder wolle).

Auf dem Gipfel der Europäischen Union im Dezember 1999 in Helsinki nahm die Entwicklung dann schon recht konkrete Formen an: Unter aktiver Beteiligung der britischen Regierung wurde beschlossen, bis 2003 eine europäische Eingreiftruppe in einer Stärke von bis zu 60.000 Soldaten aufzustellen, die bei Krisen auf dem alten Kontinent, aber auch in den angrenzenden Regionen interventionsfähig sein soll.

Vorgesehen ist es, die Truppe so zu strukturieren, dass sie innerhalb von 60 Tagen in ein Krisengebiet verlegt werden und dort ein Jahr durchhalten kann. Zur Finanzierung der dafür erforderlichen Maßnahmen müssen nach Auffassung der französischen Regierung und Portugals, das gegenwärtig die EU-Ratspräsidentschaft inne hat, die Verteidigungsausgaben kräftig erhöht werden. Angestrebt wird eine Verbesserung der militärischen Fähigkeiten der in der Europäischen Union zusammengeschlossenen Länder vor allem auf dem Gebiet moderner Präzisionsbewaffnung, strategischer Aufklärung sowie im Hinblick auf den Großraum-Lufttransport. Zudem müssen ausreichende Personalreserven verfügbar sein: „Für einen einjährigen Einsatz von 60.000 Mann, die nach jeweils vier bis sechs Monaten abgelöst werden, sind (…) bis zu 180.000 Mann erforderlich“ (EU-Eingreiftruppe, S. 272).

Wiederum unter sehr aktiver Beteiligung Großbritanniens haben die EU-Verteidigungsminister dann bei ihrem Treffen in Sintra (Portugal) im Frühjahr 2000 den nächsten Meilenstein zum Aufbau der Europäischen Eingreiftruppe gesetzt. Beschlossen wurde, die Einsatzgrundlagen, die Beteiligungsquoten der einzelnen EU-Staaten sowie Struktur und Ausrüstung der Truppe noch im Laufe dieses Jahres zu klären. Dabei dürfte es – vor dem Hintergrund bisheriger britischer Beteiligung an Missionen militärischer Krisenreaktion – nicht sonderlich überraschen, wenn die Regierung Blair auf eine möglichst substantielle und sichtbare Repräsentation ihrer Militärs in der Führungsorganisation dieser Truppe drängen wird – und zwar mit dem Verweis auf die britische Bereitschaft, einen qualitativ besonders hochwertigen Beitrag zu leisten.

Die Annäherung Großbritanniens an Europa auf dem Gebiet von Sicherheits- und Verteidigungspolitik entspricht dem Bemühen der Labour-Regierung, ihr Land vor allem auch in anderen – sozioökonomischen – Dimensionen verstärkt in die Entwicklung der Europäischen Union zu integrieren. Wegen dieser Entsprechung ist die skizzierte britische Annäherung durchaus ernst zu nehmen. Zu fragen bleibt allerdings, ob hinter diesem Prozess des näher Rückens ein tiefer gehender Wandel steht, ob es die Perspektive einer quasi-organischen Eingliederung gibt, die durch nationale Profilsuche motivierte britische Alleingänge längerfristig immer unwahrscheinlicher macht – oder ob Großbritannien sich nicht doch die Option bewahrt, es »immer auch anders zu können«.

Um auf diese Fragestellung eine tentative Antwort geben zu können, erscheint es sinnvoll, einen Blick auf das Profil der britischen Streitkräfte, auf ihre Konzeption und Planung zu werfen. Die Verteidigungspolitik ist nämlich in Großbritannien – erklärtermaßen – die wesentliche Grundlage von Außen- und Sicherheitspolitik. Auf dem Verteidigungssektor werden Strukturen geschaffen, die bestimmte Optionen erst ermöglichen – wenn nicht gar nahe legen.

Britische Verteidigungspolitik: eine Profilskizze

Gleichsam »vor der Klammer« der folgenden Skizze ist daran zu erinnern, dass Großbritannien nach wie vor zu den Nuklearmächten zählt. Und nach wie vor gilt diese Qualität als eigentliche Grundlage dafür, dass dieses Land Ständiges Mitglied im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ist. Beides gibt dem Vereinigten Königreich eine privilegierte Position in der internationalen Arena.

Großbritannien lässt gegenwärtig nicht erkennen, dass es bereit ist, diese Privilegien aufzugeben oder mit anderen zu teilen. Vor diesem Hintergrund ist von Interesse, dass Großbritannien sich auch in Zukunft in der Lage sieht, ein nukleares Potenzial etwa auf dem gegenwärtigen Niveau zu erhalten: Wesentliche Modernisierungsschritte sind abgeschlossen. Und nach einer Reduzierung des Potenzials auf 64 U-Boot-gestützte Fernraketen mit weniger als 200 nuklearen Gefechtsköpfen ergibt sich – bei gewisser Befähigung zu »warfighting« – eine »Minimalabschreckung«, deren laufender Betrieb nur 5 Prozent der jährlichen Verteidigungsausgaben des Landes beansprucht (Chalmers, S. 9).

Konzeption und strategische Orientierung

Nachdem die derzeitige Labour-Regierung im Frühjahr 1997 ins Amt gelangt war, gab man sofort eine Strategic Defence Review (SDR) in Auftrag, die dann bis zum Sommer 1998 durchgeführt und abgeschlossen wurde (Ministry of Defence). Die dabei prägende Grundorientierung lässt sich folgendermaßen resümieren:

Die Tatsache, dass Großbritannien und seine überseeischen Besitzungen gegenwärtig und für die absehbare Zukunft militärisch nicht bedroht sind, bedeutet nicht, dass nationale Streitkräfte einen geringeren Stellenwert haben sollten. Im Gegenteil: Wenn es gelingt, eine national autonome militärische Eingreifkapazität von beträchtlichem Gewicht beizubehalten und weiterzuentwickeln, dient dies wesentlich der britischen Position in der internationalen Politik. Die geforderte nationale Autonomie der Streitmacht ist von strategischer Bedeutung, da die Koalitionen bzw. Partnerschaften, mit denen Großbritannien zu kooperieren hat, auf längere Sicht variabel sind.

Eine solche Orientierung ist durchaus keine Absage an verstärkte sicherheitspolitische bzw. militärische Kooperation – etwa mit den anderen europäischen Staaten oder aber auch den USA. Im Gegenteil: Solche Kooperation kann auf der Basis eines eigenständigen Potenzials erst wirklich ertragreich werden – jedenfalls für jenes Land, das einen besonders beeindruckenden Beitrag leistet (Codner, S. 3 f; Centre for Defence Studies, S. 5 – 7).

Prinzipiell haben die britischen sicherheitspolitischen Interessen einen weltweiten Bezug. Nationale Belange erscheinen aber in besonderem Maße tangiert (was mit erhöhter Wahrscheinlichkeit zu militärischen Maßnahmen des Vereinigten Königreichs führen könnte), wenn es sich zuspitzende Krisen im – weit definierten – Mittelmeerraum sowie im Nahen und Mittleren Osten (besonderes Augenmerk: Golfregion) geben sollte.

Man will weiterhin in der Lage sein, ein Szenario wie das des Zweiten Golfkrieges zu bedienen, als Großbritannien eine Panzerdivision, 26 größere Kriegsschiffe und 80 Kampfflugzeuge für länger als sechs Monate entsandte. Alternativ soll es möglich sein, eine etwa brigadestarke Formation über längere Zeit (mehrere Jahre) im Rahmen von Missionen wie die SFOR zu stationieren und zugleich eventuell noch mit einer ähnlich starken Formation einen Kampfeinsatz kürzerer Dauer zu absolvieren.

Generell kommt in der Strategic Defence Review die Überzeugung zum Ausdruck, dass militärische Mittel – wenn richtig, also insbesondere durch Großbritannien angewandt – hervorragende Friedensstifter sind, denen gegenüber zivilen Mechanismen der Konfliktbewältigung – jedenfalls was ihren Mittelbedarf anbelangt – ein deutlich höherer Stellenwert zugewiesen wird.

Umfang und Struktur

Im Jahre 1999 umfassten die präsenten Streitkräfte des Vereinigten Königreiches knapp 213.000 freiwillig dienende Soldatinnen und Soldaten. Die Personalreserven, die um der Durchhaltefähigkeit bei Auslandseinsätzen willen kräftig angezapft werden, hatten einen Umfang von etwas über 300.000 Personen, der für eine Freiwilligenarmee als recht stattlich gelten muss. Es ist geplant, diese – erst nach einem längeren Schrumpfungsprozess erreichten – Personalumfänge im Wesentlichen zu erhalten.

Die British Army hat an der gegenwärtigen Präsenz einen Anteil von 55 Prozent, während auf die Royal Air Force 24 Prozent und auf die Royal Navy 21 Prozent des Personals entfallen. (Zum Vergleich: In der Bundeswehr hat das Heer einen Anteil von knapp 70 Prozent und die Marine liegt unter 10 Prozent.) Vorgesehen ist es, den Anteil der British Army ganz leicht auszuweiten, um ihr ein etwas größeres personelles Polster für Auslandseinsätze zu geben. Insgesamt aber entsteht der Eindruck, dass die Streitkräfte des Vereinigten Königreiches – wegen ihres besonderen Akzentes bei den Luft- und Seestreitkräften – sich stark an Aufgaben strategischer Machtprojektion orientiert haben (und dies wohl auch weiter tun werden). Also weniger Friedensunterstützung durch Präsenz am Boden und mehr Peacemaking durch Bestrafungsschläge über große Distanzen.

Die gleichwohl nicht unerhebliche britische Interventionsorientierung zu Lande bildet sich vor allem auch dadurch ab, dass immerhin zwei – relativ schwere – Divisionen des Vereinigten Königreiches der großen Eingreifformation der NATO zugeordnet sind, die unter der Bezeichnung Allied Commander Europe Rapid Reaction Corps (ARRC) figuriert. Dieser Riesenverband umfasst mittlerweile acht Divisionen insbesondere der europäischen NATO-Mitglieder und wird immer von einem britischen Viersternegeneral kommandiert. Die Tatsache, dass Großbritannien seit 1991/92 (der Gründung des ARRC) diesen »Erbhof« besitzt, wird auf zwei Gründe zurückgeführt: Zum einen darauf, dass die USA vor dem Hintergrund ihrer besonderen Beziehung zu Großbritannien sich bessere Kontrolle über Europa dadurch versprachen, dass sie den Posten des »Aufpassers« an die British Army vergaben. Zum anderen aber auch darauf, dass sich die Briten in Sachen Militärintervention als besonders erfahren, energisch und handlungsfähig darstellten (letzteres im Gegensatz zu den armen Deutschen, die damals – vor der entsprechenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes – noch nicht so richtig durften).

Ambitionen und Widersprüche

An dieser Stelle kann nicht differenziert auf den Ausrüstungsstand und die Beschaffungspläne der britischen Streitkräfte eingegangen werden. Wichtig ist aber ein Hinweis auf wesentliche Perspektiven und auch Dilemmata.

Zunächst einmal erscheint es unter den britischen Verteidigungsplanern eine ausgemachte Sache zu sein, dass die relative Schwäche an präsentem Personal vor allem durch modernste Technik ausgeglichen werden muss. Dies bildet sich indirekt auch darin ab, dass die besonders Technik-orientierten Teilstreitkräfte – nämlich die Royal Navy und die Royal Air Force – ein ziemlich großes Gewicht im militärischen Gesamtkonzert haben. Doch, um welche Art neuster Technik soll es genau gehen? Da gibt es in der Strategic Defence Review Fanfaren, die à la Américaine eine »Revolution in Military Affairs« (RMA) durch die sich in den Streitkräften verbreitende Anwendung von Informationstechnologien verkünden. Entsprechend theatralisch wird denn auch die geplante Beschaffung operativ-strategischer Aufklärungssysteme und von präzisionsgelenken (»intelligenten«) Abstandswaffen hervorgehoben. Zugleich wird mit der Strategic Defence Review aber auch die kaum gebremste – in manchen Bereichen sogar forcierte – Acquisition von respektheischenden, eher traditionellen großen Hauptwaffensystemen bzw. Kampfplattformen betrieben.

Dies hat pointierte Kritik provoziert: „Für die Vision der Revolution in Military Affairs ist die Einsicht zentral, dass traditionelle Waffenplattformen und große Truppenkonzentrationen mit der Verbreitung intelligenter Bewaffnung zunehmend verwundbar werden. Deswegen ist es zwingend, die militärischen Fähigkeiten mehr auf aufgelockerte und vernetzte Strukturen zu stützen. Zu dieser Einsicht will nicht so recht passen, dass sich die britischen Streitkräfte auf eine kleine Anzahl hochwertiger Systeme konzentrieren sollen – wie z. B. Flugzeugträger und Transportschiffe mit Panzern für amphibische Landungen“ (Centre for Defence Studies, S. 12 f – Übersetzung: L.U.).

In der Tat, die Royal Navy soll in etwa zehn Jahren wieder zwei »richtige«, große Flugzeugträger bekommen, nachdem sie lange Zeit mit kleineren Trägern nur für Senkrechtstarter vorlieb nehmen musste. Diese und andere Beschaffungsvorhaben lassen den Eindruck entstehen, dass es den britischen Verteidigungsplanern vor allem auch um den symbolisch-politischen Gebrauch militärischer Mittel geht – sicher nicht zuletzt, um Britanniens nationales Profil zu schärfen. Vor diesem Hintergrund mag man dann die Passagen über die »Revolution in Military Affairs« noch weniger ernst nehmen: Vielleicht geht es auch hier darum, Eindruck zu schinden? Vielleicht gewandet man sich dem militärischen Zeitgeist gemäß, um sich – in Fortsetzung der besonderen Beziehung – bei der Hightech-Nation USA anzubiedern?

Kosten und Grenzen

Im Vergleich zum deutschen erscheint der britische Verteidigungshaushalt üppig ausgestattet (Vorbild …, S. 104 f): 1998 betrug der Anteil der Verteidigungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt in Großbritannien 2,6 Prozent (in Deutschland 1,5 Prozent). Und 1999/2000 liegen die Verteidigungsausgaben in Großbritannien bei umgerechnet etwa 68,5 Mrd. DM (Deutschland: 45,3 Mrd. DM). Dem Akzent entsprechend, den die britischen Streitkräfte auf »Technik« legen, beträgt der dortige Anteil der Beschaffungsausgaben am Verteidigungsbudget ca. 38 Prozent (Deutschland: 15,6 Prozent). Auch die Ausgaben und ihre Grobstruktur zeigen also, dass in Großbritannien »Militär noch etwas wert ist« – was die Ahnung nahe legt, dass man wegen der besonderen nationalen Bedeutung dieses Instruments sich wohl etwas schwer tun dürfte, es weitgehend zu »vergemeinschaften«.

Ganz so rosig wie auf den ersten Blick sieht die finanzielle Lage der britischen Streitkräfte aber doch nicht aus. Zwar sieht die mittelfristige Finanzplanung von 1998/99 bis 2001/02 eine leichte Erhöhung des Verteidigungsbudgets vor, doch errechnet sich bei Anwendung des amtlichen BIP-Deflators für den angegebenen Zeitraum eine reale Abnahme um 4 Prozent (Chalmers, S. 9). Dies bedeutet, dass entweder Personal abgebaut werden muss (eigentlich ist das Gegenteil vorgesehen) und/oder dass zahlreiche Beschaffungsvorhaben verschoben bzw. gestreckt werden. (Gerade der bisher relativ hohe Anteil des Investitionssektors im Verteidigungshaushalt lässt die Tatsache besonders unangenehm durchschlagen, dass die Rüstungsmodernisierung mit Preissteigerungsraten verknüpft ist, die signifikant über dem BIP-Deflator liegen.)

Es gibt Gerüchte, denen zufolge einer der beiden geplanten großen Flugzeugträger zur Debatte steht. Ähnliches ist auch aus Frankreich bekannt, wo darüber gerätselt wird, wie denn der zweite Atom-Flugzeugträger der Charles de Gaulles-Klasse finanziert werden soll. Weitere Gerüchte aus beider Länder Hauptstädte schließlich lassen annehmen, dass es Überlegungen gibt, denen zufolge Frankreich und Großbritannien einen Flugzeugträger gemeinsam bauen und betreiben könnten (um dann insgesamt drei zu besitzen). Der dritte Träger könnte dann durchaus einen europäischen Anstrich bekommen, bliebe aber letztlich in binationaler Hand und Ausdruck des Ranges seiner Besitzer.

Beispielhaft angedeutet sei hiermit nur, dass militärische Kostendynamik und allgemeine Haushaltszwänge (New Labour ist vielleicht immer noch irgendwo auch eine sozialdemokratische Partei) zu einer in ihrem Resultat recht exotisch anmutenden Kooperation führen können.

Vorsichtiges Fazit

Die Sicherheitspolitik des Vereinigten Königreiches gründet sich auf Streitkräftestrukturen und eine Verteidigungsplanung, die im Wesentlichen und insbesondere im Hinblick auf die Perspektive einer »Europäisierung« folgendermaßen zu kennzeichnen sind:

Erstens: Die Fundierung von Außen- und Sicherheitspolitik durch militärische Stärke und die Befähigung zu weitreichender Machtprojektion gilt als von entscheidender Bedeutung. Der hohe Stellenwert bisher betont national geprägter Streitkräfte lässt eine weitgehende Integration in supranationale Strukturen auf absehbare Zeit unwahrscheinlich sein.

Zweitens: Die nationale Autonomie britischer Expeditionsstreitkräfte hat eine doppelte Funktion. Zum einen dient sie dazu, mit verschiedenen Koalitionen bzw. wechselnden Kräftekonstellationen kooperieren zu können. Zum anderen besteht die Funktion darin, innerhalb der jeweiligen Konstellation den nationalen Einfluss optimieren zu können.

Drittens: Die Ansprüche militärischer Machtdarstellung können mit dem Ressourcenbedarf gesamtgesellschaftlicher Modernisierungsprozesse so in Konflikt geraten, dass Kooperationspartner erforderlich werden, mit denen man sich enger liieren muss. Dies muss aber nicht zu einer Vergemeinschaftung oder Europäisierung des britischen Arsenals führen: Denkbar ist auch der – weitere – Ausbau einer Achse London – Paris, die letztlich dem Ausdruck von Privilegien und nationalen Interessen dient.

Literatur

Centre for Defence Studies (ed.): The Strategic Defence Review: How Strategic? How Much of a Review? (London Defence Studies Nr. 46) London: Brassey's June 1998.

Chalmers. M.: The Comprehensive Spending Review and Strategic Defence Review (Dept. of Peace Studies, University of Bradford: Conference Paper) Novemer 1998.

Codner, M.: Aircraft Carriers: The Next Generation? ISIS Briefing (1998) Nr. 70.

EU-Eingreiftruppe: Planungen Ende 2000 abgeschlossen, Soldat und Technik, 5/2000.

International Institute for Strategic Studies: The Military Balance 1991/92, 1998/99, 1999/2000, London: Brassey's 1991, 1998, 1999.

Ministry of Defence: Strategic Defence Review: Modern Forces for the Modern World, London: Ministry of Defence, July 1998.

Vorbild Großbritannien? Entwicklung der Streitkräfte und der Verteidigungsausgaben im Vergleich, Soldat und Technik, 3/2000.

Dr. Lutz Unterseher lehrt an der Universität Münster und ist Vorsitzender der Studiengruppe Alternative Sicherheitspolitik

Kollaps oder Wiedergeburt?

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Die Militärindustrie Russlands

von Ksenia Gontschar

Seit Ende der Achtzigerjahre laufen die Versuche zur Reform des Rüstungskomplexes in Russland. Doch in dieser Zeit hören wir vor allem von Krise, Produktionsrückgang, erfolgloser Konversion und gefährlichen sozialen Spannungen. Selten kann über Erfolge in einzelnen Branchen oder Unternehmen berichtet werrden, etwa von »Seestart« (Morskoi Start), einem internationalen Projekt zum Start kommerzieller Satelliten von einer schwimmenden Plattform. Ansonsten ein trostloses Bild: Skandale, scharfe Konkurrenz in eng begrenzten Marktnischen, der Kampf um die Umverteilung des Eigentums und die Kontrolle von Finanzquellen der Exportgesellschaften dominieren in den Neuigkeiten über den Zustand des Rüstungskomplexes. Und am Ende der 90er-Jahre geben die Ereignisse – sowohl die politischen als auch die wirtschaftlichen – Grund zur Annahme, dass die reale Lage der Dinge bei weitem noch komplizierter und uneindeutiger ist als bisher angenommen wurde.

Wohl niemals in der postsowjetischen Zeit waren Einschätzungen des Zustands der Rüstungsindustrie so populär wie jetzt. Die einen sprechen über den endgültigen Kollaps oder sogar vom nur noch virtuellen Vorhandensein des früheren Monsters, das in der Wirtschaft des Landes eher in Form von Firmenschildern als in Form echter Unternehmen existiere. Die anderen stellen die Rüstungsindustrie als unschlagbare Quelle technologischer Wunderwerke dar, die unter günstigeren Umständen zur Lokomotive des Wirtschaftswachstums werden könne. Eine dritte Version brachte schließlich der Krieg in Tschetschenien und die undiplomatische Wahlkampfrhetorik hervor, die von der wiedergeborenen militaristischen Macht des militär-industriellen Komplexes (MIK), der gar die Kriegshandlungen initiiert habe, sie zum Test für neue Waffen und zum Abpumpen von Mitteln aus dem Föderationshaushalt nutze.

Die Wahrheitsfindung ist schwierig, denn im Vergleich zur Mitte der 90er-Jahre sind die öffentlich zugänglichen Daten über den Rüstungskomplex merklich weniger geworden. Dies erklärt zum Teil die Polarisierung der Einschätzungen und ruft gleichzeitig Sorge hervor bezüglich der Glaubwürdigkeit der Informationen, die den politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen zugrunde liegen. Es ist z.B. bezeichnend, dass der einzige praktische Vorschlag des Wahlprogramms Wladimir Putins im Bereich der Wirtschaft die Idee ist, Eigentum, Industrie und Bevölkerung zu inventarisieren, da zuverlässige Daten darüber „peinlicherweise derzeit niemand im Lande nennen“ könne (Putin, 2000). Es wird angenommen, dass eine solche Wirtschaftsprüfung in Zukunft helfen könne, vernünftige Entscheidungen zu treffen und realistische Programme auszuarbeiten.

Weiter unten werde ich versuchen, soweit dies der Rahmen eines Artikels erlaubt, eine solche »Inventarisierung« in Bezug auf die Gruppe der Militärbranchen der russischen Industrie vorzunehmen und Antworten auf folgende Fragen zu finden: Wie groß und gefährlich ist der Rüstungskomplex? Welche makroökonomischen Parameter schaffen in ihm die Rahmenbedingen für Reformen? Wie hat sich die staatliche Politik geändert und was ist von der neuen Regierung zu erwarten?

Makroökomonische Rahmenbedingungen
der Reformen

Die Militärindustrie, die zuerst unter dem einschneidenden Rückgang der Militärausgaben 1992 zu leiden hatte und sich dann als das verwundbarste Glied der Industrie i.B. auf makroökonomische Schocks herausstellte, wird nicht selten als das Hauptopfer der Systemreformen bezeichnet. Die Liberalisierung der Preise und Märkte, die Verknappung der Geldmenge, der Rückgang von Subventionen und Investitionen und die Inflation konnten nicht anders als die Konkurrenzfähigkeit dieser Branchengruppe selbst auf dem Binnenmarkt zu verringern. Darüber hinaus besteht jede Veranlassung zu betonen, dass die Wirtschaft des MIK heute in bedeutendem Maße nicht so sehr vom Militärbudget, das ein äußerst niedriges Niveau hat, als von der Dynamik bestimmter makroökonmischer Kennziffern abhängt, die in Tabelle 1 vorgestellt werden. Unverschämte Darlehenszinssätze, geringe Einkommen der Bevölkerung und eine entsprechend niedrige Nachfrage nach der zivilen Produktion des MIK sowie das Fehlen von Investitionen schaffen im Ganzen äußerst ungünstige Bedingungen für Konversion. Darüber hinaus glichen sich Angebot und Nachfrage in der Zeit hoher Inflationsraten nur auf Kosten einer riesigen Aufnahme von Krediten, von Barterverrechnungen und Nichtbezahlung von Fälligkeiten aus. Die Resultate waren die dramatische Krise der Staatsfinanzen im August 1998 und die massenhafte Zahlungsunfähigkeit von Industrieunternehmen.

1999 verbesserten sich die wirtschaftlichen Kennziffern sowohl in der Industrie insgesamt als auch im Rüstungskomplex deutlich. Drei Prozesse erwiesen sich als verhältnismäßig günstig: Die Abwertung des Rubels und das entsprechende Anwachsen der Binnenkonkurrenz, die günstigen Preise für Öl und die Maßnahmen der Bank Russlands (der Verkauf von Devisenerlösen durch Exporteure). Nach vorläufigen Angaben wuchs das Bruttoinlandsprodukt 1999 um 3,2 Prozent und die Produktion des MIK allein in den ersten 9 Monaten von 1999 um ein Drittel (Rossija 1999, Ausgabe 4, S. 13). Das Tempo des Preiswachstums verringerte sich 1999 im Vergleich zu 1998 und die Einnahmen des Staatshaushalts stiegen. Seit März 1999 nahm die Beschäftigung in der Wirtschaft zu und die offizielle Arbeitslosenrate sank.

Dennoch wirkten auch einige negative Faktoren weiter: Die Einkünfte der Bevölkerung hielten sich auf einem äußerst niedrigem Niveau, der Warenumsatz im Einzelhandel und die Nachfrage verringerten sich. Die Labilität der Banken und die politische Instabilität beinhalten hohe Risiken für Investitionen. Der Zustand der regionalen Haushalte, die im Zuge der Dezentralisierung eine besondere Bürde an sozialen Ausgaben zu tragen haben, hat sich verschlechtert. Die regionale Segmentierung hat auf diese Weise zugenommen und die Kluft zwischen »reichen« und »armen« Regionen hat ein sozial gefährliches Niveau erreicht.

In dieser wirtschaftlichen Situation erhielten einige Unternehmen der Rüstungsindustrie die Chance zum Produktionswachstum. Der militärische Teil des MIK in Folge des verbesserten Staatshaushalts und der zivile auf Grundlage der aktivierten Importsubstitution in Folge der Geldabwertung. So wuchs im Jahr 1999 die Rüstungsproduktion im Verhältnis zu 1998 um 40 Prozent. Das bedeutendste Wachstum war in der Waffen- und Munitionsindustrie zu beobachten, was mit der Nachfrage durch den Tschetschenienkrieg erklärt werden könnte. Die dritte Wachstumsbranche – der Schiffsbau – arbeitet vor allem nach militärischen Exportaufträgen. In Anbetracht dessen, dass Militäraufträge im Jahr 2000 anderthalbmal gesteigert werden, kann man erwarten, dass die Wachstumstendenz der Militärproduktion erhalten bleibt. Es ist aber dennoch notwendig festzustellen, dass das Wachstum auf einem ganz niedrigen Niveau anfing und kaum für ein Anzeichen einer erneuerten Militarisierung gehalten werden kann. So betrug das allgemeine Niveau der Rüstungsproduktion 1998 nur 27 Prozent von 1991, darunter in der Luftfahrtindustrie nur 12 Prozent und in der Elektronik 5 Prozent (BICC Conversion Survey 2000).

Führend im Verkauf auf dem zivilen Markt wurde die Raketen- und Raumfahrtbranche. Hier setzte sich das stabile Wachstum fort: 1997 um 19 Prozent, 1998 um 11 Prozent und in den ersten 9 Monaten von 1999 um 34 Prozent (Rossija 1999, Ausgabe 4, S. 71).

Politische Konzeptionen

Bei aller Vielfältigkeit der politischen Erklärungen über das Schicksal des Rüstungskomplexes und den unterschiedlichen Konzeptionen der verschiedenen Regierungen gibt es doch einige allgemeine Züge: Erstens wurde keine der Konzeptionen und kein Programm vollständig realisiert. Zweitens beließen alle der Rüstungsindustrie »besondere Bedingungen«, d. h. die Politik gegenüber den Rüstungsunternehmen widersprach in der Praxis sogar oft der grundlegenden Wirtschaftspolitik des Staates. Und drittens entschied sich keine der Regierungen zu einer schmerzhaften Restrukturierung des MIK, dazu, Umfang und Struktur des MIK einer realen Finanzierung durch Rüstungsaufträge anzupassen. In Folge dessen wurde nicht etwa die militär-industrielle Politik zum Motor der Veränderungen sondern der Zustand des Rüstungsexportmarktes. Der Anteil des Exports beim Verkauf von Luftfahrttechnik erreichte zum Beispiel 1998 84 Prozent auf dem militärischen und 23 Prozent auf dem zivilen Markt.

Wie wir im folgenden sehen werden stellt das grundlegende Problem der Rüstungsindustrie, an dessen Lösung sich bereits fünf Regierungen versucht haben, die Überdimensionierung des MIK im Vergleich zu den finanziellen Möglichkeiten des Haushaltes und sogar zu den Bedürfnissen der immer noch riesigen Armee dar. Ungeachtet des schon lange erklärten Ziels, nicht mehr als 600 Unternehmen mit verschiedenen Eigentumsformen im MIK zu lassen, haben sich in Wirklichkeit fast dreimal so viele Unternehmen gehalten. Von ihnen bekommen viele schon jahrelang keine militärischen Aufträge mehr und sind auch auf dem zivilen Markt wenig erfolgreich. Dennoch fehlte es an institutionellen Maßnahmen um hoffnungslose oder nicht nachgefragte Rüstungsunternehmen vom Markt zu nehmen. Die Regierung ist nicht in der Lage, den MIK zu kontrollieren und mit Aufträgen in traditioneller Weise zu versorgen und gleichzeitig fehlen ihr der politische Wille und die Ressourcen zu einer radikalen Restrukturierung. Darüber hinaus engen die Erklärungen über eine Verstärkung der staatlichen Rolle in der Leitung und über eine mögliche Deprivatisierung einiger Unternehmen sowie der Verlust des Rechts von Aktienunternehmen, selbstständig auf den internationalen Rüstungsmarkt zu gehen, die Möglichkeiten zu unternehmerischen Manövern für Teilnehmer des Rüstungsmarktes stark ein.

Zu Beginn des Jahres 2000 bleibt die Frage offen, ob die Regierung das Programm zur Restrukturierung des Militärkomplexes – einer scharfen Kürzung der Zahl der Lieferanten des Verteidigungsministeriums und die Schaffung einer kleinen Zahl großer, integrierter Korporationen – realisieren kann. Derzeit werden folgende Maßnahmen realisiert:

  • Zügig wird das Staatliche Rüstungsprogramm 2001-2010 ausgearbeitet, das die Rahmen für einen ausreichenden militärischen Teil des Rüstungskomplexes setzen soll und die Führer und Outsider unter den Rüstungslieferanten definiert. Insbesondere für letztere wird ein neues Programm zur Restrukturierung und Konversion vorbereitet.
  • Es wächst die Isolierung des Rüstungskomplexes, sowohl im System der staatlichen Leitung (insbesondere wurde eine Branchenleitung eingerichtet),als auch bei der Annahme von besonderen Gesetzen und Verfahren von Wirtschaftsprüfung, Privatisierung und Konkurs. Darüber hinaus wird für die Versorgung staatlicher Unternehmen ein spezielles Bankennetz geschaffen.
  • Der regionale Einfluss auf den Rüstungskomplex wird erhöht. Reiche Regionen mit ambitionierten Regierungen (Moskau, St. Petersburg, das Gebiet Swerdlowsk und andere) haben eine aktive Politik i.B. auf die in ihren Territorien gelegenen Rüstungsunternehmen erarbeitet. In der Regel machen die regionalen Administrationen das Recht auf Eigentum an Rüstungsunternehmen im Tausch gegen steuerliche und tarifliche Vergünstigungen sowie Aufträge und Kredite auf Kosten regionaler Hauhalte geltend. Darüber hinaus tragen die regionalen Regierungen die Finanzierung von Objekten der sozialen Infrastruktur, die sich früher in der Bilanz der Unternehmen befanden;
  • Der Rüstungsexport wird weiter als grundlegende zusätzliche Quelle von Ressourcen angesehen (der Umfang des Exports betrug 1999 ca. drei Milliarden Dollar, gleichzeitig wurde das Budget für Rüstungsaufträge 2000 um das zweieinhalbfache auf etwas mehr als zwei Milliarden Dollar erhöht). Doch während Anfang der 90er-Jahre die Regierung annahm, dass der Rüstungsexport die Konversion finanziere, müssen die Exporteure heute nach Worten des Vize-Ministerpräsidenten Ilja Klebanow die Binnenankäufe von Waffen und Militärtechnik bezahlen (Kommersant, 31.1.2000). Und sie werden Priorität bei der Erfüllung der inländischen Rüstungsaufträge haben. Deshalb ist nicht die Rede von den sieben Prozent Exporteinnahmen, die der staatlichen Gesellschaft »Roswooruschenie« zur Verfügung stehen, sondern von den Einnahmen der Exportunternehmen. Dennoch ist zu bezweifeln, ob sich letztere mit diesem Schema einverstanden erklären, wenn sie natürlich nicht nationalisiert werden.

Der Militär-Industriekomplex in Zahlen

Wenn man von der »Inventarisierung« des MIK spricht ist es nützlich zu wissen wie groß dieser Teil der Industrie heute ist und inwieweit die Befürchtungen über seine destabilisierende politische und soziale Rolle berechtigt sind. Unsere Analyse wird zeigen, dass von einer überaus großen Zahl von Unternehmen die Rede ist, die nichtsdestotrotz nur eine minimale Rolle in der Wirtschaft spielen und die vorwiegend auf dem zivilen Markt arbeiten.

So gehören 1528 Unternehmen zum Rüstungskomplex, das sind 204 weniger als 1997 (der Rückgang hängt mit dem vollständigen Rückzug nichtstaatlicher Unternehmen vom militärischen Markt zusammen). Zum MIK rechnet man immer noch fast zwei Millionen Beschäftigte, real jedoch arbeiten hier weniger als eine Million. Die durchschnittliche Auslastung der Produktionskapazitäten ist sehr niedrig.

Die Rolle des Rüstungskomplexes in der Wirtschaft ist auf ein minimales Niveau zurückgefallen So kommen auf den MIK weniger als ein Prozent neuer Investitionen. Bei einer Schätzung des Wertes der Jahresproduktion der ganzen Warenproduktion, der militärischen und zivilen, erreicht er kaum 9 Milliarden Dollar. Auf den MIK entfallen nur 7 Prozent der gesamtrussischen Warenproduktion von Konsumgütern, 1992 überstieg dieser Anteil noch ein Viertel (Astachow, 2000). Dieser sogar für russische Verhältnisse niedrige Anteil in der Produktionsstruktur des Rüstungskomplexes (Tabelle 2) zeigt die Perspektivlosigkeit des Rüstungskomplexes.

Nach 1992 wurden Versuche unternommen der strukturellen Überdimensioniertheit des MIK mit Hilfe von institutionellen Reformen, der Fusion von Gesellschaften und der Integration von wissenschaftlichen und produzierenden Firmen beizukommen. Doch dieser Teil der Umwandlung ist bis jetzt weniger als alles andere geglückt: Die Privatisierung führte nicht zur Formierung effektiver Eigentümer, viele integrierte Gesellschaften zerfielen oder haben erst gar nicht mit der gemeinsamen Tätigkeit angefangen. Die Reorganisation wurde zu einem Konfliktfeld gegensätzlicher Interessen der Zentralregierung, der Regionen und der Unternehmen. Die Regierung will die Kontrolle über die strategischen Unternehmen aus Sicherheitsgründen. Die Regionalregierungen fürchten den Verlust von Arbeitsplätzen bei einem Verlusts des Status des Militärlieferanten und die Umverteilung von Steuereinnahmen in andere Regionen im Resultat der Firmenfusionen. Die Direktoren der Unternehmen sind gleichzeitig sowohl am Erhalt unternehmerischer Freiheit als auch an der Nutzung staatlicher Vergünstigungen und versteckter Subventionen interessiert. Auf Grund dieser Widersprüche ist kaum zu erwarten, dass das Problem kurz und schmerzlos gelöst werden kann.

Derzeit zerfallen früher geschaffene Allianzen, von den profitablen Konzernen werden finanziell zahlungsunfähige Unternehmen abgetrennt und neue Kombinationen entstehen. Besondere öffentliche Aufmerksamkeit erfährt die Luftfahrtindustrie, bei der die Restrukturierungspläne der Regierung variieren zwischen der Idee 350 Unternehmen in einen Konzern ähnlich Gasprom umzuwandeln und weniger radikalen Umwandlungen. So sollen beispielsweise die zwei bisher konkurrierenden Produzenten von Jagdflugzeugen MiG und Suchoi vereinigt werden. Da gibt es zwar noch Widerstände, auch wenn das unerwartete Zwischenresultat der Reorganisationsinitiative das Projekt zur Produktion eines zivilen Flugzeugs TU-334 der Gesellschaft MiG-MAPO ist, die in dieses Vorhaben 69 Millionen Dollar Gewinn aus der Modernisierung des Jagdflugzeugs MiG investierten. Andere Teilnehmer an diesem Vorhaben sind die Russische Luft- und Raumfahrtagentur, die Gesellschaft Tupolew und die ukrainische Firma Aviant (Kommersant, 7. Dezember 1999). MAPO stellt sich auf den zivilen Markt. Mit einem 80-prozentigen Anteil ziviler Verkäufe kann man diese Umstellung als eines der größten Konversionsprojekte der letzten Zeit bezeichnen.

Mitte 1999 waren drei Viertel der Unternehmen aus dem Rüstungskomplex staatlich oder sie waren Aktiengesellschaften mit einem staatlichen Aktienanteil und nur ein Viertel waren Aktiengesellschaften ohne staatlichen Anteil (Tabelle 2). Es wird vermutet, dass diese Situation in nächster Zeit konstant bleibt, da der Privatisierungsprozess im Rüstungskomplex praktisch zum Stillstand gekommen ist. Darüber hinaus ist den 697 Unternehmen, in denen der Staat Aktionär ist, untersagt zu verkaufen (www.polit.ru, 31. Januar 2000)

Das ist schade denn die Resultate einer Stichprobenuntersuchung von Unternehmen des Rüstungskomplexes nach der Krise 1998 zeigten, dass alle Gesellschaften ohne staatliche Beteiligung den Anstieg der Binnennachfrage und die Konkurrenzvorteile, die die Abwertung des Rubels brachte, nutzen konnten. In ihrer Gesamtheit befanden sich die staatlichen Unternehmen in der Gruppe mit den schlechtesten Kennziffern (Kosals, 2000).

Zu den erfolgreichen nichtstaatlichen Unternehmen gehören vor allem mittlere Gesellschaften. Die großen Gesellschaften konnten nicht schnell genug auf die veränderten Bedingungen reagieren und waren mit Schulden und überschüssiger Beschäftigung zu belastet, die kleinen Firmen sind zu schwach um Kredite für das Umlaufkapital zu erhalten und verfügen über keine Möglichkeiten, mit nichtgeldlichen Zahlungsformen zu operieren. Die Qualität dieses Wachstums ist im wirtschaftlichem Sinne nicht sehr hoch: Die Untersuchung zeigte die direkte Abhängigkeit des Verkaufswachstums von Bartergeschäften und dem Abbau sozialer Leistungen.

So befindet sich der Rüstungskomplex Anfang 2000 auf der Makroebene weiterhin in der gefährlichen Zone von Wirtschaftskrise und nicht genau definierter staatlicher Politik. Auf der Mikroebene zeigten sich dennoch einige erfolgreiche Projekte sowohl auf dem zivilen als auch auf dem militärischen Markt. Das überraschendste Resultat der Reformen im Rüstungskomplex könnte die hohe Lebensdauer der Unternehmen sein, deren Ursache vielleicht die fortgesetzte verdeckte Subventionierung in Form der Abschreibung von Steuerschulden und Strafen, Steuertarifen und anderen staatlichen Renten sind, die die Regierung aus politischen und sozialen Motiven nicht ändern will.

Dennoch sind die Perspektiven längerfristigen Wachstums und Entwicklung bei solchen Gesellschaften um einiges höher, die sich an anderen Wachstumsfaktoren orientieren, so vor allem am Export und an einer liquiden Binnennachfrage, vor allem von Seiten der »reichen« natürlichen Monopole wie Gasprom, RAO EES (Energiesysteme) und Verkehr, sowie an der Qualität der Gesellschaftsleitung. In jüngster Zeit wurde der Markt insbesondere auch für solche Restrukturierungsmaßnahmen wie die Teilung in militärische und zivile Produktion, Konkretisierung der Eigentumsrechte, Erhöhung der Arbeitsproduktivität und Kostenoptimierung empfänglicher.

1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998
Bruttoinlandsprodukt -5 -14 -9 -13 -4 -5 1 -4,6
Industrieproduktion -8 -18 -14 -20,9 -3,3 -4 1,9 -5,2
Investitionen -15 -40 -12 -24 -1 -18 -5 -6,7
Export -28 -18 4 8 25 8,5 -1,4 -15,8
Einkommen der Bevölkerung -47 9 13 -13 -0,9 6,3 -18,2
Preisindex der Industrie 238 2049 987 235 180 25,6 7,5 23,2
Tabelle 1: Einige Kennziffern der Wirtschaft Russlands 1991-1998 (in % zur entsprechenden Periode des Vorjahres. Quelle: Wirtschaftliche Entwicklung Russlands, 1999, BD. 6, Nr. 6, Juni-Juli, S.4-5
Zahl der Unternehmen insgesamt 1528
nach Eigentumsform nach Tätigkeit
staatlich 634 industriell 747
Aktiengesellschaft mit staatlicher Beteiligung 508 wissenschaftlich 560
Aktiengesellschaft
ohne staatliche Beteiligung
386 wissenschaftlich-produzierend 116
weitere 105
Produktionsstruktur des MIK
nach Märkten
(Anteil an der Produktion in %)
nach Branchen
(Anteil an der Zahl der Beschäftigten in %)
Militärproduktion
für den Binnenmarkt
18,2 Luftfahrt
Waffenindustrie
25
17
Militärproduktion für den Außenmarkt 29,5 Raketen und Raumfahrt
Munition und Spezialchemikalien
14
11
Zivilproduktion für den Binnenmarkt 40,6 Radio
Elektronik
10
8
Zivilproduktion für den Außenmarkt 11,7 Kommunikationsmittel 6
Tabelle 2: Grundlegende Kennziffern des Rüstungskomplexes Russlands im Jahr 1998.
Quelle: Informationsagentur TS-VPK, Februar 2000, www.vpk.ru

Literatur:

Astachow, Andrei (1999). Einige Ergebnisse und Probleme der Restrukturierung der Rüstungsindustrie. Finansy, September, S. 3-6

Kosals, Leonid (2000), Rezept zum Überleben des Rüstungskomplexes. Hesawisimoe woennoe obosrenie, 28. Januar-3. Februar

Putin, Wladimir (2000), Offener Brief an die russischen Wähler. Kommersant, 25. Februar, S. 3

Rossija-1999. Wirtschaftskonjunktur. Veröffentlichung des Zentrums für Wirtschaftskonjunktur bei der Regierung Russlands

Ksenia Gontschar, Moskau, ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin des Bonn
International Center for Conversion (BICC).
Übersetzung aus dem Russischen von Susanne Heinke-Mikaeilian.

Rüstung in Russland

Rüstung in Russland

Entwicklungstendenzen und Exporte

von Peter Lock

Um die gegenwärtige Situation des russischen militärisch-industriellen Komplexes – in der russischen Abkürzung VPK – zu verstehen, ist ein kurzer Rückblick auf den sowjetischen VPK und seine Rolle im innergesellschaftlichen Kräftespiel notwendig. Im Hinblick auf sein Verhältnis zu den Rüstungsindustrien in den führenden westlichen Industriestaaten ist die außerordentliche Beschleunigung des Innovationstempos in zivilen Sektoren von großer Bedeutung, das inzwischen auch die Entwicklung der meisten militärischen Systeme bestimmt. Denn das Dilemma des sowjetischen VPK bestand darin, daß er keine Verbindung zur globalen Dynamik ziviler Innovation hatte. Die zahlreichen technologischen Spitzenleistungen des VPK, z.B. in der Weltraumforschung, können nicht darüber hinweg täuschen, daß die Isolation der Sowjetunion von der Dynamik des zivilen Weltmarktes dazu geführt hat, daß man industriell das Zeitalter der Informationstechnologien verpasst hat. Wegen der nach wie vor weitgehend chaotischen Verhältnisse in der russischen Volkswirtschaft hat sich bis heute, trotz der prinzipiellen Verfügbarkeit hervorragend ausgebildeten wissenschaftlichen Personals, daran wenig geändert.

Immerhin hat sich die Diskussion längst von naiven Erwartungen an die Möglichkeiten friedenskensianischer Strategien nach dem Ende des Kalten Krieges als Umkehrung vom Rüstungskensianismus verabschiedet. Die »Friedensdividende« war zwar eine notwendige Utopie während des Kalten Krieges, aber sie war zugleich auch eine von Kenntnissen wirtschaftlicher Zusammenhänge kaum getrübte Wunschvorstellung. Denn man war einerseits einem falschen Image herausragender technologischer und unternehmerischer Leistungsfähigkeit der Rüstungsindustrie aufgesessen und hatte andererseits die Hinterlassenschaft des Kalten Krieges in Form von riesigen Hypotheken übersehen, die von nachfolgenden Generationen noch abgetragen werden müssen.1 Unmittelbare Wohlfahrtsgewinne hat es daher nicht gegeben, während die langfristigen positiven Wirkungen sich in der allgemeinen konjunkturellen Entwicklung verlieren.

Vor allem in Russland ist es bislang nicht gelungen, die im VPK gebundenen Ressourcen umzusteuern. Mehr noch, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit Russlands hat sich trotz massiver Rohstoffexporte soweit verschlechtert, daß man um die Aufrechterhaltung von einheitlicher Staatlichkeit, insbesondere der Reproduktion leistungsfähiger Streitkräfte, fürchten muß. Vor dem Hintergrund von Verfügbarkeit und notwendiger Kontrolle von großen Mengen zum Teil weitreichender Massenvernichtungswaffen müssen die Entwicklung des russischen VPK und die wirtschaftliche Entwicklung des Landes als ein vorrangiges Problem für die globale Sicherheit betrachtet werden. Die Gefahren, die sich aus der gegenwärtigen russischen Misere ergeben können, sind ungleich größer als die Schäden, die von den sog. Schurkenstaaten und internationalen Terroristen angerichtet werden können.

Die notwendige Vorgeschichte

Während Gorbatschow mit Rüstungsminderungen eine systemische Stabilisierung anstrebte und die ökonomische Implosion der sowjetischen Wirtschaft durch Konversion zu verhindern suchte, wurde er im Westen als Systemveränderer hofiert. Die Menschen in Russland und den anderen Staaten der Sowjetunion haben die Gorbatschow'sche Politik realistisch bewertet und ihn nach seiner Entmachtung mit Verachtung gestraft während er im Westen weiter als der gefeiert wird, der er wider eigenen Willen wurde. Er war Auslöser oder doch zumindest Beschleuniger einer systemischen Veränderung, deren Ausgangspunkt die Implosion des erschöpften, von Rustüngsproduktion geprägten sowjetischen Wirtschaftssystems war.

Die Wahrnehmung des VPK als vermeintlich besonders leistungsfähiger Sektor innerhalb der sowjetischen Wirtschaft hat zu einer fatalen Restrukturierung der sowjetischen Industrie unter Gorbatschow geführt. Mit dem Ziel, die Versorgung der Bevölkerung mit Konsumgütern und besonders langlebigen Gebrauchsgütern in hinreichender Menge und in verbesserter Qualität zu erreichen, wurden Ende der Achtzigerjahre Unternehmen des zivilen Sektors in großem Umfang in den VPK integriert, sodaß statistisch der Anteil des VPK an der zivilen Produktion dramatisch stieg. Gleichzeitig hatte sich damit der Machtbereich der lokalen und regionalen VPK-Direktoren während der Endphase der Sowjetunion teilweise umfassend erweitert. Zwar schmelzen diese »machtvollen Eisberge« des VPK, die die Industrielandschaft nach wie vor prägen, seit 1990 unaufhaltsam ab. Aber es ist gegenwärtig nicht erkennbar, wann dieser Prozeß zum Stillstand kommen und sich selektiv in bestimmte Richtungen umkehren wird.

Zunächst ist festzuhalten, daß das sowjetische Rüstungssystem weit weniger effizient gesteuert war als es dessen auf die Legitimation der eigenen militärischen Industrie-, Forschungs- und Bürokratiekomplexe ausgerichtete Projektion im Westen Glauben machte. Eine Kombination von vertikaler sektorieller Segmentierung des VPK durch oft wahllose, zentralistische Zuordnung zu den zahlreichen Branchenministerien und umfassender Steuerungsmacht einzelner Unternehmen – vor allem aufgrund ihrer häufig regional dominanten Position – hat den zentralen Planungsvorgang de facto weitgehend zu einem Anpassungsprozeß an die existierenden und sich ständig verstärkenden Machtpositionen dominanter Akteure sowohl auf Unternehmens- als auch auf der Ebene einzelner Branchenministerien gemacht. Verstärkt durch die geradezu paranoide Geheimhaltung innerhalb des VPK startete die russische Föderation mit einer industriellen Infrastruktur, die durch totale Intransparenz, ineffektive parallele Mehrfachentwicklungen im F&E-Bereich und großen Disökonomien durch vertikale Integration ohne Berücksichtigung der damit verbundenen Kosten gekennzeichnet war. Auch das System der sowjetischen Rüstungsproduktion befand sich in den Achtzigerjahren bereits in einer schweren Entwicklungskrise, die in den propagandistischen Nebeln des Kalten Krieges weitgehend verhüllt blieb.

Alle Versuche des VPK, den Innovationsprozeß zu effektivieren und den Beschaffungsprozeß zu rationalisieren, sind an der »Vermachtung« des ökonomischen Systems gescheitert. Während die Einführung unterschiedlicher Typen eines Waffensystems im Westen als Sequenz auf einem bedrohlich effizienten Innovationspfad des sowjetischen VPK dargestellt wurde, handelte es sich tatsächlich aber häufig um verschiedene Baumuster der gleichen Generation, die von konkurrierenden, aber durchsetzungsmächtigen Produktionsverbünden entwickelt worden waren. Klassisches Beispiel sind die Panzer der Baumuster T 64, T 72, T 80, die im Westen alarmistisch als vermeintlicher Beweis für eine bedrohliche Innovationskompetenz der sowjetischen Rüstungsindustrie dargestellt wurden, obgleich es sich um konkurrierende Produkte handelte, die allen militärischen Erfordernissen widersprechend parallel beschafft wurden. Die Sowjetarmee war politisch nicht in der Lage, die Beschaffung an militärischen Prioritäten zu orientieren und zwecks Standardisierung das beste Baumuster auszuwählen. Die jeweiligen Produktionsverbünde erwiesen sich politisch als mächtiger.

Überspitzt formuliert war die Rüstungsbeschaffung in der Sowjetunion und damit indirekt auch die Doktrin eine Funktion der Machtverhältnisse unter den segmentierten Akteuren des VPK. Daher war es nur konsequent, daß sowohl Gorbatschow als auch später Jelzin innerhalb der militärischen Führungsschicht Unterstützung fanden, denn dort war man davon überzeugt, daß der sowjetische VPK den technologischen Wettlauf ohne einschneidende wirtschaftliche Veränderungen und den Zugriff auf westliche Technologien endgültig verlieren würde.

In einem Punkt waren alle Akteure des VPK vereint und haben sehr erfolgreich ihre partikularen ökonomischen Interessen als Kollektiv zum Schaden der sowjetischen Volkswirtschaft durchgesetzt: Rüstungsexporte galten als Ausdruck des Erfolges des sowjetischen Systems gegenüber dem Westen. Der expansiven Breshnew-Doktrin blieben zumeist nur ärmste Drittweltstaaten als Kooperationspartner (u.a. Angola, Mozambique, Kuba, Äthiopien, Somalia, Nicaragua). Daher waren die expandierenden sowjetischen Rüstungsexporte gesamtwirtschaftlich eine große Belastung, denn nur ein geringer Teil wurde bezahlt. Auch finanzkräftigere Rüstungskunden wie Syrien, Irak und Indien ließen »anschreiben«. Zumeist wurden »unendliche« Kredite vergeben. In der innersowjetischen Konkurrenz um Ressourcen waren die an Rüstungsexporten beteiligten Unternehmen gleichwohl privilegiert, denn die Exporte wurden bei Ablieferung aus der Staatskasse in Rubel bezahlt, unabhängig davon, ob die Empfängerländer jemals für die Lieferungen bezahlten.

Die allgemeine Rüstungsexporthausse nach der Ölkrise im Jahre 1973 hatte zu einer stetigen Ausweitung auch der sowjetischen Rüstungsexporte geführt. Daraus hat sich eine sich selbst immer weiter verstärkende ökonomische Position des VPK im sowjetischen System ergeben. Der VPK konnte höhere Löhne zahlen und umfangreiche Sozialleistungen bieten, was zu einer Konzentration besonders qualifizierter Arbeitskräfte im VPK führte. Zusätzlich hatten Rüstungsunternehmen und militärische Forschungsinstitute privilegierten Zugang zu selektiven Importen aus westlichen Industriestaaten, vor allem im Werkzeugmaschinenbereich, nachdem durch Energieexporte nach Westeuropa hinreichend Devisen verfügbar geworden waren. Die Allokation erheblicher Devisen zur Beschaffung westlicher Werkzeugmaschinen, häufig unter Umgehung der COCOM-Restriktionen, an den VPK brachte volkswirtschaftlich kaum Produktivitätsfortschritte, da in Abwesenheit von Marktmechanismen in der vertikal zerklüfteten Rüstungsindustrie Maschinenlaufzeiten dieser Hightech-Importe von wenigen Tagen pro Jahr keine Seltenheit waren.

Rüstung in Russland

Mit dem Ende der Sowjetunion und dem Beginn der Liberalisierung im Jahre 1992 unter Gaidar ist der Rüstungsmarkt intern und extern zusammengebrochen. Der Staat verfügte weder über die Mittel für militärische Beschaffung, noch über die Mittel für die Kreditierung von Exportgeschäften nach altem Muster. Durch die anfänglich weitgehende Ausnahme des VPK von der Privatisierung und die massive vertikal integrierte Produktion, die durch die Übernahme ziviler Fertigung Ende der Achtzigerjahre um die Dimension häufig auch lokaler horizontaler Konzentration erweitert worden war, hat sich der Kern der Rüstungsindustrie trotz minimaler Beschaffungsvolumen in Russland auf erheblich abgesenktem Niveau gehalten. Zunächst negierte man die veränderte Lage und setzte die Produktion auf der Grundlage einer Pyramide von Lieferantenkrediten fort, wozu auch die Herstellung von Konsumgütern im Rahmen planwirtschaftlicher Konversionsvorgaben gehörte, für die es allerdings kaum Nachfrage gab. Dies führte zu teilweise großen Lagerbeständen an Waffensystemen unterschiedlichster Art. Folglich konzentrierten sich alle Anstrengungen auf Rüstungsexport, vorgeblich um auf diese Weise die Umstellung der Rüstungsindustrie auf zivile Produktion zu finanzieren. Mit Ausnahme der Lieferung militärischer Hochtechnologie nach China gab es jedoch wenig zahlungskräftige Nachfrage nach russischer Militärtechnologie. Entsprechend hat der Sektor große Verluste an qualifiziertem Personal an den Dienstleistungssektor erlitten und operiert auf niedrigstem Lohnniveau. Aber für die verbliebene Belegschaft ist die Betriebszugehörigkeit, trotz Zwangsurlaub und Wochenarbeitszeiten von ein bis zwei Tagen, zumeist ohne Alternative. Der Mobilität, die mit einem Wohnortwechsel verbunden ist, sind in Russland enge bürokratische und wirtschaftliche Grenzen gesetzt.

Die Direktoren des VPK kontrollieren das Geschehen, sie haben häufig verwertbare Anlagen aus den Betrieben herausgelöst und zum eigenen Nutzen privatisiert oder Lagerbestände an Rohstoffen und Halbwaren illegal exportiert. Überwiegend kam es zu einer Nomenklaturaprivatisierung. Sie ermöglichte es den Direktoren häufig, sich »ihren« Betrieb mehr oder weniger anzueignen.

Hierdurch wurde das Netzwerk bestehender informeller Beziehungen wiederum zu einer zentralen Ressource der Transformation bzw. deren Verhinderung. Unter diesen Voraussetzungen ist die russische Wirtschaft insgesamt in sehr starkem Maße auf zwischenbetrieblichen Tauschhandel zurückgefallen. Wahrscheinlich ist, daß dies für die Rüstungsindustrie in besonders starkem Maße gilt. Aus den akkumulierten zwischenbetrieblichen Verschuldungspyramiden der ersten Jahre, die per Dekret abgeschrieben wurden, hat sich eine auf Tausch beruhende Wirtschaftsweise entwickelt. Selbst Steuern werden durch Warenlieferungen abgegolten, deren Preise weit überhöht sind da es sich meist um Waren handelt, für die keine Nachfrage besteht und schon gar nicht zu den Verrechnungspreisen, die in diesen »Steuerzahlungen« nominal behauptet werden.

Staatliche Forschungsförderung, die grundsätzlich an militärischen Prioritäten ausgerichtet war, ist auf einem Minimum angelangt. Gleichwohl ist bislang die flächendeckende Schließung maroder Einrichtungen ausgeblieben und eine notwendige Restrukturierung verhindert worden. Hierzu haben zahlungsfähige Exportkunden in Nischenmärkten beigetragen. Hier ist vor allem der Satellitensektor zu nennen, in dem es eine intensive Zusammenarbeit mit westlichen Konzernen gibt, weil man bestimmte Technologien überlegen beherrscht und vor allem kostengünstig anbieten kann. Weitere Bereiche sind spezielle Werkstoffe, sowohl metallische als auch nichtmetallische. In einigen Fällen scheiterte eine Einbindung technisch leistungsfähiger Institute in global vernetzte Produktionsstrukturen an fehlenden Rahmenbedingungen wie fehlende Rechtssicherheit für potenzielle Partner und politische Einschränkungen der Handlungsfreiheit im militärisch-industriellen Bereich.

Entgegen der propagandistischen Darstellung paralleler Strukturen im Rüstungsbereich in West und Ost hatte sich seit den Siebzigerjahren eine dramatische Differenzierung der Grundlagen rüstungstechnologischer Entwicklung ergeben, die sich im Verlaufe der Zeit beschleunigt hat und auch in den westlichen Industrienationen zu einschneidenden Strukturveränderungen des Rüstungssektors geführt hat. Das Innovationstempo des Informationstechnologiesektors, dessen Dynamik von ziviler Nachfrage auf dem Weltmarkt bestimmt wird, hat das sowjetische, ausschließlich von militärischen Prioritäten bestimmte Innovationssystem uneinholbar abgehängt. Während in den westlichen Industriestaaten Waffensysteme und Produktionsverfahren immer stärker vom »spin-in« ziviler Informationstechnologie profitierten, hatte die sowjetische Rüstungsindustrie einen mindestens zehnjährigen informationtechnologischen Rückstand zu bewältigen. In begrenztem Maße gelang dies durch hochspezielle und aufwendige Softwareentwicklungen. Aber im Gegensatz zur westlichen Informationstechnologie, die auf zivile Märkte ausgerichtet und daher generisch konzipiert ist, hatten diese Lösungen kein kumulatives Entwicklungspotenzial.

Dieser Strukturwandel in der rüstungstechnologischen Innovation hat der russischen Rüstungsindustrie jede Chance genommen auch nur näherungssweise eine Parität zu wahren. Daher haben die Folgen der tiefen Wirtschaftskrise in Russland seit Beginn dieses Jahrzehnts den Niedergang der Rüstungsindustrie zwar beschleunigt, aber sie waren strukturell nicht ursächlich. Vielmehr war bereits der sowjetischen Wirtschaft aus systemischen Gründen eine Teilhabe an der zivil-industriellen Innovationsdynamik des Weltmarktes verschlossen geblieben.

Daher beruht die im VPK verbreitete Sowjetnostalgie auf einem Trugbild einer Zeit, in der man bereits den Anschluß endgültig verloren hatte. Die militärischen Spitzentechnologien des VPK befanden sich bereits in einer Sackgasse ohne langfristiges Entwicklungspotenzial. Darüber können beeindruckend agile Jagdflugzeuge von Sukhoi und MAPO (MIG) nicht hinweg täuschen. Den zur US-amerikanischen AirLand-Battle-Doktrin gehörenden Waffensystemen der Achtzigerjahre hatte die sowjetische Industrie nichts entgegen zu setzen. Der zweite Golfkrieg hat diesen Sachverhalt weltöffentlich gemacht.

Daß es den russischen Rüstungssektor überhaupt noch gibt, erklärt sich einerseits aus dem alternativlosen Prinzip Hoffnung der beteiligten Akteure, die sich noch nicht erfolgreich in andere Wirtschaftsbereiche absetzen konnten und mageren Exportmärkten, die Gegenstand des letzten Abschnittes sind. Die Beschaffung neuen Gerätes durch die russischen Streitkräfte ist minimal, jedenfalls seit die Hersteller auf wirklicher Bezahlung durch den Staat bestehen. Anfang der Neunzigerjahre hatten die Streitkräfte Waffen geordert, die nie oder so spät gezahlt wurden, daß die Zahlung aufgrund der hohen Inflationsrate den gelieferten Werten nicht einmal näherungsweise entsprachen. Der laufende Krieg in Tschetschenien und die damit verbundenen Änderungen des politischen Klimas eröffnen erstmals Chancen für ein wenig erhöhte Beschaffungen.

Sollten sich die russischen Staatsfinanzen wieder so weit konsolidieren, daß militärische Beschaffungen überhaupt in einem nennenswerten Umfang realisiert werden können – was derzeit nicht der Fall ist – dann stellt sich die Frage der Ausrichtung und Konzentration des Rüstungssektors auf der Grundlage einer noch zu entwickelnden Doktrin. Die dabei zu diskutierenden Optionen hängen unmittelbar vom politischen Umfeld ab, in dem sich Russland definieren muß. In erster Linie bedeutet das, daß das Verhältnis zur EU – und davon abgeleitet zur NATO – entscheidend diese Entwicklung prägen wird.

An eine eigenständige intensive Weiterentwicklung der Rüstungstechnologie ist nicht zu denken, selbst in jenen Nischen, in denen bereits entwickelte Prototypen, auch gemessen an westlichen Maßstäben, ein leistungsfähiges Angebot ergäben wenn man sie denn mit westlicher Elektronik ausgestattet in angemessener Frist auf dem Markt anbieten könnte. Ein Beispiel ist das neue militärische Transportflugzeuge Antonow 70. Ohne westlichen Partner wird man allein schon aus Kapitalmangel ein solches Produkt nicht zur Produktionsreife bringen können und wäre dann auch auf Exportmärkte angewiesen.

Dabei hat es gegenwärtig den Anschein, als hätten die westlichen Luftrüstungskonzerne ein Verweigerungskartell gebildet, das darauf aus ist die russische Luftfahrtindustrie endgültig auszuschalten. Vor allem der Zusammenbruch ziviler Märkte in Russland hat das »good will«-Potenzial selektiver rüstungswirtschaftlicher Zusammenarbeit auf Seiten der westlichen Luftfahrtindustrie als Eintrittskarte in die zivilen Märkte Russlands vollständig entwertet. Daher wird sich die Zusammenarbeit mit westlichen Unternehmen, auch im Rüstungsbereich, auf isolierte Komponentenfertigung in Fällen beschränken, in denen russische Unternehmen nach wie vor über ein verfahrenstechnisches »tacit know how« verfügen, das sie kostengünstig anbieten können. Außerdem hat wie bereits erwähnt die große Nachfrage nach ziviler Weltraumtechnologie einigen russischen Unternehmen, die ursprünglich dem VPK zugeordnet waren, gute Exportchancen eröffnet, die zu einer Konsolidierung der entsprechenden Unternehmen führen können, wenn es die Rahmenbedingungen erlauben.

Insgesamt aber bleibt die Situation in Russland von der Diskrepanz zwischen seinem potenziellen Reichtum und der Implosion der Ökonomie sowie dem Zerfall des Staates geprägt. Das gesamte Staatsbudget Russlands übersteigt kaum den Haushaltsansatz für die Bundeswehr, die Gesellschaft ist dem Staat entfremdet, das Bruttosozialprodukt liegt in der Größenordnung von Belgien. Ein erheblicher Teil der industriellen Produktion wird auf Tauschbasis abgewickelt, was hohe Transaktionskosten verursacht und konkurrenzfähige Exportproduktion nahezu unmöglich macht. Zusätzlich überlagern mächtige kriminelle Akteure die russische Ökonomie wie ein giftiger Nebel, für den staatliche Akteure kein Hindernis bilden.

Schließlich belastet das militärische Erbe des Kalten Krieges die russischen Perspektiven. Die noch zu erbringenden Lebenszykluskosten vor allem der Massenvernichtungswaffen übersteigen die finanzielle Leistungsfähigkeit Russlands deutlich. Zur Verhinderung von Katastrophenszenarien, die über Russland hinausreichen,2 muß das teure Recycling der kumulierten chemischen und nuklearen Kriegsmittel dringend als internationale Gemeinschaftsaufgabe angegangen werden.

Als gefährliche Alternative zu einer langsam zunehmenden rüstungsindustriellen Verflechtung und schließlichen Integration in einen gesamteuropäischen Verbund zeichnet sich ein abgekoppelter russischer, von Nationalismus getriebener Weg ab, der darauf verwiesen ist, die vergleichsweise spärlichen Ressourcen auf die Entwicklung größtmöglicher Abschreckung mit Massenvernichtungswaffen zu konzentrieren. Dies bedeutet die Entwicklung asymmetrischer militärischer Optionen in Russland, die das angehäufte Arsenal atomarer und chemischer Waffen aggressiv in Wert setzen. Denn differenziertere Doktrinen sind für ein isoliertes Russland, das sich von der NATO, d.h. den USA und Europa, bedroht sieht, nicht finanzierbar.

Rüstungsexport als scheinbarer Rettungsanker des VPK

Die nach wie vor große Aufmerksamkeit, die russischen Rüstungsexporten in den westlichen Medien zuteil wird, vermittelt ein falsches Bild. Die russischen Rüstungsexporte3 sind gegenüber sowjetischen Zeiten dramatisch gesunken und haben sich in den letzten drei Jahren ein wenig konsolidiert, weil die Volksrepublik China Aufträge über mehrere Milliarden US-$ an die russischen Luftrüstungsindustrie erteilt hat. Nahezu alle anderen lukrativen Märkte werden inzwischen von den USA beherrscht. Größere und kleinere Brosamen bleiben Großbritannien, Frankreich und rechnet man die Lieferungen von Überschußbeständen hinzu auch Deutschland.

Dabei ist zu beachten, daß sich Rüstungsimporte gegenüber den Achtzigerjahren insgesamt außergewöhnlich verringert haben. Gründe liegen in der Beendigung des Kalten Krieges und der ökonomisch erzwungenen Einstellung des konfrontativ begründeten faktischen Verschenkens von Waffen durch die Sowjetunion an befreundete Staaten und der tiefgreifenden Finanzkrise in vielen Staaten, die noch in den Achtzigerjahren stark gerüstet hatten. Ohne die Nachrüstung nach dem zweiten Golfkrieg in den Erdöldiktaturen der Region wäre der Zusammenbruch des internationalen Rüstungsmarktes noch drastischer ausgefallen.

Trotz größter Anstrengungen und massiver Beteiligung an allen Rüstungsmessen reduziert sich der russische Rüstungsexport auf:

  • die Lieferung moderner Luft- und Flottenrüstung an die Volksrepublik China in großem Umfang, einschließlich Know-how-Transfer (40 % und mehr);
  • die gelegentliche Berücksichtigung der Angebote in Erdöldiktaturen, Südkorea und Südostasien um die Verhandlungsposition gegenüber den dominierenden USA und Großbritannien zu verbessern (etwa 30%);
  • das Abtragen von massiver Verschuldung aus Zeiten des RGE durch Lieferung von Rüstungsgütern, z.B. MIG 29 an Ungarn;
  • neuerdings die Schaffung einer eigenständigen Agentur zur internationalen Vermarktung von Surplusmaterial, deren Erträge den Streitkräften zu Gute kommen soll (weniger als 10 %);
  • legale, aber vor allem illegale Transaktionen aller Art, dazu gehören Lieferungen innerhalb der GUS, Verschieben von Armeeeigentum auf Schwarzmärkte und verschleierte Lieferungen aus laufender Produktion durch kriminelle Akteure (Anteil wird heute auf nicht mehr als 10 % geschätzt). Da auch auf den völkerrechtlich legalen Märkten Schmiergeldzahlungen in Höhe von 15 % der Auftragssumme an der Tagesordnung sein sollen (vgl. Schreiber) ist eine Abgrenzung der beiden Sphären problematisch.

Mit einem maximalen Horizont von drei Mrd. US-$ für Exporte ist eine Refinanzierung und Modernisierung des russischen VPK ausgeschlossen. Ohne einschneidende Änderung der Situation wird das kontinuierliche Abschmelzen des VPK nicht aufgehalten, ferner wird man weiter technologisch den Anschluß an die von den USA forcierte Entwicklung verlieren und längerfristig nur noch als Billiganbieter einfacher Waffensysteme fungieren. Der strukturelle Niedergang wird bislang noch dadurch ein wenig verschleiert, daß die Entwicklungszeiträume komplexer Waffensysteme im Vergleich zur zivilen Technologie ungleich länger sind und daß Waffensysteme überaus lange Zeit, häufig bis zu 50 Jahre, eingesetzt werden und somit noch im Kalten Krieg erreichte Standards weiter marktfähig sind.

Trotz seiner prekären Situation hat Russland soweit bekannt sämtliche UN-Embargomaßnahmen diszipliniert mitgetragen und allen Versuchungen widerstanden Massenvernichtungswaffen zu exportieren.

Bleibt es bei der relativen Isolierung der russischen Industrie wird die Fähigkeit der Rüstungsindustrie weiter abnehmen, in Konkurrenz zu anderen Anbietern leistungsfähige Rüstungsgüter zu fertigen. Damit wäre sie dauerhaft auf die Bedienung illegaler Märkte in innerstaatlichen bewaffneten Konflikten verwiesen. So paradox es unseren im Kalten Krieg sozialisierten Ohren klingen mag, es liegt im europäischen Sicherheitsinteresse Wege zu finden, mit der russischen Rüstungsindustrie zu kooperieren und sie einzubinden.

Anmerkungen

1) Vgl. hierzu: Peter Lock, Auf Schulden gibt es keine Dividende. Friedensdividende: Einst notwendige Utopie, heute tragische Illusion, in: Der Überblick 2/1992, S. 67-70. Diese Hypotheken bestehen unter anderem in Fehlallokationen in der Volkswirtschaft, schamloser Vernutzung der Umwelt und schließlich hoher Staatsverschuldung.

2) Siehe: Lock, Peter / Opitz, Petra (1996): Deferred Costs of Mlitary Defence: An Underestimated Economic Burden, in: Chaterji et al. eds., Arms Spending, Development and Security, New Dehli 1996, S.253-266.

3) Daten zu russischen Rüstungsexporten finden sich in: SIPRI-Yearbook, erscheint bei Oxford University Press; auf den Internetseiten des US-amerikanischen Center for Defense Information und dem Informationsdienst des Council for a livable World Education Fund »Arms Trade News« in Washington D.C. 20002, 110 Maryland Avenue N.E., Suite 201, nützliche Informationen auch im Yearbook von BICC (Bonn International Center for Conversion).

Dr. Peter Lock, European Association for Research on Transformation, Hamburg / Moskau (EART) e.V.