Memorandum Friedenssicherung in den 90er Jahren.

Neue Herausforderungen an die Wissenschaft

Memorandum Friedenssicherung in den 90er Jahren.

von IWIF

1. Vorwort

Das vorliegende Memorandum ist mit Blick auf die historisch radikal sich verändernde Weltsituation nach Auflösung des fast ein halbes Jahrhundert andauernden Ost-West-Konfliktes (Kalter Krieg) formuliert. Es soll zum einem Impuls sein für die neu begonnene Verständigung unter den an Fragen zukünftiger Friedenssicherung und globaler Konfliktbewältigung interessierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sowie drängende Forschungsaufgaben definieren; zum anderen wird eine qualifizierte Öffentlichkeit, darunter Bundestag und Landtage, Bundesregierung und Länderregierungen, Verwaltungen auf allen Ebenen (Hochschulverwaltungen eingeschlossen), auf die Notwendigkeit einer den neuen Herausforderungen angemessenen Förderung friedenswissenschaftlicher Forschung und Lehre aufmerksam gemacht. Insofern wird auch in der gegenwärtigen Diskussion um Kürzung bzw. mittelfristige Streichung der Bundesmittel für Friedens- und Konfliktforschung Stellung bezogen.

Wir haben uns bemüht, bisher ungelöste Aufgaben zu skizzieren und neue Fragestellungen und Forschungsdesiderate zu akzentuieren, die sich aus den großen internationalen Veränderungen ableiten lassen. Das Memorandum gewichtet die globalen Problemansätze zukünftiger Friedenssicherung, drängt auf die Herstellung fachübergreifender Zusammenhänge, woraus ein zunehmend interdisziplinäres Profil der Friedenswissenschaft abgeleitet wird. Es ist selbst – erstmalig in einer solchen Form – interdisziplinär durch die Mitwirkung von Sozial- und NaturwissenschaftlerInnen zustandegekommen. Das bedeutet nicht, daß die im Memorandum enthaltenen Beschreibungen und Empfehlungen die ganze Breite und Tiefe tatsächlicher und potentieller friedenswissenschaftlicher Forschung abdecken. Wir meinen allerdings, daß sie ein realistisches Bild der Fragestellungen und Forschungsaufgaben vermitteln. Sie sind nach den vier heute relevanten Konfliktfeldern geordnet, in denen sich Existenz und Zukunft der Menschheit entscheiden: Frieden in den internationalen Beziehungen, Frieden zwischen Mensch und seiner Umwelt, Frieden als Aufgabe sozialer und ökonomischer Gerechtigkeit, Frieden als Sicherheit vor innergesellschaftlicher Gewalt. Den Abschluß des Memorandums bilden Überlegungen zur zukünftigen Forschungsstruktur und Forschungsförderung.

Das Memorandum wird herausgegeben von der Informationsstelle Wissenschaft und Frieden (IWIF), Bonn; die redaktionelle Verantwortung liegt bei Corinna Hauswedell (Informationsstelle Wissenschaft und Frieden – IWIF, Bonn) und Karlheinz Koppe (Arbeitsstelle Friedensforschung Bonn – AFB).

Zustandegekommen ist das Memorandum dank der Zusammenarbeit und aufgrund von Beiträgen und Textentwürfen folgender Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die mehrheitlich an deutschen Hochschulen, aber auch an außerhochschulischen Institutionen tätig sind und – aus ihren Fachdisziplinen kommend – friedenswissenschaftlich arbeiten:

Prof. Dr. Ulrich Albrecht, (Politikwissenschaft), Freie Universität Berlin • Prof. Dr. Dr. Günter Altner, (Ev. Theologie, Biologie), Universität Koblenz-Landau • Prof. Dr. Wilfrid Bach, (Klimatologie), Universität Münster • Dr. Hanne-Margret Birckenbach (Soziologie/Politikwissenschaft), Universität Hamburg • Prof. Dr. Egbert Brieskorn, (Mathematik), Universität Bonn • Prof. Dr. Hans Peter Dürr, (Physik), Max-Planck-Institut für Physik (Werner Heisenberg-Institut), München • Prof. Dr. Johannes Esser, (Pädagogik) Fachhochschule Lüneburg • Helga Genrich, (Informatik), Bonn • Prof. Dr. Bernhard Gonsior, (Physik), Ruhr-Universität Bochum • Günter Gugel, Verein für Friedenspädagogik, Tübingen • Uli Jäger, Verein für Friedenspädagogik, Tübingen • Prof. Dr. Peter Krahulec, (Sozialpädagogik), Fachhochschule Fulda • Prof. Dr. Ekkehart Krippendorff, (Politikwissenschaft), Freie Universität Berlin • Dr. Wolfgang Liebert, (Physik), Interdisziplinäre Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheitspolitik (IANUS), Technische Hochschule Darmstadt • Prof. Dr. Karlheinz Lohs, (Chemie), Leipzig • Prof. Dr. Helmut Metzler, (Psychologie), Universität Jena • Prof. Dr. Klaus Michael Meyer-Abich, (Kulturwissenschaft), Wissenschaftszentrum NRW • Marianne Müller-Brettel, (Psychologie), Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin • Dr. Petra Opitz, (Wirtschaftswissenschaft), Zentrum für regionale Konversion, Berlin • Prof. Christiane Rajewsky, (Politikwissenschaft), Fachhochschule Düsseldorf • Dr. Rainer Rilling, (Soziologie), Universität Marburg • Dr. Annette Schaper, (Physik), IANUS, Technische Hochschule Darmstadt • Achim Seiler, (Politikwissenschaft), IANUS, Technische Hochschule Darmstadt • Prof. Dr. Dieter Senghaas, (Friedens-, Konflikt- und Entwicklungsforschung), Universität Bremen • Dr. Eva Senghaas-Knobloch, (Politische Psychologie), Universität Bremen • Prof. Dr. Udo Ernst Simonis, (Wirtschaftswissenschaft), Wissenschaftszentrum Berlin • Prof. Dr. Brigitte Stepanek, (Politkwissenschaft), Greifswald • Prof. Dr. Klaus Timm, (Orientwissenschaft), Humboldt-Universität Berlin • Prof. Dr. Diethelm Weidemann, (Asienwissenschaft), Humboldt-Universität Berlin • Dr. Christian Wellmann, (Soziologie/Politikwissenschaft), Universität Kiel • Prof. Dr. Gerda Zellentin, (Politikwissenschaft), Universität Wuppertal.

Wir danken diesen Kolleginnen und Kollegen für vorbereitende Texte, Empfehlungen, Korrekturen und vor allem für Ermutigung, dieses Memorandum zu schreiben und zu veröffentlichen. Außerdem weisen wir daraufhin, daß uns Arbeiten zahlreicher weiterer Kolleginnen und Kollegen bei der Abfassung des Gesamttextes inspiriert haben, denen unser Dank ebenso gilt.

Bonn, im Januar 1992
Corinna Hauswedell/Karlheinz Koppe

2. Einleitung

Das Ende der Ost-West-Konfrontation und die Auflösung der Sowjetunion sowie die Umbrüche in Osteuropa (wie auch in Teilen der sogenannten Dritten Welt) zeitigen Folgen und Problemdimensionen, die in vielerlei Hinsicht weder voraussehbar waren noch ohne weiteres zu lösen sein werden. Es sind einerseits neue Freiräume für die Gestaltung einer weniger konfliktbelasteten Zukunft entstanden; andererseits wird diese historische Chance, unter veränderten Voraussetzungen eine dauerhafte europäische und globale Friedensordnung zu schaffen, mit dem teilweise militanten Aufbrechen alter und neuer Konflikte konfrontiert. Zwar war die Einsicht, daß Krieg wegen der globalen Auswirkungen von Massenvernichtungswaffen – vor allem von Kernwaffen – nicht mehr führbar sei, für die Beendigung des Kalten Krieges mitentscheidend. Doch der Krieg am Golf und der Krieg unter den Völkern Jugoslawiens ebenso wie die Konflikte zwischen und in den Republiken der ehemaligen Sowjetunion zeigen, daß Waffengewalt nach wie vor als Mittel der Konfliktregelung dient und als Fortsetzung von Politik angesehen wird, wo Politik im Grunde versagt.

So sind im Schatten der Auflösung der Ost-West-Konfrontation und des globalen ideologischen Blockdenkens auf allen Ebenen Konflikte aufgebrochen, deren Austragungsformen dem eingeleiteten Entmilitarisierungs- und Abrüstungsprozeß zuwiderlaufen. Zugleich behindern sie die dringend gebotene Abwendung der sichtbarer werdenden ökonomischen und ökologischen Gefahren, die die Existenz der menschlichen Zivilisation, der Weltgesellschaft insgesamt bedrohen. Entscheidende Faktoren sind in diesem Zusammenhang: Die sich abzeichnende Verdoppelung der Weltbevölkerung bis zum Jahr 2035, die Vervielfachung der ökologischen Belastungen (vor allem die sich abzeichnende Klimaveränderung), die zu erwartenden Auseinandersetzungen um Ressourcen (insbesondere Trinkwasser und Nahrung) und Energiequellen, die anhaltende Akkumulation von Reichtum in den Händen einer Minderheit der Weltbevölkerung während eine große Mehrheit durch Not, Hunger und Krankheiten bereits täglich in ihrer Existenz bedroht ist. Das immense Wirtschafts- und Machtgefälle zwischen Nord und Süd, zwischen Osteuropa und Westeuropa, aber auch innerhalb der Wohlstands- wie auch der Armutsregionen selbst, verstärkt die gegenwärtigen ethno-nationalistischen und religiös-fundamentalistischen Widersprüche; dies führt zu einem Aufschaukeln der vorhandenen Konfliktkonstellationen. Millionen Menschen haben sich in den vergangenen Jahren auf die Wanderung begeben, um der Armut und dem Hunger, der Zerstörung ihrer Umwelt und den Folgen von Krieg, Bürgerkrieg und Unterdrückung zu entfliehen. Millionen werden folgen. Solange nicht die globalen Ursachen und Zusammenhänge dieser Entwicklungen ins Visier neuer Lösungsansätze genommen werden, werden die Zuwanderungswilligen vor allem als Belastung der Ökonomie der Gastländer wahrgenommen und als Feindbilder mißbraucht. Die neue Woge von Ausländerfeindlichkeit und Rechtsextremismus hat hier eine Wurzel.

Eine der Folgen dieser Entwicklung ist, daß die erhoffte Verringerung von Rüstungsausgaben, die sogenannte Friedensdividende, ausbleibt. Zwar werden Streitkräfte reduziert, doch wird stattdessen die Entwicklung neuer spitzentechnologischer Waffensysteme vorangetrieben. Die Zivilisierung des Konflikts in dem Sinne, daß der gewaltfreien politischen Lösung von Konflikten ein unbedingter Vorrang gegenüber militärischen Optionen eingeräumt wird, macht nur geringe Fortschritte. Vielmehr findet eine Relegitimierung militärischer Gewaltanwendung statt. Alte hegemoniale Ansprüche werden aufrechterhalten und stoßen auf (alt)neue nationale Vorstellungen. Auf Überlegungen, wie der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, die NATO oder europäische Institutionen am wirksamsten militärisch intenvenieren können, wird zur Zeit mehr Gewicht gelegt als auf eine Neuordnung der Weltwirtschaftsbeziehungen oder die Durchsetzung einer Weltklimakonvention.

Besonders in Europa ist neben der Zunahme des Armutsgefälles zwischen Ost und West eine Verlagerung der Rüstungsdynamik zu beobachten. Die Auflösung der Sowjetunion wirft unter anderem die Frage nach der Kontrolle des sowjetischen Kernwaffenpotentials auf. In der Europäischen Gemeinschaft sind Tendenzen zu erkennen, sich als »Festung Europa« gegenüber anderen Weltregionen abzuschotten und eigene militärische Abschreckungs- und Interventionskapazitäten aufzubauen. Auch die ost- und südosteuropäischen Staaten bemühen sich – nicht zuletzt in Sorge vor der unkalkulierbaren Entwicklung in den ex-sowjetischen Republiken – um eine Neugruppierung ihrer Militärpotentiale. Die Hoffnung auf eine europäische Friedensordnung im Rahmen der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) nimmt eher ab als zu. Die inzwischen vereinbarten Streitschlichtungsmechanismen der KSZE erweisen sich als überaus schwerfällig. Die Erarbeitung von Entmilitarisierungs(Zivilisierungs)konzepten kommt, wenn überhaupt, nur sehr schleppend voran. Auch innerhalb der westlichen Industriegesellschaften, deutlich auch im vereinigten Deutschland, sind im Blick auf innenpolitische wie internationale Veränderungen Tendenzen zunehmender Gewaltanwendung erkennbar.

Psycho-politische Hemmnisse und der subjektive Faktor verstärken das Konfliktgeschehen. Hilflosigkeit und Existenzangst von Bürgerinnen und Bürgern bewirken einerseits eine Trägheit der Öffentlichkeit, andererseits eine Zunahme fundamentalistischer Tendenzen sowie extremistischer Ausschreitungen. Verunsicherung und Opportunismus von Entscheidungsträgern in Politik und Wirtschaft leisten der Tendenz Vorschub, den sich anbahnenden oder bereits tatsächlich wirksamen Konflikten mit dem traditionellen Instrument des Militärs zu begegnen.

Wenn Friedenswissenschaft mehr denn je »Überlebenswissenschaft« (C.F. von Weizsäcker) ist, dann muß sie sich mit diesen veränderten Gegebenheiten auseinandersetzen. Sie muß die neuen positiven Gestaltungsmöglichkeiten ebenso aufzeigen wie die negativen Aspekte der sich vollziehenden Veränderungen. Sie muß die Frage nach den Ursachen von Gewalt im Licht der jüngsten Ereignisse neu stellen und Lösungsmöglichkeiten erkunden. Die daraus abzuleitenden generellen Forschungsdesiderate können wie folgt beschrieben werden:

  • Welchen Einfluß hat das Ende der Ost-West-Konfrontation auf das Konfliktgeschehen in Europa und anderen Weltregionen? Welche Rolle könnten die bisherigen europäischen friedenspolitischen Erfahrungen (einerseits westeuropäische Integration, andererseits KSZE-Prozeß) im zukünftigen Europa und darüber hinaus spielen?
  • Wie kann eine globale Friedensordnung gestaltet werden, die einerseits die Gefahr militärischer Auseinandersetzungen minimiert, andererseits den Spielraum für zivilisatorische Entwicklung optimiert?
  • Welcher Art sind die sicherheitspolitischen Implikationen der anhaltenden Technologieentwicklung sowie der neuen globalen ökonomischen (Beispiel Migrationen) und ökologischen (Beispiel Klimaveränderung) Gefahren?
  • Welche Bedeutung und welche Chancen haben Abrüstungs-, Verifikations- und Konversionskonzepte?
  • Welche Konfliktszenarien sind erkennbar und welche präventiven Konfliktregulierungen sind vorstellbar?
  • In welchem Wechselverhältnis steht die Notwendigkeit des Aufbaus und der Wahrung von Friedensordnungen zu der Notwendigkeit der Beseitigung globaler und existenzbedrohender Konfliktursachen?
  • Welche Beschränkungen nationaler Souveränität (ohne Einschränkung nationaler Identität) sind beim Aufbau globaler und regionaler Friedensordnungen notwendig und wie können sie verwirklicht werden?
  • Welche Rolle spielen in diesem Prozeß internationale Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen, und wie können Regime für Teil- und Regionallösungen entwickelt und verwirklicht werden?
  • Wie können Konflikte in der Region Europa eingehegt werden (Europäische Friedensordnung), und welche Rolle spielen dabei europäische Institutionen und Regime (insbesondere EG und KSZE)?
  • Wie können die neuen Großstaaten – China, Rußland, Indien, Brasilien u.a. – in eine Weltfriedensordnung integriert werden?
  • Welchen Einfluß haben psycho-politische Faktoren (patriarchalische Strukturen, fundamentalistische Tendenzen, Erziehung, der subjektive Faktor u.a.) auf die Gestaltung globaler und/ oder regionaler Friedensordnungen?

Die vorstehend angerissenen alten und neuen Konfliktlinien werden in der Folge an einer Reihe von Beispielen expliziert sowie durch methodologische Hinweise und Anforderungen an Wissenschaftspolitik und Forschungsförderung ergänzt.

3. Analyse und Bewertung militärischer Gewalt

Die Annahme, daß nach dem Ende des Ost-West-Konflikts die (durch Kriegsursachen- und Rüstungskontrollforschung) vorwiegend auf Kriegsverhütung orientierte Friedens- und Konfliktforschung ihre Aufgabe erfüllt habe und deshalb keiner öffentlichen Förderung mehr bedürfe, ist in mehrfacher Hinsicht irrig. Die anhaltende und zum Teil neu aufbrechende Gewalt (Krieg am Golf, Krieg in Jugoslawien, latente Bürgerkriegsgefahr zwischen und in den Republiken der ehemaligen Sowjetunion, Kriege und Bürgerkriege in der Zweidrittelwelt der Armut, nationale mit Waffengewalt ausgetragene Autonomiekonflikte in Nordirland, im Baskenland, latente Konflikte dieser Art auch in anderen Regionen Europas und der Welt) zeigt, daß die alten Fragestellungen andauern und neue Forschungsfragen zu formulieren sind. Auch die häufig anzutreffende Vermutung, die Friedens- und Konfliktforschung habe versagt, weil sie die neuen Konflikte nicht vorhergesehen habe, ist irrig und scheint eher dazu angetan, vom Versagen der Politik vor, während und nach dem Ende der ideologischen Blockkonfrontation abzulenken. Tatsächlich hat die Friedens- und Konfliktforschung in einer Fülle von Publikationen seit Jahren nachdrücklich darauf hingewiesen,

  • daß die Region des Nahen und Mittleren Ostens einer der gefährlichsten Krisenherde in den internationalen Beziehungen ist,
  • daß Unterentwicklung etwas mit (struktureller) Gewalt und dem Wirtschaftshandeln der Wohlstandsregionen zu tun hat und militärische Gewalt nach innen und außen auslösen kann (und tatsächlich auslöst),
  • daß der nach politischen, militärischen und wirtschaftlichen Opportunitätserwägungen betriebene Rüstungsexport nicht friedenssichernd, sondern kriegstreibend wirkt,
  • daß Rüstung und Rüstungstechnologie Eigendynamik entwickeln,
  • daß Militär nicht nur Verteidigungsfunktionen hat, sondern – vor allem in Entwicklungsländern – auch Repressionsfunktionen, das heißt Herrschaftssicherungsfunktionen gegenüber der eigenen Bevölkerung.

Vielfach belegt ist die Tatsache, daß mehr Menschen von »eigenen Soldaten« als in Kriegshandlungen mit Nachbarstaaten getötet werden. Militärdiktaturen, Staatsstreiche und Bürgerkriege sind konkrete Lebenserfahrungen des größeren Teils der heute überall staatlich organisierten Menschheit. Dessen ungeachtet wird in den Wohlfahrtsregionen, vor allem in Europa, diese Funktion von Militär verdrängt und auf die Funktion der Verteidigung nach außen reduziert. Dieses Rollenbild ist in die modernen Staatsstrukturen, einschließlich der Organisation der Vereinten Nationen, ebenso eingegangen wie in unsere Sprache, in unsere öffentlichen Tugendlehren und in unsere politische Begriffswelt. Kein Staat, keine Regierung im Konzert der internationalen Staatengemeinschaft (Ausnahme Costa Rica) will auf das Instrument Militär verzichten, gerade weil es nicht nur Instrument der Politik, sondern struktureller Bestandteil von Herrschaftsausübung ist. Und ebenso gilt, daß kein Staat und keine Staatsführung auf die Förderung der aus dem Militärischen abgeleiteten »staatsbürgerlichen« Tugenden – Pflichterfüllung, Dienst an der Gemeinschaft bis zum Einsatz des eigenen Lebens, Opferbereitschaft, Gehorsam gegenüber Vorgesetzten, loyale Ausführung von behördlichen Anweisungen (Befehlen) – verzichtet. Hier ist das komplexere Problem des Militärischen zu erkennen, die Militarisierung der Gesellschaft, der sich die Friedens- und Konfliktforschung bislang nur am Rande (politische Sprachanalyse, Feindbilduntersuchungen, Friedenspädagogik) angenommen hat.

Die Friedensforschung könnte unter den veränderten politischen Bedingungen neues Profil auch dadurch gewinnen, wenn sie sich zunehmend als Entmilitarisierungsforschung verstehen würde. So müßte sie forschend prüfen, ob es ausreicht, wie bisher nur über eine Einhegung des Militärs, seine politisch-demokratische Kontrolle und das Ausmaß der Rüstung nachzudenken, oder ob es nicht an der Zeit ist, Militär als solches grundsätzlich in Frage zu stellen und sich Gesellschaften vorzustellen, die ihre Funktion auch ohne Militär erfüllen.

4. Die Alternative: Zivilisierung der Konflikte

Wenn hier von Zivilisierung des Konfliktes die Rede ist, dann ist damit gemeint, den Konfliktaustrag auf eine verläßliche, gewaltfreie Konfliktbearbeitung auszurichten. Gerade weil Konflikte sich leicht militarisieren und folglich unter den Gesichtspunkten militärischer Sicherheitspolitik betrachtet werden, ist als erster Schritt einer Zivilisierung des Konflikts seine Entmilitarisierung erforderlich. Entmilitarisierung ist notwendig, aber nicht ausreichend, vielmehr bedarf sie einer zusätzlichen konstruktiven Perspektive, um eine unumkehrbare Zivilisierung des Konfliktes zu gewährleisten, beispielsweise der Institutionen und Instrumentarien friedlicher Streitbeilegung, wie sie im Völkerrecht und in der allgemeinen Forschung über Konfliktlösung (conflict resolution) thematisiert werden.

Mit dem Ende des Ostblocks und der Auflösung der Sowjetunion in ihrer bisherigen Gestalt, der Überwindung des Ost-West-Konflikts und dem zu Ende gegangenen Kalten Krieg schaut die Welt zu Beginn der 90er Jahre anders als in den vorangegangenen Jahrzehnten aus. Die Bedingungen für Friedenswahrung und Friedensgestaltung haben sich grundlegend verändert. Golfkrieg und Rückfälle in nationalistische Anarchie haben allerdings deutlich werden lassen, daß Friedenspolitik weder in Europa noch in der Welt ein Selbstläufer ist. Die Veränderungen an sich haben noch keines der globalen Probleme gelöst; sie implizieren Chancen für Konfliktprävention und -lösung ebenso wie Risiken des Entstehens neuer Konfliktpotentiale durch Zuspitzungen des Nord-Süd-Konflikts, durch zunehmendes ökonomisches Gefälle zwischen dem »reichen« Teil Europas und dem osteuropäischen »Armenhaus« sowie durch den außerordentlich komplizierten Übergang der ost- und südosteuropäischen Staaten zur Marktwirtschaft. Schon heute ist erkennbar, daß auch das neue Europa konfliktträchtig sein wird, aber die neuen Konflikte sind von anderer Natur als in den vergangenen vierzig Jahren. Nicht mehr der eine große Konflikt steht im Zentrum, sondern eine Vielzahl von kleinen Konflikten. Erwies sich der »Dritte Weltkrieg« schließlich als nicht führbar, so zeichnen sich die nunmehr ins Haus stehenden kleineren Konflikte durch eine vergleichsweise hohe Kriegsneigung aus: Minderheitenkonflikte, ethno-nationalistische Konflikte, Sezessionsbestrebungen, irredentistische Bewegungen und ähnliche Erscheinungen bestimmen stärker die Politik. Damit droht eine Renaissance von affektiv aufgeladenen Feindbildern, Xenophobien und nationalistischen Exzessen, die sich in ihrer Wirkung schwerlich auf Europa begrenzen lassen werden. Wenn Frieden weltweit gewährleistet und Europa zu einer soziokulturellen Einheit werden soll, dann ist eine neue zivile Politikkonzeption notwendig, die hegemoniale Ansprüche ebenso wie nationalistisch geprägte und affektbeladene Handlungsorientierungen zugunsten von Einfühlungsbereitschaft in die Interessenlagen und Identitäten anderer (Empathie) sowie zugunsten von solidarischem kooperativen Handeln abbaut.

Erwies sich ein Golfkrieg noch als führbar, freilich ohne eines der involvierten Probleme tatsächlich gelöst zu haben, so hatte es den Anschein, daß sich zumindest in Europa Krieg verbietet, nicht zuletzt infolge des erreichten hohen Grades der Verwundbarkeit moderner Industriegesellschaften. Krieg zwischen europäischen Staaten würde die menschliche Existenz auf diesem Kontinent aufs Spiel setzen, seine Folgen für die sogenannte Dritte Welt wären verheerend. Um so alarmierender ist, daß durch den Golfkrieg Krieg als Mittel der Politik restauriert wurde, daß trotz aller Umbrüche keine Abschwächung des militärischen Faktors in Sicht ist. Restbestände konfrontativen Denkens und aufgehäufte Rüstungen wirken fort, die Modernisierung der Rüstung ist keineswegs gestoppt. Fast automatisch streben Militärapparate jedweder Größenordnung nach waffentechnologischen Innovationen und Effizienzsteigerungen, suchen nach Ersatzstrategien, wie etwa die Diskussion über schnelle Eingreiftruppen zeigt.

Die gegenwärtige Situation fordert nicht nur neue auf Zivilisierung zielende Politikkonzeptionen. Da es dabei wesentlich um Innovationen für Konfliktbewältigung geht, steht gerade die Friedenswissenschaft vor neuen Herausforderungen. Ihre Aufgabe ist es, disziplinär und disziplinenübergreifend die künftig absehbaren inneren und äußeren Bedingungen für Frieden zu untersuchen und über neue konstruktive Wege zur Kriegsverhinderung und Friedensgestaltung nachzudenken. Entscheidender Ausgangspunkt muß dabei die Erkenntnis sein, daß militärische Mittel zur Konfliktprävention und -lösung heute und künftig untauglich sind. Für eine so verstandene Zivilisierung von Konflikten lassen sich folgende Dimensionen benennen:

  • eine ordnungspolitische/völkerrechtliche Dimension;
  • eine sicherheitspolitische Dimension;
  • eine ökonomische/soziale Dimension;
  • eine humanitäre/menschenrechtliche Dimension;
  • eine ökologische Dimension;
  • eine kulturelle Dimension.

Die Berücksichtigung aller dieser Dimensionen erfordert einen entsprechenden politischen Willen, positive Interdependenz, vertrauenschaffende Zusammenarbeits- und Sicherheitsstrukturen, eine Entfeindung innerhalb von Gesellschaften und zwischen Staaten – auch wenn Realität und Realpolitik sich heute mitunter mehr denn je davon zu entfernen scheinen.

Beobachtungen aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zeigen, daß ein hoher Grad an institutioneller Vernetzung unabweisbare Zwänge zur Koordinierung und Konzertierung der Politik, zur friedlichen Konfliktprävention und -lösung auslösen kann. Das gilt in Westeuropa beispielsweise – ungeachtet aller vorhandenen Demokratiedefizite – für die Europäische Gemeinschaft, wo heute niemand mehr im Falle zugespitzter Interessenkonflikte die Androhung militärischer Gewalt erwartet, oder für die Nordischen Staaten, die durch vielfältige Kooperationsbeziehungen miteinander verflochten sind. Auf nationaler Ebene haben Institutionen bzw. Kooperationsmodelle (wie der »ombudsman« und andere demokratische Dialogformen in Schweden) in hohem Maße zur Zivilisierung von Konflikten beigetragen.

Die Vereinten Nationen als potentiell weitreichendster internationaler Rahmen für Kooperation und Konfliktlösung waren gleichzeitig zu sehr von der Ost-West-Ordnung nach dem Zweiten Weltkrieg geprägt, um auffallende Impulse zur Friedensgestaltung, zur Konfliktprävention und zur gewaltfreien Lösung von Streitigkeiten im globalen Sinne beitragen zu können. Auch hier besteht jetzt die Chance für einen Neubeginn.

5. Europa – Experimentierfeld für Frieden

Für die Friedensforschung ergibt sich – ausgehend von der Bedeutung innergesellschaftlicher, nationaler, regionaler und internationaler Kooperationsmodelle – die Notwendigkeit, genau zu analysieren, welche Strukturen für kollektive Konfliktregelungen in Gesamteuropa bzw. weltweit verwertbar und welche untauglich sind oder welche ganz anderen Modelle möglicherweise erforderlich sind.

Am Beispiel einer politischen Architektur für Gesamteuropa sollen im vorliegenden Abschnitt Forschungsfragen nach einer zukünftigen zivilen Kooperation und Friedensfähigkeit in dieser Region der Welt entwickelt werden. Dies schließt in einem gewissen Umfang das Nachdenken über weltweite Konfliktregulierungsinstrumente ein. Vorliegende Forschungsresultate und Konzepte, besonders hinsichtlich einer neuen europäischen Friedensordnung, bedürfen kritischer Überprüfung. In erster Linie sollte sich die Aufmerksamkeit auf folgende Forschungsansätze und Fragestellungen richten:

  • Welche nationalen Kooperationsmodelle sind für den Demokratisierungsprozeß in den osteuropäischen Staaten und für andere regionale bzw. internationale Konfliktkonfigurationen denkbar und tauglich?
  • Ist die EG ein geeignetes Mittel, um das Wirtschaftsgefälle zwischen West- und Osteuropa auszugleichen und das Entstehen neuer Mauern in Europa zu verhindern?
  • Wie können die vorhandenen Kooperationsmodelle in Europa (ECE, EG, EFTA, Europarat u.a.) miteinander vernetzt werden?
  • Wie ist die Notwendigkeit der Existenz von NATO und WEU in einer gesamteuropäischen Friedensordnung zu bewerten und unter welchen Voraussetzungen könnten beide Institutionen zur Zivilisierung von Konflikten beitragen?
  • In welchem Umfang ist die EG zur Friedenssicherung in Gesamteuropa einsetzbar und inwieweit bedarf der bislang erreichte Grad an Demokratie innerhalb der Gemeinschaft und ihrer Mitgliedsstaaten kritischer Bearbeitung?
  • Welche Rolle können regionale Kooperationsmodelle wie beispielsweise der Nordische Rat in bezug auf die Schaffung neuer Strukturen in Europa einschließlich von Reformen der EG spielen?
  • Welche Ansätze zur Devolution, zur Verlagerung staatlicher Macht auf substaatliche Bereiche im regionalen Rahmen sind im Interesse kooperativer Friedensgestaltung erkennbar bzw. wünschenswert?
  • Wie sind die Chancen und Folgen einer fortschreitenden Regionalisierung (Nordeuropa, Ostseeraum, Pentagonale u.a.) als »Nebenintegrationspolitik« und/oder im Rahmen der EG zu bewerten?
  • Welche Strukturen, Mechanismen und Institutionen einer politisch akzeptierten KSZE sind für eine Zivilisierung von Konflikten tauglich, welche neuen müßten geschaffen werden?
  • Welche Aspekte des KSZE-Modells sind auf andere Weltregionen oder auf die internationale Ebene insgesamt übertragbar?
  • Wie können die Vereinten Nationen als friedenswahrende und friedenstiftende Institution tatsächlich zur gewaltfreien Lösung von Konflikten beitragen?

In Anbetracht der großen Veränderungen und des Ausmaßes der potentiellen und tatsächlichen globalen Konflikte sind vorausschauende Forschungserkenntnisse und vernünftige Politik mehr denn je gefragt. Europa hat zwar den großen Konflikt hinter sich gelassen, aber noch ist eine vielgliedrige europäische Friedensordnung nicht einmal in Konturen zu erkennen. Wenn es in Europa gelingt, innerhalb des letzten Jahrzehnts in diesem Jahrhundert die Grundlagen für eine kooperative Staatengemeinschaft zu legen, wird auch die übrige Welt davon Nutzen haben. Europa würde sich dann nicht länger als abweisende Festung, sondern als Experimentierfeld für vernünftige Politik darstellen. Die Friedensforschung wird weit mehr als in der Vergangenheit hierfür konstruktive Beiträge einzubringen haben.

6. Technologie, Rüstungsdynamik und Friedenssicherung

Ambivalenz moderner Hochtechnologien

Als ein besonders drängendes Forschungsdesiderat erscheint die Analyse und Bewertung der zivil/militärischen Ambivalenz moderner Hochtechnologien, die pauschal mit dem Sammelbegriff dual use bezeichnet werden kann. Tatsächlich scheint eines der herausragenden Merkmale jeder Hoch- oder Spitzentechnologie ihr breites Anwendungsspektrum zu sein, von dem der zivile und der militärische Sektor gleichermaßen profitieren. Ein weiteres Merkmal von Hochtechnologie ist ihr Charakter als Systemtechnologie. Ein Hochtechnologieprodukt oder ein Waffensystem (hier legt es der Name bereits nahe) ist ein Ensemble von Komponenten, deren Leistungsmerkmale kohärent aufeinanderzuentwickelt werden müssen. Die zentrale Herausforderung, vor die sich sowohl staatliche Beschaffungsbehörden als auch Unternehmen gestellt sehen, ergibt sich aus dem rapide steigenden Anteil der elektronischen Komponenten sowie aus deren immer kürzerer Lebensdauer (von früher zehn bis zwölf Jahren auf heute teilweise weniger als zwölf Monate). Darin liegt ebenso wie in den drastisch gestiegenen Aufwendungen für Forschung und Entwicklung (FuE) ein entscheidender Faktor für die zu beobachtende Kostenexplosion. Nicht zuletzt im Interesse von Kostensenkung sind Elektronikkonzerne (aber auch andere relevante Industrien) daran interessiert, eine einmal entwickelte Produktionstechnologie, sofern dies technologisch möglich ist, unmittelbar zur Herstellung sowohl der zivilen als auch der militärischen Version eines Produktes zu nutzen, um im internationalen Verdrängungswettbewerb mithalten zu können. Dabei ergibt sich nahezu automatisch ein Interesse am Export entsprechender Produkte. Alle Maßnahmen zusammen dienen dem Zweck, Rücklagen für die aufwendige Forschung über Folgeprodukte zu bilden und Subventionen zu akquirieren, die nicht unbedingt rüstungsbezogen sein müssen, unternehmensintern aber Synergie-Effekte verstärken.

Eine weitere Möglichkeit, die zivil/militärische Ambivalenz moderner Hochtechnologien zu nutzen, besteht in der Tendenz, Waffen- und Logistiksysteme von vorn herein so anzulegen, daß die kurzlebigen Komponenten permanent durch die jeweilige Nachfolgegeneration ersetzt werden müssen, wobei entsprechend leistungsfähige Teile aus dem zivilen Sektor unter militärischen Gesichtspunkten weiterentwickelt werden. Diese Nutzung kommerzieller Komponenten – gewissermaßen »aus dem Regal« – wird sowohl von Entscheidungsträgern in der NATO als auch von den Planungsstellen der amerikanischen Streitkräfte begünstigt und vom Technologiezentrum der NATO in Belgien (SHAPE Technology Center) mit dem Kürzel COTS (components-of-the-shelf) bezeichnet. Auch in einer Selbstdarstellung des Bundesministeriums für Forschung und Technologie (BMFT) zur Förderphilosophie im Bereich der Informationstechnologien wird dieses Interesse anschaulich dokumentiert: „In Zukunft wird auch verstärkt darauf hinzuwirken sein, sogenannte Dual-Use-Technologien intensiver zu nutzen, d.h. zu versuchen, militärische Forderungen bei zivilen Entwicklungen frühzeitig mitberücksichtigen zu lassen beziehungsweise auf derartige Dual-Use-Technologien in Form von Add-On-Programmen zu setzen, um den militärischen Bedarf zu decken.“

Neben den traditionellen einzelstaatlichen Hilfen haben angesichts der internationalen Subventionskonkurrenz die transnationalen FuE-Programme in Westeuropa einen hohen Stellenwert. In erster Linie sind die Einzelprogramme der Europäischen Gemeinschaft (ESPRIT, RACE, EURAM u.a.) zu nennen, für marktnahe FuE-Vorhaben die französische Technologie-Initiative EUREKA und für rüstungstechnologische Projekte der europäischen NATO-Staaten die militärische EUREKA-Version EUCLID. Die Nutzung dieser Programme ermöglicht es europäischen Industriekonzernen, auf politisch unverfängliche Weise an Parlamenten und kritischer Öffentlichkeit vorbei militärisch verwendbare Technologien zu entwickeln, die aufgrund ihrer Einbettung in europaweite, forschungsphasen- und technologiefelderübergreifende Zusammehänge weder von den an Einzelabschnitten arbeitenden Wissenschaftlern noch von den mit Fragen von Normen und Industriestandards befaßten staatlichen Stellen hinsichtlich ihrer Rüstungsrelevanz unbedingt durchschaut werden können.

Diese Beobachtungen lassen aus friedenswissenschaftlicher und abrüstungspolitischer Perspektive einen kritischen Forschungsbedarf wie folgt erkennen:

  • Welche Bedeutung haben Hochtechnologien für den Grenzbereich konvergenter ziviler und militärischer Anwendungsfelder? Welche Transferprozesse (spin-off / reverse spin-off) sind kalkulierbar? Wie lassen sich zivile und militärische Verwendungszusammenhänge voneinander abgrenzen?
  • Lassen sich Forschungsvorhaben feststellen, die unter Ausnutzung kostensenkender Synergien auf politisch unverfängliche Weise planmäßig militärisch verwendbare Ergebnisse bzw. Technologien zum Ziel haben?
  • Läßt sich die planmäßige Instrumentalisierung zivil generierter Technikentwicklungen im Rahmen von nachgeschalteten militärischen Verwendungszusammenhängen für die dual use-Technologien nachweisen?
  • Läßt sich ein solcher strategischer Forschungsverbund für einzelne EUREKA- und EUCLID-Vorhaben nachweisen? Welche wissenschaftlichen Schlußfolgerungen im Sinne einer Frühwarnung müssen daraus gezogen werden und wie muß ein entsprechendes Frühwarnsystem gestaltet sein?

Nichtweiterverbreitung bvon Massenvernichtungswaffen

Von besonderer Bedeutung auch nach dem Kalten Krieg bleibt die Konfliktträchtigkeit atomarer Waffen. Das betrifft zum einen das Zerstörungspotential in den Händen der etablierten Kernwaffenstaaten, für das noch keine wirklich weitreichenden Abrüstungskonzepte vorliegen. In den Kernwaffenstaaten geht die Arbeit in den Waffenlabors weiter. Der dringlich geforderte atomare Teststop ist nicht in Sicht. Ins Zentrum rücken zunehmend Gefahren, die entweder aus Waffenexporten oder der direkten und indirekten Weiterverbreitung (Proliferation) von Atomwaffen-Technologien bzw. potentiellen Atomwaffen-Technologien (Kernenergietransfer, dual-use-Technologien) nicht nur an Länder der sogenannten Dritten Welt erwachsen. Es wird immer mehr Wissen produziert, das zu Massenvernichtungswaffen führt. Das Gefälle des Wissens und der Macht verschiebt sich auf ein höheres Niveau und vereinfacht die horizontale Proliferation, die Weitergabe an Dritte. Aber auch die vertikale Proliferation, die technologische Diversifikation und Modernisierung innerhalb der jeweiligen Arsenale, nimmt zu.

Dieser Wissens- und Technologietransfer ist von den Exportkontrollregelungen völlig unzureichend erfaßt. Trotz der Existenz des Nichtweiterverbreitungsvertrages (Non-Proliferation-TreatyNPT) muß heute davon ausgegangen werden, daß zwölf bis neunzehn Länder über Urananreicherungsanlagen und/oder Wiederaufarbeitungstechnologien verfügen. Von neuen Nukleartechnologien, wie beispielsweise der Laserisotopenseparation, der Forschung an sogenannten »Kernwaffen der dritten Generation« oder auch von der aufwendigen, seit Jahren in vielen Ländern betriebenen Fusionsforschung gehen bereits im Entwicklungsstadium Proliferationsgefahren aus. Einmal geschaffene wissenschaftlich-technologische Möglichkeiten beeinflussen ihrerseits die Möglichkeiten politischer Macht. Der Irak steht hierfür nicht allein.

Die atomaren Arsenale auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion, das Know-how tausender ehemals im sowjetischen Atomprogramm beschäftigter WissenschaftlerInnen sollte Anlaß geben, das komplzierte Wechselverhältnis von Technologieentwicklung und politischem Wandel ernst zu nehmen: die hier vorhandene Chance neuer (internationaler) Weichenstellungen muß für zivile Entwicklungsrichtungen in Politik und Forschung genutzt werden.

Ähnliche Prozesse wie bei der Kernwaffenproliferation sind auch bei der Weiterentwicklung und Weiterverbreitung von biologischen Massenvernichtungsmitteln und Trägersystemen erkennbar.

Friedenswissenschaftliche Forschungslücken, die sinnvoll nur von Gesellschafts- und NaturwissenschaftlerInnen gemeinsam gefüllt werden können (so gegenwärtig an der TH Darmstadt), bestehen in Ergänzung zu den in Zusammenhang mit der dual-use-Problematik bereits genannten Fragen in folgendem Sinne:

  • Wie kann die horizontale und vertikale Proliferation von Atomwaffen (und anderen Massenvernichtungssystemen, vor allem B- und C-Waffen) festgestellt, kontrolliert und verhindert werden? Welche naturwissenschaftlich-technischen, welche forschungs- und wissenschaftspolitischen, welche volkswirtschaftlichen und völkerrechtlichen Aspekte sind dabei zu berücksichtigen?
  • Wie läßt sich die Analyse des Waffenentwicklungs- und -beschaffungsprozesses in eine friedenswissenschaftlich orientierte Technikfolgenabschätzung einbeziehen?
  • Wie können in der internationalen Wissenschafts- und Technikkooperation zivile, ökologisch und sozial vertretbare Gemeinschaftsprojekte, die Entwicklung ermöglichen, bisherige militärisch verwertbare Programme ersetzen?
  • In welcher Weise könnte die Verhinderung einer Proliferation des ehemals sowjetischen Atompotentials für einen – wirtschaftlich und ökologisch sinnvollen – Konversions- und Umsteuerungsprozeß in der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) Impulse geben? Welche internationalen Konzeptionen müssen begleitend dazu entwickelt werden?

Verifikation von Abrüstung

Ein weiterer neuer Sektor naturwissenschaftlicher Expertise für die Friedensforschung neben der Aufdeckung und Nichtweiterverbreitung rüstungsrelevanter Technologien ist die Verifikation von Abrüstungsvereinbarungen. Die Bedeutung von Verifikation muß unter Berücksichtigung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts in der Zukunft und aktuell unter den Aspekten der Sicherheit in einem sich wandelnden Europa gesehen werden. Bis jetzt dienten Rüstungskontrollverträge und ihre Verifikation vor allem dazu, den amerikanisch-sowjetischen Rüstungswettlauf zu verwalten, wobei Verifikation im wesentlichen mit den sogenannten nationalen technischen Mitteln (NTM) durchgeführt wurde. Die Ausdehnung der Verifikation auf konventionelle Abrüstungsprozesse ist nur folgerichtig. Eine europäische (oder allgemein internationale) Beteiligung könnte einen Faktor der Unparteilichkeit bei der Kontrolle von Rüstung und Abrüstung einführen. Das gilt für die Verifikation chemischer und/oder biologischer Waffen ebenso wie für die Kontrolle konventioneller Streitkräfte und ihrer Reduktion.

Dabei kommt es entscheidend darauf an, in kurzer Zeit wissenschaftlich-technische Methoden der Verifikation zu entwickeln, damit der Beginn von Abrüstungsprozessen nicht daran scheitert, daß notwendige und adäquate Verifikationstechniken fehlen. Verifikation steht überdies in einem engen Zusammenhang mit Vertrauensbildung, die wiederum einen historisch engen Bezug zu dem Konzept gemeinsamer Sicherheit hat. Das bedingt gewisse kooperative Vorgehensweisen, die sich nicht allein auf die NTM stützen können, denn diese sind nicht in allen europäischen Staaten verfügbar. Hinzukommt, daß die hauptsächlich von Satelliten gesammelten (und der Geheimhaltung unterliegenden) Daten nicht nur für die Überwachung von Vereinbarungen, sondern wiederum auch für Zielplanungen im Kriegsfall verwendbar sind. Kooperative und vertrauensfördernde Maßnahmen sind vielmehr Datenaustausch, Inspektionen, kooperative Satellitenüberwachung sowie Markierungen, Nahsensoren und Flüge im jeweils anderen Land.

Da Verifikation naturwissenschaftlich-technische und zugleich politische sowie völkerrechtliche Fragen aufwirft, ist ein interdisziplinärer Verbund, wie er zum Beispiel an der Ruhr-Universität Bochum praktiziert wird, unverzichtbar.

Im naturwissenschaftlich-technischen Bereich geht es um die Entwicklung von Sensoren und Detektoren sowie um die Forschung über verschiedene Arten sogenannter diskriminierender Signaturen, um die Vertragsrelevanz militärischen Gerätes überprüfen zu können. Dabei gewinnen zwei technologische Entwicklungen immer größere Bedeutung: die Doppelverwendbarkeit von Technologien und Waffen sowie die STEALTH-Technik, mit deren Hilfe Flugzeuge (und andere Flugkörper) sich der Aufspürung durch RADAR weitgehend entziehen können. Weiter ist zu erforschen, wie neue Technologien in der Rüstung identifiziert und mithilfe angepaßter Verifikationstechniken berücksichtigt werden können.

Für den politikwissenschaftlichen Bereich werden Fragestellungen relevant, die geeignet sind, einen Beitrag zu den Methoden kooperativer Verifikation im Sinne gemeinsamer Sicherheit zu leisten:

  • Wie können friedensfördernde bzw. friedensgefährdende Strukturen, vor allem im Bereich der Ökologie (Rohstoffe und Wasser) verifiziert werden?
  • Welche Beziehung besteht zwischen Verifikationsprozessen und vertrauensbildenden Maßnahmen?
  • Können Verifikationsmaßnahmen aus verschiedenen Verträgen kollektiv synergetisch wirken?
  • Wie kann die Zunahme des Anteils verteidigungsorientierter Waffen am gesamten Waffenpotential »gemessen« und verifiziert werden?
  • Ist das Verifikationskonzept kulturbedingt? Welche Aspekte sind in anderen Regionen mit anderen Kultur- und Verhaltensweisen anwendbar?

7. Konversion militärischer Strukturen

Entscheidend für einen längerfristig angelegten Entmilitarisierungs- und weiterreichenden Zivilisierungsprozeß wird auch sein, ob in einem umfassenderen Sinn die Konversion militärischer Strukturen und Anlagen in zivile Strukturen gelingt. Konversion ist nicht nur als Folgenbewältigung von Abrüstung zu verstehen, sondern umfaßt alle Aspekte eines zielgerichteten, das heißt bewußter Gestaltung unterworfenen Prozesses dauerhaften Wandels (Übergang) von Strukturen und Bedingungen, die durch die militärische Prägung von Sicherheitspolitik geschaffen wurden beziehungsweise eine solche hervorbrachten, zu zivil bestimmten Strukturen und Bedingungen. Ökonomische Aspekte – insbesondere die Frage der Beschäftigungssicherung – bilden nur einen, wenn auch gewichtigen Bestandteil der Konversionsproblematik. Gleichwohl hat dieser in der Vergangenheit zu einseitig die Aufmerksamkeit der Konversionsforschung auf sich gezogen.

Mit dem Abbau der Ost-West-Konfrontation hat das Thema Konversion schlagartig neue Aufmerksamkeit gefunden. Auch die Konversionsforschung hat einen deutlichen Aufschwung erfahren. Neuere Forschungsprojekte gibt es an Hochschulorten u.a. in Kiel, Bremen, Kassel, Berlin. Allerdings weist die Agenda der aktuellen wissenschaftlichen Auseinandersetzung über diese Problematik erhebliche Schwachstellen, zum Teil sogar Leerstellen auf. Diese resultieren nicht zuletzt aus den unzureichenden Bedingungen der Förderung dieser Forschung. Zum einen wird Konversion in den meisten Projekten im oben genannten Sinn auf die Bearbeitung bzw. Kompensation der Folgen von Abrüstung reduziert, also von der politischen Entscheidung für Abrüstung gewissermaßen abgekoppelt, zum anderen werden fast ausschließlich die ökonomischen Folgen von Rüstungsminderung und Militärabbau thematisiert. Das erkenntnisleitende Interesse ist durchgängig darauf gerichtet, abrüstungsbedingte Eingriffe in gegebene wirtschaftliche Strukturen, Besitzstände und Interessen zu begrenzen und abrüstungsbedingten Wandel zu minimieren. Ein weiteres typisches Merkmal der gegenwärtig beachtlichen Anzahl konversionsbezogener Untersuchungen ist ihr fallstudienartiger Charakter.

Als Programm friedenswissenschaftlich begründeter Konversionsforschung reicht diese »Tagesordnung« jedoch nicht aus. Insbesondere fehlen:

  • Forschungsansätze, in denen Konversion nicht als Folgenbearbeitung, sondern als integraler Bestandteil von Abrüstungs- und Friedenspolitik konzipiert ist und danach gefragt wird, wie Konversion einen Verstärkungseffekt auf den Prozeß des Übergangs von militärischer zu nicht-militärischer Sicherheitspolitik ausübt (Ressourceneinsatz zur Überwindung von Konflikt- und Kriegsursachen, Einhegung technologischer Rüstungsimpulse, Verifizierbarkeit und Unumkehrbarkeit von Konversionsvorgängen);
  • Forschungsansätze, die über die defensive Sicherung partikularer ökonomischer Interessen einzelner Regionen, Arbeitnehmergruppen oder Kapitaleigner hinaus nach den aktiven Gestaltungschancen und den Möglichkeiten erweiterter Partizipation fragen, die sich aus der Entmilitarisierung von Sicherheitspolitik und der damit verbundenen Freisetzung von Kreativität und Ressourcen ergeben;
  • Forschungsansätze, die nach den politisch-psychologischen, sozialen, ökologischen, feministischen, juristischen, technischen und ethisch-moralischen Dimensionen des Konversionsvorgangs und der ihn behindernden Blockaden und Widerstände fragen;
  • Arbeiten in theoretischer Perspektive, die es ermöglichen, Konversion im Kontext sozialen und internationalen Wandels zu begreifen und ihren Beitrag zur Stärkung der Friedensfähigkeit von Gesellschaften zu bestimmen;
  • Arbeiten, die in selbstreflexiver Perspektive der Frage nach der Mittäterschaft der Konversionsforschung bei der Aufrechterhaltung des Mythos Militär/Rüstung und der gesellschaftlichen (Re-)Legitimierung von Militär und damit der Option Krieg nachgehen;
  • und schließlich Arbeiten, die das Konversionspotential komplexer militärischer Spitzentechnologien und die »Widerständigkeit« des Konstruktionsprozesses moderner Militärtechnologie gegenüber Umbaubemühungen identifizieren.

In allen vorgenannten Forschungsperspektiven fehlt es zudem an international vergleichenden Untersuchungen, insbesondere mit Blick auf die Bedingungen des politischen und ökonomischen Wandels in Osteuropa und die Folgen der Auflösung der Sowjetunion.

Auffällig ist weiter, daß es eine breite Unterstützung, wie sie Umweltkampagnen finden, für Konversionsmaßnahmen nicht gibt. Vielmehr stoßen konkrete Abrüstungsvorhaben häufig auf Widerstände, die nicht allein mit der Sorge um eine Minderung von Sicherheit und mit der Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes erklärt werden können. Die Vermutung liegt nahe, daß neben ökonomischen eine Reihe von subjektiven Faktoren vorliegen, die Konversion wie Abrüstung im allgemeineren behindern. Am plausibelsten ist der Widerstand von Seiten des Militärpersonals, für das Abrüstung nicht nur eine Bedrohung des Arbeitsplatzes, sondern des Berufsstandes selbst bedeutet. Subjektive Faktoren dürften auch für die Zurückhaltung von Politikern gegenüber konkreten Abrüstungs- und Konversionsprojekten ausschlaggebend sein, weil diese ein Abgehen von gewohnten Sicherheitskonzepten und ein neues Denken hinsichtlich der Sicherheitspolitik erfordern.

Wie die Hochtechnologie-, Proliferations- und, Verifikationsproblematiken bedürfen auch die Konversionskonzeptionen in besonderer Weise einer engen Kooperation zwischen Sozial-, Rechts-, Wirtschafts-, Technik- bzw. Ingenieur- und NaturwissenschaftlerInnen, für die die Friedens- und Konfliktforschung den geeigneten Rahmen bildet. Ein akutes Beispiel dafür sind etwa die chemischen Kampfstoffe, die trotz des völkerrechtlichen Verbots im Genfer Protokoll von 1925 nach wie vor entwickelt, hergestellt, gelagert und exportiert werden. Wenn es, wie zu erwarten steht, zu einem neuerlichen umfassenden Verbot dieser Waffen kommt, dann stellt sich die Frage der Vernichtung dieser Waffen in noch dringenderer Weise. Neben der Vernichtung, die ein Vielfaches des Aufwandes kostet, der zu ihrer Herstellung notwendig war, bietet sich ein zweiter, alternativer Weg, vor allem im Hinblick auf die Vor- und Zwischenprodukte der Kampfstoffchemie sowie der Komponenten für die Binärwaffen, an: die Kampfstoffkonversion. Das heißt die Umwandlung der waffenfähigen Substanzen in zivil nutzbare Chemieprodukte. Da die Chemie ein Schlüsselbereich für das Militärwesen insgesamt ist, muß unabhängig von der Problematik chemischer Waffen die chemische Industrie besonders sorgfältig beobachtet werden. Die sich daraus ergebenden Forschungsfragen lautet:

  • Wie kann die Entwicklung, Herstellung, Lagerung und Proliferation von chemischen Waffen festgestellt, kontrolliert und wirksam verboten werden?
  • Welche Hindernisse sind bei der wirksamen Konzeptualisierung von chemischer Kampfstoffkonversion zu erwarten und zu überwinden?

8. Ökologie, Frieden und Sicherheit

Zunehmend auch für die Friedens- und Konfliktforschung relevant werden Gegenstände, die immer häufiger unter dem Begriff der Internationalen Ökologischen Sicherheit subsumiert werden:

  • die wissenschaftliche Untersuchung ökologischer Kriegsfolgen, sowohl der traditionellen en passant-Vernichtung und Verletzung von Natur und Menschen durch Kriege, als auch der modernen zielgerichteten (anti)ökologischen Kriegsführung (z.B. Vietnam, Golf);
  • die präventive Auseinandersetzung mit den sich erst abzeichnenden Konflikten und Kriegen um (knappe) ökologische Güter wie Ressourcen (Wasser, Bodenschätze) und Energiequellen;
  • die Antizipierung möglicher (gewaltförmiger) Konflikte aufgrund ökologischer, z.B. klimatischer Veränderungen globaler oder regionaler Art (neue Territorialkriege, Migrationen) und die Entwicklung globaler ziviler Lösungsansätze.

Rüstungsgüter sind von Herstellung, Lagerung, Anwendung und Kostenaufwand her ökologisch in höchstem Maße unverträglich. Im Zweiten Weltkrieg wandten die USA 1.100 kg Munition für jeden getöteten Feindsoldaten auf, im Korea-Krieg waren es bereits 5.600 kg Munition, und im Vietnam-Krieg erfolgte eine Steigerung auf 17.800 kg pro getötetem Feindsoldat. Der Golfkrieg hat eine weitere Steigerung gebracht. Was nach 1945 bei den chemischen Entlaubungswaffen in Vietnam erstmals sichtbar wurde – die grausame Wirkung einer gezielten (anti)ökologischen Kriegsführung – hat im Golfkrieg mit dem Inbrandsetzen der Ölfelder Methode bekommen. Sichtbarer als bei vergangenen Kriegen treten die mittelbaren und die beabsichtigten ökologischen Kriegsfolgen zu Tage und überlagern sich in einer für Mensch und Natur verheerenden Weise.

Natürlich können auf diese Weise lange und differenzierte Berechnungen über tatsächlich eingetretene oder zu erwartende ökologische Kosten von Kriegen angestellt werden. Die Analysemöglichkeiten sind allerdings noch nicht so weit gediehen, daß eine differenzierte Aufstellung nach Umweltmedien (Luft, Boden, Wasser, Klima, Vegetation u.a.) möglich wäre. Diese Schwierigkeiten resultieren nicht nur aus dem Tatbestand, daß uns entsprechende Meßmöglichkeiten fehlen, sie sind auch dadurch bedingt, daß der Begriff »Ökologie« strittig ist.

Übereinstimmung besteht zunächst nur dahingehend, daß diese eine irdische Welt Heimat der Menschheit bleiben soll. Unbestritten dürfte weiter die Tatsache sein, daß es um die Biosphäre nicht gut bestellt ist, daß sie vielfach angeschlagen ist, daß ihre gewachsene Einheit gefährdet ist. Wir wissen schließlich, wie unsinnig und selbstmörderisch es ist, in einer solchen Welt der kippenden und rutschenden Gleichgewichte weiter aufzurüsten und Krieg zu führen. Solange Biologen, Naturwissenschaftler und Techniker – aber auch die breite Öffentlichkeit – vergessen, daß die Ziele einer humanen Gestaltung der Natur nur durch eine ökologische Organisation des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses zu erreichen sind, solange wird es keine Lösung für die Friedensfrage und die mit ihr vernetzte Naturkrise geben. Wir sind zur Kooperation, zur internationalen Zusammenarbeit und zur ökologischen Behutsamkeit in einem umfassend-biosphärischen und gleichzeitig präventiven Sinne verpflichtet.

Im folgenden wird die Menschheitssituation auf vier Analyseebenen dargestellt, wobei es nur um eine exemplarische Verdeutlichung gehen kann. Denkbare Lösungsperspektiven sollen zumindest im Ansatz angedeutet werden.

Die Umweltsituation

Der biosphärische Gesamtzustand ist durch eine bedrohliche Belastung der großen Regenerationspotentiale gekennzeichnet, von denen die Menschheit lebt. Besonders deutlich wird das an der sich abzeichnenden Klimakatastrophe, die ihrerseits Folge eines exzessiven Energieverbrauchs insbesondere in den Industriestaaten ist. Die Freisetzung von Kohlendioxid bei der Energieproduktion ist eine der wesentlichen Ursachen für den Treibhauseffekt, durch den ein Anstieg der Weltdurchschnittstemperatur um 1,5 bis 4,5 Celsius in den nächsten Jahrzehnten bewirkt werden könnte. Als Treibhausgase wirken neben Kohlendioxid auch Methan und Fluorkohlenwasserstoffe. Die Folge des Temperaturanstiegs wäre ein Abschmelzen des Eises an den Polkappen und ein entsprechender Anstieg des Meeresspiegels, der sich in einem Teil der Entwicklungsländer verheerend auswirken würde. Überdies würde sich der Steppen- und Wüstengürtel unter der Voraussetzung der Klimaerwärmung weiter nach Norden ausweiten. Die Entwicklungsländer wären davon abermals besonders hart betroffen.

Die Industrieländer verursachen zur Zeit ca. 75% dieser katastrophalen Entwicklung. Das ist gewissermaßen der Wohlstandsbonus, den die reichen Länder den ärmeren Ländern und der Biosphäre bis heute zugemutet haben. Wer hier erschrickt und im Erschrecken zu der Verantwortung einer sozial-, ökologisch- und friedensorientierten Politik zurückfinden möchte, steht vor einer doppelten Verpflichtung: zum einen geht es um eine drastische Reduktion der Verbrennung fossiler Energien durch konsequent verbesserte Energienutzung und zum andern um den Ersatz des durch verbesserte Energienutzung drastisch heruntergefahrenen Anteils der fossilen Energien durch erneuerbare Energien, insbesondere Sonnenenergie. Es käme also darauf an, den menschheitlichen Energiebedarf wieder so in das von der Sonne kommende Energiegefälle einzubetten, wie es die Grundlage des allgemeinen Evolutionsgeschehens bis heute war.

Die Klimakrise hat noch einen weiteren Aspekt: die Schädigung der stratosphärischen Ozonschicht. Sie wird von den langsam aufsteigenden ozonschädigenden Gasen angegriffen. Von ihrer teilweisen Zerstörung sind vielfältige Effekte zu erwarten, die weltweit auftreten werden: Zunahme von Sonnenbrand, Schädigung des Sehvermögens, vorzeitige Alterung der Haut, Schwächung des Immunsystems bei Mensch und Tier, steigende Häufigkeit von Hautkrebs und entsprechende Auswirkungen auch auf die Pflanzenwelt. Dies sind zweifellos keine Bedingungen für eine friedensorientierte Menschheitskultur, weil dadurch Leben bedroht wird und neue ungleiche Lebensbedingungen in den Weltregionen entstehen.

Ähnlich weitgreifende Defizite ließen sich für die Belastung von Wasser und Boden aufzeigen. Fast alle Länder der Erde haben inzwischen ernste Wasserprobleme. In vielen Fällen wird das quantitative Wasserangebot durch Dürre, Übernutzung und Entwaldung beeinträchtigt. Während die Wassernachfrage aufgrund von Bewässerung, Urbanisierung, Energiegewinnung, Industrialisierung und rasch anwachsendem individuellem Wasserverbrauch ansteigt, nimmt die Wasserqualität weltweit drastisch ab. Oberflächenwasser und Grundwasser sind in vielen Ländern durch Nitrate und Pestizide aus der Landwirtschaft, Leckagen aus städtischen und industriellen Wasser- und Abwassersystemen, aus Kläranlagen und Mülldeponien belastet. Die Grenzwerte der Weltgesundheitsorganisation werden immer häufiger überschritten. Auch hier zeichnet sich eine ökologische Zerrüttung ab, die der Suche nach einer friedensorientierten Weltkultur diametral zuwiderläuft.

Die Ernährungssituation

Die Welternährungslage ist insgesamt durch den beschämenden Widerspruch von Überernährung einerseits und Unterernährung andererseits gekennzeichnet. Nur ein Komplex sei hier herausgegriffen: Durch die Weltgetreideernte allein könnte jeder Mensch mit ausreichender Nahrungsenergie und Eiweiß versorgt werden, vorausgesetzt, das Getreide würde gleichmäßig verteilt, tatsächlich in die Notstandsgebiete gelangen und nicht für Tierfutter verwendet. Dieses ist jedoch nicht der Fall. Neben ungerechter Verteilung innerhalb der einzelnen Länder und logistischen Fehlplanungen (jährlich verrotten Millionen Tonnen Getreide teils noch auf den Feldern, teils auf den Kaianlagen mancher Empfängerstaaten) sind insbesondere die Verzehrgewohnheiten in den Industrieländern die Ursache für eine ungleiche Verteilung bei der weltweiten Versorgung mit Nahrung. Der durchschnittliche Fleischverbrauch von 100 Kilo pro Person und Jahr in den Wohlstandsregionen wird mit dem Einsatz von Getreide und anderen Nahrungsmitteln in der Tierfütterung erkauft. Diese auch für den Menschen direkt verwertbare Nahrung kommt zunehmend aus den Entwicklungsländern. Rein rechnerisch würde es ausreichen, wenn der Fleischverzehr in den Industrieländern um 20% gesenkt würde, um genügend Nahrung für alle Menschen auf der Erde zur Verfügung zu stellen. Auch bei dieser Erwägung stoßen wir wieder auf die Bedingungen der Möglichkeit einer friedensorientierten Weltkultur, hier nun unter besonderer Berücksichtigung anzustrebender Umschichtungen bei der Gestaltung der Welternährungsenergiebilanz.

Die Krankheitssituation

Alle Länder sitzen zwar in einem Boot, aber es gibt – durch geographische, historische und wirtschaftliche Umstände bedingt – besondere Benachteiligungen, die die Länder der Dritten Welt in Not und Unfrieden stürzen. Das läßt sich an der Krankheitssituation der Dritten Welt besonders erschütternd ablesen. Rund eine Milliarde Menschen lebt unterhalb der Armutsgrenze. Das bedeutet Existenz in Flüchtlingslagern und Slums, Nahrungsmangel, Mangel an sauberem Wasser, Luftverschmutzung und Zunahme ansteckender Krankheiten. Krankheiten, die längst als überwunden galten, verbreiten sich erneut seuchenartig: Kinderlähmung, Malaria, Gelbfieber, Cholera.

Neben diesem speziellen Gesundheitsproblem der Entwicklungsländer, das weitgreifende strukturelle und wirtschaftliche Fehlentwicklungen zur Voraussetzung und zur Folge hat, gibt es ein menschheitliches Gesundheitsproblem, das im Zusammenhang mit der sich rasant ausweitenden Chemieproduktion gesehen werden muß. Die derzeitige Geschwindigkeit chemischer Synthese liegt bei ca. 1000 neuen veröffentlichten Substanzen pro Tag weltweit, welche den bisherigen Bestand der Neusubstanzen von fast 10 Millionen jährlich um ca. 300.000 erhöht. Dieser Chemiestreß unterwirft den menschlichen Organismus einem Härtetest, den er auf Dauer nicht bestehen kann. Rettung im Sinne einer Eindämmung der Chemikalienflut gäbe es nur dann, wenn wir uns entschließen würden, die immer breiter werdenden Produktpaletten der chemischen Produktion schon bei ihrem Entstehen kritisch zu sichten und entsprechende Vermeidungsstrategien einzuschlagen.

Es sei hier nur stellvertretend auf die Krebserkrankungen und auf die Allergien verwiesen, und auch das Aidsproblem bedarf unter Berücksichtigung der zunehmenden Belastung menschlicher Immunschranken von außen (durch Chemie und Strahlung) einer erneuten Diskussion. Wenn das Immunsystem unter der Einwirkung einer steigenden Chemie- und Strahlenlast wankt, können Bakterien und Viren bisher unbekannte neue Wirkungen auf den Menschen entfalten. Die Chemieproblematik bündelt sich schließlich auf gefährliche Weise in der Betroffenheit der Kleinkinder, deren Belastbarkeit im Vergleich zu den Erwachsenen herabgesetzt ist und die zudem durch die Muttermilchbelastung neue Gefährdungen erfahren.

Die Bevölkerungssituation

Bis zum Jahr 2000 wird die Weltbevölkerung von derzeit 5,3 Milliarden nach der neuesten Prognose um eine Milliarde Menschen zunehmen. Für das Jahr 2100 sagen die UN-Experten jetzt eine Zahl von elf Milliarden Erdenbürgern voraus und korrigieren damit ihre frühere Annahme von 10,2 Milliarden nach oben. Am schnellsten wächst die Bevölkerung in den ärmsten Ländern. Das unkontrollierte Wachstum der Weltbevölkerung ist neben der globalen Gefährdung lebenswichtiger Ökosysteme durch Raubbau ein weiteres Zeichen tiefgreifender Defizite im Mensch-Natur-Verhältnis. Dabei muß von vornherein klargestellt werden, daß die Hauptverursacher der globalen ökologischen Zerstörung unter den reichen Industrieländern zu suchen sind, die gerade keine dynamische Bevölkerungsentwicklung aufweisen.

Weiter muß nachdrücklich auf die Tatsache hingewiesen werden, daß ein genuiner Zusammenhang zwischen drückender sozialer Not und Bevölkerungswachstum besteht. Solange die Drittweltbewohner wegen fehlender Altersversorgung in der Arbeitskraft ihrer Kinder eine Alterssicherung sehen müssen, ist an eine wirkliche Lösung des Bevölkerungsproblems nicht zu denken. Insgesamt zeichnen sich folgende Lösungsrichtungen als vordringlich ab:

  • Für die sozialen Sicherungssysteme müssen ausreichend Mittel bereitgestellt werden, sei es durch direkte Transferleistungen aus den Wohlstandsregionen, sei es durch Schuldenerlasse.
  • Die Altersversorgung in der Dritten Welt muß entwickelt und gesichert werden.
  • Die gesellschaftliche Stellung der Frau bedarf einer Verbesserung, damit sie über die Zahl ihrer Kinder mitentscheiden kann.
  • Frauen müssen einen besseren Zugang zu Bildung und Ausbildung erhalten.
  • Es sind Familienprogramme notwendig, die eine breite Palette von Möglichkeiten – von der Pille bis zur freiwilligen Sterilisation von Männern – vorsehen.

Zusammengefaßt stellen die Problemhorizonte, wie sie auf den vier Ebenen exemplarisch skizziert wurden, die notvollen Rahmenbedingungen dar, innerhalb derer heute über friedensorientierte Weltpolitik nachgedacht werden muß. Die vorgetragenen Einzelprobleme sind als solche nicht unbekannt. Erst in ihrer vielfältigen Vernetzung ist zu erkennen, wie schwierig Lösungswege sind. Die Aufforderung zu einer friedensorientierten ökologischen Gesamtkultur scheint eine Botschaft von einem anderen Stern zu sein. Und dennoch führt kein Weg daran vorbei, daß wir – wenn wir denn leben wollen – fürs Ganze und vom Ganzen her denken müssen.

Mit den so formulierten Rahmenbedingungen ist zwar noch kein konkretes Programm entworfen, doch lassen sich daraus Maßnahmenbündel ableiten, die der friedenswissenschaftlichen Erörterung bedürfen:

  • Wie kann die bisherige Entspannungspolitik mit Blick auf die ökologischen Notwendigkeiten intensiviert werden?
  • In welcher Weise kann die Entwicklungspolitik ökologisch akzentuiert und verstärkt werden?
  • Wie können konsequente Entschuldungsprogramme für die Dritte Welt realisiert werden;
  • Welche internationalen Abkommen zur Lösung regionaler und globaler Notstände sind erforderlich?
  • Wie können internationale Regime mit der Befugnis, Atmosphäre, Ozeane und andere Umweltsphären vor Ausbeutung und Zerstörung zu schützen, entwickelt und wirksam gemacht werden?
  • Ist die Einführung von Weltressourcensteuern zur Optimierung der Nutzung, zur Entlastung der Biosphäre und zur Finanzierung eines entsprechenden Technologietransfers in die sogenannte Dritte Welt dafür ein geeignetes Mittel?
  • Wie kann den Entwicklungsländern geholfen werden, einen angemessenen Zugang zu den Weltmärkten zu bekommen?
  • Welche wirksameren Maßnahmen zur Kontrolle der Bevölkerungsentwicklung sind denkbar und wie können sie durchgesetzt werden?.

In diesem Zusammenhang ist erneut über die Wechselwirkung Ökologie und Rüstung nachzudenken. Dabei wird deutlich: Die lebensfeindlichsten Technologien sind Waffen- und Rüstungstechnologien. Unter Berücksichtigung der gegenwärtigen Weltsituation ist Krieg nicht mehr zu rechtfertigen. An seine Stelle muß die politische Konfliktbewältigung treten. Die Voraussetzungen dafür liegen in einem Denkansatz, der die Verpflichtung zu Gerechtigkeit und Frieden weltweit unter eine ökologische Perspektive stellt. Daraus leitet sich wiederum ein unverzichtbarer Forschungsbedarf ab, für den die folgenden Thesen erkenntnisleitend sein könnten:

  • Friedensverantwortung kann unter Berücksichtigung ökologischer Zusammenhänge nur noch global wahrgenommen werden.
  • Kriege sind im Hinblick auf die Grenzen ökologischer Belastbarkeit unzulässige Gewalt gegen Mensch und Natur.
  • Die gegenwärtige Überlebenskrise ist wesentlich Ausdruck des ökonomischen Kolonialismus der reichen Länder gegenüber den armen Ländern.
  • Herstellung, Lagerung und vor allem Anwendung von Waffen ist die widersinnigste Form ökologischer Zerstörung.
  • Solange auf der Grundlage der herrschenden ökonomischen Gesetze gewirtschaftet wird, ist die Konkurrenz um knapper werdende Ressourcen unausweichlich.
  • Eine Weltfriedensordnung steht und fällt mit einer ökonomischen Neuorientierung, die grenzenbewußtes Wirtschaften erlaubt und den notwendigen Energiebedarf durch Nutzung der Sonnenenergie deckt.
  • Die Einübung ökologisch und damit sozial bewußten Wirtschaftens muß gleichzeitig international und vor Ort entwickelt werden.
  • Um heilsame, naturverträgliche Prozesse in Gang zu setzen, ist gemeinsames Handeln unerläßlich: durch informelle Bewegungen und offizielle Institutionen auf lokaler, regionaler, nationaler und globaler Ebene.
  • Ohne die Organisation von Partnerschaften und Solidargemeinschaften quer zu den bestehenden politischen Interessenlagen bleibt Friede unerreichbar.

9. Die Überwindung der ökonomischen Ungleichgewichte

Der Zusammenhang »Umwelt und Entwicklung« wird im Vorfeld der gleichnamigen UNO-Konferenz UNCED im Juni 1992 in Brasilien auf der Ebene des politischen Anspruchs weniger denn je in Frage gestellt: „Umwelt weltweit zu schützen verlangt, Armut weltweit zu bekämpfen“ (Bundesumweltminister Töpfer). Neben dementsprechender politischer Handlungsbereitschaft und -strategie mangelt es allerdings noch wesentlich an einem auch friedenswissenschaftlich orientierten Zusammendenken der Bereiche Ökologie, Ökonomie und Friedenspolitik unter Einbeziehung der divergenten Interessenkonstellationen. Vereinfachende Bedrohungsszenarien »Süden gegen Norden« reproduzieren und relegitimieren überholte Sicherheits- und Abschreckungsparadigmen und verhindern angemessene Ursachenanalyse, neue Zusammenschau der verschiedenen globalen Faktoren und eine auf zivile Konfliktprävention und -lösung zielende Politik.

Die komplexe Unterentwicklung der Völker des Südens ist ein Produkt spezifischer historischer und zeitgenössischer Entwicklung: Die Wirkungen langjähriger fremdbestimmter Ausbeutung und Deformation finden heute eine Entsprechung und Fortsetzung in der »ordnungspolitischen Rekolonisierung« des Südens seitens der entwickelten Staaten (Bericht der Südkommission), gefördert durch die Auflagenpolitik des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank. Zugleich bewirken die Entwicklungstrends der Weltwirtschaft und des wissenschaftlich-technischen Fortschritts eine weitere Marginalisierung der Ökonomien des Südens, deren zunehmende Abkopplung vom Norden und die weitere Deklassierung der betroffenen Staaten im internationalen System. Schuldendienste und nichtadäquater Handel sind nach wie vor in erster Linie auf die Profitmaximierung äußerer Interessengruppen ausgerichtet. Sie verhindern eigenständige Entwicklungsansätze, vertiefen ökonomische und politische Abhängigkeit und konservieren Unterentwicklung.

Selbst bescheidenste Ansätze genereller Strukturveränderungen in der Weltwirtschaft werden durch andauernde Hegemonien und Egoismen des Nordens und gleichermaßen durch mangelnde Solidarität und fehlende aufbauende Entwicklungsstrategien der Eliten des Südens zunichte gemacht. Was den Abbau von Rückständigkeit und Massenarmut im Süden anbelangt, müssen die 80er Jahre als »verlorenes Jahrzehnt« gewertet werden; dem geringen ökonomischen Wachstum in einer Reihe ost- und südasiatischer Länder stehen Rückentwicklungstrends im subsaharischen Afrika und in Lateinamerika gegenüber. Eine Trendwende in den 90er Jahren ist ohne einschneidende Politikveränderungen nicht zu erwarten.

Direkte und überschaubare Korrelationen existieren zwischen Waffenexporten in den Süden, nationalen Rüstungsanstrengungen, Zementierung der Unterentwicklung und Behinderung des sozialen Fortschritts. Das explosionsartige Anwachsen der Militarisierung des Südens wurde im letzten Jahrzehnt nur leicht abgeschwächt. Die betreffenden Eliten sind nach wie vor Hauptkäufer auf dem internationalen Waffenmarkt, wobei sich die – ökonomischen und politischen – Interessen und Impulse exogener und endogener Kräfte untrennbar miteinander verknüpfen. Diese Militarisierung genießt in nahezu allen Ländern des Südens Priorität gegenüber dem Abbau von Hunger, Analphabetismus und Krankheiten. Er entzieht generell dem Wachstums- und Reproduktionsprozeß ebenso wie der Bedürfnisbefriedigung gewaltige unproduktiv verschleuderte finanzielle, materiell-technische und menschliche Ressourcen und ist mittelfristig mitentscheidend für die Deformierung der volkswirtschaflichen Strukturen und die Blockierung des sozialen Fortschritts.

Die weitgehend durch Rohstoff- und Profitinteressen des Nordens bestimmte und durch kurzsichtiges Verhalten der Eliten des Südens realisierte Zerstörung der natürlichen Umwelt und der Biosphäre führte und führt noch immer zu irreversiblen Schäden regionalen und teilweise globalen Ausmaßes, die nicht nur die Lebensqualität der heutigen Weltbevölkerung minimieren, sondern auch kommenden Generationen ein schweres Erbe aufbürden. Die ökologische Katastrophe wird zunehmend zur ersten Existenzbedrohung der Menschheit und damit auch der Völker des entwickelten Nordens. Zugleich können der zunehmenden Umweltzerstörung und der Verarmung bzw. dem Aufkommen sozialpolitischer oder religiöser Protestbewegungen globale Friedens- und Existenzbedrohungen in bisher unbekannten Größenordnungen entspringen. Das Anwachsen nationalistischer, extremistischer und terroristischer Gruppierungen kennzeichnet einen Trend, der das Leben der Weltgemeinschaft für einen längeren Zeitabschnitt mitbestimmen wird.

Die benannten Felder der Bedrohung des regionalen und internationalen Zusammenlebens weisen – nach Ursachen und Erscheinungsbild – nicht selten ein hohes Maß an Spezifik auf; sie sind jedoch wechselseitig miteinander verknüpft, durchdringen einander und äußern sich komplex in der Zuspitzung der Nord-Süd-Konfrontation, in gewissem Umfang auch der Süd-Süd-Gegensätze. Diese ökologischen, ökonomischen, sozialen, kulturellen, politischen und nationalen Entwicklungstrends sind nicht nur innerstaatlich konfliktträchtig, sondern bedrohen direkt oder zeitverzögert auch die regionale und internationale Sicherheit.

Das gilt auch für die sozialpolitischen Konfrontationen, die innerstaatlichen Destabilisierungserscheinungen und die nationalen Separationsbestrebungen in Ost- und Südosteuropa, die Langzeitwirkungen für das Zusammenleben der europäischen Völker und der internationalen Gemeinschaft haben können, sei es in Form sich verstärkender Arm-Reich-Relationen, bürgerkriegsähnlicher Zustände oder von Migrationsbewegungen bisher ebenfalls unbekannter Qualität und Quantität.

Die Begegnung der genannten Herausforderungen und Gefahren erfordert international abgestimmte oder eigenständige Entwicklungsstrategien der jeweiligen Akteure bzw. eine kooperative Entwicklungspolitik des Nordens und des Südens. Einsichten und Voraussetzungen sind dafür unterschiedlich entwickelt. Den destruktiven Wirkungen, die von Unterentwicklung, fremdbestimmter Ausbeutung, Aufrüstung und inneren Entwicklungshemmnissen ausgehen, stehen die potentiellen Fortschritte gegenüber, die sich aus gerechteren internationalen Wirtschaftsbeziehungen, Schuldenerlaß und entwicklungsorientierten Wirtschafts- und Gesellschaftsstrategien für den Süden ergeben.

Eine konsequentere Friedensorientierung könnte im Süden gewaltige Potentiale freisetzen und der Entwicklung bedeutendere wirtschaftliche, soziale und kulturelle Dimensionen eröffnen. Allerdings wird die Wahrnehmung der realen Entwicklungschancen – des Prinzips »Abrüstung für Frieden« – ein äußerst komplizierter, vielschichtiger, widersprüchlicher und langwieriger Prozeß sein. Als Zielvorstellungen einer zukünftigen, global orientierten Wirtschafts- und Entwicklungspolitik kristallisieren sich Denkrichtungen heraus, die dringend vertiefter Forschung bedürfen:

  • Welche ökonomischen, sozialen und ökologischen Implikationen hätte eine an der vorrrangig auf die Befriedigung von Grundbedürfnissen, d.h. vor allem auf den Abbau von Armut gerichtete Entwicklungspolitik?
  • Welche Voraussetzungen, auch völkerrechtlicher Art, wären notwendig, um die Ziele – Herstellung von sozialer Gerechtigkeit, Verwirklichung der Menschenrechte und Schaffung von mehr Demokratie – im Zusammenhang zu betreiben? Wie kann die Einbeziehung aller Potentiale – auch der Basis- und Solidaritätsbewegungen des Südens bzw. des Nordens – in den Prozeß einer »partizipatorischen Entwicklung« gewährleistet werden? Wie ist beispielsweise das Asylrecht zukünftig zu gestalten?
  • Welche Innovationen in der Struktur der Weltwirtschaft und der nationalen und regionalen Ökonomien sind notwendig, um in Richtung einer ökologisch verträglichen und langfristig tragfähigen Entwicklung (sustainable development) umzusteuern?
  • Wie lassen sich wirtschaftliche Entwicklungsprogramme mit Auflagen zur Entmilitarisierung (Abrüstung, Beendigung von Rüstungsexport/Proliferation, Konversion) verbinden, ohne Hegemonien des Nordens zu zementieren?
  • Welche Konsequenzen müssen für eine verantwortungsbewußte europäische – und möglichst international abgestimmte – kooperative neue Einwanderungspolitik gezogen werden, die u.a. davon ausgeht, daß die Ursachenbekämpfung der Migrationsbewegungen eine langfristige Umsteuerung im obigen Sinne beinhaltet?

Der verhängnisvolle Teufelskreis – die Vielzahl regionaler, nationaler und internationaler Faktoren, die die Rückständigkeit und Unterentwicklung des Südens bedingen – wird nur durch grundlegende Politikveränderungen im Norden und im Süden zu durchbrechen sein, wobei Initialzündung und Vorbildwirkung von den reichen Staaen ausgehen müssen. Die Vorleistungen des Nordens werden sich auf qualitative Veränderungen in den nationalen Wirtschafts- und Gesellschaftszielen, den Konzepten für die Weltwirtschaft, der generellen Politik gegenüber den Entwicklungsländern, der Bereitschaft zu fairen Schuldenabkommen, stabilen Rohstoff- und vertretbaren Industriepreisen, dem Abbau von Protektionismus, der Ausweitung der öffentlichen Entwicklungshilfe und anderen Maßnahmen konzentrieren müssen, um der zunehmenden Deklassierung des Südens im System der internationalen Beziehungen entgegenzuwirken.

Im Süden wären – trotz objektiv und subjektiv zentrifugaler Tendenzen – entscheidende Politikveränderungen seitens der herrschenden Eliten zu veranlassen mit dem Ziel, eigenständige Entwicklungspotentiale freizusetzen und Bedingungen für die produktive Verwertung internationaler und nationaler Anstrengungen zu schaffen. Das erfordert jedoch ein tiefgreifendes Umdenken in Grundfragen der nationalen Sicherheit, Stabilität und Entwicklung, verstärkte Impulse in Richtung von self-reliance, die Ausarbeitung realistischer Entwicklungsstrategien und die Stärkung demokratischer Strukturen als unabdingbare Elemente für Fortschritte.

10. Rassismus, Rechtsextremismus, kulturelle Gewalt

Die 90er Jahre werden in neuer Weise von der Durchdringung internationaler Entwicklungstrends und innergesellschaftlicher Prozesse geprägt sein. Dies deutete sich schon vor den Umbrüchen in Osteuropa an, hat seine Ursachen auch in anderen, oben bereits dargelegten globalen Veränderungen, wird aber durch das Ende der Ost-West-Konfrontation verstärkt. Internationale Konfliktkonstellationen werden tiefergehend spürbar auf der Ebene der nationalen Gesellschaften, lösen dort Reflexe aus, die ihrerseits auf die internationale Staatengemeinschaft zurückwirken. Der Zusammenhang weltweite Zunahme der Flüchtlingsbewegung – Ausländerfeindlichkeit – Gewalt gehört ins Zentrum künfiger Konfliktanalyse und -bearbeitung. Friedenswissenschaftliche Forschung muß hier durch interdisziplinäre Zusammenarbeit die oben genannten neuen Wechselwirkungen und Zusammenhänge untersuchen helfen, ohne auf Ursachenanalyse der einzelnen Konfliktfelder zu verzichten.

Rassismus, Ethnozentrismus und kulturelle Gewalt sind in traditionellen und neuen Formen auf dem Vormarsch. Daß sowohl das Europäische Parlament in dem zweiten Bericht des Ausschusses »Rassismus und Ausländerfeindlichkeit« als auch die Teilnehmerstaaten der KSZE (Kopenhagener Treffen vom Juni 1990) auf diese, das friedliche Zusammenleben von Völkern, vor allem in Europa bedrohende Enwicklung aufmerksam gemacht haben, kann bisher nur als eine schwache Gegenstimme zu der gleichzeitig betriebenen fremdenfeindlichen »Harmonisierung« der Flüchtlingspolitik in der Europäischen Gemeinschaft gewertet werden. Diese zielt vor allem auf eine massive Abweisung von Migranten und hat zugleich als Politikprogramm eine negative Wirkung auf die Perspektive eines konfliktärmeren Zusammenlebens der Menschen aus unterschiedlichen Herkunftsländern. Die Entwicklung neuer Feindbildmuster ist in vollem Gange.

Die in der aktuellen deutschen Diskussion um »Asylanten« und »Wirtschaftsflüchtlinge« praktizierte Vermischung der Problemkreise (bzw. der Mangel an Unterscheidungskriterien) verhindert beides: Eine rationale Diskussion sowohl um das Menschenrecht auf politisches Asyl (einschließlich seiner besonderen deutschen verfassungsrechtlichen Dimension) wie über die Implikationen einer den veränderten internationalen Bedingungen gemäßen neuen Einwanderungspolitik. Die Frage nach der zunehmenden innergesellschaftlichen Gewalt gehört ebenfalls sowohl in den Zusammenhang der Ausländerpolitik als auch in eine davon getrennte Ursachenanalyse und -bearbeitung.

Rassismus legitimiert sich unter anderem durch symbolische Gewalt, die in die Kultur eingebaut wird; er begegnet uns in der Form von Leugnungsstrategien bei Intellektuellen, als praktische Politik auf Regierungsebene, bei Amts- und Mandatsträgern, aber auch als politische Mentalität in der breiten Bevölkerung. Die Popularisierung des Ethnozentrismus, sein Übergreifen gerade auf Gruppen, die bisher eine wichtige Basis für antirassistische Strategien bildeten, kann zur »Hegemoniefähigkeit« rassistischer bzw. ausländerfeindlicher Doktrinen führen. Konfliktverschärfend wirkt sich aus, daß Rassismus diejenigen Menschen und Gruppen, die ihm ausgesetzt sind, zwingt, sich selbst als Gemeinschaft wahrzunehmen. Dies wird u.a. zu einer Verschärfung der Spannungen zwischen christlichen und muslimischen Bevölkerungsteilen wie auch unter verschiedenartigen Ausformungen innerhalb der einzelnen Religionen (lateinische gegen orthodoxe Christen, sunnitische gegen schiitische Muslime) führen.

Das anwachsende Potential eines latenten, d.h. in der Form von Einstellungen und Mentalitäten, Denk- und Empfindungsmustern existenten Rechtsextremismus, besonders in Deutschland, beängstigende Wahlerfolge rechtsextremistischer Parteien in Westeuropa sowie die starke Zunahme autoritär-aggressiver nationalistischer Tendenzen in Verbindung mit Gewalt gegen Minderheiten verweisen auf gefährliche Konfliktlinien der 90er Jahre. Rechtsextremismus, d.h. das Konzept einer hierarchisch gegliederten, ethnozentrierten Gesellschaftsordnung in einem starken autoritären Staat und der dabei praktizierte Sozialdarwinismus, postuliert die Ungleichheit von Menschen und Kulturen und damit zwangsläufig die Anwendung sowohl direkter wie auch struktureller Gewalt. Die Zunahme aktiver antisemitischer Verhaltensweisen, die Rückkehr zu vormarxistischen Weltinterpretationen sowie die »Wiederentdeckung« von Nation, Nationalgefühl und religionsbedingten Verhaltensweisen in Osteuropa und den Republiken der ehemaligen Sowjetunion erschweren zusätzlich die Annäherung der beiden Hälften Europas.

Unzureichend sind auch die interkulturellen Bedingungen in länderübergreifenden Konflikten aufgearbeitet. Eine gemeinsame marktorientierte Wirtschaftsform gewährleistet beispielsweise noch nicht, daß auch gleichartige Kulturwerte und Identitäten entstehen. So gewinnen individuelle Menschenrechte, die mit Freiheit verbunden sind, unter dem Einfluß unterschiedlicher Religionen und Kulturen, zum Beispiel der Familienbeziehungen, eine sehr unterschiedliche Bedeutung. Während diese in Europa in den Auseinandersetzungen im Ost-West-Konflikt eine hohe Bedeutsamkeit hatten (die Zusammenführung von Familien spielte bei allen Ost-West-Konferenzen eine entscheidende Rolle), können in anderen Kulturen die sozialen Menschenrechte, wenn auch in bescheidener Realisierung, ausschlaggebend sein. Um solche Divergenzen in internationalen Konflikten bewältigen zu können, müssen interkulturelle Bedingungen des Konfliktaustrags mehr Beachtung finden. Die ökumenische Bewegung der Kirchen folgt einem solchen Paradigma, indem sie der Multikulturalität in Gestalt eines Religionenpluralismus Rechnung zu tragen versucht, auch wenn sie dabei häufig mit den konservativen Spitzen der Kirchenleitungen ihrerseits in Konflikt gerät.

Um ein allgemeines kulturbezogenes Paradigma zu entwickeln, muß dieses die einerseits festzustellende wachsende internationale und intranationale Interdependenz berücksichtigen und andererseits auch die mit diesem Vorgang einhergehende Zunahme an Ungleichheit und Widersprüchlichkeit zwischen und in den Staaten positiv wenden, indem Verflechtung sowie Stabilisierung von Selbständigkeit in ein und demselben Modell Ausdruck erhalten. Auf diese Weise kann den Erfordernissen zugleich auf globaler und auf lokaler Ebene Ausdruck verliehen werden. Als gemeinsame Einflußnahme muß in allen Kulturen gewährleistet werden, daß Konflikte ohne Krieg und Waffen bewältigt und subjektive Verzerrungen bei der Wahrnehmung von Gefahren und Bedrohungen ständig korrigiert und überwunden werden.

Ein interkulturelles Paradigma muß schließlich ein Leitbild nicht nur für gegenseitige Akzeptanz kultureller Unterschiede zwischen den Staaten, sondern auch für Multikulturalität innerhalb der Gesellschaft sein. Damit wird eine von vielen Regierungen (als Kehrseite der Ausgrenzung) nach innen betriebene Assimilationstrategie zurückgewiesen. Da Menschen die Welt nur in sinnlich erfahrbaren räumlich-zeitlichen Zusammenhängen erleben, ist der je verfügbare Kulturraum maßgebliches Vermittlungsglied zum Ganzen. Ein multikulturelles Paradigma in die Tat umzusetzen, verlangt nicht nur Änderungen im Bildungswesen, sondern auch die Bereitstellung von Mitteln, damit die einzelnen Kulturformen der verschiedenen Volksgruppen innerhalb eines Staates gepflegt werden können. Über die Bildung sollten neue Einstellungen zum kulturellen Anderssein und zumindest psychische Toleranz gegenüber unter Umständen frustrierend erlebtem Fremdsein entwickelt werden.

Die Begegnungsmöglichkeiten mit BürgerInnen anderer kultureller Äußerungsformen müssen von früher Kindheit an gewährleistet und eingeübt werden, so daß sich gesellschaftlich erst gar keine Berührungsängste herausbilden. Daher dürfen keine Ghettoähnlichen territorialen Eingrenzungen/Ausgrenzungen eingewanderter BürgerInnen anderer Kultur gefördert werden. Es dürfen keine sozial diskriminierenden Praktiken geduldet werden, beispielsweise Benachteiligungen auf dem Arbeitsmarkt bei gleichwertigem Arbeitsvermögen. Neben der Akzeptanz kulturellen Andersseins müssen das Erkennen menschlicher Gemeinsamkeiten und das Solidarbewußtsein angeregt werden. Dazu sind – spätestens mit Beginn der Schulzeit – kooperative Handlungserfahrungen zu vermitteln. Ökumenische und ökologische Pädagogik finden hier ihren Platz. Es muß erreicht werden, daß die Einheit von Pluralität im Kulturellen ebenso wie in politischen Äußerungsformen der BürgerInnen und bei kollektiver Willensbildung gewahrt bleibt. Erst dann ist die Basis gegeben, auf der sich ein neues Verbundenheitsgefühl entwickeln kann, das sich nicht auf den Wert Nation, sondern auf den Wert Frieden gründet.

Besondere Bedeutung kommt dem Thema »Gewalt in der Erziehung« zu. Gewalt wird von Kindern und Jugendlichen als Einschränkung ihrer Entfaltungsmöglichkeiten, als Behinderung von Spontaneität und Kreativität sowie als Ausgrenzung und Ohnmacht erlebt. Zugleich wird Kindern Gewalt als Handlungsmuster zur Lösung von Konflikten und Erreichung von Zielen vermittelt. Und schließlich wird sie ihnen, vor allem in den informellen Medien (Videos) zu Zwecken der Animation, der Unterhaltung und – ironischerweise – der »Entspannung« angeboten. Kinder und Jugendliche werden dabei zugleich als Opfer und Täter geprägt.

Die evidente Zunahme jugendlicher Gewalttätigkeit in der Bundesrepublik wie als internationales Phänomen der Industriegesellschaften tritt freilich keineswegs ausschließlich als Ausländerfeindlickeit und Rassismus in Erscheinung. Eine multivalente Anzahl von Faktoren und Äußerungsformen bedürfen einer sozialpsychologischen gesellschaftsorientierten Konfliktanalyse und -bearbeitung. Für die Friedens- und Konfliktforschung gibt es Forschungdesiderate innerhalb der einzelnen genannten Problemfelder sowie hinsichtlich einer komplexen Betrachtung. Nachstehende Untersuchungsgegenstände erscheinen vordringlich:

  • Interkulturelle und multikulturelle Dimensionen innerer und äußerer Sicherheit; Wirkungsmechanismen kultureller Gewalt
  • Ursachen und Erscheinungsformen von Rassismus, Ausländerfeindlichkeit und Ethnozentrismus in Europa; Aufkommen sozialdarwinistischer Tendenzen in Westeuropa;
  • Wechselwirkungen zwischen Nationalismus, Rechtsextremismus und Militarismus.
  • Die Bedeutung der Erfahrungen aus der NS-Epochefür das historisch-politische Selbstverständnis der heutigen Gesellschaft in den alten und neuen Bundesländern Deutschlands, und im Kontext damit sowie eigenständig die beginnende Verarbeitung des Endes der DDR und der Einheit Deutschlands;
  • Sozialpsychologie des modernen Rechtsextremismus und Verlauf der rechtsextremen politischen Sozialisation;
  • Moderner Antisemitismus und die damit verbundene soziale Kommunikation;
  • Frauenfeindlichkeit des Rechtsextremismus;
  • Der Weg von Gewaltakzeptanz zu Gewalthandeln und die Wirkung gesellschaftlicher Doppelmoral: Gewaltakzeptanz im staatlichen Handeln einerseits und Gewaltsanktionierung im Individualbereich andererseits;
  • Langzeitwirkungen von exzessiven Gewaltdarstellungen im Medienverbund auf die Moralentwicklung und das politische Handlungsverständnis von Kindern und Jugendlichen;
  • Wirkung von Aufklärung über Gewalt auf das tatsächliche Erziehungsverhalten.

11. Patriarchalische Strukturen und feministische Potentiale

Die Frage nach Friedensfähigkeit und -bereitschaft stellt sich auch, wenn es sich um Gerechtigkeit und Gewaltfreiheit auch gegenüber Frauen handelt. Über welche Friedenstechniken verfügen Frauen? Nicht nur in den westlichen Industriegesellschaften in Europa und Amerika, sondern auch in osteuropäischen Ländern, in der Sowjetunion oder ebenfalls in den arabischen Staaten lassen sich zum Teil dramatische und widerspruchsreiche Veränderungen der Geschlechterverhältnisse beobachten. Sie prägen auch den friedens- und sicherheitspolitischen Diskurs über die Umbrüche der internationalen Politik (Golfkrieg, Systemwandel in Osteuropa, Europäische Integration, Differenzierung der Nord-Süd-Beziehungen) in neuer, vielfältiger und bislang nicht begrifflich gefaßter Weise. Offensichtlich geworden ist immerhin, daß das überkommene nahezu universale Stereotyp von der Kriegsaffinität des männlichen und der Friedensaffinität des weiblichen Geschlechts als Deutungsmuster versagt, und daß die patriarchalen Strukturen in Militär, Politik, Gesellschaft, im öffentlichen und privaten Sektor, in innergesellschaftlichen und internationalen/transnationalen Politikkonzeptionen sich ständig gegenseitig verstärken.

Auch in der Bundesrepublik zeigt sich die Veränderung der Geschlechterverhältnisse auf unterschiedlichen Ebenen, sei es in der Delegitimierung patriarchaler, auf Gewalt setzender Kulturmuster, sei es anhand der Ansprüche, die Frauenministerinnen und -senatorinnen mit ihrem Amt verbinden. Sie wollen Frauen nicht nur bei den traditionellen Frauenthemen, sondern in allen Politikbereichen einschließlich der Militär- und Sicherheitspolitik Gehör verschaffen. Die von der Berliner Senatsverwaltung für Frauen, Jugend und Familie im November 1990 durchgeführte erste Frauen-KSZE über Menschenrechte, Frauenrechte, Ökologie, Ökonomie, Sicherheit, Abrüstung und Zusammenarbeit ist Ausdruck des sozialen Wandels geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung.

Entsprechend diesen Entwicklungen wird auch im Bereich von Forschung und Wissenschaft im In- und Ausland verlangt, die Probleme des Friedens in ihren Zusammenhängen mit patriarchalen Strukturen systematisch und kontinuierlich mit der erforderlichen finanziellen Ausstattung und Dichte zu untersuchen.

Das Postulat, weibliche Perspektiven, Ergebnisse der Frauenforschung und feministische Forschungsansätze in der Friedensforschung zu berücksichtigen, ist jedoch nicht nur durch neuere politische und gesellschaftliche Entwicklungen, sondern gerade auch forschungslogisch begründet.

In der internationalen und auch in der bundesdeutschen Friedensforschung zeichnen sich erste Bemühungen ab, den sich verändernden Geschlechterverhältnissen Aufmerksamkeit zu schenken. Denn die Separation von »männlichen« und »weiblichen« Ansätzen und die männliche Dominanz in der Friedensforschung auf den Ebenen Personal, Vergabe staatlicher und privater Forschungsmittel, Besetzung von Leitungen, Vorständen, Beiräten, Einstellungsgremien, Gutachtern usw. haben zu systematisch bedingten Forschungsdefiziten geführt:

  • Die Paradigmen der Politikwissenschaft und Friedensforschung (Realismus und Neorealismus ebenso wie Pluralismus und Kritische Theorie) enthalten implizite Geschlechterannahmen, die fraglich geworden sind. Weder die Annahme männlicher Überlegenheit noch die Annahme, Frauen seien männergleich, und auch nicht die Annahme, die Geschlechterbeziehungen seien für die Kritik von Herrschaft nebensächlich, können aufrecht erhalten werden, wenn sie erst einmal explizit gemacht werden. Spätestens dann wird der Rahmen brüchig, in dem zentrale Fragestellungen der Disziplin beantwortet werden sollen.
  • Der Imperativ der Friedensforschung, »global« zu denken und integrierend zu wirken, kann nicht eingelöst werden, wenn die Hälfte der Menschheit und ihre Beziehungen zur anderen Hälfte aus dem Reflexionszusammenhang ausgegrenzt bleiben.
  • Das Handeln von Frauen in privaten Lebenszusammenhängen, in sozialen Bewegungen (Friedensbewegung) sowie in gesellschaftlichen und politischen Institutionen wird weder in seinen friedensfördernden noch in seinen friedensgefährdenden Aspekten systematisch aufgedeckt und kritisch begleitet. Damit wird Frauen in diskriminierender Weise Wissen über sich selbst, ihre Handlungen und Handlungsmöglichkeiten vorenthalten, was letztlich auf die Selbsterkenntnismöglichkeiten beider Geschlechter zurückwirkt.
  • Es fehlen systematisch untersuchte Grundlagen und Daten, anhand derer Hypothesen, Behauptungen, Frauenbilder, Alltagsvorstellungen und Instrumentalisierungen von Frauen für die Legitimierung von Rüstung, Krieg und Militär überprüft werden können. Gerade über die Leiden von Frauen an den geschlechtsspezifischen sozialen Folgen von Militär und Rüstung existieren nur unzureichend recherchierte Daten. Die Nachrichten z.B. über Vergewaltigungen von Frauen während des Golfkrieges hatten rein instrumentellen Charakter. Während KriegsbefürworterInnen die Meldungen über die Vergewaltigung kuwaitischer Frauen durch irakische Soldaten zur Begründung ihrer Position benutzten, verwiesen KriegsgegnerInnen auf die gestiegene Zahl von Vergewaltigungen in Israel. Empathie mit den Opfern des Krieges ist ohne Recherche, was wirklich geschieht und was zu unterbleiben hätte, nicht möglich.
  • Ungeprüfte Annahmen, Behauptungen und Mythenbildungen über die Geschlechterverhältnisse in Politik und Gesellschaft prägen die Bilder von friedens- und sicherheitspolitischen Zusammenhängen. So sprach ein führender bundesdeutscher Politiker im Einklang mit einem großen Teil der öffentlichen Meinung unmittelbar vor der deutsch-deutschen Vereinigung von der DDR als einer »Braut ohne Mitgift«, obwohl inzwischen zur Genüge bekannt ist, daß eine Mitgift (so es denn eine gibt) nicht über Liebe und Rechte der Frau entscheidet. Eine Problemperzeption, wie sie in dem Zitat zum Ausdruck kommt, ist denkbar ungeeignet, um die absehbaren Konflikte gewaltfrei zu bewältigen, die aus den asymmetrischen Machtbeziehungen zwischen Ost- und Westdeutschland oder auch insgesamt zwischen Ost- und Westeuropa entstehen.
  • Dem gewachsenen Beratungsbedarf von Parlamentarierinnen und Politikerinnen für den Bereich Friedenspolitik kann ebenso wenig entsprochen werden, wie den Erwartungen, Anforderungen und Wünschen von Schülerinnen, Studentinnen, Journalistinnen und Frauen, die in gesellschaftlichen Institutionen mit relevanten Bezügen zur Friedensgestaltung arbeiten.

Um die genannten Defizite zu überwinden, gilt es eine bewußte Verbindung von institutionalisierter Friedensforschung und diversen feministischen Forschungsansätzen auf den Weg zu bringen. Folgende Vorschläge können unmittelbar umgesetzt werden:

  • Ergänzung der Forschungstätigkeit durch frauenbezogene, von Wissenschaftlerinnen geleitete Arbeitsbereiche und bearbeitete Forschungsprojekte;
  • Ausweitung der im Rahmen von Netzwerkarbeit begonnenen Selbstverständigung von Frauen in der Friedensforschung;
  • Förderung des Dialogs zwischen Friedensforschern und Friedensforscherinnen über Theorien, Methoden, Politik- und Aktionsziele hinsichtlich Rüstung, Sicherheit und Friedensinteressen zur beiderseitigen Qualifizierung. Ein solcher Dialog muß das Thema organisatorischer Konsequenzen wie Quotierungen von Personal und Forschungsmitteln einschließen.
  • Abklopfen von Projektvorhaben hinsichtlich ihrer geschlechtsspezifischen »weißen Flecken« und dementsprechende Reformulierung.

Diese Vorschläge betreffen nahezu alle Disziplinen, interdisziplinären Arbeitsbündnisse und Gegenstände von Friedenswisssenschaft und Friedensforschung: Rüstung – Militär – Abrüstung, ökologische Sicherheit, ökonomische und soziale Ungleichheit, Menschenrechte, regionale und überregionale Konfliktkonfigurationen, Entwicklung von Konzepten zur Zivilisierung der Konfliktbearbeitung, nichtmilitärische Wege in Kooperation, Bildung, Ausbildung, Erziehung und Kommunikation. Die Realisierung dieser Vorschläge kann sich an folgenden Kriterien orientieren:

  • Frauen sollen als Subjekte von friedensbehindernden und friedensförderlichen Prozessen untersucht werden. Dies betrifft nicht nur die traditionellen Frauenrollen z.B. in Familie, Erziehung, Sinnstiftung, sondern auch ihre neuen Rollen in Friedensbewegung, Medien und Politik.
  • Theoreme, die in der feministischen Forschung entwickelt wurden (vor allem die Debatten um Geschlechterdifferenz, Mittäterschaft, Macht- und Friedensbegriff), sollen in ihrem Spannungsverhältnis zu nicht-feministischen Ansätzen aufgegriffen und für diverse Forschungsfelder anwendungsbezogen operationalisiert werden.
  • Entsprechend dem Konzept von Selbstbestimmung und Selbsterforschung der Interessen und Verhaltensweisen von Frauen sollen Frauen auf allen Ebenen von Forschung und Forschungsplanung beteiligt werden.
  • Forschung und Vermittlung sollen nicht nur adressaten-, sondern auch adressatinnenorientiert sein. Dazu soll der spezifische Beratungsbedarf von Parlamentarierinnen, Ministerinnen und Frauen in anderen gesellschaftlichen Institutionen (Akademien, Schulen, Gewerkschaften, Kirchen, Verbänden, Internationalen Organisationen, u.a.) ermittelt werden.

12. Friedenspädagogik: Komplement zur Friedensforschung

Friedensforschung zog ihr Selbstverständnis herkömmlich vorwiegend aus universitären Zusammenhängen (was einer Ansiedelung in außerhochschulischen Institutionen nicht widersprach). Kritisch eingewandt wurde in den 80er Jahren, daß die akademische Friedenskommunität in den alten Bundesländern ein teilweise dramatisches cultural lag aufwies, indem sie den tatsächlichen existentiellen Interessen der Neuen Sozialen Bewegungen, wie auch der Friedensbewegung, und auch dem allgemeinen Paradigmenwechsel in den Sozialwissenschaften weit nachhinkte.

Im Spektrum der Makrostrukturen zwischen „organisierter Friedlosigkeit“ (Senghaas) und „struktureller Gewalt“ (Galtung) und tendenziell mit dem Anspruch, Universalwissenschaft zu sein, hat sich die universitäre Friedensforschung unter starken Impulsen aus dem internationalen Völkerrecht und den internationalen Beziehungen zu einer globalen „Existenzerhaltungswissenschaft“ (Lutz) entwickelt. „Subjektivität“ als „vergessene Dimension internationaler Konflikte“ (Steinweg/Wellmann) ist dagegen erst jüngst ins Blickfeld gerückt. Genau in diesem Bereich kann und muß die Friedenspädagogik ihre Eigenständigkeit entfalten und behaupten, wenn sie nicht darauf beschränkt werden soll, als simple »Friedenskunde« die Ergebnisse der universitären Friedensforschung in das Bildungs- und Erziehungsfeld hinein zu vermitteln.

Grenzüberschreitungen als Voraussetzung zur Bestimmung des friedenspädagogischen Feldes führen rasch in unbekanntes Gelände. Empirische Selbstkritik zeigt provozierend das praxeologische Zurückbleiben hinter selbstgestellten Ansprüchen. Zweifach dichotomisiert ergibt sich folgende ungleichgewichtige Verortung von Themen, Materialien und Aktionsformen:(Kap. 12 Abb.[v])

Die Skizze zeigt, daß Rationalität/Sachbezug auf der Makroebene die entscheidende Rolle jeder pädagogischen Aktivität einnimmt, während Emotionalität/Ichbezug im individuellen Nahbereich zweitrangig behandelt wird. Zugleich wird damit die Unausgewogenheit von Forschung und Lehre über die Friedensproblematik deutlich, weil die kognitive Behandlung von Sachthemen aus dem Bereich politischer Gewalt überwiegt. Der darin zum Ausdruck kommende Mangel an Individualkonflikten wird von den meisten FriedensforscherInnen kaum als solcher empfunden. „Das Kernproblem der Friedenserziehung – die Verbindung von persönlicher und politischer Ebene – ist bislang noch weitgehend ungelöst.“ (Nolting). Dieses Defizit wäre durch eine Alltagsfriedensforschung als Eingriff in Lebenswelten zu füllen. Wissenschaftsinterne Voraussetzung dafür ist eine Verständigung über und die Akzeptanz von Lebenswelt und Alltag als unerläßliche Perspektivenerweiterung.

Methodologisch bedeutet eine solche friedenspädagogsche Alphabetisierung die Um- oder Neudeutung gängiger Zeichen und Schemata im Alltag und eine neue Sinnstiftung weg von Stärkekult und Dominanzkultur. Inhaltlich können dies Konzepte einer „antimilitaristischen Heimatkunde“ (Krahulec), der „Empathie als paradigmatischer Beitrag zur Völkerverständigung“ (Ropers), interkulturelle Lernarbeit im Stadtteil (Esser/von Kietzell) u.a.m. sein. In diesem Zusammenhang wären u.a. Lernziele zu entwickeln wie das Lernen von Widerspruchsverhalten („Der Ungehorsam ist die Alternative zum Unfrieden“, Esser); die Auseinandersetzung mit traditionen- und herrschaftskritischer Theorie und Praxis in kooperativen Lernbezügen, vor allem wenn Menschenwürde und menschliche Entwicklung zur Disposition stehen. Oberstes Lernziel ist dabei Friedensfähigkeit, nicht vordergründige »Friedfertigkeit« als ausbeutbares Wohlverhalten, sowie die Entwicklung von Konfliktkompetenz, die in Alltagsperspektiven, nicht in Alltagsresignationen mündet.

Bei der Umsetzung solcher Konzepte müssen die »Grundregeln der Friedenspädagogik« (nach Niklas) Bestand behalten:

  • so früh wie möglich ansetzen;
  • im Nahbereich gründen;
  • sich jeder Naivität enthalten, also wider den Gestus der Harmlosigkeit löcken;
  • Mittel und Zweck in Übereinstimmung bringen: genuine Gewaltlosigkeit/Indoktrinationsverbot bzw. Toleranzgebot u.a.m.;
  • Verträglichkeit von Aktionslernen und institutioneller Bildungsarbeit herstellen;
  • Bildung und Erziehung als reflexive Prozesse und damit als Selbsterziehung begreifen.

Hochschulen als Orte herrschaftsfreier Diskurse und lebenssichernder Praxis könnten Heimat solcher Überlegungen sein. Es könnte sich zudem herausstellen, daß „Fachhochschulen, wenn sie sich des Komplexes Friedensforschung/Friedensarbeit annehmen, bessere Voraussetzungen bieten, solche Defizite zu füllen“ (Koppe).

13. Vermittlung: der Schritt zur Praxis

Ungeachtet eigenständiger und praxisnaher friedenspädagogischer Forschung bedarf es konsequenter und intensiver Vermittlung von Forschung in die gesellschaftliche Praxis durch Aufarbeitung und Aufbereitung wissenschaftlicher Erkenntnisse. Hierbei sind die Grundprinzipien politischer Bildungsarbeit ebenso wie die didaktisch-methodischen Besonderheiten unterschiedlicher Zielgruppen zu berücksichtigen. Gleichzeitig sollen Fragestellungen und Erkenntnisse aus der Praxis wiederum für die Forschung fruchtbar gemacht und zum Gegenstand von Untersuchungen werden.

In der Bundesrepublik Deutschland (aber auch in den meisten anderen Staaten) wird friedenserzieherische Vermittlungsarbeit in hohem Maße vernachlässigt und völlig unzureichend gefördert. Analog zur Friedens- und Konfliktforschung konzentrierte sich die Vermittlungsarbeit lange Zeit auf Fragestellungen, die zum Ost-West-Konflikt Bezug hatten (Umgang mit Feindbildern, alternative Sicherheitskonzepte, Rüstung und Abschreckung u.a.). Erst Mitte der achtziger Jahre fanden Themenstellungen aus den Bereichen Ökologie, Wirtschaft und Gesellschaft sowie der Nord-Süd-Konflikt stärker Eingang in die friedensrelevante Vermittlung. Zu ihr gehört auch die Problematik der Gewalt in der Erziehung und in der Spielzeugwelt, wobei auch hier neue Aspekte immer wichtiger werden (u.a. Rolle der Medien).

Vermittlungsarbeit bedarf verstärkt der Selbstreflexion, um den sich ändernden globalen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen gerecht zu werden. Eine Bestandsaufnahme der Situation der Vermittlungsarbeit in den verschiedenen Praxisfeldern (Vorschule, Schule, Hochschule, Jugend- und Erwachsenenbildung, die Bildung von Führungskräften in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft eingeschlossen) wäre eine große Hilfe, ebenso Untersuchungen der förderlichen und der restriktiven strukturellen Rahmenbedingungen, wie sie von den Kultusbürokratien gesetzt werden. Seit Jahren wird die wissenschaftliche Begleitung friedenspädagogischer Modellprojekte, die Evaluierung von Medien und Unterrichtsmaterialien sowie Forschung über angemessene Präsentationsmethoden von den in den wenigen Vermittlungseinrichtungen tätigen KollegInnen angemahnt. Weitere wissenschaftliche Aufgaben sind:

  • Erforschung und Entwicklung neuer Lehr- und Lernmethoden;
  • Erarbeitung grundlegender Parameter für die wissenschaftliche und praktische Ausbildung und Qualifizierung von MultiplikatorInnen;
  • Untersuchung der Umsetzung bzw. der Wirkungen friedenserzieherischer Kampagnen (beispielsweise gegen Ausländerfeindlichkeit oder Rüstungsexporte) oder relevanter Beschlüsse internationaler Organisationen (beispielsweise der UN, der UNESCO, der UNICEF u.a. zur Friedenserziehung);
  • Untersuchungen über die Interdependenz von Friedensforschung, Friedenspädagogik und Friedensbewegung (Friedensarbeit);
  • Untersuchung der Methoden und Wirksamkeit von Vermittlung friedenswissenschaftlicher Erkenntnisse in politische und gesellschaftliche Entscheidungsprozesse.

14. Aufgaben der einzelnen Wissenschaftsdisziplinen

In einigen geisteswissenschaftlichen Disziplinen kommt der Beschäftigung mit Problemen des Friedens eine klassische Rolle zu, so beispielsweise im Völkerrecht oder auch in der Geschichtswissenschaft. In diesen Disziplinen sind zwar Friedensthemen nicht zu bestimmenden Themen geworden, doch gehören sie – mit wechselndem Nachdruck – zum Forschungs- und Lehrkanon. Demgegenüber taten sich die Soziologie und andere humanwissenschaftlich orientierte Disziplinen sehr viel schwerer, die auch in ihren Fächern angelegte Kriegs- und Friedensthematik stringent weiterzuentwickeln. Andererseits gingen von besorgten Naturwissenschaftlern, wie Carl Friedrich von Weizsäcker und anderen, Forschungsinitiativen aus, um der atomaren Friedensbedrohung durch naturwissenschaftlich exakte Analysen entgegenzuwirken. Die frühen Studien zum damage assessment sind aus der bundesdeutschen Forschungslandschaft nicht wegzudenken. Seit Mitte der 60er Jahre entwickelte sich dann über diese einzelwissenschaftlichen Zugänge zur Friedensthematik hinaus eine fachübergreifende, erfahrungswissenschaftliche Friedensforschung, die durch die vom damaligen Bundespräsidenten Gustav Heinemann initiierte Deutsche Gesellschaft für Friedens- und Konfliktforschung entscheidend unterstützt wurde.

Die fachübergreifende Friedensforschung in der Bundesrepublik Deutschland konnte sich auf ähnliche Ansätze in Skandinavien und den USA beziehen; in den letzten Jahren wurde sie an vielen anderen Orten in industrialisierten Ländern entwickelt. Mit der International Peace Research Association (IPRA) hat sie sich ein weltweites internationales Netzwerk geschaffen. Das darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie in den meisten Ländern der sog. Dritten Welt noch keine oder nur eine von wenigen Personen abhängige Verankerung hat. Auf der anderen Seite nimmt in Mittel- und Osteuropa das friedenswissenschaftliche Interesse zu.

Da die Kriegsursachen- bzw. die Friedensursachenforschung konzeptuell im Zentrum der fachübergreifenden Friedensforschung steht, hat sich diese vor allem um den Kern gesellschaftswissenschaftlicher Analysen internationaler Beziehungen gebildet. Die Zugriffe auf andere Disziplinen betreffen vor allem Geschichtswissenschaft, Weltwirtschaftslehre, Völkerrecht, Politische Psychologie und Sozialpsychologie sowie Politische Soziologie und in gewisser Weise auch Pädagogik und Didaktik. Es ist jedoch seltener zu wirklich interdisziplinärer Kooperation als zu einer Art transdisziplinärer Bearbeitung der Problemstellungen gekommen.

Angesichts der neuen Herausforderungen für Friedensstiftung und Friedenssicherung ist jedoch heute die Bildung von themenspezifischen, tragfähigen Arbeitsbündnissen von SpezialistInnen verschiedener Disziplinen eine unausweichliche Notwendigkeit.

Neue Impulse für eine fachübergreifende Friedensforschung kamen seit Anfang der 80er Jahre von (sich selbst als friedenswissenschaftlich verstehenden) Initiativen in den Naturwissenschaften, in den Kulturwissenschaften, in der Ökowissenschaft und der feministischen Forschung. Die naturwissenschaftlichen Initiativen waren und sind vor allem auf eine kritische Ausleuchtung wichtiger Aspekte von Militär und Rüstung gerichtet. Auch in der Informatik und in den Ingenieurwissenschaften finden sich entsprechende Ansätze. Diese Initiativen erheben in der Regel nicht den Anspruch, ihre Disziplinen insgesamt auf die Friedensproblematik auszurichten; vielmehr geht es um eine überfällige Mobilisierung fachspezifischer Kompetenzen und Expertisen zur Erforschung friedensrelevanter Themen: Sei es die Problematik des dual use von neuen Technologien, seien es Verfahren zur Verifikation von Rüstungskontroll- und Abrüstungsabkommen oder seien es Analysen des Rüstungsgeschehens. In den Kulturwissenschaften und besonders in der feministischen Forschung sind entsprechende Initiativen auch mit der Entwicklung grundsätzlich neuer Fragestellungen und der Erprobung neuer Forschungsmethoden verbunden.

Es ist noch nicht abzusehen, ob sich analog zur Geschichte der heute als klassisch geltenden wissenschaftlichen Disziplinen aus solchen Initiativen mittel- und langfristig eine eigenständige Friedenswissenschaft konstituieren wird (vergleichbar der heute bestehenden Wirtschaftswissenschaft, Soziologie oder Ökologie). Um die friedenswissenschaftlichen Erträge aus den Einzeldisziplinen für eine fachübergreifende Friedensforschung fruchtbar zu machen, bedarf es jedenfalls einer Koordination und einer institutionellen Bündelung der verschiedenen analytischen Ansätze.

Die Notwendigkeit der disziplinenübergreifenden Kooperation läßt sich an den folgenden Fragestellungen und Themen beispielhaft verdeutlichen:

  • Die Überwachung (monitoring) der Technologieentwicklung in ihren verschiedenen Linien mit Blick auf Waffen und Kriegsrelevanz unter besonderer Berücksichti¡gung der Problematik des dual use bedarf naturwissenschaftlicher und gesellschaftswissenschaftlicher (besonders politikwissenschaftlicher) Kompetenzen.
  • Die Analyse der globalen ökologischen Bedrohung und der Risiken aufgrund herrschender Trends industrieller Gesellschaftsentwicklung und ihr zugeordneter wissenschaftlicher Trends bedarf der Kompetenzen in den Bereichen der Ökologie, Ökonomie, Soziologie und Politikwissenschaft.
  • Die Entwicklung von Technologien und Prozeduren zur Verifikation der Einhaltung von Abrüstungsvereinbarungen, aber auch zur umweltverträglichen und kostengünstigen Konversion von Waffen und Munition setzen ein Arbeitsbündnis von Angehörigen verschiedener Naturwissenschaften, des Völkerrechts und der Ökonomie voraus.
  • Die Untersuchung der großen Bewegungen von Flüchtlingen und Asylsuchenden als Konfliktsymptom und als neuer Konfliktfaktor braucht die Kooperation zwischen Politikwissenschaft, Regionalanalyse, Ökonomie, Recht und Ökologie.
  • Die Erforschung ethno-nationalistischer Konflikte und Kriege sowie nationaler Bewegungen ist ohne das Zusammentragen von Kenntnissen aus den spezifischen Regionen, der Sozialpsychologie und Politischen Psychologie, der Ökonomie und der Internationalen Politik nicht denkbar.

Was für die analytischen Fragestellungen zutrifft, ist für praxeologische Konzeptionen um so wichtiger: Beispielsweise die Entfaltung der Implikationen, die mit dem neuen Leitbild einer »umfassenden Sicherheit« verbunden sind, kommt ohne Arbeitsbündnis der vorgenannten einzelwissenschaftlichen Kompetenzen nicht aus. Das gleiche gilt für Rüstung, Konversions- und Transformationsprozesse (beispielsweise von eher administrativ gesteuerter zu eher marktgesteuerter Volkswirtschaft). Allgemein kommt der Beachtung des »subjektiven Faktors« in Forschungsdesign, Forschungsmethodik und Forschungsziel größere Bedeutung zu, als ihm bisher beigemessen wurde.

Die friedenspolitische Bedeutung des »subjektiven Faktors« kann besonders sinnfällig im Zusammenhang mit dem Aufbau einer gesamteuropäischen Friedensordnung aufgezeigt werden, in der die klassischen Friedensdimensionen – Schutz der Freiheit, bzw. der Autonomie, Schutz vor Gewalt, Schutz vor Not und Schutz vor Chauvinismus – beachtet werden sollen. Politisch-psychologisch kommt es darauf an, subjektive Erfahrungsmöglichkeiten zu untersuchen und zu inszenieren, durch die kollektive Selbstbilder neuen Typs gebildet werden können; Selbstbilder, deren Kern nicht – wie in nationalistischen Bewegungen – auf scharfer Abgrenzung beruht, sondern auf sich überlappenden Gefühlsräumen der Zugehörigkeit. Solche Erfahrungsmöglichkeiten werden wiederum durch die Entwicklung neuer Strukturen begünstigt. Dazu gehören die Entwicklung eines gesamteuropäischen demokratischen Rechtsraums; die Entwicklung einer neuen kooperativen Sicherheitsstruktur; die Entwicklung eines europäischen Wirtschaftsraums und die Gestaltung eines zusammengehörigen, aber vielfältigen Kulturraums. Die Problematik des »subjektiven Faktors« besteht darin, daß es keine automatische Entsprechung zwischen objektiver Notwendigkeit und subjektiver Bereitschaft zu kooperativen Strukturen gibt. Damit es zu einem kooperativen Interessenausgleich und zu einem gleichberechtigten Nebeneinander unterschiedlicher Identitäten kommen kann, gilt es, die innere Struktur von Konflikten für die daran Beteiligten zu erhellen.

Friedensforschung und Friedenswissenschaft, die sich auf diese Aufgabe einlassen, werden ein neues Wissenschaftsverständnis entwickeln müssen, das in die Richtung des in Skandinavien entwickelten Forschungsverständnisses des »demokratischen Dialogs« weist.

Zusätzlich zu allen einzelwissenschaftlichen Kompetenzen müssen sich die Forschenden hier die Kompetenz zur Moderation aneignen. Das Ziel dauerhaften Friedens und demokratischer Integration in Gesamteuropa verlangt beispielsweise die Bildung anerkannter Foren und Instanzen, die dazu beitragen können, unversöhnliche Identitätskonflikte in kompromißfähige Interessenkonflikte zu transformieren. Die Friedensforschung könnte einen solchen Prozeß fallweise begleiten und befördern. Zu erproben wären gesamteuropäische Appellationsinstanzen und »Ombudskreise«. Zu untersuchen wäre dabei die Übertragbarkeit von Konfliktschlichtungsformen aus anderen juristischen Bereichen und Regionen auf das neue Europa. Vorhandene erste Ansätze, wie das Zentrum für Konfliktbeilegung in Wien, wären auf die Möglichkeiten ihrer Weiterentwicklung hin zu untersuchen. Konzeptionell kommt es darauf an, auch Möglichkeiten für nichtstaatliche Gruppierungen und Kollektive zu schaffen, um einen vertrauenswürdigen Ansprechpartner auf der gesamteuropäischen Ebene zu finden, an den Klagen gerichtet werden können, mit dem Bedürfnisse und Interessen reflektiert, sowie Mittel zu ihrer Befriedigung ausgelotet werden können.

15. Schlußfolgerungen für die Forschungsförderung

Das sich radikal verändernde internationale Gefüge, das Auftreten ganz neuer Konfliktkonstellationen sowie die Überlagerung mit alten Sicherheitsdilemmata erfordern eine qualitative und quantitative Ausweitung der Förderung friedenswissenschaftlicher Forschung und Lehre. Die wesentlichen Denkrichtungen einer innovativen, auf globale Friedenssicherung in den 90er Jahren gerichteten Wissenschaft versucht das vorstehende Memorandum zu skizzieren.

Paradigmenwechsel dieses Ausmaßes, bei denen wissenschaftlich-analytische Neuansätze so unmittelbar mit neuen praxeologischen und politikrelevanten Konzeptionen verbunden sein können, bedürfen besonderer Aufmerksamkeit seitens staatlicher Forschungs- und Wissenschaftspolitik.

Die Ausbildung neuer Kompetenzen im Sinne der oben genannten Arbeitsbündnisse wird indessen nicht möglich sein, wenn sich dafür nicht auf der institutionellen Seite der Forschungsförderung eine entsprechende Offenheit und Bereitschaft zeigt. Ein allgemeines Bekenntnis zur Interdisziplinarität muß sich auch in den konkreten institutionalisierten Prozeduren z.B. für die Begutachtung von Anträgen wiederfinden. Die eher schwierige interdisziplinäre Kooperation sollte ausdrücklich gefordert und gefördert, nicht aber durch das Anlegen einzelwissenschaftlicher Kriterien behindert werden.

Die bisherigen konzeptionellen, strukturellen und materiellen Rahmenbedingungen der Friedenswissenschaften in der Bundesrepublik Deutschland und ihre Förderungsmechanismen sind auf diese Anforderungen hin in keiner Weise ausgerichtet. Die von der Bundesregierung (Bundesministerium für Forschung und Technologie) bereitgestellten Mittel – schon bisher völlig marginal verglichen mit einem Kontrapart der Friedensforschung, der militärischen Forschung (Verhältnis: 1 : 1200, oder 3,4 Millionen zu 4,1 Milliarden DM im Haushaltsjahr 1990!) – wurden bereits für 1992 um eine Million DM gekürzt und sollen bis 1994/95 ganz gestrichen werden.

Unter anderem auf folgenden Ebenen sollte über eine Neukonzipierung friedenswissenschaftlicher Forschung und Lehre und ihrer Förderung nachgedacht werden:

  • Entwicklung einer gezielten Förderung wissenschaftlicher Arbeitszusammenhänge, in denen interdisziplinär oder transdisziplinär an Themen globaler Friedenssicherung gearbeitet wird; sei es durch Aufnahme friedenswissenschaftlicher Fragestellungen und Kapazitäten in bereits bestehende Projekte oder eine entsprechende Grundkonzipierung; Einbeziehung in die Grundlagenforschung; Hochschulen und Fachhochschulen sind hierfür wegen ihrer multidisziplinären Struktur und Verbindung zur Lehre vorrangig zu sehen, aber auch die außerhochschulischen Institutionen sind zu berücksichtigen.
  • Überprüfung der bisherigen Strukturen und Modi friedenswissenschaftlicher Forschungsförderung auf Bundes- und Länder-ebene im Rahmen und außerhalb der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) im Hinblick darauf, ob sie den oben genannten Kriterien (neue inhaltliche Akzente, Interdisziplinarität u.a.) gerecht werden.
  • Rückgängigmachung der erfolgten Mittelkürzungen; stattdessen finanzielle Neukonzipierung und Ausweitung der Forschungsmittel für Friedens- und Konfliktforschung.
  • An den einzelnen Hochschulen sowie über die Bund-Länder-Kommission: Impulse für fachbezogene und disziplinenübergreifende Curriculum-Entwicklung friedenswissenschaftlicher Ansätze sowie für andere Formen der Verankerung friedenswissenschaftlicher Forschung und Lehre, Ausbildungsziele und Studienabschlüsse mit friedenswissenschaftlichem Profil.

Die Vieldimensionalität des friedenswissenschaftlichen Forschungsbedarfs macht eine Neukonzipierung öffentlich-rechtlicher Förderung der Friedens- und Konfliktforschung unabweisbar. Es geht nicht allein um die Heranbildung neuer Expertise in zahlreichen Einzeldisziplinen, die sich wegen der schnellen Zunahme von Wissen ständig weiter auffächern, sondern um die systematische Förderung von »Zusammenhangswissen« in den Bereichen Frieden, Sicherheit, Politik, Völkerrecht, Militär, Technologie, Ökonomie, Ökologie, Kultur und Gesellschaft. Das vorliegende Memorandum ist der Versuch, solche Zusammenhänge aufzuzeigen und die Notwendigkeit ausreichender und gezielter Wissenschaftsförderung zu begründen.

Auswahlbibliographie:

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Der Sündenfall


Der Sündenfall

Atomrüstung, Wissenschaft und die Verantwortung des Einzelnen

von Franz Fujara

Welche individuelle Verantwortung und welche Gestaltungsspielräume haben Wissenschaftler*innen als Einzelpersonen? Diese immer wieder diskutierte Frage stellt sich beim Nachdenken über das größte Waffenbauprojekt der Menschheit, das »Manhattan-Projekt« zur Entwicklung der US-Atombombe. Dazu möchte ich einen Blick auf einige der wichtigsten Akteure werfen, dabei manche ihrer überlieferten Worte, ihr Tun, ihr Denken und Fühlen in Erinnerung rufen. Bei allen wird sich zeigen, wie klein ihre individuellen Einflussmöglichkeiten letztlich waren. So wie nach der Fertigstellung und erst recht nach dem Einsatz der Atombombe die Militär- und Machtlogik des Kalten Krieges jeden Bedenkenträger marginalisierte, zermalmte sie auch angebliche Systemfeinde.

Ein Großteil der mit der Entwicklung und dem Bau der Atombombe befassten Wissenschaftler*innen waren deutsche Juden, die schon sehr bald nach Hitlers Machtübernahme ihrer Universitätspositionen beraubt wurden und sodann ins Exil flüchteten, um ihr Leben zu retten. Dazu kamen viele weitere Personen aus später von Nazideutschland beherrschten Ländern. Es handelte sich bei diesen Vertriebenen um die absolute naturwissenschaftliche Elite, die in ihrer Mehrheit gerade auf den jungen Forschungsgebieten der Quantenphysik und damit der Atom- und Kernphysik tätig waren – denken wir nur an Namen wie Hans Bethe, Niels Bohr, Max Born, Albert Einstein, Enrico Fermi, James Franck, Otto Frisch, Klaus Fuchs, Samuel Goudsmit, Lise Meitner, Josef Peierls, Josef Rotblat, Leo Szilard, Edward Teller, Viktor Weisskopf, Eugen Paul Wigner und viele andere mehr. Sie retteten sich in ihrer Mehrheit in die USA, einige auch nach Großbritannien und in andere Länder.

Die Geschichte der Atombombe begann mit der Entdeckung der Atomkernspaltung durch Otto Hahn und Fritz Straßmann im Dezember 1938 in Berlin. Die physikalische Erklärung ihres experimentellen Befundes lieferte wenige Wochen später die kurz zuvor ins schwedische Exil geflüchtete Lise Meitner, gemeinsam mit ihrem Neffen Otto Frisch. In diesem Forschungsstadium sind es ohne Zweifel Individuen, denen eine solche Entdeckung zuzuschreiben ist und die sie deshalb auch zu verantworten haben. Allerdings stellt sich bereits hier die Frage, wie weit die persönliche Verantwortung geht. Ich erinnere daran, dass Hahn am 6. August 1945 während der Internierung der deutschen Atomwissenschaftler in Farm Hall von der BBC-Meldung über den Abwurf der Atombombe über Hiroshima „wie vernichtet“ gewesen sei. Er sagte, „er persönlich fühle sich verantwortlich für den Tod von Hunderttausenden, weil es seine Entdeckung gewesen sei, die die Atombombe möglich gemacht habe“, und „dass er sich, als er die schreckliche Tragweite seiner Entdeckung erkannt habe, ursprünglich mit Selbstmordgedanken getragen habe und daß jetzt, wo die Möglichkeit Wirklichkeit geworden sei, ihn die volle Schuld treffe“ (Hoffmann 1993, S. 146).

Nach der im Januar 1939 erfolgten Publikation von Hahns Entdeckung waren sich alle mit der Kernphysik auch nur halbwegs vertrauten Physiker*innen der Möglichkeit bewusst, dass man die Kernspaltung grundsätzlich auch als Kettenreaktion realisieren und damit eine energieerzeugende Maschine oder gar eine Bombe von ungeheuer großer Sprengkraft bauen könnte. Für viele Physiker*innen war das ein wissenschaftliches Faszinosum, andere erkannten rasch die darin steckende große Gefahr für die Menschheit. Zu diesen gehörte Albert Einstein. Zusammen mit Léo Szilárd erarbeitete er einen Brief, den er bereits im August 1939 an Präsident Roosevelt schickte. Darin wies er darauf hin, dass es Hitlerdeutschland gelingen könne, eine Atombombe zu entwickeln, um damit die restliche Welt zu erpressen, und er riet dem Präsidenten, mit einem eigenen Entwicklungsprogramm den Deutschen zuvorzukommen. Einstein unterstrich seine Warnung ein halbes Jahr später in einem zweiten dringlichen Brief. Daraufhin setzte Roosevelt eine Kommission ein, aus der später das gigantische Manhattan-Projekt wurde.

Wir sehen, dass es der Pazifist Albert Einstein war, der den Anstoß für das Atombombenprogramm der USA gab, auch wenn er sich selbst nicht daran beteiligte – er galt dem FBI als ein Sicherheitsrisiko und war somit von dem konkreten Projekt ausgeschlossen. Einstein kommentierte sein Tun 1953 in einem Brief an den japanischen Philosphen Seiei Shinohara: „Ich glaubte, dass man unbedingt vermeiden musste, dass die Deutschen unter Hitler allein diese Waffe besitzen könnten. Das war nämlich zu jener Zeit zu befürchten. (zitiert nach Nathan und Norden 1975, S. 584) Der Zeitschrift »Newsweek« bekannte er 1947: „Wenn ich gewusst hätte, dass es den Deutschen nicht gelingen würde, hätte ich mich von allem ferngehalten. (zitiert nach Vallentin 1955, S. 262) Zum Einsatz der Atombombe schrieb er 1953: Den Gebrauch der Atombombe gegen Japan habe ich stets verurteilt, konnte aber gar nichts tun, um den verhängnisvollen Entschluss zu verhindern. (zitiert nach Nathan und Norden 1975, S. 584) Und 1955, kurz vor seinem Tod, sagte er in einem Brief an den US-Wissenschaftler und späteren Friedensnobelpreisträger Linus Pauling: Ich denke, ich habe einen Fehler in meinem Leben gemacht, jenen Brief unterschrieben zu haben. (zitiert nach Brian 1996, S. 420) Auch bei Einstein steht also die Frage der individuellen Verantwortung im Raum.

Der »Vater der Atombombe«

Das Manhattan-Projekt wurde ab 1942 mit größter Intensität unter der wissenschaftlichen Leitung von Robert Oppenheimer durchgeführt. Er war auf der wissenschaftlich-technischen Ebene mit der Fertigstellung der Bombe und dem erfolgreichen »Trinity«-Test am 16. Juli 1945 in Alamogordo (New Mexico) überaus erfolgreich. Danach war er persönlich an dem finalen Beschluss, die Bombe über Japan abzuwerfen, beteiligt. Zweifel trug er zwar in sich, aber er »funktionierte«. Wenn, was jedoch bezweifelt werden muss, überhaupt ein Wissenschaftler jemals die Chance gehabt hätte, durch sein Votum den Einsatz der Bombe zu verhindern, dann wäre er, Oppenheimer, es gewesen. So wurde ihm nach dem Abwurf klar, dass sein Mittun bei dieser Entscheidung die Tragödie seines Lebens war. Oppenheimers Verweis auf den „Sündenfall“ der Physiker1 exemplifiziert diesen »Oppenheimer-Schuldkomplex«. Oppenheimer mutierte nach Kriegsende einerseits als »Vater der Atombombe« zum Superstar, bemühte sich aber andererseits ebenso lange wie vergebens, auf der politischen Ebene als Mahner und Warner Einfluss zu nehmen. Dies führte später, in der McCarthy-Ära, dazu, dass er als Sicherheitsrisiko eingestuft wurde, seine »Q-Clearance« verlor und ins Abseits gestellt wurde. Aber das ist schon eine andere Geschichte.

Das Verhalten anderer führender Wissenschaftler

Andere beteiligte Wissenschaftler*innen zogen aus der Hiroshima-Erfahrung recht unterschiedliche Konsequenzen; zwei seien hier kurz genannt: James Franck versuchte gemeinsam mit einer Handvoll weiterer prominenter Mitstreiter in einem Aufruf, dem sogenannten Franck-Report, die US-Regierung dazu zu bewegen, auf den Bombeneinsatz über Japan zu verzichten und der Weltöffentlichkeit die Zerstörungskraft der Bombe über unbewohntem Gebiet zu demons­trieren. Er wurde nicht gehört.

Léo Szilárd, der schon nach dem Alamogordo-Test entschieden den Kriegseinsatz der Bombe ablehnte, dessen Petition Präsident Truman aber nicht erreichte, verließ die physikalische Grundlagenforschung ganz.

Diese (und viele andere) Wissenschaftler fanden kein Gehör. Das System hatte sich inzwischen verselbstständigt. Das »Gadget« (Gerät) war zur Waffe geworden, über die jetzt andere bestimmten: die Militärs, in Los Alamos vertreten durch General Groves, ebenso die Falken in Washington.

Der jüdisch-polnische Physiker Józef Rotblat, der sich mit einem Forschungsstipendium kurz vor Kriegsbeginn nach Großbritannien begeben und sich dadurch gerettet hatte, wirkte zuerst dort, ab 1943 in Los Alamos bei der Atombombenentwicklung mit. Er war der einzige aus dem engeren Kreis der beteiligten Wissenschaftler*innen, der im Herbst 1944, als klar wurde, dass Deutschland während des Krieges nicht zu einer eigenen Bombe gelangen würde, seine persönliche Konsequenz aus diesem Umstand zog und seine Tätigkeit für das Atombombenprojekt beendete. Zeit seines Lebens blieb er ein unermüdlicher Kämpfer für die nukleare Abrüstung und die Ächtung von Atomwaffen. Der ihm (und den von ihm mitbegründeten Pugwash Conferences on Science and World Affairs) im Jahre 1995 verliehene Friedensnobelpreis ehrte eine Persönlichkeit, die alles tat, was man als Individuum leisten kann. Aber warum wurde das Projekt über den Herbst 1944 hinaus überhaupt fortgesetzt? Rotblat selbst berichtete später, General Groves habe ihm gegenüber bereits im Frühjahr 1944, also lange vor Fertigstellung der Bombe, gesagt, ihm sei immer schon klar gewesen, dass das Projekt sich in erster Linie gegen die Sowjetunion richte (Rotblat 1996, S. 132).

Die Position von Niels Bohr, einem der bedeutendsten Physiker des 20. Jahrhunderts, sollte hier unbedingt erwähnt werden: Bohr sprach sich schon früh, etwa ein Jahr vor der Fertigstellung der Bombe, für eine Politik der Offenheit aus.2 Er schlug vor, die sowjetische Führung über das Manhattan-Projekt zu informieren, der Sowjetunion eine Teilhabe an der Atomenergienutzung einzuräumen und gemeinsam mit ihr ein internationales Kontrollsystem aufzubauen. Oppenheimer, mit dem Bohr ab Dezember 1943 während seines mehrmonatigen Aufenthalts in Los Alamos in engem Kontakt stand, sympathisierte zwar mit Bohrs Position, konnte sich aber nicht zu den sich daraus ergebenden Konsequenzen durchringen. Bohr setzte sich mit seiner Sicht während des Krieges auch bei den politischen Entscheidungsträgern nicht durch. Die von ihm vorgeschlagene »Offenheit« wurde von Truman lediglich insoweit umgesetzt, als er bei der Potsdamer Konferenz in Kenntnis des gerade erfolgreich verlaufenen »Trinity«-Tests Stalin beiläufig mitteilte, die USA verfügten jetzt über ein neues Kampfmittel von außergewöhnlicher Zerstörungskraft. Stalin nahm dies mit demonstrativem Desinteresse zur Kenntnis.

Nach den Bombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki wurden Bohrs Ideen zwar im »Acheson-Lilienthal Report« (1946) und danach von der Federation of American Scientists wieder aufgegriffen, aber es war zu spät, denn die Weichen waren bereits auf Kalten Krieg und damit auf die atomare Rüstungsspirale gestellt. Kein Wunder, dass andere, wie Klaus Fuchs, eine Politik der Offenheit auf eine radikalere Weise verfolgten: Als Spione gaben sie ihr Wissen an die Sowjetunion weiter. Es ist eine schwierig zu beantwortende Frage, wie man Spionage in einem Bereich, in dem Offenheit als einziges Mittel zum Überleben der Menschheit angesehen werden muss, werten soll. Der betroffene Staat sieht in dem Spion gewiss einen Hochverräter. Aber sollte man ihm, aus einem übergeordneten Blickwinkel betrachtet, nicht eher einen Friedenspreis verleihen?

Das tödliche Paradigma des Atomzeitalters

Mit den Atombombenabwürfen begann eine Ära, die zu Recht als »Atomzeitalter« bezeichnet wird. Sie wird durch das im Grunde unfassbare Paradigma charakterisiert, dass die Menschheit erstmals in der Lage ist, sich selbst weitgehend zu vernichten. Wir wissen, dass wir diesem Punkt während des Kalten Krieges mehrmals – teilweise durch ungewollte Zufälle3 – sehr nahe waren. Wird umgekehrt zuweilen argumentiert, der Frieden in Europa sei vor allem dem nuklearen Patt zwischen den Supermächten zu verdanken, so ist diese Haltung äußerst zynisch. Dieses Gleichgewicht des Schreckens – man sollte besser von einer Gratwanderung des Schreckens sprechen, und auf dem Grat ist ein Gleichgewicht allenfalls labil – beruht doch gerade darauf, dass jeder Antipode glaubhaft macht, er würde im Ernstfall wirklich von der Bombe Gebrauch machen und den »Doomsday« einleiten.4

Mit der expliziten Bereitschaft, zur Verteidigung des Humanismus und aller ihn prägenden Werte eben diesen notfalls zu opfern, befinden wir uns in der denkbar schlimmsten logischen, philosophischen und ethischen Falle.

Der individuelle Umgang mit der Sünde

Aber es nützt nichts, sich lediglich zu empören, denn jeder Schrei der Empörung würde durch den nuklearen Knall weit übertönt. Vielmehr muss gegen die zynische Rationalität der nuklearen Abschreckungsdoktrin mit allen Mitteln gehandelt werden, sowohl auf individueller als auch auf institutioneller ­Ebene. Dass dies möglich ist, soll hier am Beispiel einiger vorbildlich handelnden Personen aufgezeigt werden. Zunächst ist da der bereits erwähnte Albert Einstein, der nur einer Weltregierung zutraute, die Menschheit vor dem nuklearen Inferno zu bewahren. Dann auch Józef Rotblat, der nach Hiroshima sein weiteres Leben in den Dienst der nuklearen Abrüstung stellte. Wir denken vielleicht auch an die »Göttinger Achtzehn«, die deutschen Physiker, unter ihnen viele frühere Mitglieder des Uranvereins aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges, die im Jahre 1957 jeglicher Mitarbeit an einer damals von Verteidigungsminister Franz Josef Strauß und Bundeskanzler Konrad Adenauer angedachten bundesdeutschen Atomwaffenentwicklung öffentlich ihre Absage erteilten. Und natürlich soll der ehemalige sowjetische Generalsekretär Michail Gorbatschow genannt werden, dem unzweifelhaft die Initiative bei den großen nuklearen Abrüstungsschritten in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre zuzuschreiben ist.

Ich möchte noch einen Schritt weitergehen und diejenigen miteinbeziehen, die zwar keine großen politischen Handlungsspielräume haben, sich aber mit ihren Möglichkeiten und unter Inkaufnahme schwerster persönlicher Konsequenzen für ein Öffentlichmachen militärischer Geheimnisse einsetzen: die Whistleblower. In diesem Sinne agierte Mordechai Vanunu im Jahre 1986, als er der Weltöffentlichkeit enthüllte, dass Israel die Atombombe besitzt.

Eine weithin in Vergessenheit geratene Seite des Atombombenprojekts

Die Geschichte des Manhattan-Projekts und der Bombe hat noch einen anderen Aspekt, der mit einem heute weitgehend vergessenen Justizmord verbunden ist: Am 19. Juni 1953, also mitten in der McCarthy-Ära, wurden Ethel und Julius Rosenberg, Kommunisten aus der Lower East Side von New York, auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet, weil sie Atomspione und somit Hochverräter seien. Jean-Paul Sartre schrieb kurz darauf von „legaler Lynchjustiz“ eines Amerikas, welches sich in einem Zustand der „Tollwut“ befinde (Sartre 1953).

Anmerkungen

1) Dieses Wort wurde von Robert Oppenheimer in einem Vortrag am MIT am 25. November 1947 (Thema: Physics in the Contemporary World) im Zusammenhang mit dem Einsatz der Atombombe über Japan benutzt. Im englischsprachigen Original: „In some sort of crude sense which no vulgarity, no humor, no overstatement can quite extinguish, the physicists have known sin; and this is a knowledge which they cannot lose.” (zitiert nach L. Badash 1995, S. 57)

2) Bohr war der Auffassung, die in der Wissenschaft unabdingbare Offenheit solle auch im Bereich der internationalen Beziehungen gepflegt werden, insbesondere wenn es um für die Menschheit überlebenswichtige Sicherheitsfragen geht.

3) Siehe dazu »Atomkrieg – aus Versehen?« von Karl Hans Bläsius auf S. 9 dieser W&F-Ausgabe.

4) Mehr zur Abschreckung in »Mythos Abschreckung« von Ute Finckh-Krämer auf S. 31 dieser W&F-Ausgabe.

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Prof. Dr. Franz Fujara ist pensionierter Physik-Hochschullehrer an der TU Darmstadt. Er forschte auf dem Gebiet der Festkörperphysik (Neutronenstreuung, Kernspinresonanz) und war zudem viele Jahre Sprecher der IANUS-Gruppe. Dort begleitete er u.a. die Erforschung von Möglich­keiten des Verzichts auf hoch angereichertes, atomwaffenfähiges Uran in der zivilen Neutronenphysik.

Wissenschaft zwischen Krieg und Frieden

Wissenschaft zwischen Krieg und Frieden

Kongress der NaturwissenschaftlerInnen-Initiative, Berlin, 15.-16. Juni 2018

von Malte Albrecht

Angesichts hoher Rüstungsausgaben, eines zunehmenden Waffenhandels und des Vormarsches neuer Milita¨rtechnologien hatte sich die NaturwissenschaftlerInnen-Initiative (NatWiss) für ihren diesjährigen Kongress »Wissenschaft zwischen Krieg und Frieden« vorgenommen, die Wissenschaft von heute einer Standortbestimmung zu unterziehen. Gefördert von der GEW und unterstützt durch BdWi, FIFF, IALANA, IPB, IPPNW, VDW und W&F1 diskutierten Fachleute aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft, welche Rolle der Wissenschaft bei der weltweiten Militarisierung zukommt. Eng damit gekoppelt ging es auch um konkrete Möglichkeiten, Verantwortung und Wissenschaft zusammen zu denken: Welche Verantwortung tragen Wissenschaftler*innen und was kann jede(r) Einzelne zum Frieden beitragen?

Ausgangspunkt waren Überlegungen zur aktuellen Situation wissenschaftlichen Arbeitens. Die Wissenschaftler*innen sind konfrontiert mit unzureichenden Reformen an den Universitäten, dem Fehlen öffentlicher Gelder und der zunehmenden Drittmittelabha¨ngigkeit von Forschung und Lehre, was den Druck verstärkt, Projekte einzuwerben. Zentrales Ergebnis des Kongresses war im Abschlussplenum die Forderung nach Wiederbelebung und Erneuerung der Idee einer Zivilklausel. NatWiss e.V. wird daher für 2019 einen Kongress der Zivilklausel-Bewegung initiieren.

In ihrem Grußwort zu Beginn der Tagung betonte die GEW-Vorsitzende Marlis Tepe, Frieden, integrales Ziel der gewerkschaftlichen Bewegung und Geschichte, sei auch im Wissenschaftsbetrieb von großer Bedeutung. Tepe plädierte dafür, in der Wissenschaft die Arbeitsbedingungen an den Forschungseinrichtungen mit in den Blick zu nehmen. Es gebe bereits gute Anknüpfungspunkte für die Zusammenarbeit zwischen Gewerkschaften und Wissenschaft. Das »Templiner Manifest« (2010) der GEW beispielsweise habe gezeigt, an welchen Stellen es dringenden Handlungsbedarf gebe. Tepe betonte darüber hinaus den Willen der GEW, weiterhin eine Zusammenarbeit zu fördern.

Dr. Alex Rosen, Kinderarzt und Vorsitzender der deutschen Sektion der IPPNW, erinnerte an die verheerenden Folgen der Atombomben-Abwürfe auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki. Am Beispile des im Juli 2017 vereinbarten »Vertrags über das Verbot von Kernwaffen« (Ban Treaty) stellte Rosen einen Vertragsprozess innerhalb der Vereinten Nationen, unter Mitwirkung der Zivilgesellschaft, als Möglichkeit vor, den Gefahren der nuklearen Aufrüstung in Zusammenarbeit zwischen Regierungen, Wissenschaft und Zivilgesellschaft zu begegnen.

Professor Lothar Brock (VDW) von der Goethe-Universität Frankfurt reflektierte die Wissenschaft als Teil organisierter Gewalt. Dabei ging er insbesondere auf das widersprüchliche Verhältnis von Wissenschaft und Krieg ein: Während Wissenschaft durch Forschungsaufträge und -mittel vom Krieg profitiert, wird sie durch Krieg gleichzeitig außer Kraft gesetzt. Krieg ist ohne Wissenschaft unmöglich, gleichzeitig steht die Wissenschaft aber auch für die Kritik des Krieges. Es sei demnach mitnichten so, dass Wissenschaft und Krieg sich historisch wechselseitig nur befördert hätten. In der Beziehung zwischen Wissenschaft und Krieg konstatierte Brock eine Entwicklung. So seien mit der Umorientierung von der Militärwissenschaft zur sicherheitspolitischen Forschung und der Dual-use-Problematik inzwischen alle Teile des Wissenschaftsbetriebs mit kriegsrelevanter Wissensproduktion konfrontiert. Dies gelte neben den technischen Entwicklungen ebenso für die Produktion legitimatorischen Wissens. Als Handlungsfelder identifizierte Brock zum einen wissenschaftsimmanente Mechanismen der Kontrolle und Reflexion. Dazu seien der Einsatz für mehr Transparenz sowie wissenschaftliche Überzeugungsarbeit im öffentlichen Raum geeignete Wege. Die Stärkung internationaler Kooperation im Rahmen der Vereinten Nationen und ihrer rechtlichen Grundlagen sowie die Beteiligung von Akteur*innen aus der Wissenschaft an der Entwicklung ziviler Konfliktbearbeitungsstrategien seien weitere Möglichkeiten der Einflussnahme. Dabei sei es wichtig, dass die zivile Konfliktbearbeitung nicht der Logik militärischer Sicherheitspolitik verhaftet bliebe. Politische Phänomene, wie die internationale Zusammenarbeit der Rüstungsindustrie, Klimawandel und damit verbunden die Konkurrenz menschlicher Interessen in einer globalisierten Welt, seien Herausforderungen auch für Wissenschaftler*innen. Brock plädierte daher dafür, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass Wissenschaft das ist, was sie schon immer war: nicht nur eine Denkveranstaltung, sondern immer auch ein politischer Akteur.

Reiner Braun (NatWiss) wies auf die zahlreichen aktuellen Herausforderungen hin: die nachhaltigen Entwicklungsziele der Vereinten Nationen, das Pariser Klimaabkommen und das Ziel, die Auswirkungen der Klimakatastrophe abzuwehren, sowie die Armut auch im eigenen Land, die breiter werdende Kluft zwischen Arm und Reich, die Furcht von Millionen vor dem Abrutschen in Armut. Zugleich seien die aktuellen Entwicklungen direkte Folgen politischer Prioritätensetzung auf nationaler und internationaler Ebene. Während Gemeinsinn vor Profit und die Interessen der 99 % gegen die der 1 % durchgesetzt werden sollten, sei die Realität im neoliberalen Kapitalismus von Konfrontation statt Kooperation, dem täglichen Töten als Gegenpol zum täglichen Ringen um Leben und Überleben, Rüstungsexporten und völkerrechtswidrigen Drohnen-Einsätzen geprägt. Diese konfrontative Politik berge die Gefahr eines Weltbrandes. Die Friedensbewegung sei ein schwacher, aber umso notwendiger Teil der Lösung der drängendsten Herausforderungen. Hier gebe es drei Handlungsfelder: Abrüstung, Schaffung eines internationalen Klimas der Kooperation statt Konfrontation sowie ein mutiges und kontinuierliches Engagement für den Frieden.

Claudia Haydt von der Informationsstelle Militarisierung (IMI) sprach über den Stand der Militärforschung in Deutschland. Dabei machte sie deutlich, dass aktuelle militärische Entwicklungen und Aufrüstung ohne Zugriff auf wissenschaftliche Erkenntnisse und Forschung nicht möglich sind. Als Beispiel nannte sie das neue Konzept der Bundesregierung zur Bundeswehr, insbesondere die Konzeption zur »Cybersicherheit«. Haydt betonte, Rüstungsforschung sei eigentlich kein Bestandteil öffentlicher Forschungsförderung des BMBF. Dennoch hätten sich die Ausgaben des BMBF für rüstungsbezogene Forschung zwischen 2010 und 2015 (sieben Millionen Euro pro Jahr) im Vergleich zu dem Jahr 2000 (vier Millionen Euro pro Jahr) fast verdoppelt. Diese Zahlen zeigen, so Haydt, dass die öffentlichen rüstungsbezogenen Forschungsgelder für die Universitäten keine wichtige Einkommensquelle darstellten, für das Militär jedoch den unverzichtbaren Zugriff auf wissenschaftliche Forschungsergebnisse ermöglichen. Dies identifizierte Haydt als ein wichtiges Handlungsfeld. Trotz der Unzulänglichkeiten der Zivilklauseln plädierte Haydt für eine Weiterentwicklung dieses Instruments und die Herstellung von Öffentlichkeit.

Hartwig Hummel, Professor an der Universität Düsseldorf und bis vor Kurzem Vorstandsmitglied von W&F, griff das Thema der Verantwortung und der Zivilklauseln auf und plädierte für eine Weiterentwicklung des Wissenschaftsdiskurses. Im Vergleich zwischen Japan und Deutschland zeigte Hummel am Beispiel von fünf zentralen Argumentationslinien die Unterschiede auf, die das Wissenschaftsverständnis in Japan und Deutschland prägen. So gelte in Deutschland die Zivilklausel als unerwünschte Politisierung der Forschung, denn hier stehe die individuelle Verantwortung des*der Wissenschaftlerinnen im Fokus. In Japan hingegen gelte gerade die Ablehnung von Militärforschung als Ausdruck ethisch und gesellschaftlich verantwortlicher Wissenschaft. In der Frage der Wissenschaftsfreiheit stünden in Deutschland nach vorherrschender Überzeugung Zivilklauseln für einen Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit. Im japanischen Verständnis hingegen störe jede Investition in militärische Forschung die selbstbestimmte und freie Entfaltung der Wissenschaft. Militäreinsätze sowie die Forschung für militärische Zwecke gälten in Deutschland als legitim, in Japan hingegen verstehe sich die Wissenschaft als kosmopolitische Forschungsgemeinschaft, in der nationale Militärforschung keinen Platz habe. Dies zeige sich auch im Umgang mit der Dual-use-Frage. In Deutschland gälte die kritische Hinterfragung von Dual-use-Forschung als unpraktikabel, während in Japan Zivilklauseln von Kommissionen genutzt würden, um die negativen Auswirkungen militärisch nützlicher Forschung zu erkennen. Jegliche militärische Forschungsfinanzierung stehe unter Generalverdacht. Während in Deutschland die individuelle Forschungsverantwortung betont werde, seien in Japan die einzelnen Forscher*innen Teil einer Forschungsgemeinschaft. Die Institutionen dieser Gemeinschaft, wie Hochschulen und ihre Fachverbände, seien daher mindestens ebenso Träger einer kollektiven Verantwortung.

In der Podiumsdiskussion mit Professor Hartmut Graßl (VDW), Professor Werner Ruf (Friedensforscher) und Professor Ernst Ulrich von Weizsäcker (Club of Rome) standen die Fragen nach Wissen, seiner Verbreitung und den Bedingungen der Wissensproduktion in Forschungseinrichtungen im Zentrum. Von Weizsäcker betonte die Bedeutung der Folgen wissenschaftlicher Forschung, die die Existenzbedingungen der Menschheit in Frage stellen. Künstliche Intelligenz, Geo-Engineering und CRISPR/Cas sowie Gene Drive seien Entwicklungen, über deren mögliche Folgen wenig bis gar keine öffentliche Diskussion stattfinde. Von Weizäcker plädierte daher für eine aktive Rolle von Wissenschaftler*innen und ihren Organisationen, wie NatWiss e.V., als Akteure, die zu einem kritischen Bewusstsein der Menschen beitragen könnten. Ihre Aufgabe sei es, das Wissen über ihre Forschung in eine breite, öffentliche Diskussion einzubringen. Dabei gehe es auch darum, den militärisch relevanten Charakter dieser Entwicklungen aufzuzeigen.

Werner Ruf stellte die Frage nach den gesellschaftlichen Produktionsbedingungen von Wissen. Neben der Prekarisierung der Beschäftigungsverhältnisse an den Universitäten mit Zeitverträgen und geringer öffentlicher Finanzierung sei vor allem auch die zunehmende Rolle von Drittmitteln problematisch. So gelte inzwischen Drittmittelförderung als Nachweis von Wissenschaftlichkeit, was in der Formel münde: Auftragsforschung = Wissenschaftlichkeit. Im Mittelbau gebe es subtile Mechanismen, die dazu führen, dass unter Bedingungen existenzieller Nöte kaum mehr darüber reflektiert werde, welche Folgen die eigene Forschung habe. Im Bereich der Zivilgesellschaft lasse sich zudem eine zunehmende Militarisierung beobachten. Angesichts der Mitarbeit von 200 Nichtregierungsorganisationen am verteidigungspolitischen Weißbuch der Bundesregierung stelle sich die Frage, ob es sich um einen Demokratisierungsprozess oder nicht eher um einen Militarisierungsprozess handele. Ruf identifizierte daher die Verbesserung der materiellen Existenzbedingungen im Wissenschaftsbetrieb als ein zentrales Handlungsfeld für die Ermöglichung einer unabhängigen Wissensproduktion. Hier ergäben sich auch Anknüpfungspunkte für die Zusammenarbeit mit Gewerkschaften.

Hartmut Graßl knüpfte an das Plädoyer von Weizsäckers an und berichtete von der Einrichtung einer Arbeitsgruppe in der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW) zu den Folgen von Künstlicher Intelligenz (KI). Graßl verglich die Gefahren der KI mit der Bedrohung durch einen Atomkrieg. Diese Folgen seien nicht ausreichend präsent im öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs. In Ergänzung zu den Beträgen von Weizsäckers und Rufs betonte Graßl, dass es viele Wissenschaftler*innen gäbe, die für das Militär arbeiten würden. In Erwiderung zu Hartwig Hummel stellte Graßl die Frage, weshalb eine solche Kultur in Japan möglich geworden sei. Die Schutzgarantien anderer Länder hätten eine Fokussierung auf eine friedliche Kultur ermöglicht. Auch Deutschland habe diese Schutzgarantien. Graßl plädierte als Vorsitzender der VDW für eine optimistischere Perspektive. Die Klima-Charta von Paris, 70 Jahre friedliches Zusammenleben und die EU als Friedensunion seien das Resultat einer vernünftigen Handlungsweise und gäben Anlass für Optimismus, aber auch für andauerndes Engagement mit dem Ziel eines friedlichen Zusammenlebens.

Ausgehend von einer kritischen Analyse der Faktoren, die zur Bedrohung durch Aufrüstung und Klimakonflikte führen, diskutierte Professor Jürgen Scheffran (NatWiss/VDW) Beiträge der Wissenschaft zum nachhaltigen Frieden. Zugrunde liegen Fragen nach der Verantwortung der Wissenschaft, wie wissenschaftliche Erkenntnisse die Gesellschaft beeinflussen und formen, wie Wissenschaft kommuniziert und angewendet wird und wie nachhaltige und friedensfördernde Wissenschaft beratend und aktiv in gesellschaftliche und politische Prozesse einfließen kann, als Teil einer „»neuen Aufklärung«. Hierfür gibt es historische Beispiele, vom Russell-Einstein-Manifest und der Göttinger Erklärung gegen die Atombewaffnung der Bundeswehr über die Untersuchung nuklearer Risiken bis hin zu wissenschaftlichen Bemühungen um eine friedliche und nachhaltige Welt ohne nukleare Bedrohung. Hierzu gehören auch jüngste Forschungen zu den Sicherheitsrisiken des Klimawandels – von Wasser- und Landkonflikten über die Zerstörungen durch Wetterextreme bis hin zu globalen Vertreibungen und Fluchtbewegungen. Diese Risiken verdichten sich zusammen mit anderen globalen Problemen (Gewaltkonflikten und Terrorismus, Hunger und Armut, Wirtschaftskrise und Nationalismus) zu immer neuen Krisenherden. Im Zeitalter des Anthropozän stößt die forcierte kapitalistische Globalisierung zunehmend auf ökologische, ökonomische, soziale, politische und wissenschaftlich-technische Grenzen. Statt Zerstörungs- und Gewaltmittel weiter zu steigern, sollten Innovationen in Wissenschaft und Technik die Transformation in eine lebensfähige und lebenswerte Welt ermöglichen, die durch nachhaltige Entwicklung und kooperative Friedenssicherung im gemeinsamen Haus unseres Planeten gekennzeichnet ist. Alternativen gibt es genug, vom Atomwaffenverbotsvertrag und dem Pariser Klimaabkommen, die jeweils von einer Koalition von Staaten mit der Zivilgesellschaft herbeigeführt wurden, bis zum Umbau in eine erneuerbare Energieversorgung und eine kohlenstoffarme Gesellschaft, die Ökosysteme bewahrt, allen Menschen Wohlstand und ein friedliches Zusammenleben ermöglicht.

In einem Abschluss-Plenum, in dem auch die Ergebnisse der verschiedenen Workshops vorgestellt und diskutiert wurden, wurde die Forderung nach Erneuerung der Zivilklausel-Bewegung besonders deutlich. Ein Kongress zur Zivilklausel wurde in Zusammenarbeit mit den Partnern des Kongresses in die Planung von NatWiss e.V. aufgenommen und befindet sich in Vorbereitung für das Frühjahr 2019.

Anmerkung

1) BdWi = Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler; GEW = Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft; FIFF= Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung; IALANA = IALANA Deutschland – Vereinigung für Friedensrecht; IPB = International Peace Bureau; IPPNW = International Physicians for the Prevention of Nuclear War; VDW = Vereinigung Deutscher Wissenschaftler; W&F = Wissenschaft und Frieden.

Malte Albrecht

Engere Verflechtung


Engere Verflechtung

Der Einfluss von Militär und Rüstungsindustrie auf die Wissenschaft

von Cornelia Mannewitz

Der Trend zur Ökonomisierung der Hochschulen, der schon vor langem begonnen hat, setzt sich in den letzten Jahren ungebrochen fort. Bemerkenswerte Fälle sollen hier genannt und in die deutsche und europäische Forschungspolitik eingeordnet werden. Immer sind dabei auch die Perspektiven für eine friedliche Lehre und Forschung berührt.

Bereits 2010 begann eine Diskussion über Geheimhaltung bei Militärforschung. In der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage zur »Rolle der Hochschulen in der staatlich geförderten Rüstungs- und militärrelevanten Sicherheitsforschung« (Bundestagsdrucksache 17/3337) waren zum ersten Mal Geheimhaltungsvermerke aufgetaucht: Das Verteidigungsministerium hatte die Antworten aus Sicherheitsgründen als »VS – Nur für den Dienstgebrauch« eingestuft. Dabei ging es um Forschungsthemen, Drittmittel und die Trennung zwischen ziviler und militärischer Forschung.

Nach öffentlicher Kritik zeigen sich neuere Antworten der Bundesregierung auf Kleine Anfragen etwas offener: 2016 wurde Auskunft über die Themen von Verbundprojekten gegeben (Bundestagsdrucksache 18/8355). Dabei haben solche Kooperationsprojekte inzwischen ein beachtliches Ausmaß. Von 2014 bis 2017 wurden an 27 Hochschulen Forschungsaufträge des Bundesministeriums der Verteidigung vergeben, die teilweise einen Umfang von mehr als 1.150.000 Euro hatten (Leibniz Universität Hannover im Jahr 2015) – ohne dass der Öffentlichkeit der Verwendungszweck genannt wurde. Die Bundesregierung gibt an, diese Informationen könnten nicht veröffentlicht werden, „da sie detaillierte Rückschlüsse auf vorhandene Fähigkeitslücken in Bezug auf Verfahren und Ausrüstung der Bundeswehr“ zuließen. Aufgrund der damit verbundenen nachteiligen Auswirkungen auf die sicherheitsempfindlichen Belange der Bundeswehr kann dem Wunsch nach einer öffentlich frei zugänglichen Liste mit Forschungsaufträgen des BMVg […] nicht entsprochen werden.“ (Bundestagsdrucksache 18/8355)

Hochschulen nach den Gesetzen der Wirtschaft

Die Abhängigkeit der Hochschulen von Forschungsgeldern, die von außen kommen, ist das Einfallstor für Forschung im Dienste des Militärs. Zivil-militärische Ansatzpunkte in den Forschungsprogrammen der EU und des Bundes zeigen das auch auf struktureller Ebene. Die Geheimhaltungsforderungen der Wirtschaft und des Militärs entsprechen einander ebenfalls: Das, was in der Wirtschaft Geschäftsgeheimnisse sind, nennt das Verteidigungsministerium Sicherheitsinteressen. Immer noch aktuell ist, was die Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern 2012 auf eine Kleine Anfrage nach Offenlegung von Kooperationsverträgen zwischen Hochschulen und Unternehmen antwortete: „Eine derartige Veröffentlichungspflicht berührt die Grundrechte der Beteiligten, insbesondere die Forschungsfreiheit, die Berufsfreiheit und die Vertragsfreiheit, und erfordert eine gesetzliche Ermächtigung, die derzeit nicht besteht.“ (Landtag Mecklenburg-Vorpommern, Drucksache 6/210).

Die Bundesregierung verfolgt seit 2006 eine Hightech-Strategie. Eines ihrer Programme ist »Industrie 4.0«. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung sagt dazu: „Ziel ist es, […] auf der Grundlage der erfolgreichen deutschen Industriestruktur neue intelligente und wissensbasierte Produktionsumgebungen zu gestalten.“ (BMBF 2017, S. 19) An die Hochschulen selbst wendet sich »Innovative Hochschule«, um „den Kulturwandel in Hochschulen hin zu einer besseren Verwertung von Erkenntnissen zu forcieren“ (BMBF 2017, S. 40). Das klingt nach überfälliger Erstürmung des Elfenbeinturms, wird aber nur die Drittmittelabhängigkeit der Hochschulen befestigen.

Zu dieser Hightech-Strategie gehören auch Programme für »zivile Sicherheitsforschung«. Es ist mindestens zweifelhaft, wie »zivil« hier zu verstehen ist, wenn es in den Zielen des Rahmenprogramms heißt „Wir werden internationale Forschungskooperationen ausbauen und die Entwicklung von Lösungsansätzen für globale Herausforderungen mitgestalten“ und Themen wie Terrorismusbekämpfung, Grenzschutz und Luftsicherheit auf der Agenda stehen (BMBF 2016, S. 8, 48). Mit der Begründung »zivile Sicherheitsforschung« gehen auch Fördergelder des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (nicht des BMVg!) an Forschungsprojekte, die im Auftrag der Rüstungsindustrie an deutschen Hochschulen durchgeführt werden. 13 Millionen Euro zahlte das BMBF allein 2015 und 2016 dafür. Die Gelder kamen Firmen wie EADS, Kraus-Maffei-Wegmann, Rheinmetall und ThyssenKrupp zugute (Pauli 2017). Nachwuchswissenschaftler*innen für diesen Bereich umwirbt das BMBF u.a. mit einem »Innovationsforum Zivile Sicherheit« im Juni 2018 in Berlin (Sifo 2018).

Eine ganz ähnliche Linie verfolgt das aktuelle Europäische Forschungsrahmenprogramm »Horizon 2020«. Es will diesmal vor allem die »Innovationslücke« schließen und die Führungsrolle der europäischen Industrie sichern (European Commission 2017, S. 6). Schwerpunkt sind Kooperationen zwischen Forschenden und Unternehmen. Sogar ehemalige Mobilitätsprogramme für die Grundlagenforschung dienen jetzt der Mobilität zwischen akademischer und nichtakademischer Arbeitswelt (Piotti 2017, S. 86-87). Seit dem 7. EU-Forschungsrahmenprogramm (2007-2013) ist die Sicherheitsforschung prominent dabei. Die explizite EU-Rüstungsförderung kann sich seit 2016 auf den »Europäischen Verteidigungs-Aktionsplan« stützen. Er sieht für Forschungsprojekte nach den ersten Jahren der Anschubfinanzierung ab 2020 Ausgaben von 500 Millionen Euro pro Jahr vor (European Commission 2016). (Siehe dazu auch den Artikel »EU-Rüstungsforschung – ein Paradigmenwechsel?« von Eric Töpfer auf S. 27.)

Brüche und Streichungen von Zivilklauseln

Es dürfte wenige Zivilklauseln geben, die noch nicht gebrochen wurden, und sei es unabsichtlich: 2016 erstellte die RWTH Aachen eine Machbarkeitsstudie für eine Fabrik für Spezialfahrzeuge in der Türkei. Dass die Betreiberfirma auch Panzer produziert und mit Rheinmetall zusammenarbeitet und dass die RWTH damit ihre Zivilklausel gebrochen hatte, wurde erst später bekannt (Braun 2017). An der Hochschule Bremen gab es 2016 einen anderen Fall. Zwischen der Hochschule und der Bundeswehr wurde vereinbart, Bundeswehrangehörige – angehende Verwaltungsfachkräfte – zum Internationalen Frauenstudiengang Informatik der Hochschule zuzulassen (Bundeswehrkarriere 2016). Rektorat und große Teile der Landespolitik wollten darin keinen Bruch der landesweiten Zivilklausel erkennen.

Warum werden Zivilklauseln so häufig gebrochen? Viele Zivilklausel-Formulierungen sind ungenügend. Die seit 2010 bestehende Zivilklausel in der Präambel der Grundordnung der Universität Tübingen ist das beste Beispiel dafür: „Lehre, Forschung und Studium an der Universität sollen friedlichen Zwecken dienen, das Zusammenleben der Völker bereichern und im Bewusstsein der Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen erfolgen.“ Ihrerseits gestützt auf Beispiele aus zurückliegenden Jahren, wurde sie in der Zeit des Aufschwungs der Zivilklauselbewegung Vorbild für mehrere andere Zivilklauseln. »Friedliche Zwecke« und »Zusammenleben der Völker« lassen sich aber weit dehnen. Es muss durchaus keine Absage an Militärisches mit ihnen assoziiert werden, wenn Begriffe wie »humanitäre Intervention«, »friedenserzwingende Maßnahmen« und »responsibility to protect« bereits im gesellschaftlichen Bewusstsein verankert sind.

Hinzu kommen organisatorische Fragen: Zivilklauseln werden oft als Ergebnis eher kurzfristiger Kampagnen eingeführt, die meist von Studierenden getragen sind. Aber selbst in der Diskussion unter Studierenden spielen Argumente, die hinter Zivilklauseln eine Behinderung der Forschungsfreiheit sehen oder behaupten, dass man zwischen ziviler und militärischer Verwendung von Forschungsergebnissen nicht trennen könne, eine große Rolle. Wenn dann, weil es eine Zeitlang auch für Hochschulen en vogue war, sich eine Zivilklausel zu geben – wer wollte sich nachsagen lassen, nicht für friedliche Zwecke zu forschen? –, eine Zivilklausel beschlossen wurde, gibt es in der Praxis häufig Probleme mit der Durchsetzung. Das soll den Respekt für die Arbeit an Zivilklauseln, die oft von wenigen, unter großen Mühen und gegen unerwartete Widerstände geleistet wird, nicht mindern. Aber diese Arbeit findet eben auch semantisch und logistisch nicht im luftleeren Raum statt.

Zu den Brüchen von Zivilklauseln kommt jetzt noch die Gefahr ihrer Streichung. Ausgerechnet bei einem Landeshochschulgesetz kann das demnächst geschehen: dem von Nordrhein-Westfalen. Die Regierungskoalition aus CDU und FDP plant die Novellierung des Landeshochschulgesetzes. Laut dem Eckpunktepapier des zuständigen Ministeriums seien Hochschulen „Teil der Friedenssicherung des Grundgesetzes“, Zivilklauseln daher Ausdruck von Misstrauen (NRW 2018).

Widerstand und Ausblick

Obwohl kurz, ist auch im Koalitionsvertrag 2018 die Rede von „technologischer Innovationsführerschaft“ durch Militärforschung. Aber schon aus den übrigen militärischen Vorhaben, wie dem Aufbau einer »Armee der Europäer«, der Erhöhung des Verteidigungshaushalts sowie der Förderung von Stiftungen und Einrichtungen für Sicherheitspolitik und Friedensforschung (Koalitionsvertrag 2018, S. 145-146, 154, 159), ergeben sich Bedarfe, die an den Hochschulen nicht vorbeigehen werden.

In jedem Fall wachsen die Anforderungen an Transparenz und Kontrolle. Dabei setzt die Europäische Kommission Standards: Die Forschenden müssen in ihren Anträgen für »Horizon 2020« mögliche ethische Probleme ihres Projekts benennen und Lösungen vorschlagen (European Commission 2018). Ähnliche Regelungen gibt es bei Akademien und Stiftungen. Formal für Transparenz zuständig sind auch Ethikkommissionen. Forderungen nach einer Zivilklausel wurden schon mit der Begründung abgewiesen, dass die Einrichtung einer Ethikkommission geplant sei. Dazu passt die Beobachtung, dass Ethikkommissionen außerhalb der Medizin – dort haben sie eine längere Geschichte – in größerer Zahl 2016 und 2017 entstanden sind; damals wurden die Erfolge der Zivilklauselbewegung stark wahrgenommen. Ethikkommissionen sind jedoch kaum wirksam: Die Forscher*innen entscheiden selbst über ihre Anrufung, sie sind nicht paritätisch besetzt und geben nur Empfehlungen ab. Eine Kontrolle durch die Öffentlichkeit findet faktisch nicht statt.

Whistleblowing aber kommt im akademischen Bereich kaum vor. Die in Hochschule und Forschung oft jahrzehntelang befristet Beschäftigten riskieren es mit Rücksicht auf ihre Lebensplanung selten, Rüstungsprojekte, in die sie involviert sind, öffentlich zu machen. Aus 2017 sind einige Fälle von Whistleblowing aus der Friedensbewegung über Waffenhandel und Rüstungsproduktion bekannt, die aber den akademischen Bereich nicht berühren.

Verbesserungen der rechtlichen Situation von Whistleblowern kommen gerade erst in Gang. Noch 2015 wurde ein Entwurf für ein Whistleblower-Schutzgesetz im Deutschen Bundestag abgelehnt. Die Europäische Kommission hat jüngst einen Gesetzesvorschlag über Mindeststandards für den Schutz von »Hinweisgebern« auf den Weg gebracht (Mühlauer 2018). Die Bundesregierung arbeitet noch an der Umsetzung einer zwei Jahre alten EU-Richtlinie zu Geschäftsgeheimnissen. Die deutsche Auslegung dieser Richtlinie sieht allerdings nur Schutz vor Strafverfolgung vor, wenn der Whistleblower in der Absicht handelt, das allgemeine öffentliche Interesse zu schützen. (Um eine Befriedigung dieses öffentlichen Interesses durch Öffentlichmachung der aufgedeckten Missstände geht es dabei allerdings nicht.) Das läuft auf eine Gesinnungsprüfung für Whistleblower hinaus. Im Gegenzug sollen Unternehmen ihr Interesse an der Geheimhaltung von Informationen nicht mehr begründen müssen. Die Nachrichtenwebsite netzpolitik.org bezweifelt die Schutzfunktion des deutschen Gesetzentwurfs für Whistleblower und sieht darüber hinaus in ihm Gefahren für die Informationsfreiheit (Semsrott 2018). Auffällig ist auch, dass die Begründungen aller dieser Planungen stark auf den ökonomischen Nutzen durch Whistleblowing abstellen. Moralische Konflikte werden weniger thematisiert. Damit dürfte Whistleblowing an den Hochschulen zunächst nicht signifikant zunehmen, zumindest nicht, solange die Arbeitsbedingungen für den akademischen Mittelbau dieselben bleiben.

Leider ist gleichzeitig die Zivilklauselbewegung abgeflaut. Die bundesweite Vernetzung gelingt nicht mehr regelmäßig. Das Bemühen um Kontrollinstanzen für Zivilklauseln hat wenig Erfolg. Geeignet wären etwa Senatskommissionen – solange die Senate nicht noch weiter in ihren Rechten beschnitten werden, im Austausch gegen eine immer höhere Professionalisierung der akademischen Selbstverwaltung.

Trotzdem: Es entstehen Dual-use-Kommissionen, beispielsweise nach der Einführung einer Zivilklausel ins Leitbild der Universität Erlangen-Nürnberg. In Bremen existiert eine wache Zivilgesellschaft, die den Bruch der Zivilklausel durch die Hochschule weiter in der öffentlichen Diskussion hält. Gegen die Pläne zur Reform des Landeshochschulgesetzes in NRW wird protestiert. Vorstellungen von unabhängiger Wissenschaft und einer anderen Hochschule sind auch gegen strukturelle Widerstände lebendig.

Literatur

BMBF (2016): Forschung für die zivile Sicherheit 2012-2017. Rahmenprogramm der Bundesregierung. Aktualisierte Auflage.

BMBF (2017): Fortschritt durch Forschung und Innovation – Bericht zur Umsetzung der Hightech-Strategie.

BMBF (2018): Industrie 4.0. Webseite des Bundesministeriums für Bildung und Forschung; Stand 6.3.2018.

Braun, L.Th. (2017): Rüstungsforschung aus Versehen. die tageszeitung, 6.9.2017.

Bundeswehrkarriere (2016): Ein IT-Studiengang – ausschließlich für Frauen. Website bundeswehrkarriere.de; Stand 6.3.2018.

European Commission (2016): Communication from the Commission to the European Parliament, the European Council, the Council, the European Economic and Social Committee and the Committee of the Regions – European Defence Action Plan.

European Commission (2017): Horizon 2020 – Key findings from the interim evaluation.

European Commission (2018): Horizon 2020 Programme. Guidance – How to complete your ethics self-assessment. Version 5.3.

hochschule dual (2018): Bayerische Hochschulen stärken Zusammenarbeit im Bereich des dualen Studiums. Pressemitteilung von hochschule dual, 7.2.2018.

Koalitionsvertrag (2018): Ein neuer Aufbruch für Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland. Ein neuer Zusammenhalt für unser Land. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD.

Kreiß, Ch. (2018): Die gekaufte Wissenschaft. Süddeutsche Zeitung, 21.2.2018.

Leibniz-Gemeinschaft (2016): Contribution of the Leibniz Association to the Public stakeholder consultation. Interim evaluation of Horizon 2020. Brussels.

Mühlauer, A. (2018): Besserer Schutz für Whis­tleblower. Süddeutsche Zeitung, 17.4.2018.

NRW (2018): Eckpunkte zu einem Gesetz zur Änderung des Hochschulgesetzes.

Pauli, R. (2017): Steuergelder für die Waffenindustrie. Die tageszeitung, 10.1.2017.

Piotti, G. (2017): Europäische Forschungsförderung unter der Lupe – Ein Zwischenstand zur ersten Halbzeit von Horizon 2020. In: Keller, A.; Staack, S.; Tschaut, A.: Von Pakt zu Pakt? Perspektiven der Hochschul- und Wissenschaftsfinanzierung. Bielefeld: W. Bertelsmann, S. 83-90.

Semsrott, A. (2018): Wir veröffentlichen den Gesetzentwurf zu Geschäftsgeheimnissen – Fehlender Schutz für Whistleblower. netzpolitik.org; Stand 18.4.2018.

Sifo/Sicherheitsforschungsprogramm (2018): sifo.de (Website des BMBF für Die Neue Hightech Strategie – Innovationen für Deutschland; Stand 19.4.2018.

Stifterverband (2017): Transparenz bei der Zusammenarbeit von Hochschulen und Unternehmen.

TU München, Dieter Schwarz Stiftung (2018): Die Technische Universität München geht nach Baden-Württemberg – Mega-Stiftung für TUM-Campus Heilbronn. Pressemitteilung der Technischen Universität München und der Dieter Schwarz Stiftung, 7.2.2018.

Universität Siegen (2018): Die Fabrik der Zukunft. Pressemitteilung der Universität Siegen, 29.1.2018.

Dr. phil. habil. Cornelia Mannewitz ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Slawistik der Universität Greifswald, Mitglied des Geschäftsführenden Landesvorstands der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) Mecklenburg-Vorpommern und Mitglied des Bundesfachgruppenausschusses Hochschule und Forschung der GEW.

Mathematik und Krieg


Mathematik und Krieg

Forschung für die moderne Kriegsführung

von Thomas Gruber

Lückenlose Erdbeobachtung und Spionage, ferngesteuerte und (teil-) autonome technische Systeme sowie eine breite militärische Vernetzung – ohne aktuelle Forschungsergebnisse aus der Mathematik wären einige Grundpfeiler der modernen Kriegsführung undenkbar. Gleichzeitig hat die Mathematik vielerorts den Ruf einer rein theoretischen Wissenschaft. Ein Diskurs über die Verquickung zwischen der Mathematik und der Kriegsführung ist äußerst selten – sowohl innerhalb, als auch außerhalb der Hochschulen. Lässt sich die militärische Verwertbarkeit primär mathematischer Forschung also vielleicht gar nicht nachvollziehen? Werden jene Konzepte und Methoden erst durch anwendungsbezogene Fächer, wie die Ingenieurwissenschaften oder die Informatik, auf den Kriegszweck zugeschnitten? Dieser Beitrag soll den Weg mathematischer Forschung in die moderne Kriegsführung anhand einiger Beispiele anschaulich machen. Der Fokus wird dabei soweit möglich auf der Situation in Deutschland liegen.

Schon lange sind mathematische Methoden und Berechnungsmodelle ein wichtiger Teil der Kriegsführung. In früheren Kriegen nahm die Mathematik dabei eher die Rolle einer Hilfswissenschaft ein (Booß-Bavnbek und Høyrup 2003, S. 2-3). Mit dem 14. Jahrhundert wurde beispielsweise die Trigonometrie (Dreiecksberechnungen mithilfe von Sinus, Kosinus und Tangens) ein fester Bestandteil der Schiffsnavigation. Berechnungen zur Flugbahn von Geschossen (Ballistik) ermöglichten die Entwicklung der ersten Kanonen in Europa. Beides entstammte allerdings nicht der damals aktuellen Forschung, es wurden lediglich bereits bekannte mathematische Methoden militärisch genutzt. Dies änderte sich erst mit dem Ersten Weltkrieg. Für den Krieg zu Wasser und in der Luft waren die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse gefragt – die Mathematik war wegbereitend für die U-Boot-Ortung mithilfe von Schallimpulsen (Sonar) und schuf die Grundlagen der Aerodynamik (ebd., S. 4). Dennoch wurden Mathematiker*innen auch hier eher als gute Ingenieur*innen und Rechner*innen eingesetzt.

Der Zweite Weltkrieg brachte dann die große Wende: Die Mathematik wurde zum kriegsentscheidenden Faktor. Mathematiker*innen entwickelten Ansätze zur Optimierung der Militärlogistik, griffen erfolgreich gegnerische Verschlüsselungssysteme an,1 brachten die Kernwaffe mit auf den Weg,2 entwarfen Vorhersagemodelle für Schlachtsituationen auf Basis der mathematischen Spieltheorie und ermöglichten die ersten Schritte in der militärischen Raumfahrt. Außerdem lieferten sie die Grundlagen für den größten Sprung in der Datenverarbeitung bisher: den Computer. Die neuen digitalen Rechner revolutionierten die Rechenzeiten in der für die Waffentechnik elementaren Ballistik, der Verschlüsselung von Nachrichten, der Optimierung und der Raumfahrt.

Auch im nationalsozialistischen Deutschland hatte die Mathematik erheblichen Einfluss auf die Kriegsführung (Segal 2003): Der Numeriker Gustav Doetsch arbeitete etwa in der Luftfahrtforschungsanstalt Hermann Göring (inzwischen aufgegangen im Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt); die Analytiker und Algebraiker Helmut Grunsky und Oswald Teichmüller befassten sich mit Chiffrierungstechniken kriegsrelevanter Nachrichten; Lothar Collatz und Alwin Walther arbeiteten an der Theorie zur Interkontinentalrakete »Vergeltungswaffe 2«, die unter der Leitung des Ingenieurs Wernher von Braun entwickelt und schließlich auf Städte wie London und Antwerpen abgefeuert wurde.

Spätestens mit dem Zweiten Weltkrieg verließ die Mathematik im Rahmen der militärischen Entwicklungen also das Terrain einer reinen Hilfswissenschaft. Während des Kalten Krieges nahm ihre Bedeutung im Wettrüsten zwischen Ost und West sogar noch zu. Zwar entstanden gerade technische Neuerungen – etwa in der Luft- und Raumfahrt oder bei Waffensystemen – nur im Zusammenspiel mit den Ingenieurwissenschaften, ohne zielgerichtete mathematische Forschung wären sie allerdings undenkbar gewesen.

Zur Mathematisierung der modernen Kriegsführung

Viele Konzepte der Kriegsführung, die im 20. Jahrhundert angeregt wurden, sind bis heute relevant, andere kamen hinzu. So wurde etwa die militärische Raumfahrt zur Erdüberwachung stetig ausgebaut, neue Verschlüsselungsschemata und Angriffe auf dieselben erlangten zunehmend Bedeutung, und im Bereich der Waffensysteme ergab sich ein Trend zur Automatisierung und zur Fernsteuerung. Befeuert wurde diese Entwicklung durch die enormen Fortschritte in der Informatik – kleinere Computer und innovative Softwareentwicklung wurden zu Wegbereitern einer Mathematisierung der modernen Kriegsführung. Im Folgenden sollen zwei Beispiele aus der deutschen Forschungslandschaft den Weg mathematischer Methoden in die konkrete militärische Anwendung veranschaulichen.

SAR-Lupe und die Universität Bremen

Schon länger vollziehen die westlichen Militärmächte einen Wandel von klassischen, schwerfälligen Interventionskriegen hin zu schnellen, teils hochspezialisierten Eingreiftruppen3 und »chirurgischer Kriegsführung«. Eine lückenlose und ständige Erdbeobachtung ist seitdem Mindestvoraussetzung für militärische Aktionen; als Mittel der Wahl dient hierfür meist der Spionagesatellit. Allerdings werden nationale Armeen und transnationale Bündnisse damit vor einige komplexe Aufgaben gestellt. So sind etwa klassische Bildgebungsverfahren, wie die Photographie, für militärische Satelliten ungeeignet, weil sie bei schlechtem Wetter und nachts keine zufriedenstellenden Ergebnisse liefern können; außerdem muss ein Verbund aus mehreren Satelliten in den Erdorbit geschickt werden, dessen Konstellation eine weitgehend lückenlose Beobachtung der Erdoberfläche und eventuell den mehrfachen Überflug besonders relevanter Regionen ermöglicht; zusätzlich sind die technischen Eigenheiten der Satelliten zu bedenken, die sich während des Fluges und der Erdumrundung ergeben, etwa die Empfangsreichweite der Bodenstationen und bei solarbetriebenen Satelliten strombedingte Ausschaltzeitpunkte der Sensorik.

Gerade die Problemstellungen zur maximalen Erdabdeckung und zu technisch bedingten Betriebszeiten bedürfen einer mathematischen Lösung: Die Komplexität der Probleme und die Vielzahl an offenen Variablen würde es unpraktikabel machen, jeden einzelnen Lösungsvorschlag auszuprobieren und auf seine Güte zu testen. Abhilfe schafft hier der mathematische Teilbereich der Optimierung: Zunächst wird die reale Problemstellung mit all ihren Variablen und Einschränkungen mathematisch modelliert und dann die Güte der Lösungsvorschläge Stück für Stück verbessert. Dieses Vorgehen verringert nicht nur die Rechenzeit, die für ein gewisses Problem aufgewendet werden muss, sondern macht viele Aufgaben überhaupt erst in realistischer Zeit lösbar.

Seit dem Jahr 2008 unterhält die Bundeswehr das System SAR-Lupe. Es besteht aus einem Verbund von fünf Aufklärungssatelliten, die mithilfe von Radartechnik Bilder der Erdoberfläche liefern, unabhängig von Wetter und Tageszeit. Entwickelt wurde SAR-Lupe vom Bremer Raumfahrtunternehmen OHB. Dabei lagen die Kompetenzen des Konzerns eher in den technischen Komponenten der Satelliten, einige der grundlegenden theoretischen Fragestellungen wurden deshalb in die mathematische Forschung ausgelagert. In den Jahren 2007 und 2008 beauftragte OHB diesbezüglich das Zentrum für Technomathematik der Universität Bremen mit zwei Drittmittelprojekten: Zum einen sollte die Satellitenkonstellation im All, zum anderen die Betriebszeitplanung (Beobachtungszeiten, Sendezeiten, Ruhezeiten, …) der Satelliten optimiert werden (Tietjen, Büskens und Knauer 2008). Die beteiligten Mathematiker*innen entwickelten zu beiden Problemstellungen Programme, die seitdem im SAR-Lupe-System Anwendung finden (OHB-Pressestelle 2008). Diese Forschungsarbeiten der Bremer Mathematiker*innen standen zweifellos im Zusammenhang mit der aktuellen Kriegsführung der Bundeswehr, obwohl die Universität Bremen zur Laufzeit der Projekte eine Zivilklausel besaß (Streibl 2012; AstA o.J.; Braun et al. 2015).

Kryptologie und die Universität Leipzig

Eine weitere wichtige Rolle spielt in der modernen Kriegsführung die Kryptologie, also die Erforschung von verschlüsselter Kommunikation und von Angriffen auf diese: Zum einen sind militärische Einheiten zunehmend vernetzt und müssen daher über sichere Kommunikationswege verfügen. Zum anderen können erfolgreiche Angriffe auf die Verschlüsselung des Feindes essentielle taktische Informationen liefern oder zur Sabotage militärisch oder zivil genutzter Technik befähigen – kryptologische Konzepte können daher kriegsentscheidend wirken. Eine wichtige Eigenschaft bei Angriffen auf verschlüsselte Kommunikation ist, dass jede Verschlüsselung in endlicher Zeit gebrochen werden kann. Genauer: Wenn Angreifer*innen einen verschlüsselten Text abfangen, wissen sie meist, welches grobe Konzept vom Feind zur Übersetzung von Klartext in Geheimtext genutzt wird, oft ist dieses Konzept sogar öffentlich bekannt. Was zum erfolgreichen Brechen des Systems (also der feindlichen Entschlüsselung einer Geheimnachricht) noch fehlt, ist eine Geheiminformation, die nur den eigentlich kommunizierenden Parteien bekannt ist: der »Schlüssel«. Wenn Angreifer*innen jeden möglichen Schlüssel ausprobieren und dabei überprüfen, ob ein sinnvoller Klartext entsteht, können sie das Verschlüsselungssystem brechen. Das gesamte Konzept lebt also davon, dass es einerseits so viele Schlüssel gibt, dass reines Ausprobieren nicht in einer sinnvollen Zeit zu Ergebnissen führt,4 andererseits aber auch davon, dass die Ver- und Entschlüsselung von Nachrichten durch die eigentlichen Kommunikationspartner*innen nicht zu lange dauert und damit praktikabel bleibt.

Aus diesen Gründen ist für die aktuellen militärischen Ansätze zur Kryptologie vor allem die rasante Entwicklung der digitalen Computertechnik seit den 1950er Jahren richtungsweisend: Zum einen können mithilfe eines Computers sehr viel mehr Schlüssel in einer gewissen Zeit überprüft werden, als durch einen Menschen. Zum anderen kann aber auch das Kryptosystem, also das Konzept zur Ver- und Entschlüsselung von Nachrichten, verkompliziert werden, ohne dass sich die Zeit zur Ver- und Entschlüsselung zwischen den eigentlichen Kommunikationspartner*innen merklich verschlechtert.

In der militärischen Praxis ergibt sich also eine logische Verwandtschaft zwischen Kryptologie und der Informatik (oder teilweise auch noch fundamentaler: den Ingenieurwissenschaften), denn die konkrete Programmierung der Kryptosysteme und die Schnelligkeit der verwendeten Hardware entscheiden mit über deren Sicherheit und Angreifbarkeit. Aber auch Angriffe auf die Verschlüsselung sind stark abhängig vom Einfallsreichtum der attackierenden Programmierer*innen und der Güte der Technik, über die sie verfügen. Was dabei wenig bekannt ist, ist die zentrale Rolle der Mathematik in der kryptologischen Praxis: Die Theorie neuer Kryptosysteme und der Angriffe auf dieselben stützt sich maßgeblich auf die aktuelle, rein mathematische Forschung, genauer: auf die Algebra. Die algebraische Forschung hilft, das Dilemma der kurzen Rechenzeiten zu umgehen. Die Idee ist, ein Kryptosystem so komplex zu gestalten, dass selbst die zukünftige Entwicklung schnellerer Rechner keine Angriffe möglich macht.

Ein Beispiel für ein algebraisches Konzept, auf dem viele Verschlüsselungstechniken basieren, ist der »diskrete Logarithmus« (Stinson 2006, S. 233-274). Mit seiner Unberechenbarkeit (oder Unbrechbarkeit) steht und fällt die Sicherheit vieler Kryptosysteme. Der Vorteil für militärische Akteur*innen ist hierbei, dass eine sichere Verschlüsselung auf Basis des diskreten Logarithmus möglich ist, bei fehlendem mathematischen Hintergrundwissen entstehen bei dessen Nutzung allerdings kritische Sicherheitslücken. Das heißt, auch aktuelle Erkenntnisse aus der algebraischen Forschung können sowohl die eigenen Kryptosysteme sicher als auch feindliche angreifbar machen. Diesen Umstand machte sich das Bundesministerium für Verteidigung (BMVg) zunutze, als es 2013 für gut 800.000 Euro beim Mathematischen Institut der Universität Leipzig eine Studie in Auftrag gab, die sich mit den „Möglichkeiten und Grenzen der Berechnung des diskreten Logarithmus“ befasste (Sächsisches Staatsministerium 2015, S. 3) – eines der am höchsten dotierten wehrrelevanten sächsischen Forschungsprojekte der letzten Jahre.

Drohnen, Lenkflugkörper und die Mathematik

Auch bei der Automatisierung von Waffentechnik ist die Mathematik ein wichtiger Faktor. Anhand von Lenkflugkörpern und Drohnen lässt sich diese Verbindung gut umreißen.

Lenkflugkörper (beispielsweise Luft-Luft- oder Flugabwehrraketen) werden etwa von einem Flugzeug oder Schiff auf ein bewegliches Ziel gefeuert, das sie selbstständig abfangen sollen. Der am weitesten verbreitete Ansatz ist dabei die so genannte Proportionalnavigation: Während des Fluges befindet sich das Geschoss stetig auf Kollisionskurs mit dem Ziel – auch eventuelle Ausweichmanöver des Feindes werden durch automatisches Nachjustieren der Flugrichtung durch den Lenkflugkörper ausgeglichen. In den ersten Luftzielflugkörpern wurde diese Eigenschaft rein technisch realisiert. Das Problem der automatischen Steuerung der Rakete war also zunächst ein ingenieurwissenschaftliches. Die zunehmend kleineren und kostengünstigeren Computer führten allerdings zu einer allgemeinen Digitalisierung von Waffensystemen, und spätestens seit den 2000er Jahren wird die Proportionalnavigation mithilfe algorithmischer Berechnungen verbessert, die von Systemen an Bord des Lenkflugkörpers durchgeführt werden (vgl. etwa Walter et al. 2014; Trottemant et al. 2010). Die Optimierung der Flugeigenschaften basiert größtenteils auf der mathematischen Kontrolltheorie, die die Grundlage der ingenieurwissenschaftlichen Regelungstechnik darstellt. Hierbei können einerseits potentielle Ausweichmanöver des Zieles früher erkannt und genauer abgeschätzt, andererseits Störungen im Flug der Rakete (also etwa plötzliche Windstöße oder andere Turbulenzen) weit besser ausgeglichen werden.

Ein weiterer zentraler Faktor ist die Kontrolltheorie für den Einsatz von zunehmend automatisierten Aufklärungs- und Kampfdrohnen, vor allem wenn es um eigenständige Navigation geht, zum Beispiel beim vollautonomen Flug oder bei der automatischen Flugstabilisierung. Daneben kommt die Mathematik in Drohnen auch bei der Bildgebung zum Einsatz. Wurde z.B. ein Ziel erkannt und markiert, soll es auf den Kamerabildern und im weiteren Flug der Drohne automatisch verfolgt werden. Wenn sich allerdings mehrere bewegliche Objekte in einer Bildfolge finden oder der Sichtkontakt zwischen Kamera und Ziel kurzzeitig unterbrochen wird, kann die Verfolgung leicht fehlschlagen. Einen Ausweg aus dieser Problematik liefern stochastische (Stochastik: Wahrscheinlichkeitstheorie und Statistik) Schätzverfahren, die die Bewegungsrichtung des Ziels vorhersagen und damit eine störungsresistente Objektverfolgung (auch mehrerer Ziele gleichzeitig) möglich machen (vgl. etwa Quintero, Ludkovski und Hespanha 2016; Sheikh und Dodd 2010).

Fazit und Ausblick

In der modernen Kriegsführung werden noch zahlreiche weitere Methoden aus der Mathematik angewandt. Für viele verschiedene Aspekte der Luft- und Raumfahrt, des Fahrzeugbaus, der Waffentechnik, der Kryptologie, der Planungsunterstützung und der intelligenten Bildverarbeitung ist die Mathematik grundlegend wichtig. Die Wege der mathematischen Forschung in die konkrete Kriegsführung und damit auch die Erkennbarkeit der militärischen Relevanz einzelner Projekte sind dabei unterschiedlich: Es gibt Drittmittelkooperationen zwischen Universitäten und militärischen Akteur*innen, gezielte Förderung von Dual-use-Forschung (also Forschung, die sowohl zivil als auch militärisch nutzbar ist), Studierendenpraktika und Stellen für externe Abschlussarbeiten bei Rüstungskonzernen sowie militärisch initiierte Konferenzen und Wettbewerbe für Forscher*innen. In vielen Fällen lässt sich allerdings die Verbindung zwischen der Mathematik und der konkreten militärischen Anwendung einwandfrei nachvollziehen – vor allem von den beteiligten Forscher*innen und Universitäten.

So reiht sich die militärische und militärnahe mathematische Forschung ein in den generellen Trend zur Anpassung der Hochschulinstitute an die Wünsche privatwirtschaftlicher und staatlicher Geldgeber*innen. Die Bedeutung und die infrastrukturelle Ausstattung von Instituten und Fächern der angewandten Mathematik, etwa den Teilbereichen der so genannten Technomathematik oder Ingenieursmathematik sowie der Finanzmathematik, übertreffen die der reinen Mathematik inzwischen bei weitem.

Insgesamt ist aktuelle mathematische Forschung richtungsweisend für Methoden der modernen Kriegsführung, die sich in einem Spektrum von zumindest fragwürdig über jenseits jedweder Legalität bis hin zu vollkommen pervertiert einordnen lassen – beispielsweise ständige Erdüberwachung, Angriffe auf Verschlüsselungssysteme in der zivilen Kommunikation und Infrastruktur sowie Drohnentötungen auf der Basis von Handyortung. Zusätzlich hat der starke Anwendungsbezug auch direkte Auswirkungen auf die Inhalte und die Struktur der institutionalisierten Mathematik. Es gibt also genug Gründe, die Folgen der Verquickung zwischen Mathematik und Krieg breit zu diskutieren, sowohl in der Forschung als auch gesamtgesellschaftlich. Weiterführende Fragen, die sich dabei für beteiligte Forscher*innen und die interessierte Öffentlichkeit ergeben, sind etwa: Welche Verantwortung tragen Mathematiker*innen für die Folgen ihrer Forschung? Wie sind die Auswirkungen militärrelevanter Forschungsprojekte auf die Wissenschaftslandschaft zu beurteilen? Was sind zielführende Mittel, um die Verbindung zwischen Mathematik und militärischer Praxis zu kappen?

Anmerkungen

1) Das berühmteste Beispiel hierfür ist wohl die von den Nazis genutzte Chiffriermaschine »Enigma«, die von alliierten Mathematiker*innen in Bletchley Park entschlüsselt wurde.

2) Der Mathematiker John von Neumann beispielsweise war für den Durchbruch beim Implosionsmechanismus der Plutoniumbombe verantwortlich, die 1945 über Nagasaki abgeworfen wurde.

3) So regte etwa im Jahr 2002 US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld erstmals eine schnelle Eingreiftruppe innerhalb der NATO an, deren Aufbau noch im selben Jahr beschlossen wurde und die seit 2004 einsatzfähig ist.

4) Eine passende Analogie ist beispielsweise die Sicherheit von Passwörtern: Nur wenn ein Passwort eine gewisse Länge hat, wird es für eine*n Angreifer*in quasi unmöglich, jedes einzelne mögliche Passwort auszuprobieren.

Literatur

Allgemeiner Studierendenausschuss (AstA) der Universität Bremen (o.J.): Zivilklausel, Rüstungsforschung und die Uni Bremen. asta.uni-bremen.de.

Booß-Bavnbek, B; Høyrup, J. (2003): Introduction. In: Booß-Bavnbek, B.; Høyrup, J. (eds.): Mathematics and War. Basel: Birkhäuser Verlag.

Braun, R. et al. (2015): Zivilklauseln – Lernen und Forschen für den Frieden. W&F-Dossier 77.

OHB-System AG (2008): OHB-System AG mit Technologiepreis der Steinbeis-Stiftung geehrt. OHB-Pressestelle, 19.9.2008.

Quintero, S. A. P.; Ludkovski, M.; Hespanha J. P. (2016): Stochastic Optimal Coordination of Small UAVs for Target Tracking using Regression-based Dynamic Programming. Journal of Intelligent & Robotic Systems, Vol. 82, Nr. 1, S. 135-162.

Sächsisches Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst (2015): Antwort auf die kleine Anfrage der Abgeordneten Annekatrin Klepsch, Fraktion DIE LINKE, Drucksache 6/2688.

Segal, S. L. (2003): Mathematicians under the Nazis. Princeton: Princeton University Press.

Sheikh, A. M.; Dodd, T. J. (2010): Prediction-­Based Dynamic Target Interception Using Discrete Markov Chains. In: Al-Begain, ­Khalid; Fiems, Dieter; Knottenbelt, William J. (Hrsg.): Analytical and Stochastical Modeling Techniques and Applications. Berlin, Heidelberg: Springer. S. 339-350.

Stinson, D. R. (2006): Cryptography: Theory and Practice, Third Edition. Boca Raton, Florida: Chapman & Hall/CRC.

Streibl, R. (2012): Bremer Universität bestätigt Zivilklausel – Wichtiges Signal für Verantwortung in der Wissenschaft. W&F 1-2012, S. 58-59.

Tietjen, J.; Büskens, C.; Knauer, M. (2008): Time Schedule Optimization of Satellites. Proceedings in Applied Mathematics and Mechanics, Vol. 8, Nr. 1, S. 10805-10806.

Trottemant, E. J.; Scherer, C. W.; Weiss, M.; Vermeulen, A. (2010): Robust Missile Feedback Control Strategies. Journal of Guidance, Control, and Dynamics, Vol. 33, Nr.6, S. 1837-1846.

Walter, L.; Schlöffel, G.; Theodoulis, S.; Holzapfel, F.; Kostina, E. (2014): Multiple Shooting Condensing for Online Gain Scheduling in Interceptor Guidance. AIAA Guidance, Naviga­tion, and Control Conference, AIAA SciTech Forum.

Thomas Gruber promoviert zum Thema »Mathematik, Informatik und moderne Kriegsführung«. Er arbeitet für das Forum InformatikerInnnen für Frieden und gesellschaft­liche Verantwortung (FIfF) in der Redaktion von Wissenschaft und ­Frieden mit.

Friedensforschung im Dienst des Militärs?


Friedensforschung im Dienst des Militärs?

von Thomas Mickan

Um zu untersuchen und zu kritisieren, wie sich Friedensforschung in den Dienst des Militärs stellt, gibt es mindestens zwei Spuren. Wie unterscheiden sich diese, und wie können sie helfen, die eigene Verstrickung und Kompliz*innenschaft als Friedensforschende im möglichen Dienst des Militärs zu verstehen?

Die erste Spur der Kritik versucht die institutionellen, personellen, finanziellen oder politischen Verstrickungen zwischen Wissenschaft und Militär aufzudecken. Sie hebt den verdeckenden Mantel von Interessenskonflikten und legt den Finger in die Wunde, wo wissenschaftliche Standards aufgrund einer zu starken Verschränkung und Kompliz*innenschaft mit dem Militär leiden müssen. Militär wird hierbei vor allem als eine Institution, wie etwa die Bundeswehr mit dem Verteidigungsministerium und Entourage, verstanden.

Die zweite Spur der Kritik – darauf zu blicken, wie sich Friedensforschung in den Dienst des Militärs stellt – unterscheidet sich davon grundlegend. Um diese soll es im Folgenden hauptsächlich gehen. Militär wird hierbei nicht in seiner institutionellen Materialisierung verstanden, sondern in dessen Genese und Wirkung als Wissensregime: Wie wird Militär gedacht, wie entsteht unser Wissen von diesem und woraus zieht dieses Wissensregime seine weitgehende epistemische Unversehrtheit, als ein Gedanke, der gedacht werden kann und sich darin auch materialisiert sowie reproduziert.

Ein Wissensregime ist dabei mehr als etwa eine militärsoziologische Betrachtung von Gruppendynamiken, Gedanken zur Sicherheitskultur unterschiedlicher Streitkräfte oder wie sich eine Interventionskultur in der intervenierten sowie intervenierenden Gesellschaft verändert. Es sollte auch nicht vorschnell verknüpft werden mit anderen großen Begriffen der Friedensforschung, allen voran Krieg, Konflikt, Gewalt und Frieden, die ihre ganz eigenen hier nicht betrachteten Dynamiken mit sich bringen.

Militär als Wissensregime ist die Praxis eines Ensembles von Ermöglichungsbedingungen, eine von Normen, Prinzipien und Idealen geformte und scheinbar naturgegebene“ Lebenswelt (Butler 2010a). Eine darin anknüpfende Kritik soll nicht verstanden werden als „zu bewerten, welche Bedingungen, Praktiken, Wissensformen, Diskurse gut oder schlecht sind. Kritik zielt darauf, das spezifische System der Bewertung offenzulegen […] und zu zeigen, wie Wissen und Macht miteinander verwoben sind, so dass Gewissheiten bestehende Ordnungen affirmieren und alternative verwerfen“ (Thomas 2011). Wissenschaft im Dienste des Militärs so verstanden ergründet dann, wie auch Forschung dazu beiträgt, dass Militär überhaupt in seiner vermeintlichen Selbstverständlichkeit gedacht wird und wie dieses Denken überkommen oder besser gesagt dekonstruiert werden kann.

Das Pathologische entschleiern?

Warum aber ein Unbehagen an der ersten Spur? Ist es nicht mehr ausreichend und zeitgemäß, die Frage nach Interessen zu stellen? Soll es aus der Mode gekommen sein, herrschaftskritisch danach zu fragen, wie mächtige Interessengruppen und Staaten Geopolitik betreiben? Und was kann erkenntnisreicher sein, als „Kritische Friedensforscher [, die …] helfen, politische Apathie zu überwinden, […] verdeckte oder ideologisch verschleierte gesellschaftliche Konflikte bewußt zu machen [sowie …] eine nicht manipulierbare, politisch handlungsfähige Öffentlichkeit herzustellen“, wie es in der Wannsee-Erklärung zur Friedensforschung von 1971 hieß (zit. nach Bogerts et al. 2016)? Gerade kritische Zeitgenoss*innen kritisierten für die (auch durch den neoliberalen Umbau der Universitäten verursachte) Abkehr von der ersten Spur wahrscheinlich nicht zu Unrecht vehement die Entpolitisierung und vermeintliche Wertfreiheit einer heute vorherrschenden Friedensforschung (u.a. Ruf 2009; Strutynsky 2012; Nieth 2016).

Die Diskussionen, die sich daran anschlossen, sind ermüdend. Zumal die mit Verve vorgebrachte Kritik nur wenig verfing, und dennoch bleibt es ein Wagnis, diese Kritik zu kritisieren: Sie erweist nämlich ein feines Gespür für die Probleme der Disziplin, die aus einer institutionellen Kompliz*innenschaft entstehen. Jedoch steht dieser Suche nach den verborgenen Interessen, die es zu entlarven gilt, gerade dem eigenen Credo widersprechend ein Ausbleiben herzustellender erweiterter politischer Handlungsmacht entgegen. Denn im Entlarven stecken mindestens zwei bedrohliche Maximen, die uns in Ohnmacht erstarren lassen müssen: erstens, dass die Welt von Mächtigen beherrscht wird, deren Politik wir in so großen Zügen zu beschreiben haben, dass ein eigenes politisches Handeln auch als Wissenschaftler*innen von vornherein als aussichtslos erscheinen muss. Zweitens, dass die Camouflage der Macht und das falsche Bewusstsein der Menschen auch uns verdammt, entweder zu den einen oder anderen zu zählen oder aber in unserer Enthüller*innenrolle stets einer gefährlichen Hybris der Kritik und trügerischen „Erotik des Widerstandes“ (Dhawan 2015, S. 10 f.) zu unterliegen.

Zu Beginn der 1990er Jahre sprach der jüngst leider verstorbene Ekkehard Krippendorf davon, dass das Militär das Pathologische des Politischen sei, weil Militär in seiner Dummheit zu der einfachsten vermeintlichen Problemlösung greife. Dementsprechend: „Die Gegenwelt zu Militär, pathologischer Politik und Dummheit findet sich in Kunst und Wissenschaft, die uns die Komplexität von Mensch und Gesellschaft, Kultur und Geschichte immer wieder bewußt machen.“ (Krippendorf 1993, S. 91) Ohne Zweifel ist dabei, dass Krippendorf mehr als kritisch mit der eigenen Disziplin ins Gericht ging, dem (vermeintlich wiederherzustellenden) Ideal einer emanzipatorischen Friedensforschung bleibt jedoch auch er zumindest in diesem Ausschnitt verhaftet.

Beispiel: Militär als Instrument

Was kann nun aber mit der zweiten Spur der Kritik für die Frage von Wissenschaft im Dienst des Militärs angefangen werden? Wie kann ein verschrobenes Wort wie »Wissensregime« oder daran anschließend »epistemische Gewalt« hier nicht auch zu einer anderen Form von Ohnmacht führen – einer diskursiven Ohnmacht aus Langeweile und Unverständnis? (Zum Konzept von epistemischer Gewalt, siehe Interview mit Claudia Brunner auf S. 42.) Ich will dies an einem kleinen Beispiel skizzieren, das sowohl aus der strategischen Sprache von Politik in Deutschland (z.B. Review2014; Weißbuch BMVg 2016; PeaceLab2016; Koalitionsvertrag 2018) sowie aus der deutschsprachigen Friedensforschung kaum wegzudenken ist; ein bescheidenes Detail, das aber (wie alle dekonstruktivistischen Positionen) weit mehr sein will, als eine »Sprachpolizei«. Das gewählte Beispiel ist Militär verstanden als »Instrument«.

Hier ist nicht der Raum, um sich diskursanalytisch an einschlägigen Texten der Friedensforschung abzuarbeiten. Es geht mir schließlich nicht um eine quantitative Feststellung, wie weit ein Phänomen verbreitet ist, sondern um die Feststellung, wie es dazu beiträgt, dass wir Militär in einer bestimmten Weise denken, herstellen, ja überhaupt weiter denken und damit auch in dessen Materialität reifizieren und reproduzieren. Militär ist in dieser zweiten Spur der Kritik mehr als die konkrete Institution, es ist unabhängig einer gedachten Schranke zivil/militärisch auch in fast alle unsere Lebensbereiche eingeschrieben. Das können ganz alltägliche Dinge sein wie Kleidung, den Hausnummern an unseren Häusern, es kann sich in Form von militarisierten Landschaften in unsere Städte schreiben, es kann sich in medialen Welten abspielen, es kann sich eben auch in unserer Sprache oder gedrilltem Habitus wiederfinden, in generationsvererbten Traumata, dem Stumpf am Bein oder direkt in einer Kugel, die den Körper durchschlägt.

Das Bezeichnen von Militär als »Instrument« ist dann kein Verschleiern einer vermeintlichen Realität (wie es etwa die Wörter »Wirkmittel« oder »Kollateralschaden« durchaus sein können). Es ist vielmehr ein Wissensregime, das gewachsen, katalogisiert, normiert, sedimentiert und am allerwichtigsten veränderbar, da Teil politischer Praxis und Kämpfe ist. »Instrument« steht hier eher für eine Art Wissenscode, der bestimmte Vorstellung und Praxen von und über Militär ermöglicht oder verunmöglicht. Auch hier findet, wie bei der ersten Spur, eine Entpolitisierung statt, die Frage ist aber nicht mehr, wer macht warum etwas, sondern: Wie passiert etwas, und lässt es sich verändern? Militär als Instrument verstanden verschiebt nämlich vermeintlich alle Verantwortung, etwa auf politische Entscheidungsträger*innen. Anstatt einer Politisierung der Debatte über Militär zuträglich zu sein, führt es ganz im Gegenteil dazu, dass Militär als solches, als Problem qua Epistemität, keine Relevanz besitzt, diskursiv ausgeschlossen und damit gegen grundlegende Veränderungen immunisiert wird. Dazu tragen übrigens auch Debatten bei, die »alternative Instrumente« oder »Toolboxen« für Zivile Konfliktbearbeitung propagieren, weil sie sich ebenso dieses ausstrahlenden Codes bedienen.

Die Ausschlüsse sind dabei jedoch nicht lediglich verständlich, sondern epistemisch sogar mitunter zwangsläufig, weil, wie es Judith Butler ausdrückt, es „unter den derzeitigen geschichtlichen Bedingungen“ unmöglich ist, die „materielle Realität des [von der Friedensforschung viel beachteten; Anm. TM] Krieges von jenen Repräsentationsregimes zu trennen, durch welche diese materielle Realität wirksam wird“ (Butler 2010b, S. 35). Es könnte also sein, dass es unter den derzeitigen Wissens- und Sprachnormen vorerst unmöglich ist, Krieg und Militär konsequent voneinander getrennt zu denken. Um diese womöglich noch darüber liegenden Sedimente teilweise abzutragen, so mein Verdacht, kann ein anderes Verstehen von Militär als Wissensregime helfen. Es führt nämlich Militär zurück in den Bereich des Politischen, des Ideellen, der Idee, des Ensembles von Praktiken und Ermöglichungsbedingungen, die verändert werden können, bis hin zur Zersetzung des Wissensregimes Militär (vgl. Virilio 1984, S. 23).

Ausblick und zarte Begegnungen

Wo nun aber suchen nach Veränderung, nach einem anderen Verhältnis von Friedensforschung im Dienst des Militärs außer wie skizziert in der Sprache? Einen wunderbaren Ausblick bieten die entstehenden »Critical Military Studies« (einführend: Basham et al. 2015; im Deutschen bereits 2006 ähnlich Virchow und Thomas), zu denen neben der publizierten Forschung im gleichnamigen Journal bereits auch weitere einschlägige Beiträge erschienen sind. Allerdings finden sich gerade im Journal besonders zarte Begegnungen in Form der so genannten „Encounter“ wieder (Bulmer, Hyde 2015, S. 79). Hier wird in einer reduzierten, aber offenen Form die alltägliche Einschreibung des Militärs gesucht; es werden Brücken geschlagen zu verschiedensten wissenschaftlichen, aktivistischen, literarischen Methoden. Stets jedoch mit dem Ziel, Schichten eines Wissensre­gimes Militär abzutragen, die eigene Verstricktheit und Kompliz*innenschaft hinterfragend aufzuzeigen und das Erleben in Kontexte eines einfachen Verstehens und gleichzeitig von Kritik einzubinden. Vor allem ermutigt und ermächtigt es, Militär als vielfältige Form von Gewalt, die uns so alltäglich ist, aber eigentlich unerträglich sein müsste, immer wieder neu herauszufordern, abzutragen und zur Diskussion zu stellen.

Für die Frage von Friedensforschung im Dienst des Militärs ist ferner das Konzept der »epistemischen Gewalt« besonders anregend, weil es uns hilft, Gewaltdimensionen zu verknüpfen, meine eigene Verstrickung in die Macht sowie Kompliz*innenschaft zur Gewalt erfassbar werden zu lassen, um einen anderen Umgang entwickeln zu können.

Literatur

Auswärtiges Amt (2014): Review2014 – Krise, Ordnung, Europa. Abschlussbericht.

Auswärtiges Amt/Global Public Policy Institut (2017): PeaceLab 2016. Krisenprävention weiter denken.

Basham, V.; Belkin, A.; Gifkins, J. (2015): What is Critical Military Studies. Critical Military Studies, Vol. 1, Issue 1, S. 1-2.

Bogerts, L.; Böschen, S.; Weller, C. (2016): Politik, Protest, Forschung – Wie entstand die Friedensforschung in der BRD? W&F 1-2016, S. 12-15.

Bulmer, S.; Hyde, A. (2015): An introduction to Encounters. Critical Military Studies, Vol. 1, Issue 1, S. 79.

Bundesministerium der Verteidigung (2016): Weißbuch der Bundeswehr.

Bundesregierung (2018): Ein neuer Aufbruch für Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland Ein neuer Zusammenhalt für unser Land. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD.

Butler, J. (2010a): A Carefully Crafted F**k You – Nathan Schneider interviews Judith Butler. Guernica a magazine of art & politics, 15.3.2010.

Butler, J. (2010b): Raster des Krieges – Warum wir nicht jedes Leid beklagen. Frankfurt am Main: campus.

Dhawan, N. (2015): Die unerträgliche Langsamkeit des Wandels – Das Phantasma einer Stimme des Volkes und die Erotik des Widerstandes. In: Phantasma und Politik, Publikation der Abschlussveranstaltung der Veranstaltungsreihe »Phantasma und Politik«, Berlin: HAU (Hebbel am Ufer), S. 10-13.

Krippendorf, E. (1993): Das Militär als Pathologie des Politischen. In: ders. (Hrsg.): Militärkritik. Frankfurt am Main: suhrkamp, S. 82-93.

Nieth, J. (2016): Friedensforschung in der BRD. In: Chrome, E.: Friedensforschung in Deutschland. Berlin: Rosa Luxemburg Stiftung, S. 10-38.

Ruf, W. (2006): Quo vadis Friedensforschung? In: Baumann, M. et al. (Hrsg.): Friedensforschung und Friedenspraxis. Frankfurt am Main: Brandes & Apsel, S. 42-56.

Strutynski, P. (2012): Sechs Thesen zur kritischen Friedensforschung. In: Chrome, E. (2016): Friedensforschung in Deutschland. Berlin: Rosa Luxemburg Stiftung, S. 54.

Thomas, T. (2011): Poststrukturalistische Kritik als Praxis von Grenzüberschreitungen. In: dies.; Hobuß, S.; Henning, I.; Kruse, M. (Hrsg.): Dekonstruktion und Evidenz – Ver(un)sicherungen in Medienkulturen. Sulzbach/Taunus: U. Helmer, S. 27.

Virchow, F.; Thomas, T. (2006): Banal Militarism – Zur Veralltäglichung des Militärischen im Zivilen. Bielefeld: transcript, S. 25-48.

Virilio, P. (1984): Der reine Krieg – Im Gespräch mit Sylvère Lotringer. Leipzig: Merve.

Thomas Mickan ist Politikwissenschaftler, Beirat der Informationsstelle Militarisierung und Mitglied der W&F-Redaktion.

Militarisierung oder Zivilisierung?


Militarisierung oder Zivilisierung?

Ambivalenz der Wissenschaft in der Krise

von Jürgen Scheffran

Die zivil-militärische Ambivalenz hat die Wissenschaftsgeschichte geprägt. Ging es vor dem 20. Jahrhundert noch darum, die Relevanz der modernen Wissenschaft für das Militär unter Beweis zu stellen, so brachten die beiden Weltkriege die staatlich geförderte Kriegswissenschaft und der Kalte Krieg die systematische Einbindung von Großtechnologien in den militärisch-industriellen Komplex. Mit der Auflösung des Ost-West-Konflikts und der zunehmenden Globalisierung ging eine enge Verbindung von rüstungsbezogener und kommerzieller Hochtechnologie einher, die zu geplanten Dual-use-Strategien führte. Vernetzte Kriege im Kontext der Globalisierung führten zu neuen zivil-militärischen Strukturen und Anreizen für Aufrüstung. Eine mögliche Antwort ist eine stärkere Zivilisierung der Wissenschaft.

Bei Ambivalenz geht es um widersprüchliche Wahrnehmungen und konfliktive Bewertungen von Phänomenen. Ist dies vereinbar mit einer Wissenschaft, die nach verbreitetem Verständnis doch nach Wahrheit und Eindeutigkeit strebt, ungeachtet subjektiver Werte? Tatsächlich ist Wissenschaft nicht wertfrei, sondern unterschiedlichen (Be-) Wertungen unterworfen. Das wirft die Frage auf, um welche und wessen Werte es geht, wobei im vorliegenden Text die Akteure und Motive militärischer Forschung im Vordergrund stehen. Dabei liegt der Blick auf den Wissenschaftler*innen selbst, deren »Suche nach Wahrheit und Erkenntnis« hinsichtlich der Suchrichtung und der Untersuchungsmittel von individuellen, immanenten und gesellschaftlichen Antriebsfaktoren geformt wird:

1. Individuelle Eigeninteressen beeinflussen die Entscheidung, Wissenschaft zu betreiben, die den eigenen Fähigkeiten und Erkenntnisinteressen entsprechen, darunter auch das Bedürfnis, eine dauerhafte Beschäftigung bei gutem Einkommen zu sichern.

2. Wissenschaftsimmanente Kriterien im »System Wissenschaft« fordern dazu auf, gute, korrekte und der Wahrheit verpflichtete Forschung zu betreiben, die wissenschaftlichen Ansprüchen genügt und methodisch abgesicherte Erkenntnisse produziert. Diese können frei publiziert werden, sofern sie einem Begutachtungsprozess in der wissenschaftlichen Community genügen. Bei hoher Qualität und Relevanz der Ergebnisse steigen wissenschaftliches Ansehen, Reputation und Einfluss, was die Chancen für Projekt- und Fördermittel erhöht.

3. Gesellschaftliche Relevanz bemisst sich an praktisch allen denkbaren Bewertungskriterien und Zielsetzungen, wobei hier unterschieden wird zwischen sicherheitspolitischen (Verteidigung, militärischer Vorsprung, Sicherheit, Frieden), wirtschaftlichen (Profit, Konkurrenzfähigkeit, Wohlstand) und anderen gesellschaftlichen Zielen (Energie- und Ressourcensicherheit, Umwelt- und Klimaschutz, Gesundheit und Nachhaltigkeit).

Zwischen diesen Motiven kann es Übereinstimmung geben, wenn hochwertige und gesellschaftlich relevante Forschung betrieben wird, die wissenschaftliches Ansehen und finanzielle Absicherung bietet. Es sind auch Widersprüche und Ambivalenzen möglich, wenn das Bemühen um gesellschaftlich relevante Forschung nicht gefördert wird, z.B. weil sie zu kritisch ist, und damit individuelle Nachteile bringt, oder wenn Mittel für Rüstungsforschung und kommerzielle Forschung vergeben werden, die zwar hohes Einkommen bringen, aber in Widerspruch stehen zu gesellschaftlichen Werten (z.B. Frieden und Nachhaltigkeit) oder wissenschaftlichen Prinzipien (z.B. durch Geheimhaltung, wissenschaftliche Unredlichkeit, Negativbegutachtung von Konkurrenten, Verkrustung des Mainstreams). Offenkundig ist der Widerspruch zwischen Wissenschaft und Technik, die als »Produktivkraft« zum Wohle der Menschheit beitragen soll, und der »Destruktivkraft« Rüstung, die auf die Entwicklung zerstörerischer Mittel ausgerichtet ist.

In welcher Richtung der wissenschaftlich-technische Möglichkeitsraum erkundet wird, beeinflussen auch Mittelgeber, die durch Vorgabe von Suchzielen und Vergabe von Fördermitteln in den Prozess eingreifen, um bestimmte Innovationen für eigene Ziele zu ermöglichen und Kosten im Sinne einer Zweck-Mittel-Relation zu rechtfertigen. Hierzu gehören militärische und kommerzielle Förderer, für die Investitionen der Verfolgung ihrer Partikularinteressen dienen: einen Vorsprung gegenüber Gegnern auf Schlachtfeldern oder Konkurrenten auf Märkten zu erringen. Ihr Einfluss verstärkt die ohnehin vorhandene Konkurrenzsituation im Wissenschaftssystem.

Eine Frage ist, wodurch Rüstungsforschung getrieben wird: durch staatliche Steuerung, privatwirtschaftliche Interessen oder wissenschaftliche Dynamik? Dies hängt auch davon ab, ob Rüstungsforschung als anerkanntes Mittel der Politik gilt oder als überflüssige, kostspielige, gar friedensgefährdende Unternehmung. Teile des Wissenschaftsbetriebs haben hier eine treibende Rolle und sehen keine Probleme, an Rüstungsforschung aktiv mitzuwirken. Sie genießen die Vorteile – Geld, Einfluss und Anerkennung – unter Inkaufnahme gewisser Einbußen (Geheimhaltung, Abschottung, Amoralität) (Marischka 2015).

Andere geraten in eine Dilemma-Situation, wenn sie in Prozesse involviert sind, die sie im Grunde ablehnen. Dies gilt insbesondere für die militärischen Implikationen der eigenen Arbeit, die aufgrund unscharfer Grenzen zwischen zivil und militärisch nicht immer leicht zu erkennen sind, zumal wenn die Arbeit Teil eines größeren Programms ist (Scheffran et al. 1993; Liebert et al. 1994). Hier gilt das bekannte Zitat Carl Friedrich von Weizsäckers: „Ambivalenz nennen wir die Erfahrung, daß wir, gerade wenn wir etwas Angestrebtes erreicht haben oder verwirklicht haben, entdecken müssen, daß es eigentlich nicht das Angestrebte, sondern vielleicht sogar dessen Verhinderung war.“ (von Weizsäcker 1977)

Ambivalenz kann auch bewusst ausgenutzt werden, wenn militärische Forschung als zivil deklariert und als dual-use gefördert wird. Dann lassen sich die eigentlichen Motive hinter anderen Begründungen verstecken. Es kann eine Diskrepanz zwischen Zielen und Mitteln entstehen, wenn z.B. behauptet wird, ein Rüstungsprogramm diene bestimmten sicherheitspolitischen Aufgaben, obwohl es dafür im Vergleich zu Alternativlösungen ungeeignet oder zu teuer ist. Durch die Ausweitung des Sicherheitsbegriffs werden überdies immer neue Motive für Rüstungsprojekte geschaffen, selbst wenn sie zur Problemlösung nicht geeignet sind.

Entsprechende Ambivalenzen werden im Folgenden an einigen historischen und aktuellen Entwicklungen verdeutlicht.

Anfänge der Rüstungsforschung

Im Verlauf der Geschichte war Kriegsführung ein wenig ambivalentes Mittel der Machtpolitik; Angriffskriege waren üblich. Wissenschaft und Technik spielten eine eher marginale Rolle, auch wenn einzelne Erfindungen im Krieg zum Einsatz kamen, wo sie von Vorteil waren (etwa im Wechselspiel von Katapulten und Befestigungstechnik). Forschung wurde oft unter schwierigen Bedingungen und Abhängigkeiten betrieben. Der Beitrag bekannter Personen, wie Archimedes, Leonardo, Galileo, Tartaglia und Newton, schwankte zwischen philosophisch-mathematischen Betrachtungen und praktisch-experimentellen Fertigkeiten. In den kriegerischen Verhältnissen ihrer Zeit erdachten sie auch militärische Mittel, die sie den herrschenden Kreisen anboten, meist mit geringem Erfolg und begleitet von Skrupeln (Scheffran 2005). Die Entdeckung des Schwarzpulvers und die Ausbreitung der Feuerwaffen beförderte die Technisierung des Krieges, besonders bezüglich Fragen der Mechanik und Chemie. Komplexere Maschinen kamen zum Einsatz beim Transport und in der Produktion militärischer Güter.

Der englische Philosoph Francis Bacon sah Wissenschaft im Wechselspiel von Empirie und Theorie als neues Werkzeug (novum organum) für den Fortschritt, zur Wohlstands- und Herrschaftssicherung, unter rationaler Anwendung der auf Wirkungssteigerung gerichteten Wissenschaftsmethode. Die effiziente Kontrolle von Materie, Energie und Information erweiterte den Möglichkeitsraum auch für das Militär; die neue Wissenschaft wurde, auch auf Betreiben ihrer Akteure, zunehmend in das Kriegsgeschehen hinein gezogen.

Mit der Verwissenschaftlichung von Technik und Produktion in der Industriellen Revolution ging eine Versicherheitlichung der Wissenschaft einher, was zu Ambivalenzen führte, wenn waffentechnische Innovationen und Industrieproduktion miteinander verquickt waren. Der Umgang mit der komplexer werdenden Rüstungstechnik erforderte eine Professionalisierung und Spezialisierung, die sich in Militärakademien, Ingenieurschulen und Forschungslabors niederschlug. So wurde im deutsch-französischen Krieg 1871 die Biologie in die Konkurrenz zwischen dem deutschen Robert Koch und dem Franzosen Louis Pasteur hinein gezogen (Marischka 2015). Die Mechanisierung und Standardisierung ermöglichte die Massenproduktion von Rüstungsgütern. Zugleich stieg die Zahl der Opfer durch das Maschinengewehr, die Artillerie und neue Sprengstoffe rapide an.

Die Weltkriege: Mobilisierung der Vernichtungswissenschaft

Die von Clausewitz früh erkannte Tendenz des totalen Krieges, alle Bereiche der Gesellschaft zu erfassen, entfaltete sich im 20. Jahrhundert durch die von Wissenschaft und Technik getriebene Steigerung der Vernichtungsmittel. Schon der Erste Weltkrieg forcierte die wissenschaftliche Kriegsführung und brachte waffentechnische Neuerungen (Panzer, U-Boot, Giftgas, Maschinengewehr, Flugzeug, Motorisierung), die die Zerstörung steigerten, ohne jedoch den Krieg zu entscheiden. Nach anfänglicher Kriegsbegeisterung, die Fritz Haber zur Giftgasentwicklung trieb, bei Albert Einstein und Rudolf Diesel hingegen eine Verweigerungshaltung auslöste, überwog bei vielen am Kriegsende die Kritik (Neuneck 2014). Danach gab es eine der fruchtbarsten Perioden von Naturwissenschaft und Technik, aber auch die totale Mobilisierung der Kriegswissenschaften. Dies wurde unterstützt durch die „Selbstmobilisierung und Aneignung des Krieges durch zivile Akteure“ aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft (zit. nach Marischka 2015), z.B. in der 1937 gegründeten Aerodynamischen Versuchsanstalt in Göttingen, wo die „Ausrichtung auf die Bedürfnisse von Militär und Krieg […] von Anfang an konstitutiv“ war (Tollmien 1990).

Auch in den USA entwickelte sich eine totale Wissenschaft vom Krieg, die Natur- und Gesellschaftswissenschaften vernetzte. Aufgrund des enormen Mitteleinsatzes brachte das durch den Zweiten Weltkrieg angetriebene und im Geheimen erfolgende Wettrüsten der Gehirne neue Quantensprünge hervor, allen voran die Atombombe im Manhattan-Projekt der USA – mit bis zu 130.000 Beschäftigten auf über 50.000 Hektar Landfläche das umfangreichste Großforschungsprojekt –, ebenso die Raketenentwicklung des deutschen Reichs, die Erfindung des Radars und die Entschlüsselung des deutschen Geheimcodes im britischen Bletchley Park, die Schaffung neuer Fachgebiete, wie Operations Research und Informationsverarbeitung, sowie den ersten Computer. Solche wissenschaftlich-technischen Errungenschaften dürften für den Kriegsausgang allerdings weniger entscheidend gewesen sein als die Massenproduktion von Waffen und Munition, die von ökonomischen Ressourcen und industriellen Kapazitäten abhing.

Die Ambivalenzfrage stellte sich bei den Kriegsparteien unterschiedlich. Während in Nazi-Deutschland der faschistische Angriffskrieg Unterstützung fand (symbolisiert durch Wernher von Braun, der vorgeblich das Militär nutzte, um in den Weltraum zu gelangen), aber auch zögerliches Mitmachen und Selbstzweifel (die einigen Beteiligten im deutschen Atomprogramm zugeschrieben wurden), gab es bei den Alliierten eine nahezu rückhaltlose Bereitschaft, zum Sieg über Hitler-Deutschland beizutragen, von Robert Oppenheimer über Alan Turing bis zu John von Neumann. Dies ging so weit, dass selbst Pazifisten und kritische Geister, wie Albert Einstein oder John Desmond Bernal, zeitweise von ihren Prinzipien abwichen, um dem Faschismus zu begegnen. Nach dem Einsatz der Atombombe plagte einige das schlechte Gewissen, andere wollten oder konnten die Widersprüchlichkeit des selbst Erschaffenen nicht auflösen, wie John von Neumann, dem folgendes Zitat zugeschrieben wird: „Was wir gerade erschaffen, ist ein Ungeheuer, das den Lauf der Geschichte verändern wird, vorausgesetzt, es bleibt uns noch eine Geschichte [.].. Aber es wäre undenkbar, es nicht zu Ende zu bringen, nicht nur aus militärischen Gründen; es wäre auch vom wissenschaftlichen Standpunkt aus unethisch, etwas, von dem wir wissen, dass es machbar ist, nicht zu machen, ungeachtet der furchtbaren Folgen, die es nach sich ziehen mag.“ (zit. nach Marischka 2015).

Der militärisch-industrielle Komplex im Kalten Krieg

Die Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs waren bestimmend für den Kalten Krieg. Angesichts der gegenseitig gesicherten nuklearen Vernichtung entstand die paradoxe Situation, dass die beiden Supermächte zwar allmächtige Waffen in ihren Händen hielten, sie aber praktisch nicht einsetzen konnten. Zudem wurden Angriffskriege völkerrechtlich geächtet, was die Legitimität der Kriegsapparate in Frage stellte, die sich hinter Verteidigung und Abschreckung versteckten. Die Großforschungsanlagen läuteten ein neues Stadium staatlich geförderter Wissenschaft ein, die im militärisch-industriellen Komplex ihren Ausdruck fand. Neben der Bedrohung durch den Systemgegner wurden ökonomische Lobby-Strukturen für ein kostspieliges und gefährliches Wettrüsten geschaffen, in das wissenschaftliche und gesellschaftliche Ressourcen in großem Stil eingebunden wurden. Ideologien und umfangreiche Finanzmittel machten es Wissenschaftlern wie Edward Teller oder Andrej Sacharow leicht, in den Waffenlabors mitzuwirken und weitere »Ungeheuer« hervorzubringen, wie die Wasserstoffbombe. Einige der Wissenschaftler*innen, die auf ihren eigenen Vorteil aus waren, beriefen sich auf die Freiheit der Forschung, trotz ihrer Abhängigkeit von militärischen Vorgaben, oder versteckten sich hinter der unpolitischen Argumentation, wonach sie nur für die fachliche Korrektheit ihrer Ergebnisse verantwortlich seien, während die Ziele und Folgen Aufgabe der Politik seien. Andere propagierten die »friedliche« Forschung im staatlich geförderten Nuklear- und Raumfahrtbereich, auch um der militärischen Nutzung entgegenzuwirken, ungeachtet enger Verflechtungen zwischen ziviler und militärischer Forschung.

Wenige bemühten sich, ihrer Verantwortung gegen die Gefahren der Nuklearrüstung gerecht zu werden. Sie setzten im Bulletin of the Atomic Scientists, der Union of Concerned Scientists oder der Federation of American Scientists wissenschaftliche Erkenntnisse für Abrüstung und Rüstungskontrolle ein und zeigten die Widersprüchlichkeiten der Abschreckung und neuer Rüstungsprogramme auf. Aus dem Russell-Einstein-Manifest 1955 gegen die Atomkriegsgefahr ging die Pugwash-Bewegung hervor, der auch Joseph Rotblat als Aussteiger aus dem Manhattan-Projekt angehörte. Aus dem Appell der 18 Göttinger Atomforscher 1957 entstand die Vereinigung Deutscher Wissenschaftler. Proteste gegen Atomwaffentests wurden durch Wissenschaftler wie Linus Pauling unterstützt, der dafür 1963 den Friedensnobelpreis erhielt. In den 1960er Jahren wurde in einigen Ländern die Friedens- und Konfliktforschung gegründet.

Eine neue Stufe der Debatte über die Rüstungsforschung wurde durch die von US-Präsident Ronald Reagan in seiner Star-Wars-Rede 1983 initiierte Strategic Defense Initiative (SDI) angestoßen, mit der die Vision eines Abwehrschirms im Weltraum gegen einen sowjetischen Nuklearangriff propagiert wurde. Während Physiker auf technische Grenzen von Raketenabwehrsystemen und Gegenmaßnahmen hinwiesen, wurden die Probleme und Risiken eines solchen Programms und der damit verbundenen Bewaffnung des Weltraums von vielen anderen Fachdisziplinen und berufsbezogenen Initiativen beleuchtet, was sich in zahlreichen Konferenzen niederschlug (z.B. 1984 in Göttingen oder 1986 in Hamburg). In diese Zeit fiel auch die Gründung der Zeitschrift, in der dieser Artikel erscheint: Wissenschaft und Frieden.

Deutlich wurde, dass die Ambivalenz zwischen offensiven und defensiven Funktionen, zwischen angeblich guten Absichten und fatalen Konsequenzen nicht auflösbar war. Der Vorschlag des sowjetischen Generalsekretärs Michail Gorbatschow, alle Atomwaffen abzuschaffen, scheiterte beim Gipfel in Reykjavik 1986, trug aber zu den Abrüstungsverträgen der USA und Russlands bei. Es ist kein Zufall, dass der Kalte Krieg zu Ende ging, als die technische Entwicklung just seine Überwindung in den Bereich des Möglichen rückte und der Siegeszug der globalisierten kapitalistischen Weltwirtschaft der sozialistischen Welt die Existenzgrundlage entzog. Die gesamte Hochtechnologieentwicklung drohte in ein Wettrüsten hineingezogen zu werden, unter Ausnutzung ihrer Dual-use-Potentiale (Scheffran 1986).

Dual-use und globalisierte Kriegführung

Nach dem Ende der Blockkonfrontation geriet die Forderung nach Abbau der Rüstungsarsenale (die in die Bewegung zur Abschaffung aller Atomwaffen einmündete) in Widerspruch zu einer qualitativen Aufrüstung durch einen weiter starken Rüstungskomplex, um jederzeit und an jedem Ort der Erde und im Weltraum Krieg führen zu können. Dies wurde getrieben von den Macht- und Gewaltprojektionen der Hegemonialmacht USA gegenüber potentiellen Konkurrenten in Europa, Russland und China, aber auch gegen missliebige Länder des Globalen Südens, deren Proliferation von Massenvernichtungswaffen und Raketen eingedämmt werden sollte. Die fortgesetzte Modernisierung betraf Waffensysteme ebenso wie die sozio-ökonomische Infrastruktur. Rüstungstrends bedingten die räumliche Ausweitung von Waffeneinsätzen und Verkürzung von Entscheidungszeiten, Verbesserung der Zielgenauigkeit und Schadensbegrenzung beim Waffeneinsatz, Anwachsen der Informationsflut und Komplexität, Computerisierung und Automatisierung der Kriegführung. Die Revolution in Military Affairs umfasst nahezu den gesamten High-tech Sektor (Mikrocomputer, Biotechnologien, Computer- und Kommunikationssysteme, Sensorik, Weltraumtechnik, Laser, Materialwissenschaften).

Angesichts politischer Widerstände und knapper Haushaltsmittel wurde die zivile wissenschaftlich-technische Entwicklung militärischen Interessen unterworfen, unter Ausnutzung der Ambivalenz der Wissenschaft und des Dual-use-Charakters der Technik, (Scheffran et al. 1993, Liebert et al. 1994), ohne dass dies für Wissenschaft und Öffentlichkeit transparent war. Die Forschung verschob sich von der staatlichen zur privaten Förderung, die große Stückzahlen für den Massenmarkt produzierte. Militärs profitierten von dieser Entwicklung, indem sie zivile Güter mitnutzen und Entwicklungskosten einsparen konnten. Allerdings waren zivile Produkte nicht für militärische Ansprüche optimiert und ein Vorteil gegenüber Gegnern nicht gewährleistet, da die Technik auf dem internationalen Markt verfügbar war. Im Anpassungsprozess an die Globalisierung, in der die Wettbewerbsfähigkeit im Vordergrund stand, spitzte sich auch in der Wissenschaft der globale Konkurrenzkampf zu und verdrängte andere Kriterien, wie Wahrheitsverpflichtung, Risikovermeidung, Friedensförderlichkeit, soziale und ökologische Verträglichkeit. Eine kritische Betrachtung findet sich in einem von der Darmstädter Forschungsgruppe IANUS vorgestellten Memorandum, das auf die Gefahren ambivalenter Forschung und Technologie für die horizontale und vertikale Proliferation hinweist, Maßnahmen zur Kontrolle militärtechnologischer Innovation vorschlägt und Wege zur Umsteuerung in Forschungs- und Technologiepolitik aufzeigt (IANUS 1993).

Vernetzte Konflikte und zivil-militärische Zusammenarbeit

Zu den Ambivalenzen von Modernisierungs- und Globalisierungsprozessen gehört der Wandlungsdruck, dem Gesellschaften ausgesetzt sind (Imbusch 2005). Die Konsequenz ist „ein problematischer, überdies konfliktträchtiger Prozess“ (Senghaas 1998). Tatsächlich sind durch die neoliberale Globalisierung komplexe Krisenerscheinungen und diffuse Feindbilder aufgetreten, denen ein modernisiertes Militär mit Konzepten »erweiterter Sicherheit« entgegentreten soll. Mit der militärischen Bekämpfung der Folgen der Globalisierung wird die Eskalationsspirale fortgesetzt und zieht Gesellschaften in vernetzte Kriege hinein, die eine Rechtfertigung von Aufrüstung liefern und zivile und militärische Infrastrukturen verbinden.

Dies gilt für Interventionen nach außen, in den »Bürger«-Kriegen in Ruanda und Ex-Jugoslawien, in Afghanistan, in Libyen, Syrien oder im Irak, die die Gesellschaften dieser Länder massiv trafen. Der Versuch der USA 2003, den Irak militärisch zu besetzen, entfachte eine Kette von Gewaltereignissen, die zur Entstehung des »Islamischen Staates« beigetrugen. Ohne klare Fronten agieren Streitkräfte in entgrenzten Kriegen, allen Versuchen der Abgrenzung zum Trotz. Damit einher ging eine Privatisierung von Sicherheitsdiensten und modernen Söldnerheeren. Die Fraktionierung der Gewaltstrukturen brachte großes Leid über die Zivilbevölkerung, zerstörte soziale und politische Strukturen und schuf neue Quellen von Unzufriedenheit und Gewalt, die sich von der lokalen bis zur globalen Ebene vernetzten.

So finden Interventionen mit Hochtechnologie-Rüstung ihren Widerpart in post-modernen Gewaltformen und Terrornetzen, die zivile Strukturen für destruktive Zwecke nutzen (Scheffran 2015). Flugzeuge, Fahrzeuge, Schiffe, Reaktoren, die Chemieindustrie, das Internet oder Stromnetze können nicht nur Ziel von Gewalthandlungen sein, sondern auch selbst zur Waffe werden, ermöglicht durch den Verstärkereffekt technischer Systeme. So trafen die Anschläge auf das World Trade Center 2001 in das Herz der Globalisierung. Entsprechend durchzieht der »Krieg gegen den Terror« die Zivilgesellschaften auch des Westens. Durch das Internet erhalten Zivilisten Zugriff auf riesige Informationsmengen, die sie zu Kombattanten im Cyberkrieg machen. Flüchtlinge aus Krisengebieten, die nach Europa »vordringen«, werden zu unfreiwilligen Gegnern an einer »Heimatfront«, an der innere und äußere Sicherheit verschmelzen, was in der Heimatverteidigung (Homeland Defense) zum Ausdruck kommt.

Wenn die gesamte Gesellschaft von Konflikten betroffen ist, verliert die klassische Trennung zwischen Soldat (lat. miles) und Bürger (lat. civilis) an Bedeutung. Die zivil-militärische Zusammenarbeit eröffnet dem Militär neue Spielräume zur Einbeziehung ziviler Ressourcen in die Militärplanung, von der Polizei bis zum Zivil- und Katastrophenschutz. So ging es beim Ersten Trinationalen Workshop Zivil-Militärische Zusammenarbeit in Hamburg im November 2017 u.a. um die Frage, wie Streitkräfte zivile Sicherheitskräfte beim Schutz kritischer Infrastrukturen unterstützen können, wozu etwa die Kontrolle von Flughäfen, Interbanken-Zahlungsverkehr und Strom- und Gastransport gehört. Fraglich ist allerdings die Eignung militärischer Einrichtungen für die Staatenbildung und Demokratisierung, den Aufbau einer Volkswirtschaft, die nachhaltige Ressourcensicherung oder den Umweltschutz.

Neue Aufrüstung

Wurde nach dem Ost-West-Konflikt noch um Rechtfertigungen für das Militär gerungen, so schaffen heutige Krisen­erscheinungen und ein neuer Kalter Krieg immer neue Begründungen für Aufrüstung und Militärinterventionen. Dazu passt, dass die Zahl bewaffneter Konflikte seit 2010 deutlich gestiegen ist und wieder etwa das Maximum zum Ende des Kalten Krieges erreicht hat. Das Wechselspiel von individueller und staatlicher Gewalt perpetuiert die Gewaltspirale auch im 21. Jahrhundert, bei immens gesteigerten technischen Kapazitäten, die sich zum Brandbeschleuniger der Krise entwickeln können.

Die technisierten Kriege der Zukunft projizieren eine umfassende Vernetzung, Robotisierung und Automatisierung der Gefechtsfelder zu Luft, Wasser und Boden, im Weltraum und im Cyberspace, bis hin zu den hybriden Kriegen an der Heimatfront, in sozialen Netzen und in der Medienwelt. Dies betrifft moderne Transport-, Informations- und Kommunikationssysteme ebenso wie Mikro-, Nano- und Biotechnologien in kleinsten Räumen. Digitalisierung und Künstliche Intelligenz verknüpfen die Globalisierung mit der Miniaturisierung von Gewalt, was in den Informationskriegen auf unseren Computern ebenso zum Ausdruck kommt wie im Krieg von Mini-Robotern und Killer-Mikroben (Scheffran 2015). Dadurch hält der Krieg Einzug in unseren Nahbereich, unsere Wohnung, in den menschlichen Körper, der über technische Systeme mit globalen Strukturen verwoben ist. Globale (Un-) Sicherheit und menschliche (Un-) Sicherheit werden so eng verbunden. Fast scheint es, als sei die wissenschaftlich-technisch geprägte Zivilisation unaufhaltsam dabei, im Sinne von Neumanns immer neue Ungeheuer zu erschaffen, weil sie machbar sind, allen Warnungen zum Trotz.

Zugleich steigen weltweit die Rüstungsausgaben wieder, allen weit voran in den USA mit 610 Mrd. Dollar, gefolgt von China (228 Mrd.), Saudi Arabien (69,4 Mrd.) und Russland (66,3 Mrd.), obwohl dessen Ausgaben um 20 Prozent gegenüber dem Vorjahr gesunken sind (Tian et al. 2018). In Trumps US-Budget-Vorschlag für 2018 müssen fast alle Ministerien teilweise drastische Einbußen hinnehmen, bis auf die Rüstungsprogramme, die mehr Mittel erhalten. Damit sind die Rüstungsausgaben der USA in absoluten Zahlen (inflationsbereinigt) deutlich höher als in den Hochzeiten des Kalten Krieges in den 1980er Jahren und fast wieder so hoch wie zu Spitzenzeiten des Zweiten Weltkriegs. Der deutsche Verteidigungsetat stieg von knapp 33 Milliarden Euro 2015 auf 35,1 Milliarden Euro 2016 und 36,7 Milliarden Euro (44,3 Mrd. US Dollar) 2017. Ein weiterer Anstieg ist geplant, mit dem in der NATO vereinbarten Ziel von 2 % des BIP, nahezu eine Verdopplung bei steigendem BIP. Dies schlägt sich auch nieder in neuen Programmen zur Rüstungsforschung. Alle NATO-Staaten zusammen kommen auf rund 900 Mrd. US Dollar oder 52 % der Ausgaben.

Die EU-Kommission schafft einen europäischen Fonds zur Verteidigungsforschung, zunächst mit einem Anstieg auf rund 500 Millionen Euro ab 2021 (Haerdle 2017). Der Kommissionsvorschlag für den neuen EU-Rüstungshaushalt 2021 bis 2027 ist noch höher: 4,1 Mrd. Euro für die Erforschung und 8,9 Mrd. für die Entwicklung von Rüstungsgütern, ergänzt um die Beiträge der Mitgliedsstaaten insgesamt 48,6 Mrd. Euro (Lösing und Wagner 2018). Die Protagonisten dieser Aufrüstung begrüßen die von ihnen seit Jahren geforderte Steigerung des Rüstungsetats und nehmen die Krisen und Konflikte als Vorwand für eine militärische »Ertüchtigung«. So sieht der Präsident der Fraunhofer-Gesellschaft, Reimund Neugebauer, der in einer Expertengruppe Vorschläge zur Verteidigungsforschung erarbeitete, „große Herausforderungen in den Bedrohungen, die von international agierendem Terrorismus, organisierter Wirtschaftskriminalität, Großunfällen oder extremen Wetterereignissen ausgehen“ (zit. nach Haerdle 2017). Im neu gegründeten Fraunhofer-Verbund Verteidigungs- und Sicherheitsforschung wird ein direkter Zusammenhang zwischen Krisen und Technologien hergestellt: „In Zeiten gesellschaftlicher und politischer Turbulenzen ist Sicherheit ein Zukunftsmarkt mit enormem Wachstumspotenzial. Moderne Technologien, Produkte und Dienstleistungen sind gefragt wie nie zuvor.“ (Fraunhofer IOSB 2018)

Von der ambivalenten zur zivilisierten Wissenschaft

Um aus den Logiken vernetzter Kriege auszubrechen, sind Alternativen erforderlich, die Ambivalenzen aufbrechen. Da der Kritik an militärischen Intentionen oft mit dem Verweis auf den möglichen zivilen Nutzen begegnet wird, ist zu fragen, welche Alternativen statt dessen gefordert werden können, die eine geringere militärische Relevanz und einen höheren zivilen Nutzen aufweisen (Scheffran 1997). Dazu ist eine Ambivalenzanalyse hilfreich, die zu mehr Transparenz an der Schnittstelle zivil­militärischer Forschung und Entwicklung beiträgt und Knotenpunkte aufzeigt, an denen sich Entwicklungspfade anhand konkreter Parameter trennen lassen, wie sie etwa in der Rüstungs- und Exportkontrolle üblich sind (EC 2015). Um Allianzen mit dem Militär aufzulösen, sollten Unterschiede zwischen zivil und militärisch deutlicher gemacht werden, statt sie zu verwischen, und die gesellschaftlichen und internationalen Rahmenbedingungen von Entscheidungsprozessen aufgezeigt werden (Liebert et al. 1994). Wichtige Fragen, die anhand konkreter Einzelfallanalysen zu untersuchen sind, betreffen die Stichhaltigkeit, Konsistenz und Effizienz von Rüstungsprogrammen für die vorgebrachten Ziele, z.B. den Einsatz von Militär für die Lösung von Flüchtlings- und Umweltproblemen, im Vergleich zu zivilen Alternativen.

Dabei ist das Zivile zu stärken, denn angesichts „der um sich greifenden Barbarei ist es Zeit auf eine neue Zivilisierung zu setzen“ (Imbusch 2005). Nach Senghaas geht es bei Zivilisierung darum, „Formen und Formeln der friedlichen Koexistenz zu finden, unter deren Prämissen anhaltende unausweichliche Konflikte ohne Androhung und Anwendung von Gewalt ausgetragen werden“ (Senghaas 1994, S. 12). Das zivilisatorische Hexagon von Senghaas bietet hier vielfältige Ansatzpunkte, ohne eurozentrische Vorstellungen zu universalisieren. Hierzu gehören auch Maßnahmen zur Zivilisierung von Wissenschaft und Technik, wie die präventive Rüstungskontrolle (Altmann et al. 1998). Auch wenn der Einfluss der Kräfte begrenzt ist, die den aufklärerischen Impuls der Wissenschaft für eine nachhaltige Friedenssicherung und Entwicklung nutzen wollen, gibt es in Wissenschaftskreisen durchaus eine verbreitete Ablehnung gegenüber der offenen Rüstungsforschung. Schon der Verdacht, an einem militärisch relevanten Projekt zu arbeiten, schreckt viele ab. Wichtig ist die öffentliche Diskussion über solche Fragen, die Unruhe im Wissenschaftsbereich schafft.

Eine Grundlage hat die Zivilklausel-Bewegung gelegt, die an vielen Universitäten militärische Forschung transparenter gemacht und eine Ablehnung organisiert hat, um Bildung und Forschung auf friedliche Ziele zu konzentrieren (Braun et al. 2015). Erfahrungen deutscher Initiativen wurden am 19. März 2017 in Tokio auf einer Veranstaltung über die Militarisierung der Forschung vorgetragen (Scheffran 2017). Wenige Tage später, am 24. März, rief der Science Council of Japan, ein Beratungsgremium der Regierung, das 850.000 Wissenschaftler vertritt, zum Boykott der militärischen Forschung in Japan auf, eine Reaktion auf japanische Militarisierungstendenzen (Cyranoski 2017; Hummel 2017). Weitere Anknüpfungspunkte bieten die weltweiten Marches for Science, die sich explizit gegen die Ankündigungen von Donald Trump richten, die Forschung zum Klimawandel und anderen Bereichen einzuschränken, und gegen eine auf »Fake News« und »alternative Fakten« gegründete Politik. In einer NatWiss-Erklärung werden kritische Fragen zur Ausrichtung der Forschung für eine friedliche, nachhaltige und gerechte Welt angesprochen (NatWiss 2017). Statt nur auf das Ungeheuer der Rüstungsforschung zu starren, ist es besser, auch an den gesellschaftlichen Aufgaben und Alternativen zu arbeiten, die es überflüssig machen.

Literatur

Altmann, J.; Liebert, W.; Neuneck, G.; Scheffran, J. (1998): Preventive Arms Control as a Prerequisite for Conversion of Military-Related R&D. In: Reppy, J.; Rotblat, J.; Holdren, J.; Avduyevsky, V. (eds.): Conversion of Military R&D. London/New York: Palgrave Macmillan, S. 255-271.

Braun, R. et al. (2015): Zivilklauseln – Lernen und Forschen für den Frieden. W&F Dossier Nr. 78.

Cyranoski, D. (2017): Japanese scientists call for boycott of military research. Nature, 6. April 2017.

European Commission/EC (2015): Data and information collection for EU dual-use export control policy review. Final report, written by SIPRI and Ecorys, 6.11.2015.

Fraunhofer (2018): DWT-Konferenz »Angewandte Forschung für Verteidigung und Sicherheit in Deutschland«; iosb.fraunhofer.de/.

Haerdle, B. (2017): Raus aus dem Windschatten. Deutsche Universitätszeitung 3/2017, S. 17-18.

Hummel, H. (2017): Zivilklausel auf japanisch – Japanische Universitäten ächten Militärforschung. Wissenschaft und Frieden 2-2017, S. 40-43.

Imbusch, P. (2005): Die Konflikttheorie der Zivilisierungstheorie. In: Bonacker, Th. (Hrsg.): Sozialwissenschaftliche Konflikttheorien. Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften (Springer), S. 165-185.

Interdisziplinäre Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit/IANUS (1993): Die Janusköpfigkeit von Forschung und Technik – Zum Problem der zivil-militärischen Ambivalenz (Memorandum Kurzfassung). Wissenschaft und Frieden 1-1993. Langfassung in Liebert/Rilling/Scheffran (1994), op. cit.

Liebert, W.; Rilling, R.; Scheffran, J. (Hrsg.) (1994): Die Janusköpfigkeit von Forschung und Technik – Zum Problem der zivil-militärischen Ambivalenz. Marburg: BdWi-Verlag.

Lösing, S.; Wagner, J. (2018): Machtpolitisches (Rüstungs-)Budget – Der EU-Haushaltsentwurf 2021-2027. Tübingen: Informationsstelle Militarisierung, IMI-Analyse Nr.12, 9.5.2018.

Marischka, Ch. (2015) Wissenschaft im Krieg – staatliche Steuerung oder Ermöglichungsraum? Tübingen: Informationsstelle Militarisierung, AUSDRUCK, Jg. 13, Nr. 70 (Februar), S. 1-8.

NatWiss – Verantwortung für Frieden und Zukunftsfähigkeit (2017): Erklärung zu den weltweiten Marches for Science. 22.4.2017.

Neuneck, G. (2014): Physiker im Ersten Weltkrieg – Die Verlobung von moderner Wissenschaft, Industrie und Militär. Wissenschaft und Frieden 3-2014, S. 41-45.

Scheffran, J. (1986): Der Streit um die Hochtechnologieförderung – Kriterien zur Bewertung. Blätter für deutsche und internationale Politik 2/1986, S. 214-228.

Scheffran, J.; Jathe, M.; Liebert, W.; Nixdorff, K.; Seiler, A. (1993) Ambivalenz der Forschung – Dual-use der Technik. Zivil-militärische Wechselbeziehungen. In: Kronfeld, U.; Baus, W.; Ebbesen, B.; Jathe; M. (Hrsg.) Naturwissenschaft und Abrüstung. LIT, S. 87-119.

Scheffran, J. (1997): Zivil-militärische Ambivalenz der Wissenschaft im Zeichen der Globalisierung. In: Braun, R.; Imiela, U.; Scherer, K.-J. (Hrsg.): Brückenschlag ins 21. Jahrhundert. Baden-Baden: Nomos, S. 214-223.

Scheffran, J. (2005): Wissenschaft, Rüstungstechnik und totaler Krieg. Wissenschaft und Frieden 1-2005, S. 6-11.

Scheffran, J. (2015): Technikkonflikte in der vernetzten Welt. Wissenschaft und Frieden, 2-2015, S. 6-10.

Scheffran, J. (2017): Military Research & Development and the Academic Community – A View from Germany. Workshop presentation at International Peace Research Institute Meiji Gakuin University, Tokyo, 19.3.2017.

Senghaas, D. (1994): Wohin driftet die Welt? Über die Zukunft friedlicher Koexistenz. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Senghaas, D. (1998): Zivilisierung wider Willen – Der Konflikt der Kulturen mit sich selbst. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Stache, Ch. (2017): Erster Trinationaler Workshop Zivil-Militärische Zusammenarbeit in Hamburg im November 2017. Tübingen: Informationsstelle Militarisierung, IMI-Standpunkt 32-2017, Dezember.

Tian, N.; Fleurant, A.; Kuimova, A.; Wezeman, P. D.; Wezeman, S.T. (2018): Trends in World Military Expenditure, 2017. SIPRI Fact Sheet (Mai).

Tollmien, C. (1990): Luftfahrtforschung – Die Aerodynamische Versuchsanstalt in Göttingen. In: Tschirner, M.; Göbel, H.-W. (Hrsg.): Wissenschaft im Krieg – Krieg in der Wissenschaft. Marburg: AMW-Schriftenreihe, S. 64-79.

von Weizsäcker, C.F. (1977): Der Garten des Menschlichen. München, Hauser, S. 80 ff.

Dr. Jürgen Scheffran ist Professor für Geographie und Leiter der Forschungsgruppe Klimawandel und Sicherheit (CLISEC) an der Universität Hamburg. Er ist Mitglied der W&F-Redaktion.

Eine schleichende Indienstnahme


Eine schleichende Indienstnahme

»Zivile« Forschung für militärische Zwecke

von Nicole Gohlke

Bundesweit wird an öffentlichen Hochschulen und außerhochschulischen Forschungseinrichtungen militärisch relevante Forschung betrieben. Auftraggeber sind die Bundesregierung, die Bundeswehr, ausländische Verteidigungsministerien sowie private Rüstungskonzerne. Das gesamte Ausmaß lässt sich nur schwer einschätzen, da viele Details und Verträge Geheimsache sind. Zudem wird militärisch relevante Forschung im Rahmen von Sicherheitsforschung mit dem Label »dual-use« versehen und bekommt dadurch einen zivilen Anstrich. Doch die Geschichte lehrt uns, wie wichtig es ist, die Vereinnahmung von Wissenschaft für nichtfriedliche Zwecke kritisch zu beleuchten.

Verteidigungsbezogene Forschung (Rüstungsforschung) ist in Deutschland nicht Bestandteil der allgemeinen öffentlichen Forschungsförderung des Bundesministeriums für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (BMBF). Sie wird als Ressortforschung des Bundesministeriums für Verteidigung (BMVg) als „Fachforschung zur Erfüllung seines Fachauftrages im Rahmen der nationalen Sicherheitsvorsorge“ in Auftrag gegeben (Bundestagsdrucksache 17/3337). Diese Forschung wird jedoch nicht immer an militärische Einrichtungen oder private Rüstungsfirmen vergeben, sondern das BMVg vergibt auch eine relevante Anzahl von Forschungsaufträgen an zivile Institutionen, wie die öffentlichen Hochschulen und die außerhochschulischen Forschungseinrichtungen.

Antworten der Bundesregierung auf parlamentarische Anfragen der LINKEN im Bundestag ergaben, dass das Finanzvolumen der vom BMVg an öffentliche Hochschulen vergebenen Aufträge seit 2000 deutlich zugenommen hat: Es stieg von vier Mio. Euro im Jahr 2000 auf jährlich sieben Mio. Euro im Jahr 2010 und blieb bis 2015 auf diesem Niveau konstant.1 So wurde in den Jahren 2014/15 an Hochschulen beispielsweise die Weiterentwicklung von Radarsystemen betrieben, die Software für Robotersysteme optimiert, an der automatischen Zielerkennung über und unter Wasser und an der Energieautonomie von Soldat*innen geforscht (Bundestagsdrucksache 18/7977). Damit sind die zivilen öffentlichen Hochschulen mittendrin in der Entwicklung topmoderner Kriegstechnologie. Finanziell abhängig sind sie davon nicht: Die sieben Mio. Euro verteilt auf 28 Hochschulen bundesweit stellen im Vergleich zu jährlichen Drittmitteleinnahmen von vielen hundert Mio. Euro keine zentrale Einnahmequelle dar.

Weitere militärische Forschungssaufträge erhalten die Hochschulen zudem von den verschiedenen technischen Dienststellen der Bundeswehr, beispielsweise von der »Wehrtechnischen Dienststelle für Schiffe und Marinewaffen, Maritime Technologie und Forschung 71« (WTD71) oder dem »Wehrwissenschaftlichen Institut für Werk- und Betriebsstoffe« (WIWeB). Deren Aufträge haben sich ebenfalls deutlich erhöht: Waren es 2000-2010 noch 250.000 Euro im Jahresmittel, stieg das Auftragsvolumen bis 2015 um das Sechs- bis Achtfache auf 1,5 bis 2,5 Mio. Euro an.2

Militärische Forschungsaufträge werden des Weiteren von privaten Unternehmen an öffentliche Hochschulen vergeben; die Bundesregierung gibt dazu keine Auskunft, sondern verweist auf die Verantwortung der Länder. Abfragen in den Ländern verlaufen jedoch auch meist ergebnislos – hier beruft man sich auf die Hochschulautonomie. Hochschulleitungen ihrerseits können sich auf das Vertragsgeheimnis mit privaten Auftraggebern zurückziehen.

Mangelnde Transparenz und öffentliche Kontrolle

In welchem Ausmaß Rüstungsforschung an den außerhochschulischen Forschungseinrichtungen betrieben wird, lässt sich ebenfalls kaum überblicken, da die Bundesregierung auch diesbezüglich keine Informationen über Auftragsvolumina seitens privater Rüstungsfirmen zur Verfügung stellt.

Sicher ist, dass das BMVg einen beträchtlichen Teil seiner Ressortforschung durch Wissenschaftler*innen an Instituten der Fraunhofer-Gesellschaft erledigen lässt, vornehmlich an den Instituten der ehemaligen militärischen Forschungsinstitution FGAN, die seit 2009 den Kern des Fraunhofer-Verbunds für Verteidigungs- und Sicherheitsforschung (VVS) bildet; wehrtechnisch relevante Forschung findet jedoch auch an Fraunhofer-Instituten außerhalb des VVS regelmäßig statt. An die sieben Institute des VVS gingen in den Jahren 2014-2015 jährlich etwa 50 von den 56 Mio. Euro, die vonseiten des BMVg an die außerhochschulischen Forschungseinrichtungen flossen.3 Nimmt man die ähnlich dimensionierte Grundfinanzierung der VVS-Institute mit 60 bzw. 63 Mio. Euro in 2014 bzw. 2015 hinzu, kommt ein ansehnlicher Betrag zustande, den die – eigentlich dem Bildungsministerium angegliederten – zivilen Forschungseinrichtungen vom Verteidigungsministerium bekommen. Die Wehrwissenschaftlichen Dienststellen der Bundeswehr haben zudem das Finanzvolumen ihrer Aufträge an außerhochschulische Forschungseinrichtungen zwischen 2010 und 2015 im jährlichen Mittel vervierfacht; die jährlich etwa 4,5 Mio. Euro machen die Bundeswehr im Vergleich zum Verteidigungsministerium jedoch zu einer eher kleinen Auftraggeberin.4

Die fehlende Transparenz ist problematisch, weil sie eine Militarisierung des zivilen Hochschul- und Forschungsraums ermöglicht, der ohne konkrete Kenntnis der Daten nur in Einzelfällen (Marischka 2017) und auch dann nur schwer entgegenzuwirken ist.

Zivil-militärische Sicherheits­forschung seit Jahren Realität

Jahrelang bestritt die Bundesregierung mehr oder minder, dass das Programm »Forschung für zivile Sicherheit« des BMBF eine gewisse Nähe zur Rüstungsindustrie aufweist, und wollte die offensichtliche Überschneidung von ziviler und militärischer Forschung von der Hand weisen (Bundestagsdrucksachen 17/12172; 18/241; 18/851 und 18/8355). Dabei basiert dieses Programm als Teil der »Hightech-Strategie« auf dem EU-Programm »Horizont 2020«, in dessen strategischer Ausrichtung Synergieeffekte zwischen ziviler und militärischer Forschung oder entsprechenden Akteuren ausdrücklich erwünscht sind (Europäische Kommission 2015, S. 43-49). Vonseiten der Bundesregierung wurde eine entsprechende Dual-use-Agenda spätestens in einer Stellungnahme des Wissenschaftsrates von 2007 deutlich. Der Wissenschaftsrat sollte für die Bundesregierung eine Einschätzung abgeben, wie die oben bereits erwähnten wehrtechnisch ausgerichteten FGAN-Institute in die zivile Forschungslandschaft eingebunden werden und damit von Synergieeffekten profitieren könnten. Das Ergebnis war 2009 die Eingliederung der FGAN-Institute in die Fraunhofer-Gesellschaft. In seiner Stellungnahme schrieb der Wissenschaftsrat zum Programm »Forschung für die zivile Sicherheit«: „Das geplante Sicherheitsforschungsprogramm wird vom BMBF in enger Kooperation mit den Ressorts, insbesondere mit den Bundesministerien des Innern, der Verteidigung und für Wirtschaft und Technologie, konzipiert. Das BMBF strebt eine ressortübergreifende, strategische Bündelung der Forschungsaktivitäten an und sieht dazu unter anderem eine enge Zusammenarbeit von Wehrtechnik und ziviler Sicherheitstechnik vor.“ (Wissenschaftsrat 2007, S. 12)

Es ist daher nicht verwunderlich, dass beispielsweise in elf Verbundprojekten des Programms »Forschung für zivile Sicherheit 2012-2017« Unternehmen, die eine Rüstungs- oder Wehrtechnik-Sparte unterhalten, mit öffentlichen Hochschulen und außerhochschulischen Forschungseinrichtungen kooperieren. Darunter befinden sich Bruker Optik GmbH, Airbus DS Airborne Solutions GmbH, Atlas Elektronik Group, Rheinmetall Defence, Atos IT Solutions and Services und Airbus Defence & Space (Cassidian) sowie die Universität der Bundeswehr München, um nur einige zu nennen. Die Aussage der Bundesregierung, im Rahmen dieses Programms würden ausschließlich „Forschungsprojekte mit einer zivilen Ausrichtung sowie einem zivilen Anwendungsgegenstand“ gefördert (Bundestagsdrucksachen 18/8355 und 18/10773), bleibt darum sehr fragwürdig.

Zu den organisatorischen Verflechtungen kommen überdies personelle Überschneidungen: Leiter*innen einzelner wehrtechnisch orientierter Fraunhofer-Institute sind gleichzeitig Inhaber*innen von Lehrstühlen an öffentlichen Hochschulen. So werden enge Verflechtungen finanzieller und wissenschaftlicher Art aufgebaut (Marischka 2017). Außerdem nimmt die Bundeswehr auch direkt Einfluss auf Forschung und Lehre an Hochschulen: An neun öffentlichen Hochschulen haben Offiziere der Bundeswehr Lehraufträge, Lehrstühle oder leitende Funktionen (Bundestagsdrucksache 18/8355), allerdings auch jenseits klassischer »militärischer« Themen.5

Seit Ende 2016 deutet sich nun eine gewisse Kursänderung an: Statt die Sicherheitsforschung in Deutschland mit einem rein zivilen Label zu versehen, legte das Bundeswirtschaftsministerium (BMWi) im Dezember 2016 ein 7,5 Mio. Euro schweres Innovationsprogramm »Unterstützung von Diversifizierungsstrategien von Unternehmen der Verteidigungsindustrie in zivile Sicherheitstechnologien« auf (BMWi 2016). Besondere Bedeutung haben so genannte Verbundprojekte, die eine Kooperation von Rüstungsfirmen mit Unternehmen der zivilen Sicherheitsindustrie und zivilen Forschungsstätten vorsehen. Es bleibt abzuwarten, in welchem Maße die öffentlichen »Forschungsstätten« im Zuge dessen finanzielle Anreize erhalten, Rüstungsforschung zu betreiben.

Zivilklauseln als wichtiges Instrument

Die beschriebenen Entwicklungen bleiben jedoch nicht unwidersprochen. Studierende, Wissenschaftler*innen und Professor*innen setzen sich gemeinsam mit Gewerkschaftsgliederungen und Friedensinitiativen vor Ort dafür ein, dass Hochschulen zivile Einrichtungen bleiben und der Militarisierung Einhalt geboten wird. Die Zivilklausel-Bewegung kann nach jahrelangem mühsamem Engagement inzwischen über 60 Zivil- und Friedensklauseln an verschiedenen Hochschulen vorweisen (dazu Braun, R. et al. 2015). Doch die Klauseln werden regelmäßig verletzt.

Einer der bekanntesten Fälle dürfte die Uni Bremen sein, die zwar eine Friedensklausel hat, sich aber dennoch in einer Auseinandersetzung um einen vom Rüstungshersteller OHB gesponserten Lehrstuhl befindet. Bezeichnend dafür, wie Geheimhaltung und Intransparenz sogar zu einer unbeabsichtigten Beteiligung an Rüstungsforschungsvorhaben führen können, ist die im September 2017 aufgedeckte Verwicklung der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule (RWTH) in Aachen, die sich 2015 der ausschließlich zivilen Forschung verschrieben hat, in die Entwicklung einer Panzerfabrikationshalle in der Türkei. Aus dem Auftrag war angeblich weder erkennbar, dass der deutsche Rüstungskonzern Rheinmetall beteiligt war, noch, dass es sich um eine Produktionsstätte für militärische »Spezialfahrzeuge« handelte (Tillack 2017).

Von den Aufträgen des BMVg an 28 verschiedene Hochschulen in den Jahren 2014 und 2015 gingen acht an Hochschulen mit einer Zivil- oder Friedensklausel in ihren Statuten oder in der geltenden Landesverfassung. Damit setzen sich sowohl die Bundesregierung als auch Hochschulleitungen über die Vorgaben von Ländern und Hochschulgremien hinweg und ignorieren solche Klauseln. Die Bundesregierung begründete auf Nachfrage ihr Verhalten damit, keine Kenntnisse über die Existenz von Zivil- oder Friedensklauseln zu besitzen (Bundestagsdrucksachen 18/851, 18/8355).

Dieses Unwissen scheint die Bundesregierung inzwischen überwunden zu haben. Am 21. Dezember 2016 kündigte sie in ihrem »Strategiepapier zur Stärkung der zivilen Sicherheitsindustrie in Deutschland« an, mit „Ländern, Forschungs- und Wissenschaftseinrichtungen sowie Hochschulen in einen ergebnisoffenen Dialog über die Verwendung von sog. Zivilklauseln“ zu treten (Bundesregierung 2016). Der zahlenmäßige Anstieg von Zivilklauseln scheint von der Bundesregierung als potentielles Hindernis gesehen zu werden, ihre Strategie der Verquickung von Sicherheits- und Verteidigungsindustrie voranzutreiben. Interessanterweise werden ebenso die momentan etwa 13 Banken, die sich quasi eine Zivilklausel auferlegt haben, indem sie keine Finanzgeschäfte in den Bereichen Herstellung, Handel oder Export von Waffen tätigen, in dem Strategiepapier aufs Korn genommen; ihnen wird eine Prüfung der „Zweckmäßigkeit“ ihrer Zivilklauseln angekündigt (ebenda; urgewald 2016).

Auch wenn Zivilklauseln rechtlich nicht bindend sind und regelmäßig unterlaufen werden, sind sie dennoch Ausdruck der Überzeugung vieler Wissenschaftler*innen, Studierender, Professor*innen und auch Politiker*innen, dass zivile und militärische Forschung nicht weiter verwoben werden sollten. Wichtig ist deshalb, die Forderungen nach Zivilklauseln auszuweiten und auch für die außerhochschulischen Forschungseinrichtungen zu stellen. In Hamburg hat die LINKE Bürgerschaftsfraktion jüngst gefordert, dass die Hansestadt mit den örtlich ansässigen Fraunhofer-Instituten nur noch zusammenarbeiten oder sie fördern solle, sofern diese sich Zivilklauseln geben (Stemmler 2017).

DIE LINKE im Bundestag fordert, dass Wissenschaft und Forschung an öffentlichen Hochschulen und außerhochschulischen Forschungseinrichtungen transparent sein müssen und die Entscheidungsfreiheit von Wissenschaftler*innen, sich nicht an Rüstungs- oder militärischer Forschung zu beteiligen, von der Bundesregierung unbedingt respektiert werden muss.

Die Entscheidung der nordrhein-westfälischen Wissenschaftsministerin Isabel Pfeiffer-Poensgen, die für alle Hochschulen in NRW geltende landeseigene Zivilklausel abzuschaffen, ist demgegenüber ein Rückschritt, gegen den sich bereits Widerstand formiert.

Anmerkungen

1) In den Jahren 2010-2015 wurden seitens des BMVg Aufträge im jährlichen Durchschnitt von etwa sieben Mio. Euro an öffentliche Hochschulen erteilt (Bundestagsdrucksachen 18/7977 und 18/851); zwischen 2000 und 2010 waren es noch 4,1 Mio. Euro im jährlichen Mittel (Bundestagsdrucksache 17/3337).

2) Dies entspricht einem jährlichen Durchschnitt von etwa 1,5 Mio. Euro. In den Jahren 2010-2014 waren es im Vergleich dazu 2,5 Mio. Euro im Jahresmittel (Bundestagsdrucksache 18/851), in den Jahren 2000-2010 jedoch nur 0,25 Mio. Euro im Jahresmittel. Von den 29 seit 2014 betroffenen Hochschulen haben fünf eine Zivil- oder Friedensklausel in ihren Statuten.

3) Die außerhochschulischen Forschungseinrichtungen bekamen 2014-2015 56 Mio. Euro im jährlichen Mittel, was 89 Prozent des Finanzvolumens aller Drittmittelaufträge entsprach (Bundestagsdrucksache 18/7977), 2010-2014 91 Mio. Euro im jährlichen Mittel, was 93 Prozent des Gesamtfinanzvolumens entsprach (Bundestagsdrucksache 18/851), und 2000-2010 36 Mio. Euro im jährlichen Mittel (Bundestagsdrucksache 17/3337).

4) In den Jahren 2010-2014 waren es im Vergleich dazu 1,1 Mio. Euro im Jahresmittel (Bundestagsdrucksache 18/851);

5) Entsprechende Kooperationen gab/gibt es u.a. in den Bereichen BWL, Internationale Beziehungen, Krisenmanagement, Gesundheitsökonomie, Virologie (Kampfstoffe), Zeitgeschichte, Medizingeschichte, Musikwissenschaften, Sicherheitsforschung, maritime Logistik (eigene Recherche).

Literatur

Braun, R et al. (2015): Zivilklauseln – Lernen und Forschen für den Frieden. W&F Dossier 78.

Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) (2016): Richtlinie zum Innovationsprogramm »Unterstützung von Diversifizierungsstrategien von Unternehmen der Verteidigungsindustrie in zivile Sicherheitstechnologien«. Veröffentlicht im Bundesanzeiger am 20.12.2016.

Bundesregierung (2016): Strategiepapier zur Stärkung der zivilen Sicherheitsindustrie in Deutschland. Berlin, 21.12.2016, S. 8.

Bundestagsdrucksache 17/3337 (2010): Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Nicole Gohlke, Jan van Aken, Dr. Petra Sitte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE.

Bundestagsdrucksache 17/12172 (2013): Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Petra Sitte, Jan Korte, Karin Binder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE.

Bundestagsdrucksache 18/241 (2013): Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Nicole Gohlke, Jan van Aken, Karin Binder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE.

Bundestagsdrucksache 18/851 (2014): Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Nicole Gohlke, Diana Golze, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE.

Bundestagsdrucksache 18/7977 (2016): Kleine Anfrage der Abgeordneten Nicole Gohlke, Sigrid Hupach, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE.

Bundestagsdrucksache 18/8355 (2016): Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Nicole Gohlke, Sigrid Hupach, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE.

Bundestagsdrucksache 18/10773 (2016): Schriftliche Fragen mit den in der Woche vom 19. Dezember 2016 eingegangenen Antworten der Bundesregierung.

Europäische Kommission (2015): Dual Use – Förderungsleitlinien für Regionen und KMU.

Marischka, C.: Fraunhofer IOSB – Dual-Use als Strategie. Wie das Verteidigungsministerium nach Anschluss an die Wissenschaft suchte und in Karlsruhe fündig wurde. Tübingen: Informationsstelle Militarisierung, IMI-Studie 2/2017.

Stemmler, K.: Forschung wird immer weiter ausgelagert. junge welt, 6.6.2017.

Tillack, H.-M.: Deutsche Uni an Planung für Panzerfabrik in Türkei beteiligt. Stern, 30.8.2017.

urgewald e.V. (2016): Die Waffen meiner Bank. Sassenberg.

Wissenschaftsrat (2007): Stellungnahme zur Neustrukturierung der Forschungsgesellschaft für Angewandte Naturwissenschaften e. V. (FGAN).

Nicole Gohlke, MdB, ist hochschul- und wissenschaftspolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE im Bundestag.

Wissenschaft muss sich öffentlich äußern


Wissenschaft muss sich öffentlich äußern

von Hartmut Graßl

Am 11. April 1957 machten 18 Atomphysiker die »Göttinger Erklärung« öffentlich, und einen Tag später wurde das Memo­ran­dum in den überregionalen Zeitungen »Süddeutsche«, »Frankfurter Allgemeine»« und »Welt« ungekürzt abgedruckt. Die deutsche Bundesregierung zitierte daraufhin Vertreter der »Göttinger 18« nach Bonn und verbat sich die Einmischung der Wissenschaft in die Politik. Anlass für die Erklärung waren extrem verharmlosende Äußerungen des Bundeskanzlers Adenauer zur gewünschten Ausrüstung der Bundeswehr mit taktischen Atomwaffen, die er als eine „weiterentwickelte Artillerie“ bezeichnet hatte. Da die Erklärung in Akademikerkreisen und in der Öffentlichkeit große und überwiegend positive Resonanz bekam, hatten die »Göttinger 18« wesentlichen Anteil an der Entscheidung der Bundesregierung, auf jegliche Atomwaffen freiwillig zu verzichten. Die Göttinger Erklärung führte im Jahre 1959 auch zur Gründung der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW e.V.).

Was haben die Wissenschaftler in ihrem Text nach einer Belehrung über die extrem zerstörerische Wirkung von Atomwaffen zentral gefordert? „Wir fühlen keine Kompetenz, konkrete Vorschläge für die Politik der Großmächte zu machen. Für ein kleines Land wie die Bundesrepublik glauben wir, daß es sich heute noch am besten schützt und den Weltfrieden am ehesten fördert, wenn es ausdrücklich und freiwillig auf den Besitz von Atomwaffen jeder Art verzichtet. Jedenfalls wäre keiner der Unterzeichneten bereit, sich an der Herstellung, der Erprobung oder dem Einsatz von Atomwaffen in irgendeiner Weise zu beteiligen.“ Mit dem letzten Satz verknüpften sie ihre Forderung mit dem eigenen Handeln, und da sie besonders renommierte Atomphysiker waren, wäre die Entwicklung von Atomwaffen in Deutschland nicht nur sehr schwierig, sondern auch nur mit Verzögerung möglich gewesen. Im Rückblick hat es der Bundesrepublik Deutschland seit jetzt 60 Jahren sehr wohl genützt, freiwillig auf die zerstörerischsten aller bisherigen Waffen verzichtet zu haben.

Wie sehr sich die Ansichten auch der Wissenschaftler*innen in den Jahrzehnten seither geändert haben, zeigt der letzte Satz der Göttinger Erklärung: „Gleichzeitig betonen wir, daß es äußerst wichtig ist, die friedliche Verwendung der Atomenergie mit allen Mitteln zu fördern, und wir wollen an dieser Aufgabe wie bisher mitwirken.“ Wenn wir Wissenschaftler*innen uns öffentlich äußern, müssen wir also auch immer bedenken, dass sich auf der Basis fortschreitenden Wissens unsere Einschätzungen – vor allem die der Jüngeren – ändern können, so dass jeweils im Dialog mit Öffentlichkeit und Politik frühere Entscheidungen angepasst werden müssen.

Dass eine veränderte Einschätzung oft viel Zeit erfordert, zeigt ein Satz des damaligen Sprechers der »Göttinger 18«, Carl-Friedrich von Weizsäcker, zum Energiebedarf und dessen Gefahren. Zwei Jahrzehnte nach der »Göttinger Erklärung« druckte die »ZEIT« am 8.7.1979 seinen Artikel »Die offene Zukunft der Kernergie«, den er nach einer Expertenanhörung zum Atommülllager Gorleben schrieb. An der Anhörung hatte er als Gesprächsleiter teilgenommen und sich deshalb eigener Meinungsäußerung weitgehend enthalten. Wenn ich mit diesem Aufsatz wieder als Partner in den Dialog eintrete, so versuche ich zur Objektivität dadurch beizutragen, daß ich meine Ansichten als subjektiv, als korrigierbar durch neue Argumente kennzeichne. Der Leser wird wahrnehmen, daß meine heutige Äußerung um eine Nuance distanzierter zur Kernenergie ausfällt als in dem Vortrag vor einem Jahr […].“

Neben dieser selbstkritischen und nachdenklichen Äußerung und diese keineswegs relativierend enthält von Weizsäckers Aufsatz eine weitere bemerkenswerte Aussage: „Aber nach den meines Erachtens besten heutigen geoklimatologischen Schätzungen ist zu vermuten, daß die Kohlendioxyd-Erzeugung in siebzig bis hundert Jahren Klimaänderungen bewirken wird, deren politische Rückwirkungen vielleicht nicht geringer sein werden als diejenigen großer Kriege. Dies ist sehr schwer zu prognostizieren; definitiv wissen wird man es vielleicht erst, wenn es zu spät sein wird. Ich gestehe, daß ich, ohne sichere Grundlage zu diesem Votum, eher zu der Formel neige: ‚Sowenig Kohle und Öl wie möglich, soviel andere Energiequellen wie dann nötig.’“ (Im weiteren Text wies er unter anderem auf das hohe Potential von Energieeinsparung und alternativen Energiequellen hin.) Damit erahnte er aus meiner Sicht früher als die meisten Forscher*innen globale anthropogene Klimaänderungen als eine wesentliche Bedrohung, damals gestützt auf die ersten Klimamodellrechnungen in den USA.

Warum passiert es so selten, dass sich Wissenschaftler*innen in der Öffentlichkeit gegen den Missbrauch ihrer Entdeckungen äußern oder vor Fehlentwicklungen warnen und sie auch bereit sind, sich der öffentliche Debatte und der (oft ungerechtfertigten) Kritik der Kolleg*innen auszusetzen? Weil die meisten Wissenschaftler*innen – wie generell die meisten Menschen – nicht anecken wollen, die Einflussmöglichkeiten als zu gering erachten oder Politik als häufig schmutziges Geschäft betrachten.

Ich selbst war lange ein solcher wissenschaftspolitisch und politisch nicht engagierter Wissenschaftler, der im Bereich der Physik der Atmosphäre forschte und sich zwar ab etwa 1978 in der Öffentlichkeit in eingeladenen Vorträgen zu Wort meldete, aber ansonsten darauf verließ, dass seine Forschungsergebnisse schon von den Umweltgruppen in die öffentliche Debatte getragen würden. Wegen meines Spezialwissens im Bereich der Strahlungsübertragung in der Atmosphäre wurde ich dann allerdings durch zwei wissenschaftliche Gesellschaften – also von außen angestoßen – in die öffentliche Arena geworfen. Seit dem von mir wesentlich mitformulierten Memorandum »Warnung vor weltweiten Klimaänderungen durch den Menschen«, das vor ziemlich genau dreißig Jahren in Berlin bei der Frühjahrstagung der Deutschen Physikalischen Gesellschaft zusammen mit der Meteorologischen Gesellschaft veröffentlicht wurde, vergeht für mich fast keine Woche mehr ohne Öffentlichkeitsarbeit, die ich allerdings fast nie als Last empfand und die – wie mir Ministerialbeamte sagten – bei ihnen früh die großen Energieversorger vorstellig werden ließ, die meine Entfernung aus Beratungsgremien der Bundesregierung anregten. Denn ich war 1988 zum Vorsitzenden des Wissenschaftlichen Klimabeirates der Bundesregierung geworden, der auf Anregung durch den Freistaat Bayern im Bundesrat eingerichtet worden war.

Heute werden Atomwaffen und globale anthropogene Klimaänderung oft in einem Atemzug als die beiden größten Herausforderungen für die Menschheit genannt, und in beiden Fällen sind die Bestimmungen in den völkerrechtlich verbindlichen Abkommen zur Reduzierung der Atomwaffen bzw. zur Begrenzung der globalen Erwärmung noch weit vom Ziel entfernt und werden auch von einigen Ländern missachtet. Als engagierter Wissenschaftler sehe ich allerdings zu beiden Themen in jüngster Zeit wesentliche Fortschritte: Erstens ist die völkerrechtlich verbindliche Paris-Vereinbarung als Teil der Rahmenkonvention der Vereinten Nationen über Klimaänderungen gleichbedeutend mit dem Ausstieg aus der Nutzung fossiler Brennstoffe für die Energieversorgung in den nächsten wenigen Jahrzehnten; und zweitens verhandeln im Rahmen der Vereinten Nationen 130, also die Mehrheit aller etwa 200 Länder, in New York über die Ächtung von Atomwaffen. In beiden Fällen haben neue wissenschaftliche Erkenntnisse und deren öffentliche Debatte zu politischem Handeln geführt.

Ich möchte diesen beiden großen Herausforderungen für das Wohlergehen der gesamten Menschheit noch eine dritte hinzufügen: den Stopp des Verlustes an biologischer Vielfalt. Mit anderen Worten: Eine Revolution in der Landwirtschaft ist notwendig, deren indus­trialisierte Form inzwischen die Hauptbedrohung für Arten und Ökosysteme ist. Denn unsere Ernährung hängt ganz wesentlich von den Leistungen funktionierender Ökosysteme ab, die z.B. Wasser filtern und für Bestäuber sorgen.

In diesem Zusammenhang möchte ich als Bürger an die Bundesregierung appellieren, doch beide Herausforderungen stärker anzunehmen: Erstens, verhandelt mit bei der Debatte um die Ächtung der Atomwaffen bei den Vereinten Nationen, steht also nicht mehr abseits; und zweitens, zeigt mehr Mut bei den vernachlässigten Teilthemen der Energiewende, nämlich der Wärme- und Mobilitätswende. An die Medien gerichtet: Macht beides zum Wahlkampfthema!

Wir Wissenschaftler*innen sollten uns jedoch nicht nur pauschal zur Abschaffung der Atomwaffen äußern, eine maximal tolerierbare mittlere globale Erwärmung fordern oder den galoppierenden Verlust der biologischen Vielfalt beklagen, sondern wir müssen auch Lösungswege aufzeigen – oft in frustrierend kleinen Schritten. Wissenschaftler*innen haben den Grundstock für ein Leben vieler in Frieden und Wohlstand gelegt. Dass inzwischen von den mehr als 7,5 Milliarden Menschen ein höherer Prozentsatz als jemals zuvor nicht mehr in Armut leben muss und nicht mehr vom Hungertode bedroht ist, sollte trotz aller weiter bestehenden Konflikte als wesentlicher zivilisatorischer Fortschritt anerkannt werden.

Es ist für mich eine Genugtuung, dass zwei internationale Organisationen, nämlich die Pugwash-Bewegung und ihr Gründer Jozef Rotblat sowie der Zwischenstaatliche Ausschuss über Klimaänderungen (IPCC) 1995 bzw. 2007 den Friedensnobelpreis verliehen bekamen, weil sie die Verantwortung der Wissenschaft für zentrale Probleme der Menschheit überzeugend wahrgenommen haben.

Wir sollten uns deshalb heute als Wissenschaftler*innen auf Forschung zum Vertrag zur Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen und die weitere Abrüstung und Deligitimierung der Atomwaffen konzentrieren und Wege zur Umsetzung der Paris-Vereinbarung sowie zur Nahrungssicherheit für alle aufzeigen. Die VDW und andere zivilgesellschaftliche Gruppen versuchen dies weiterhin und brauchen dabei die Unterstützung von mehr engagierten Wissenschaftler*innen.

Hartmut Graßl ist Klimaforscher und war lange Jahre Direktor des Max-Planck-Instituts für Meteorologie. Er ist Vorsitzender der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW e.V.).

Das Schweigen der Soziologen

Das Schweigen der Soziologen

von Ina Wiesner

Die Art, wie Kriege und gewaltförmige Konflikte ausgetragen werden, hat sich in den letzten Jahrzehnten deutlich geändert. Die Kriegsführung in anderen Akteurskonstellationen und mit neuen Technologien hat Rückwirkungen auf die einzelnen Soldat*innen, das Militär als Organisation und die Gesellschaft als Ganzes. Wissenschaftler*innen und Forscher*innen ganz unterschiedlicher Disziplinen befassen sich mit diesem Themenkomplex, von einer Disziplin ist diesbezüglich in Deutschland aber wenig zu hören: von der Soziologie. Dabei könnten Soziolog*innen mit ihrem spezifischen Zugang zum Thema das Wissen erweitern und die Debatte befruchten. Die Autorin klopft mögliche Themenbereiche ab und plädiert dafür, dass sich die Soziologie des Themas (wieder) annimmt.

Hybride Kriege, Cyber-Krieg und Drohnenschläge – es scheint, dass in den letzten Jahren, besonders auf Grund technologischer Entwicklungen, eine Reihe neuer Formen von Konfliktaustragung auftreten, die das Potenzial haben, sowohl die Funktionslogiken des internationalen Systems als auch den Umgang von Staaten und Gesellschaften mit zwischenstaatlichen oder gesellschaftlichen Konflikten nachhaltig zu verändern.

Viel wird geschrieben und diskutiert über diese Entwicklungen. Völkerrechtler und Philosophen debattieren über die Rechtmäßigkeit und ethische Vertretbarkeit von gezielten Tötungen durch Drohnen. IT-Experten starten Appelle, in denen sie vor der Weiterentwicklung heutiger Kampfdrohnen zu autonomen Offensivwaffen warnen.

Ebenso wird in Völkerrechtskreisen darüber diskutiert, ob Hacker-Angriffe auf kritische Infrastrukturen unter bestimmten Umständen als Angriffe im Sinne des Völkerrechts gewertet werden können, die Gegenreaktionen mit militärischen Mitteln rechtfertigen. Und Militärs, Journalisten und Politikwissenschaftler verwenden immer häufiger den Begriff des hybriden Krieges, der trotz asymmetrischer Konfliktformen eine staatliche Steuerung annimmt, zum Beispiel im Fall der Ukraine durch den russischen Nachbarn.

Viel geschieht auch politisch: Mehr und mehr Staaten investieren in die Beschaffung von bewaffnungsfähigen Drohnen. Militärische Organisationen weltweit stellen Cyber-Kommandos auf. Und der hybride Krieg findet Eingang nicht nur in Strategiedokumente, er wird zu einer realen Bestimmungsgröße strategischer Planung.

Völkerrechtler, Ingenieure und IT-Experten, Politikwissenschaftler, Journalisten, Politiker, Philosophen und Militärs, sie alle konzipieren und begutachten, nehmen Stellung und debattieren über diese aktuellen Entwicklungen. Doch eine Gruppe bleibt still: die Gruppe der Soziologen. Das verwundert, denn Soziologinnen und Soziologen nehmen durchaus zu anderen gesellschaftspolitischen Fragen Stellung. Sozialwissenschaftliche Forschungsbeiträge zeichnen mitunter sogar den Weg der Debatte vor. Man mag hier zum Beispiel an das empirische Entkräften jener Stammtischargumente denken, die ethnische Abstammung und Bildungsniveau in einen kausalen Zusammenhang gebracht hatten. Sicherheitspolitik ist eine Domäne, die Soziologen nicht verschlossen bleiben sollte, denn auch in diesem Feld könnten sozialwissenschaftliche Forschungsergebnisse wichtige Impulse geben.

Soziologie erforscht soziales Handeln. Sie erforscht die Handlungsdynamik in sozialen Zusammenhängen, die so klein wie die Familie und so groß wie ganze Gesellschaften sein können. Sie erforscht die Voraussetzungen sozialen Handels auf der einen und dessen Konsequenzen auf der anderen Seite. Und soziales Handeln, das reicht von Arbeits- und Produktionsprozessen bis hin zu Bräuchen, Riten und Institutionen, wie das Heiraten oder Sich-die-Hand-Geben. Soziales Handeln umfasst aber eigentlich auch die Art und Weise, wie Menschen, Organisationen und Gesellschaften Konflikte verstehen und austragen. Eigentlich.

Nur scheint es, dass die Soziologie, zumindest die deutsche Soziologie, die Themen Krieg und Sicherheit derzeit zu großen Teilen meidet. Die klugen, auch soziologischen Einlassungen zu Nuklearwaffen in den 1960er, 1970er und 1980er Jahren haben nicht zu einer Verstetigung der Beschäftigung mit militärtechnologischen oder doktrinären Themen geführt. Den vielen Forschungsprojekten, Qualifizierungsarbeiten und Zeitschriftenbeiträgen zu klassisch soziologischen Themen, wie Alterung der Gesellschaft, Generationenkonflikte, soziale Inklusion und Exklusion in der Bildung, stehen daher heute kaum Beiträge zu Krieg, Sicherheit und Modi der Konfliktbearbeitung gegenüber.

Schaut man zum Beispiel auf die Veröffentlichungen im »Berliner Journal für Soziologie«, so sind in den letzten zehn Jahren fast 400 Beiträge zum Thema Arbeit, jedoch nur 90 zum Thema Krieg erschienen. Aktuelle Entwicklungen wie Cyber-Sicherheit oder Drohnentechnologie finden gar keine Beachtung. Zu diesen letztgenannten Themen sind auch in der »Zeitschrift für Soziologie« keine Beiträge erschienen. Das Desinteresse, vielleicht auch das Unbehagen der Soziologen gegenüber Themen, die in den Bereich Krieg und Konflikt fallen, spiegelt sich nicht nur in der geringen Publikationshäufigkeit wider. Auch die Nichtexistenz fachspezifischer Sektionen innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) ist aufschlussreich. So gibt es keine militärsoziologische Sektion innerhalb der DGS, und auch die Techniksoziologie steht nicht für sich allein als Sektion, sondern ist vereint mit der Wissenschaftssoziologie.

Hinzu kommt der Umstand, dass sich die ohnehin wenigen Militärsoziologen in Deutschland kaum mit Kriegsformen und Waffentechnologien auseinandersetzen. Sie fokussieren stattdessen – oft anwendungsorientiert – auf Themen wie Minderheiten im Militär, Vereinbarkeit von Dienst und Familie oder auf die Einstellung der Bevölkerung zu sicherheitspolitischen Fragen. Bestimmte Themen finden dagegen selten Beachtung:

  • die Auswirkungen neuer Technologien auf Soldaten und deren Selbstverständnis,
  • ihre Auswirkungen auf das Militär und dessen Einsatz,
  • ihre Auswirkungen auf Gesellschaften und deren Bereitschaft, Militäreinsätze zu unterstützen,
  • die sozialen Entstehungszusammenhänge neuer Militärtechnologien und -konzepte.

Die Techniksoziologie auf der anderen Seite beschäftigt sich zwar strukturell grundsätzlich genau mit jenen Perspektiven auf Technik – deren Entstehungsbedingungen und deren Auswirkungen auf Menschen, Organisationen und Gesellschaften –, sie scheut aber vor der inhaltlichen Beschäftigung mit dem Militärischen zurück und bearbeitet vorrangig andere Felder, wie zum Beispiel Produktion, Medizin, und Kommunikation.

Der blinde Fleck

Die Gründe für diese Nichtbeschäftigung sind mannigfaltig. Der Forschungszugang zu den Feldern Militär und Sicherheit ist erschwert, Forschungsinterviews sind leichter in anderen gesellschaftlichen Bereichen zu organisieren. Zudem ist die Nachfrageseite für angewandte Forschung in diesem Bereich eingeschränkt und verteilt sich auf die wenigen Friedens- und Konfliktforschungsinstitute in Deutschland sowie den Bund als Auftraggeber. Wissenschaftler müssen fürchten, dass eine Beschäftigung mit diesen Fragen von einer kritischen Fachöffentlichkeit pauschal als kriegslegitimierend angesehen würde. Letztlich haben all diese Gründe in den letzten Jahrzehnten in Deutschland zu einer Differenzierung der Forschungslandschaft geführt, in der solche Themen kaum Platz haben. Hinzu kommt die Logik der Pfadabhängigkeit: Jeder Versuch, soziologische Forschung über Entstehungsursachen und Auswirkungen von militärischen Technologien und -konzepten institutionell zu etablieren, wäre mit immensen Kosten verbunden.

Was bleibt, ist eine Lücke, ein blinder Fleck gleichsam. Das Schweigen der Soziologen verkürzt wichtige gesellschaftliche Debatten über die Entstehung und Anwendung neuer Militärkonzepte und -technologien auf das Recht und Unrecht der Völkerrechtler, das Gerecht und Ungerecht der Philosophen, das Opportun und Inopportun der Politiker sowie das Wichtig und Unwichtig der Journalisten. Es fehlt die soziologische Sicht, nämlich das Offenlegen von institutionellen Interessen sowie nicht hinterfragten soziokulturellen Prägungen bei der Entwicklung von sowie der Entscheidung für bestimmte Militärtechnologien. Es fehlen also das Angemessen und das Unangemessen der Soziologen in der Debatte sowie soziologische Perspektiven auf die Auswirkungen militär- und sicherheitspolitischer Beschaffungs- und Richtungsentscheidungen.

Fragen an die Techniksoziologie

Was könnte eine technikorientierte Militärsoziologie beziehungsweise eine Militärtechnologien einbeziehende Techniksoziologie leisten? Die Antwort: sichtbar machen und einordnen. Und, wo angebracht, auch kritisieren. Soziologen können die Diskurse um hybride Kriegsführung, um Cyber-Krieg und Drohneneinsätze zunächst einmal bereichern um empirisch abgesicherte Erkenntnisse über die Auswirkungen dieser neuen Technologien und Konzepte auf unsere Gesellschaften, auf Organisationen und Individuen. Wer, wenn nicht Soziologen mit ihren speziellen Forschungsperspektiven, kann Fragen beantworten wie:

  • Welche Bedeutungsverschiebung – oder gar welchen Bedeutungsverlust – erfährt aus Sicht der Drohnenanwender die Lokalbevölkerung in einem Gebiet, in dem bewaffnete Drohnen eingesetzt werden?
  • Welche Auswirkungen haben bewaffnete Drohnen im Arsenal eines Staats auf die Bereitschaft politischer Eliten, Konflikte mit ihrer Hilfe zu lösen?
  • Wie wirkt sich die Verwendung des Begriffs hybrider Krieg auf die Eliten aus und auf ihre Bereitschaft, militärische Gegenmaßnahmen zu legitimieren? Der Begriff definiert vormals kriegsvölkerrechtlich irrelevante Handlungen nun in ihrer Gesamtheit als kriegerische Handlung.
  • Welche Auswirkungen hat der Begriff Cyber-Krieg auf die Bedeutungszuschreibung von IT-Sicherheitsaspekten durch die Gesellschaft?

Diese Fragen ähneln in ihrer Struktur klassisch soziologischen Fragestellungen in anderen Bereichen wie Bildung, Arbeit oder Gesundheit. Nur dass sie derzeit nicht oder kaum in Bezug auf die Bereiche Krieg, Verteidigung, Sicherheit und Militär gestellt werden.

Soziologen haben aber nicht nur das Rüstzeug, die oft unbeabsichtigten Auswirkungen von Technologien oder Konzepten offenzulegen. Sie können mit ihrem speziellen Erkenntnisinteresse auch die Macht- und Interessensstrukturen bei der Entwicklung jener Konzepte aufzeigen. Und dies scheint unabdingbar für eine aufgeklärte Diskussion über die scheinbar technikgetriebenen Veränderungen in Militär und Sicherheitspolitik.

In Deutschland ist die Militärsoziologie aus historischen Gründen marginalisiert. Wenn wir also eine über die tiefgreifenden gesellschaftlichen Konsequenzen von Waffentechnologien aufgeklärte öffentliche Debatte wünschen, sollte sich die potente und international vernetzte deutsche Techniksoziologie jener technologischen und doktrinären Themen annehmen und sich zu Waffentechnologien und militärischen Konzepten äußern. Denn aus kritisch-theoretischer Sicht sollten das Unbehagen gegenüber militärischen Themen sowie die durchaus vorhandenen forschungspraktischen Schwierigkeiten nicht zum Wegsehen und Schweigen, sondern gerade zum Hinsehen und Forschen, zum Kritisieren und Debattieren führen.

Dr. Ina Wiesner wurde 2011 am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz promoviert und forscht zu militär- und techniksoziologischen Themen. Der Beitrag gibt ausschließlich die persönliche Meinung der Autorin wieder.

Dieser Text erschien in der Zeitschrift FIfF-Kommunikation 3/2016. Wir danken für die Nachdruckrechte.