Wie versöhnen wir uns?

Wie versöhnen wir uns?

Das Bedürfnisbasierte Modell

von Nurit Shnabel und Johannes Ullrich

Täter und Opfer erleben unterschiedliche Bedrohungen ihrer Identitäten. Der Schlüssel zur Versöhnung liegt in der Beseitigung dieser Bedrohungen. Die Autor*innen diskutieren sozialpsychologische Forschung, die zeigt, dass die Wiederherstellung positiver Identitäten die Versöhnung zwischen Individuen oder Gruppen günstig beeinflusst.

Ob sich ein Ehepaar bei der Scheidung über die Vermögensaufteilung streitet oder Nationen wegen Gebietsstreitigkeiten einen Konflikt ausfechten: In einem Konflikt geht es fast nie ausschließlich um materielle Ressourcen, sondern häufig um symbolische, wie Ehre, Akzeptanz und Gerechtigkeit. Um wieder harmonische Beziehungen herzustellen, bedarf es daher nicht nur gemeinsamer Vereinbarungen über die Aufteilung der konkreten strittigen Ressource (z.B. eines Plans für die Güteraufteilung oder eines Friedensvertrags), sondern es müssen auch emotionale Hürden überwunden werden, die den Weg zur Versöhnung blockieren. Wie hoch diese Hürden sein können, wissen alle, die schon einmal erlebt haben, wie schwer es ist, sich nach einem Konflikt zu entschuldigen oder dem anderen zu vergeben. Wer es geschafft hat, diese Hürde zu überwinden, hat dabei vermutlich erfahren, dass sich nach einer Entschuldigung bzw. Vergebung beide Parteien besser fühlen, obwohl das Geschehene nicht rückgängig zu machen ist (Tavuchis 1991).

Die Kraft von Entschuldigung und Vergebung in interpersonalen Beziehungen ist seit Langem bekannt. Zunehmend wird dieser sozialpsychologische Mechanismus aber auch in der öffentlichen Sphäre genutzt. Ein bekanntes Beispiel ist die Wahrheits- und Versöhnungskommission, die nach der Apartheid in Südafrika eingesetzt wurde. Hier waren Opfer aktiv an der Anklage beteiligt, und den Tätern wurde Amnestie gewährt, wenn sie die Verbrechen gestanden, die sie im Kontext der Apartheid verübt hatten. Die Psychologin Pumla Gobodo-Madikizela (2008), selbst Mitglied der Wahrheits- und Versöhnungskommission, meint, dieser Prozess „hat nach den Massengräueln die Sprache von Entschuldigung, Vergebung und Versöhnung in den öffentlichen Fokus gerückt“ (S. 59). Das hier vorgestellte »Bedürfnisbasierte Modell der Versöhnung« (Nadler and Shnabel 2015; Shnabel and Nadler 2015) wurde entwickelt, um die Dynamiken zwischen Opfern und Tätern im Prozess von Entschuldigung und Vergebung zu erklären.

Grundannahmen und empirische Prüfung

Das Bedürfnisbasierte Modell geht von zwei Annahmen aus, die in grundlegenden sozialpsychologischen Theorien verankert sind: Erstens sind Menschen motiviert, sich selbst positiv zu beurteilen, d.h. eine positive Identität zu bewahren oder wieder aufzubauen. Zweitens gibt es zwei fundamentale Inhaltsklassen sozialer Urteile: »Agency« und »Communion«. »Agency« steht für Merkmale wie stark, kompetent und einflussreich, während »Communion« Merkmale wie moralisch, warmherzig und vertrauenswürdig umfasst. Eine positive Identität umfasst Zuschreibungen aus beiden Inhaltsklassen.

Das Bedürfnisbasierte Modell baut auf diesen Annahmen auf und postuliert, dass Konflikte die Identität von Opfern und Tätern asymmetrisch bedrohen: Opfer erleben einen Verlust ihrer Fähigkeit, den Lauf der Dinge zu beeinflussen, und sehen folglich ihre agentische Identität bedroht. Täter hingegen leiden unter der Bedrohung ihrer kommunalen Identität. Ob sie sich schuldig fühlen oder nicht: Das Wissen, dass psychologisch relevante Bezugspersonen ihr Verhalten als unmoralisch ansehen, bedroht das moralische Selbstbild der Täter, und sie befürchten sozialen Ausschluss als Sanktion für die Verletzung moralischer Standards. Diese Bedrohungserfahrung resultiert in unterschiedlichen Motivationszuständen. Opfer verspüren das Bedürfnis, ihre agentische Identität wiederherzustellen, während Täter ihre kommunale Identität wiederherstellen und (erneut) die Akzeptanz der Gemeinschaft erlangen wollen, aus der sie sich potentiell ausgeschlossen fühlen. Bleiben diese Bedürfnisse unerfüllt, behindern sie Versöhnung. So verhalten sich Opfer manchmal rachsüchtig, um sich selbst zu behaupten, und Täter lösen sich moralisch los (z.B. indem sie die Schwere des Vergehens verharmlosen), um ihre Schuld herunterzuspielen. Durch einen Austausch, in dem Opfer und Täter die Bedürfnisse des jeweils anderen nach Ermächtigung bzw. Akzeptanz erfüllen, können sie sich der Versöhnung öffnen.

Der Prozess von Entschuldigung und Vergebung ist ein elementarer sozialer Mechanismus, über den ein solcher Austausch stattfindet. Mit ihrer Entschuldigung geben die Täter zu, dass sie moralisch in der Schuld der Opfer stehen, wodurch die Kontrolle wieder in der Hand der Opfer liegt; durch die Annahme der Entschuldigung und die Empathie der Opfer für die Sichtweise der Täter wird deren Gefühl der moralischen Minderwertigkeit abgeschwächt und ihre Zugehörigkeit zur Gemeinschaft bestätigt. Der Prozess von Entschuldigung und Vergebung ist zwar das nächstliegende Beispiel für einen Austausch, der zur Bedürfniserfüllung führt, es gibt aber auch andere Methoden. So können Täter beispielsweise ihre Opfer ermächtigen, indem sie Respekt für deren Leistung und Fähigkeiten äußern oder im Falle von Opfergruppen an ihren Nationalstolz und das nationale Erbe appellieren. Opfer wiederum können die Akzeptanz der Täter zum Ausdruck bringen, indem sie sich zur Freundschaft oder zur wirtschaftlichen und kulturellen Zusammenarbeit bereit erklären.

Ein erfolgreicher Austausch von Ermächtigung und Akzeptanz kann Versöhnung auf zweierlei Weise befördern. Zum einen kann er die positiven Identitäten der Konfliktparteien wiederherstellen, indem er die symbolische Rollenaufteilung in »machtloses Opfer« und »unmoralischer Täter« auslöscht. Des Weiteren können Opfer Akzeptanzbotschaften aussenden und so signalisieren, dass sie sich nicht am Täter rächen oder ihn meiden werden, und Täter können mit Ermächtigungsbotschaften einfach klarstellen, dass sie ihre Vergehen nicht wiederholen werden (weil sie jetzt den Wert des Opfers erkennen). Durch den Austausch solcher Botschaften kann das gegenseitige Vertrauen zwischen Opfern und Tätern wiederhergestellt werden. Dies und die Wiederherstellung positiver Identitäten erleichtern die Versöhnung. Abbildung 1 fasst diesen Prozess zusammen.

Die Hypothesen des Modells wurden in etlichen experimentellen Studien überprüft, und zwar sowohl für Konflikte auf der interpersonellen als auch auf der Intergruppen-Ebene. So wurden in einer Studie (Shnabel, Nadler, Ullrich, Dovidio, Carmi 2009) jüdischen Israelis und (nicht-jüdischen) Deutschen zwei Reden präsentiert, die angeblich von Vertreter*innen der jeweils anderen Gruppe am Holocaust-Denkmal in Berlin gehalten worden waren. Die wichtigste Botschaft der Reden war entweder Akzeptanz (z.B. „wir sollten die [Juden/Deutschen] akzeptieren und uns daran erinnern, dass wir alle Menschen sind“) oder Ermächtigung (z.B. „die [Deutschen/Juden] haben das Recht, stark und stolz zu sein“). Wie zu erwarten war, zeigten sich Juden eher nach Ermächtigungsbotschaften zur Versöhnung mit Deutschen bereit, bei Deutschen war dies eher nach Akzeptanzbotschaften der Fall. Eine entsprechende Dynamik wurde auch bei Opfern und Tätern in interpersonalen Konflikten beobachtet (Shnabel und Nadler 2008).

Ausweitung des Modells auf »duale« Kontexte

Der ursprüngliche Ansatz des Modells ging davon aus, dass »Opfer« und »Täter« sich gegenseitig ausschließende Rollen sind. In vielen Konflikten sind aber beide Parteien gleichzeitig Opfer und Täter. In einem Experiment, das diese »Dualität« untersuchte, arbeiteten die Teilnehmenden in Zweierteams und mussten wertvolle Ressourcen verteilen (z.B. Geldpreise). Anschließend erhielten sie eine manipulierte Rückmeldung: In der Kontrollgruppe erfuhren die Teilnehmenden, dass sowohl ihre eigene als auch die Verteilung ihrer Teampartner*in fair gewesen sei, in der Opferrolle, dass ihr*e Partner*in unfair verteilt habe, in der Täterrolle, dass sie selbst unfair verteilt hätten, und in der dualen Rolle, das sowohl sie selbst als auch ihre Teampartner*in unfair verteilt hätten. Bezüglich psychologischer Bedürfnisse zeigten Teilnehmende in einer Doppelrolle ein gesteigertes Bedürfnis sowohl nach Agency (vergleichbar mit Opfern) wie nach Communion (vergleichbar mit Tätern). In ihrem Verhalten allerdings zeigten sie (vergleichbar mit Opfern) ein gesteigertes Bedürfnis nach Agency, was sich in Rachegefühlen äußerte; anders als bei Tätern äußerte sich das gesteigerte Bedürfnis nach Communion aber nicht in Pro-Sozialität (Großzügigkeit gegenüber dem/der Partner*in). Ähnliche Ergebnisse, die auf den Vorrang von Agency gegenüber Communion in solchen dualen Kontexten hindeuten, wurden im Zusammenhang mit dem Israel-Palästina-Konflikt und den Bürgerkriegen in Liberia beobachtet. Diese Ergebnisse stimmen mit der Beobachtung des Sozialpsychologen Roy Baumeister (1997) überein, dass die Opferrolle tiefer in der Psyche verankert wird als die Täterrolle.

Tatsächlich entwickeln »duale« Konfliktparteien häufig ein ausgeprägtes Opferbewusstsein, nicht aber ein Täterbewusstsein, und wetteifern geradezu um den Opferstatus. Wir gehen davon aus, dass Konfliktparteien in eine »kompetitive Opferrolle« verfallen, weil die Anerkennung des eigenen Opferstatus gleichzeitig beide Bedürfnisse befriedigt, die in der Doppelrolle gesteigert vorhanden sind: das Bedürfnis nach einem positiven moralischen Bild (weil der Opferstatus mit Unschuld assoziiert wird) und das Bedürfnis, selbst Akteur zu sein (weil Anerkennung des eigenen Opferstatus das Recht auf unterschiedliche Formen von Ermächtigung mit sich bringt, z.B. Reparationen und Unterstützung durch Dritte). Interessanterweise zeigen Studien, die mit israelischen Palästinenser*innen und israelischen Juden/Jüdinnen durchgeführt wurden, dass die Thematisierung des dringenden Bedürfnisses der Gruppenmitglieder nach ­Anerkennung ihres Opferstatus – z.B. durch Förderung einer inklusiven Opferwahrnehmung, d.h. durch Betonung, dass beide Gruppen schwer unter dem Konflikt litten (Vollhardt 2015) – das Wetteifern um den Opferstatus verringern und die gegenseitige Vergebung befördern kann.

Ausweitung des Modells auf Situationen mit struktureller Ungleichheit

Ein Intergruppenkonflikt manifestiert sich nicht nur in direkter Gewalt (z.B. Krieg), sondern auch in »struktureller Gewalt« (Galtung 1969), d.h. in ungleichen sozialen Verhältnissen, die manche Gruppen privilegieren und andere benachteiligen. Diese Ungleichheit führt zu unterschiedlichen Gruppenstereotypen: Benachteiligte Gruppen werden oft als warmherzig, aber inkompetent wahrgenommen, privilegierte Gruppen als kompetent, aber kalt und unmoralisch. Entsprechend der Logik des Bedürfnisbasierten Modells ist anzunehmen, dass die Bedürfnisse der Mitglieder privilegierter und benachteiligter Gruppen denen von Tätern und Opfern entsprechen, wenn die Ungleichheit zwischen den Gruppen als ungerechtfertigt wahrgenommen wird (z.B. weil sie unfaire Diskriminierung widerspiegelt).

Dies wurde in Studien bestätigt (Siem, von Oettingen, Mummendey, Nadler 2013). In einem Experiment wurden die Teilnehmenden – Studierende der klinischen Psychologie – nach dem Zufallsprinzip in Gruppen aufgeteilt, in denen sie sich entweder mit Berufsgruppen von höherem (Psychiatrie) oder niedrigerem Status (Sozialarbeit) vergleichen sollten. Dann wurden die Statusunterschiede zwischen Psycholog*innen und Psychiater*innen bzw. Sozialarbeiter*innen mit den unterschiedlichen Ausbildungsanforderungen gerechtfertigt bzw. als ungerechtfertigt ausgewiesen, da die klinischen Psycholog*innen und die Sozialarbeiter*innen eine ähnliche Arbeit verrichteten. Wie zu erwarten gab es in dem »gerechtfertigt«-Szenario hinsichtlich der Bedürfnisse nach Communion und Agency keine Unterschiede zwischen den Psychologiestudierenden, die sich mit Psychiater*innen verglichen, und denen, die sich mit Sozialarbeiter*innen verglichen. Anders lag der Fall, wenn die Statusunterschiede als nicht gerechtfertigt dargestellt wurden: Nun hatten Psycholog*innen ein höheres Bedürfnis nach Communion, wenn sie sich mit Sozialarbeiter*innen verglichen, als wenn sie sich mit Psychiater*innen verglichen, während es bei dem Bedürfnis nach Agency genau umgekehrt war.

Folgestudien (Shnabel, Ullrich, Nadler, Dovidio und Aydin 2013) zeigten, dass Botschaften der jeweils anderen Gruppe, die die Communion der privilegierten Gruppe und die Agency der benachteiligten Gruppe betonten, nicht nur für positivere Einstellungen gegenüber den anderen sorgten, sondern auch die Bereitschaft erhöhten, gemeinsam für soziale Gerechtigkeit aktiv zu werden (mit Demonstrationen, Petitionen, usw.). In ihrer Dissertation beschäftigt sich aktuell Tabea Hässler mit der Hypothese, dass durch Intergruppenkontakte die Unterstützung für sozialen Wandel hin zu mehr Gleichheit steigt, wenn sich Mitglieder benachteiligter Gruppen (z.B. LGBTIQ*) durch privilegierte Gruppen (z.B. Cis-/Heterosexuelle)1 ermächtigt und sich die Mitglieder privilegierter Gruppen durch die benachteiligten Gruppen moralisch angenommen fühlen.

Diese Sichtweise betont die kritische Rolle von Prozessen, die eine positive Identität wiederherstellen, beim Streben nach struktureller Gleichheit. Die traditionelle Sichtweise besagt, dass privilegierte Gruppen nicht die Treiber von sozialem Wandel sein können, da sie vor allem bestrebt sind, ihre Privilegien zu bewahren. Das Bedürfnisbasierte Modell legt aber nahe, dass Mitglieder privilegierter Gruppen durchaus Solidarität mit der benachteiligten Gruppe zeigen können, wenn ihr (eigentlich bedrohtes) moralisches Selbstbild bestätigt wird. Bei benachteiligten Gruppen hingegen zeigen Forschungsergebnisse zu kollektivem Handeln, dass ihre Mitglieder den Status quo oft nicht aktiv in Frage stellen, weil sie einen Mangel an kollektiver Wirksamkeit verspüren. Aus dem Bedürfnisbasierten Modell ergibt sich aber, dass die Wiederherstellung der Agency diese passive Akzeptanz von Ungleichheit verhindern kann. Praktische Interventionen zur Förderung positiver Intergruppenbeziehungen, die sich oft auf Communion konzentrieren (z.B. im Sinne der Kontakthypothese Freundschaften zwischen den Gruppen anregen), sollten also auch die Machtbeziehungen adressieren und die stereotype Wahrnehmung benachteiligter Gruppen als inkompetent direkt hinterfragen.

Wiederherstellung der Identität außerhalb des Opfer-Täter-Geflechts

Mit dem Bedürfnisbasierten Modell konnte zwar festgestellt werden, welche Botschaften Konfliktparteien austauschen können, um Versöhnung herbeizuführen. In der Praxis vermeiden Opfer und Täter aber oft versöhnliche Botschaften, weil sie befürchten, dass diese positive Geste nicht erwidert wird. Daher haben wir in letzter Zeit untersucht, welches Potential die Wiederherstellung der Identität außerhalb des Opfer-Täter-Geflechts für die Versöhnung hat. Eine Quelle dafür sind Dritte. Zugegebenermaßen hat die Ermächtigung und die Übermittlung von Botschaften über Dritte bei interpersonalen Vergehen nicht sehr gut funktioniert. In einem Intergruppenkontext hingegen, in dem Versöhnungsbotschaften typischerweise über Gruppenvertreter und nicht direkt zwischen den einzelnen Opfern und Tätern übermittelt werden, konnte Ermächtigung und Akzeptanz durch Dritte, die mit der Opfergruppe eine gemeinsame Identität aufwiesen, Versöhnung wirksam befördern. Ein Beispiel: Botschaften jordanischer Vertreter erhöhten die Bereitschaft israelischer Juden, sich mit Palästinensern zu versöhnen.

Die Wiederherstellung der Identität außerhalb des Opfer-Täter-Geflechts kann auch durch selbst-affirmative Prozesse erreicht werden. In einer Studie zeigte sich, dass Mitglieder einer Tätergruppe (australische Nicht-Aborigines), die erfuhren, dass sich ihre Gruppe bei der Opfergruppe (australische Aborigines) entschuldigt hatte und dass Mitglieder der Opfergruppe die Entschuldigung angenommen hatten, sich moralisch wiederhergestellt fühlten (unabhängig davon, wie die Antwort der Opfergruppe ausgefallen war). Diese (Selbst-) Wiederherstellung der Communion wiederum erhöhte die Bereitschaft von Mitgliedern der Tätergruppe, die Opfergruppe zu entschädigen und sich mit ihr zu versöhnen.

Aus weiteren Studien zu »dualen« Konflikten ergab sich, dass Interventionen zugunsten einer Anerkennung der Agency erfolgreich die Aggressivität senkten und das pro-soziale Verhalten gegenüber der anderen Konfliktpartei verbesserten. So zeigten Teilnehmende aus der Schweiz eine pro-sozialere Tendenz gegenüber der EU, mit der sich die Schweiz nach der Annahme der Volksinitiative von 2014 zur Einwanderungsbeschränkung im Konflikt befand, nachdem sie eine kurze Übungsaufgabe absolvierten, in der sie über die Schweiz als starkes und erfolgreiches Land schrieben. Ähnliche Muster wurden bei interpersonalen Konflikten beobachtet. Teilnehmende, die über eine Situation schrieben, in der sie kompetent und selbstbestimmt waren, verhielten sich gegenüber der anderen Konfliktpartei (z.B. Arbeitskolleg*innen) versöhnlicher. Dies traf vor allem auf Beziehungen zu, die sich durch eine geringe Verbindlichkeit auszeichneten und in denen die Konfliktparteien vor allem um ihre eigenen Bedürfnisse kreisten – in diesem Fall um das Bedürfnis nach Agency.

Folgerungen

Die wissenschaftliche Erforschung des Versöhnungsprozesses ist ein relativ junger Forschungszweig, und weitere Forschungsprojekte können wertvolle Ergebnisse liefern. Wir hoffen, dass die Forschung zum Bedürfnisbasierten Modell letztlich nicht nur dazu beiträgt, das theoretische Verständnis von Versöhnung zu verbessern, sondern auch in der Ausarbeitung praktischer Interventionen für verschiedene Kontexte resultiert – seien es internationale Friedenstribunale, Ansätze zur opferorientierten Justiz (z.B. Täter-Opfer-Ausgleich) im Strafrechtssystem, Schulen, Organisationen oder Gemeinden.

Anmerkung

1) LGBTIQ* = lesbisch, schwul, bisexuell, transgender, intersexuell und questioning (Personen, die ihre eigene sexuelle Identität hinterfragen); Cis-Heterosexuals = heterosexuelle Menschen, deren Geschlechtsidentität mit ihrem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht übereinstimmt.

Literatur

Galtung, J. (1969): Violence, peace, and peace research. Journal of Peace Research, Vol. 6, No. 3, S. 167-191.

Gobodo-Madikizela, P. (2008). Transforming trauma in the aftermath of gross human rights abuses – Making public spaces intimate through the South African truth and reconciliation commission. In Nadler, A.; Malloy, T.; Fisher, J.D. (eds.): Social Pychology of Intergroup Reconciliation. New York, NY: Oxford University Press, S. 57-76.

Nadler, A. and Shnabel, N. (2015): Intergroup reconciliation – Instrumental and socio-emotional processes and the need based model. European Review of Social Psychology, Vol. 26, No. 1, S. 93-125.

Shnabel, N. and Nadler, A. (2008): A Needs-Based Model of Reconciliation – Satisfying the differential emotional needs of victim and perpetrator as a key to promoting reconciliation. Journal of Personality and Social Psychology, Vol. 94, No. 1, S. 116-132.

Shnabel, N. and Nadler, A. (2015): The Role of Agency and Morality in Reconciliation Processes – The Perspective of the Needs-Based Model. Current Directions in Psychological Science, Vol 24, No. 6, S. 477-483.

Shnabel, N.; Ullrich, J.; Nadler, A.; Dovidio, J.F.; Aydin, A.L. (2013). Warm or competent? Improving intergroup relations by addressing threatened identities of advantaged and disadvantaged groups. European Journal of Social Psychology, Vol 43, No. 2, S. 482-492.

Shnabel, N.; Nadler, A.; Ullrich, J.; Dovidio, J.F.; Carmi, D. (2009): Promoting reconciliation through the satisfaction of the emotional needs of victimized and perpetrating group members – The Needs-Based Model of Reconciliation. Personality and Social Psychology Bulletin, Vol 35, No. 8, S. 1021-1030.

Siem, B.; von Oettingen, M.; Mummendey, A.; Nadler, A. (2013). When status differences are illegitimate, groups’ needs diverge – Testing the Needs-Based Model of reconciliation in contexts of status inequality. European Journal of Social Psychology, Vol. 43, No. 2, 137–148.

Tavuchis, N. (1991): Mea culpa – A sociology of apology and reconciliation. Palo Alto, CA: Stanford University Press.

Vollhardt, J.R. (2015): Inclusive victim consciousness in advocacy, social movements, and intergroup relations – Promises and pitfalls. Social Issues and Policy Review, Vol 9, No. 1, S. 89-120.

Nurit Shnabel ist Senior Lecturer für Sozialpsychologie an der Universität Tel-Aviv.
Johannes Ullrich ist Professor für Sozialpsychologie an der Universität Zürich.
Aus dem Englischen übersetzt von ­Regina Hagen.

Rethinking Europe in an unequal world

Rethinking Europe in an unequal world

Gemeinsame Konferenz von EuPRA und AFK, 16.-18. März 2017, Schwerte

von Thomas Mickan

Das Jahreskolloquium 2017 der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung (AFK) wurde in Kooperation mit der Ev. Akademie Villigst sowie erstmals in Kooperation mit der European Peace Research Association (EuPRA) als Joint Conference organisiert. Das Kolloquium »Peace and Conflict Studies from the margins to the center. Rethinking Europe in an unequal world« fand an der Akademie statt und wurde durch die Deutsche Stiftung Friedensforschung (DSF) gefördert.

Aktuelle politische Entwicklungen – angefangen von Fluchtbewegungen, anhaltender sozialglobaler Ungleichheit bis hin zu Nationalismus und Militarisierung – verdeutlichen die Dringlichkeit dieser gemeinsamen Tagung. Im Zentrum standen daher verschiedene reflexive, kritische, empirische und normative Perspektiven auf jene realpolitischen Phänomene. Dabei sollten eurozentristische, postkoloniale und andere hegemoniale Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata herausgefordert und Alternativen zum so genannten »westlichen Denken« aufgezeigt werden. Über 20 Panels, die Keynote und verschiedene Panelformate boten hierzu Gelegenheit.

Eröffnung

In ihrer Keynote ging Meera Sabaratnam (London) auf die Notwendigkeit der Dekolonisierung der Friedens- und Konfliktforschung (FuK) ein und präsentierte so einen richtungsweisenden Leitgedanken für den weiteren Tagungsverlauf. Insbesondere forderte sie, westliches Denken und Wissen zu dekolonisieren, da die FuK nach wie vor kolonialen Strukturen unterliege. Als Beispiel hierfür nannte sie sprachliche und konzeptionelle Codes, wie etwa der staatszentrierte Terminus »warlord«, welcher dem Akteur seinen politische Legitimität abspreche und von tiefem Orientalismus geprägt sei.

Eine Alternative könne sein, marginalisierten Menschen eine weitreichendere Partizipation zu bieten, aber nicht in instrumenteller, sondern in dialogischer Absicht. Sie wies gleichzeitig auf die Herausforderungen dieser Absicht hin und schloss mit Frantz Fanon, dass Europa seine politische Verantwortung endlich wahrnehmen solle und den Dialog mit den (vermeintlich) »Anderen« beginnen müsse. Im Einklang mit diesem Aufschlag war die Frage nach alternativen Handlungskonzepten zu europäischen/»westlichen« Hegemonialkonzepten auch Gegenstand vieler Panels und Diskussionen.

Panels

Bei den Panels wurden vielseitige methodische Ansätze und theoretische Perspektiven gewagt. Im Vordergrund stand unter anderem die kritische Auseinandersetzung mit den konzeptionellen Grundlagen (Prämissen und Begriffen) der FuK, mit dekolonialen Ansätze sowie mit Feminismen. Dabei wurden thematische Verknüpfungen zu Flucht und Migration oder auch zu Medien und öffentlicher Wahrnehmung hergestellt. Weitere Panels beschäftigten sich mit Themen wie innerstaatliche Konflikte und Transitional Justice. Neue Perspektiven auf (vermeintlich) ethnisch motivierte Konflikte, aber auch empirische Ansätze mit quantitativer Methodik, die bei dekolonialen Stoßrichtungen seltener zu erwarten sind, wurden diskutiert. Hinsichtlich erkenntnistheoretischer Ansätze wurden mentale Bilder auf die und in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit und natio­nalen Katastrophenhilfe kritisch dekon­struiert. Aktuellere politische Phänomene wurden immer wieder Gegenstand der Betrachtung, etwa bei einer sprachwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem geflügelten Satz „Wir schaffen das!“, geprägt von Bundeskanzlerin Merkel.

Die Frage nach Alternativen zu hegemonialen Denk- und Handlungspraktiken stellte einen panelübergreifenden roten Faden dar. In einem Panel wurde diesbezüglich festgestellt, der wissenschaftliche Apparat habe es versäumt, an herrschaftsfreieren Zugängen, Methodiken und Handlungsoptionen zu arbeiten. So wurde in dieser ernüchternden und offenen Bestandsaufnahme zugleich Verantwortung seitens der Wissenschaft für die vorhandenen Leerstellen übernommen. In einem weiteren Panel wurden epistemische Gewalt, der Eurozentrismus in der Kritik am liberalen Frieden sowie der Eurozentrismus von Friedensbegriffen selbst, der auch in anderen Panels Gegenstand war, näher untersucht.

Der Versuch, Forschung zu dekolonisieren, zeigte sich äußerst praxisbezogen in einem Panel zur Dekolonisierung von wissenschaftlichen Methodologien. Ausgetragen wurde jenes Panel in einem Stuhlkreis, wodurch bereits im didaktischen Format selbst die übliche Konferenzhierarchie aufgebrochen wurde. Ein weiteres Vortragsformat war dialogisch angelegt; die beiden Vortragenden fragten sich gegenseitig, wie sie die Dekolonisierung praktisch gestalten könnten, etwa, indem der Forschung das vermeintliche »Zentrum« entzogen werde. Exemplarisch wurde dies illustriert anhand der Arbeit von Studierenden, in der diese den kolonialistischen Film »Pocahontas« mit der »Rede über den Kolonialismus« von Aimé Césaire künstlerisch kontrastierten.

Die thematische Stoßrichtung zeigte sich darüber hinaus im Panel zu feministischen Interventionen und nicht-westlichen feministischen Ansätzen. In diesem wurde das Konzept von Transitional Justice aus der Perspektive von feministischen people of color kritisiert. Ein Beitrag thematisierte die orientalistische Darstellung muslimischer Frauen in Modemagazinen. Abschließend wurde in selbigem Panel via Skype von zwei brasilianischen Forscherinnen, die nicht persönlich an der Tagung teilnehmen konnten, die feministische Erkenntnistheorie von Carolina Maria de Jesus vorgestellt.

In der Besetzung der verschiedenen Panels spiegelte sich ein Anliegen der Konferenz wider: Vielfalt zu berücksichtigen und marginalisierten Personen einen gemeinsamen Raum zu bieten. So war der Anteil an Frauen, jungen Wissenschaftler*innen, Wissenschaftler*innen des Globalen Südens und people of color deutlich höher als bei vielen Konferenzen und Tagungen in Deutschland gewohnt.

Christiane-Rajewsky-Preis

Ein Höhepunkt der Tagung war die alljährliche Verleihung des Nachwuchspreises der AFK, der die herausragende Dissertation »Ordering by default. The power and politics of post-coup interventions in Africa« von Antonia Witt (aktuell: Frankfurt) ehrte.

Abschlusspodium

Perspektiven der Friedensnobelpreisträgerin Tawakkol Karman (Jemen), von Akbota Zholdasbekova (Kasachstan) sowie Martina Fischer (Deutschland) auf aktuelle Friedensherausforderungen in einer postkolonialen Ära der globalen Transition waren Gegenstand der zweiten Plenarsitzung. Die drei Panelistinnen beleuchteten in ihren eindrücklichen Beiträgen den Kampf emanzipatorischer Bewegungen im Jemen, Politikberatung in Kasachstan sowie die praktische Arbeit als friedensforschend Aktive. So trafen sich feministischer, pazifistischer Aktivismus, Politikberatung und Wissenschaft auf diesem Podium.

Allerdings wurde der inhaltliche und feministische Anspruch der Panelistinnen nicht von allen Anwesenden verstanden, was zu erheblichem Unmut führte. Das Netzwerk Friedensforscherinnen der AFK äußerte sich im Anschluss in einer Stellungnahme, die auf afk-web.de online steht und darauf verweist, dass auch innerhalb der FuK-Community erheblicher Lernbedarf und Anlass zur kritischen Reflexion über das eigene Denken und Handeln besteht.

Internationalisierung

Die Tagung wurde erstmals in Kooperation mit der EuPRA abgehalten, die auch ihre Mitgliederversammlung während der Tagung abhielt.

Mit der Joint Conference wurde ein wichtiger Schritt Richtung Internationalisierung der AFK getan. Wurde noch in der Mitgliederversammlung des letzten AFK-Kolloquiums über diese fehlende Komponente diskutiert, gestaltete sich diesmal nicht nur das Publikum merklich vielfältiger, sondern dies traf auch auf die Panelist*innen und ihre Beiträge zu.

Resümee

Die Joint Conference »Peace and Conflict Studies from the margins to the center. Rethinking Europe in an unequal world« hat einen wichtigen Beitrag zur Internationalisierung der deutschsprachigen Friedens- und Konfliktforschung geleistet. Vor dem Hintergrund globalpolitischer Phänomene wies die Veranstaltung ein hohes Maß an Selbstkritik auf. Mit ihrer Offenheit gegenüber dekolonialen Ansätzen nahm die Konferenz auch den Bedarf vieler jüngerer Wissenschaftler*innen ernst und bot ihnen eine institutionelle Plattform.

Ein ausführlicher Tagungsbericht mit Beschreibungen aller Panels wird auf der AFK-Website afk-web.de und auf dem eigens von der Jungen AFK eingerichteten und betreuten bretterblog.wordpress.com verfügbar gemacht.

Sofia Ganter und Tim Bausch

Konflikte analysieren – wie, was und wozu?

Konflikte analysieren – wie, was und wozu?

Workshop der AFK, 28./29. Oktober 2016, Augsburg

von Lina Knorr und Christoph Weller

Wozu und auf welche Weise machen wir Konfliktanalysen? Wenn auch nur selten der Nutzen einer Konfliktanalyse prinzipiell in Frage gestellt wird, unterscheiden sich doch die Herangehensweisen fundamental: Wollen die einen den analysierten Konflikt lösen, befriedigen andere lediglich ihre wissenschaftliche Neugier, und wieder andere thematisieren den (politischen) Einfluss, den die Analysen selbst auf die Transformation von Konflikten nehmen.

Um solche Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten des Konfliktanalysierens herauszuarbeiten, hatte die Geschäftsstelle der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung (AFK) in Kooperation mit dem Augsburger Lehrstuhl für Politikwissenschaft, Friedens- und Konfliktforschung und dem Friedensbüro der Stadt Augsburg für den 28./29. Oktober 2016 zu einem Workshop nach Augsburg eingeladen. An dessen Ende wurde offensichtlich, dass die jeweilige Antwort auf das »Wozu?« für die größten Unterschiede zwischen den verschiedenen analytischen Zugängen zu Konflikten verantwortlich ist: auf der einen Seite die sozialwissenschaftliche Neugier (Köhler) oder der Anspruch, Konfliktdynamiken zu verstehen (Schilling), auf der anderen die Reflexion der in Sprache und Struktur unserer Konfliktanalysen enthaltenen Kurzschlüsse über fremde Kulturen (Hussak/Saulich) oder noch grundsätzlicher die Reflexion des gesellschaftspolitischen Eingriffs jeder Konfliktanalyse auf die ständige Transformation politischer Konflikte (Gulowski). So schien das gesamte Spektrum konfliktanalytischer Herangehensweisen bei diesem – von der Stiftung »quid verum« und dem »Haus der Stifter« finanziell geförderten – Workshop vertreten und lieferte ausreichenden Konfliktstoff für intensive wissenschaftliche Debatten (für das Workshop-Programm siehe afk-web.de).

Friedrich Glasl (Salzburg) eröffnete mit seiner Keynote die inhaltlichen Diskussionen, nachdem der städtische Kulturreferent Thomas Weitzel und die AFK-Geschäftsführerin Christine Schnellhammer die insgesamt über 70 Teilnehmer*innen im Augsburger Zeughaus begrüßt hatten. Weil es gewissermaßen die Abschiedsveranstaltung der AFK-Geschäftsstelle in Augsburg war (sie ist im November 2016 an die Hochschule Rhein-Waal nach Kleve umgezogen), betonten beide die außerordentlich fruchtbare und vertrauensvolle Zusammenarbeit in den zurückliegenden sechseinhalb Jahren.

Vor dem Hintergrund des Workshop-Titels mit den Fragen »Wie, was und wozu?« hob Glasl in seiner Präsentation die spezifischen Funktionen einer Konfliktanalyse im Rahmen einer auf Einladung der Konfliktparteien stattfindenden Konfliktintervention hervor. Hierbei machte er detaillierte Angaben zu seinem Modell und stellte unterschiedliche Interventionsrichtungen, Eskalationsgrade und Dimensionen seiner Konfliktanalyse vor. Zentraler Aspekt sei jedoch, dass eine solche Konfliktanalyse lediglich auf Einladung der Konfliktparteien durchgeführt werden könne.

An diese Diskussionen mit Prof. Glasl schloss unmittelbar das erste Panel an, in dem Svenja Gellert (München) ihre Arbeit bei der Organisation AKIM (Allparteiliches Konfliktmanagement in München) vorstellte. Ähnlich wie bei der interventionsorientierten Konfliktanalyse nach Glasl setzt das AKIM ebenfalls auf die Einladung der Konfliktparteien. Auch wenn die Mitarbeiter*innen teilweise teilnehmende Beobachtungen durchführen, so werden sie im Allgemeinen erst tätig, wenn sie von Betroffenen dafür angefragt werden. Im Gegensatz zu Glasl jedoch setzt das AKIM nicht auf Intervention von außen, sondern auf das Zustandekommen einer unmittelbaren Zusammenarbeit der Konfliktparteien mit dem Ziel einer gemeinsamen Gestaltung des Sozialraums.

Dieser Ansatz einer kommunalen Konfliktmanagement-Institution wurde kontrastiert durch eine akteursorientierte Konfliktanalyse, die Janpeter Schilling (Hamburg/Koblenz-Landau) am Beispiel seiner Forschungsarbeiten in Kenia vorstellte. Mit seiner Herangehensweise zielt er darauf ab, die Anbindungsfähigkeit etablierter Konfliktanalysekonzepte zu prüfen und gegebenenfalls konzeptionelle Schwachstellen aufzuzeigen. Übergeordneter Zweck ist ein verbessertes Verständnis für Konfliktdynamiken und die Weiterentwicklung entsprechender Forschungsansätze.

Auch im zweiten Panel lag der Fokus auf »fernen« Konflikten, und bezogen darauf wurden unterschiedliche Analysetools diskutiert. Cordula Reimann (Bern) berichtete von der Arbeit ihrer Organisation »core. consultancy & training in conflict transformation«. Ihr liegt das Ziel zugrunde, Konflikte zu transformieren, gegebenenfalls durch Intervention, jedoch immer mit der Prämisse des »Do No Harm«-Ansatzes. Reimann setzt in ihrer Arbeit auf Prozessgestaltung und systemische Konfliktanalysen. Als eine der Hauptherausforderungen in der Analyse von Konflikten beschrieb sie die Erfassung der Komplexität angesichts der Notwendigkeit der Reduktion in der Transformationsberatung.

Aus einer ganz anderen Perspektive beschrieb Wolfgang Schreiber (Hamburg) seine Forschung und die Probleme, die er in der Konfliktanalyse sieht. Selbstkritisch machte Schreiber auf die Probleme bei der Erstellung von Datenbanken aufmerksam und wies durch Vergleiche auf die Schwachstellen unterschiedlicher Konflikt-Datenbanken hin. Deutlich wurde, dass auch bei solch quantitativ ausgerichteten Analysen die Subjektivität der Analysierenden bzw. Autor*innen einen maßgeblichen Einfluss auf den Datenkorpus haben kann. Dieser Problematik wird jedoch – so Schreiber – nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt. Gleichzeitig werden manche Datenbanken durch den Zwang zur Erstellung von Kurztexten über die einzelnen Konflikte – beispielsweise um die Aufmerksamkeit von Massenmedien zu erreichen –, deren Komplexität nicht gerecht. Die sich anschließende Diskussion fokussierte dann stark auf die Kompatibilität von Kriegsstatistiken mit massenmedialen Logiken im Hinblick auf politische Wirkung dieser Form von Konfliktanalysen.

Der zweite Tag des Workshops brachte das Thema der Gewalt in Konflikten näher in den Fokus der Diskussion. Jan Köhler (Berlin), der seit längerer Zeit in Afghanistan forscht, verdeutlichte in seiner Präsentation, dass Konfliktanalysen uns ein Verständnis über gesellschaftliche Ordnung vermitteln, weshalb Konflikte nicht als negative Ereignisse klassifiziert werden sollten, sondern lediglich die Gewalt, die in ihnen aufkommen kann. Das »Wozu« seiner Forschung siedelte er vor allem in seiner sozialwissenschaftlichen Neugierde an, während anschließend Marcus Linde (Sozialarbeiter in Köln) die Gewaltverhinderung in den Mittelpunkt seines Referats stellte. Er thematisierte die Gewalt als zentrale Herausforderung, sowohl die Gewaltanwendungen gegen ihn und seine Kolleg*innen als auch die Gewalt, die von Sozialarbeiter*innen selbst ausgehen kann. Er bezeichnete Sozialarbeit als eine Form der gewaltvollen Arbeit in beide Richtungen. Die Aufgabe von Sozialarbeiter*innen sei es daher, die Konflikte zu analysieren, um im nächsten Schritt aktiv Gewaltgefahren zu minimieren. Konfliktanalysen dienen ihm daher als Seismographen oder auch als »Feuerlöscher« für Gewalt.

Im vierten und letzten Panel des Workshops wandten sich Nicolas Schwank (CONIAS, Mannheim), Rebecca Gulowski (Augsburg), Melanie Hussak und Christina Saulich (Koblenz-Landau) den epistemologischen (erkenntnistheoretischen) Aspekten von Konfliktanalysen zu. Schwank thematisierte die Herausforderung der externen Finanzierung von Analysen: Bei der Arbeit von »Conias Risk Intelligence« gehe es darum, Geschäftsrisiken durch Einschätzungen politischer Konflikte besser einordnen zu können. Konfliktanalysen werden daher nach den Erwartungen von Auftraggebern entwickelt. Der zentrale Aspekt sei hierbei die Feststellung von Kriegsrisiken in bestimmten Territorien, aber nicht, wer diese produziert oder wie sie sich reduzieren ließen.

Eine ganz andere Perspektive auf Konfliktanalysen brachte Rebecca Gulowski (Augsburg) ein. Ihre Forschung basiert auf der erkenntnistheoretischen Prämisse, dass das forschende Subjekt auch immer Teil der Objektwelt ist, die Forscher*in also auch selbst in den Fokus der Analyse fällt und fallen muss, gerade bei der Analyse von Gewalt als Konfliktaustragungsform. Dafür erweitert sie ihre Analysen um die verkörperte, sinnlich erfahrbare Erkenntnis und bezieht damit auch nicht sprachlich Gefasstes in ihre Forschung mit ein. Ganz anders als bei den vorhergehenden Konfliktanalysen wird hier nicht »der Konflikt« analysiert, sondern was »wir«, die Analysierenden, als »Konflikt« wahrnehmen.

Auch in der Präsentation von Melanie Hussak und Christina Saulich (Koblenz-Landau) stand die Epistemologie der Konfliktanalyse im Zentrum. Ihrer Ansicht nach sind Weltanschauungen, Konfliktanalyse und Konfliktbearbeitung nicht voneinander trennbar, sondern untereinander abhängig und beeinflussen sich wechselseitig – wissenschaftlich formuliert: Sie sind innerhalb eines ontologischen und epistemologischen Holismus miteinander verbunden. In Anknüpfung an einen »Local Turn« der Konfliktanalyse, der versucht, lokale und kulturelle Kontexte in die Forschung miteinzubeziehen, betonten sie die Bedeutung auch der eigenen kulturellen Prägungen und daraus resultierende Blindstellen. Das »Wozu? « liegt demnach weder im verbesserten Verständnis für Konfliktdynamiken noch in der deeskalierenden Intervention, sondern in der Reflexion der eignen Vorentscheidungen und Kurzschlüsse über »fremde« Konflikte und Konfliktkulturen.

Zum Abschluss des Workshops verdeutlichte Christoph Weller (Augsburg) mit seinem Versuch, die unterschiedlichen Antworten aller Präsentationen auf die Frage »Wozu Konfliktanalyse?« in eine Ordnung zu bringen, die große Breite und Vielfalt der Zielsetzungen von Konfliktanalysen. Hierbei wurde deutlich, dass ein einheitliches Modell oder eine vereinheitlichende Methode von Konfliktanalysen weder zu erwarten noch anzustreben sei. Dass aber der intensive Austausch zwischen den unterschiedlichen Ansätzen außerordentlich hilfreich und weiterführend ist, war breiter Konsens unter den aktiven wie passiven Teilnehmer*innen.

Lina Knorr und Christoph Weller

Zukunft des politischen Pazifismus


Zukunft des politischen Pazifismus

Symposium der Bertha-von-Suttner-Stiftung der DFG-VK, 28./29. Januar 2017, Frankfurt am Main

von Thomas Mickan

Der politische Pazifismus ist tot … zu dieser Schlussfolgerung könnte kommen, wer sich die Publikationen und Äußerungen in der deutschen Friedens- und Konfliktforschung anschaut. Zwar gibt es vereinzelte Arbeiten zum Thema, mitunter auch Zeitschriftenschwerpunkte (wie in W&F 1-2017, »Facetten des Pazifismus«), aber nur selten wird der politische Pazifismus in Arbeiten unserer Zunft aufgegriffen. Mit seiner Abhandlung in Heftschwerpunkten teilt der Pazifismus zuweilen etwas mit feministischen oder postkolonialen Ansätzen in der Friedensforschung: Sie sind entweder explizit im Fokus oder gar nicht.

Vom 28. bis 29. Januar 2017 führte die Bertha-von-Suttner-Stiftung der DFG-VK ein Symposium durch, das sich, eher abseits akademischer Pfade, der Frage widmete, wie es denn nun explizit um die »Zukunft des politischen Pazifismus»« bestellt sei. Dieses Symposium bildete auch den Auftakt zum 125-jährigen Jubiläum der Deutschen Friedensgesellschaft (DFG) – heute Deutsche Friedensgesellschaft-Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK). 1892 wurde die DFG u.a. durch die erste weibliche Friedensnobelpreisträgerin (1905) Bertha von Suttner und durch Alfred Hermann Fried, ebenfalls Preisträger (1911), ins Leben gerufen.

Die zweitägige Veranstaltung spürte am ersten Tag der Historie und den Strömungen des Pazifismus nach und beschäftigte sich am zweiten Tag mit aktuellen Handlungsfeldern des politischen Pazifismus. Diese Aufteilung war zwar einerseits spannend, weil es am ersten Tag konzeptionell um die Ideen des politischen Pazifismus ging und am zweiten Tag – quasi als dessen Urenkel – die heutige Praxis zu Wort kommen konnte. Andererseits blieb das Symposium damit aber auch ein wenig in ausgetretenen Pfaden, da gerade das Programm des zweiten Tages in ähnlicher Form auch auf anderen friedenspolitischen Tagungen, wie dem Kasseler Friedensratschlag oder dem Tübinger Kongress der Informationsstelle Militarisierung, jährlich vorzufinden ist. Hier wäre es spannend gewesen, die Betrachtung herumzudrehen und konkrete historische Anwendungsfelder zu diskutieren, um sich anschließend tatsächlich auch konzeptionell und begrifflich über die Zukunft des politischen Pazifismus auszutauschen.

Nichtsdestotrotz war das Symposium im gut gefüllten Saalbau Gutleut in Frankfurt am Main mit rund 70-100 Teilnehmer*innen gut besucht, und während des Symposiums mit seinem dicht gedrängten Programm konnte eine gute und erkenntnisreiche Diskussionskultur gepflegt werden. Exemplarisch seien hier nun zwei Beiträge herausgegriffen. Für einen dritten – den von Prof. Dr. Norman Paech zu Pazifismus und Völkerrecht – sei auf die letzte Ausgabe von W&F verwiesen, in der sein Beitrag in etwas überarbeiteter Form bereits erschien.

Den Auftakt zum Symposium gestaltete Dr. Susanne Jalka, die an der Universität für angewandte Kunst in Wien lehrt und unter anderem am Onlineprojekt »discoverpeace/vienna« mitgewirkt und zur Friedensgeschichte Wiens und Bertha von Suttners gearbeitet hat. Sie versteht „Frieden als eine Geisteshaltung“, eine Vorstellung also, die sich zunächst mit einem Pazifismusbegriff deckt, der so wahrscheinlich von vielen geteilt wird. Jalka führt den Begriff des Friedens am eigenen Bewusstsein, am Denken von Frieden, aus, wobei Frieden „kreative Ideen von Differenzen“ sei. Anhand des Projektes »Imagine Peace« illustrierte sie dies. Dabei wurden Schul- und Jugendgruppen aus ganz Europa zum 100. Jahrestag der Nobelpreisverleihung an Bertha von Suttner gebeten, ihre ganz persönlichen »Bilder« von Frieden zu Papier zu bringen. Die eingereichten Zeichnungen waren in der Regel entweder sehr harmonisch oder zeigten ganz im Gegenteil Bilder vom Krieg. Nur sehr wenige Bilder verdeutlichten die „Spannung von Frieden“ und zeigten damit, dass das Denken von Frieden, so Jalka, noch viel zu wenig Raum gewonnen hat und dieser nur in Abgrenzung zum Krieg oder als Harmonie gedacht werde. Der Referentin gelang es so, im Publikum die eigenen Vorstellungen von Frieden und Pazifismus aufzurufen und zu fragen: Wie stellt ihr euch Frieden vor und wie müssen wir an solchen Vorstellungen arbeiten.

Einen anderen Zugang bot Dr. Gernot Lennert an, der sich in seinem Beitrag mit den (historischen) Strömungen des Pazifismus beschäftigte. Lennert ist Historiker und Politologe und arbeitet als Bildungsreferent des DFG-VK Bildungswerks Hessen. Er verdeutlichte, dass Friedensbewegung, Antimilitarismus und Pazifismus nicht identisch sein müssen, und differenzierte dann zwischen Strömungen des Pazifismus. Vor dem Ersten Weltkrieg bildeten sich insbesondere vier Strömungen heraus: Erstens der bürgerliche Pazifismus oder organisatorische Pazifismus, der auf friedliche Konfliktlösungen zwischen Staaten, auf Abrüstung, Schiedsgerichte und internationale Organisationen setzte. Die vor 125 Jahren gegründete DFG sei das Paradebeispiel für eine Haltung, die den Staat und das Staatensystem nicht abgelehnt habe, die Kriegsdienstverweigerung (KDV) hingegen schon, und in der Verteidigungs-, mitunter auch Befreiungskriege opportun waren. Zweitens der radikale Pazifismus, der in seiner konsequenten Ablehnung jeglicher Gewalt vor allem religiös begründet war, aber – etwa durch die Quäker als politisch religiöse Bewegung – gewaltfreie Ideen in die Politik hineintrug. Auch Ideen von Leo Tolstoi oder Mahatma Gandhi oder auch der War Resisters’ International, deren Symbol das zerbrochene Gewehr ist, fanden hier ihre Heimat. Eine dritte Strömung war der anarchistische Pazifismus, der den Staat und den Kapitalismus ablehnte, die KDV vorantrieb und auf gewaltfreie direkte Aktionen, wie Produktionsniederlegung, setzte. Viertens schließlich, so Lennert, entstand noch der marxistische Pazifismus, der sich zwar auch gegen den Kapitalismus wandte, aber in der ersten Zeit die KDV ablehnte und Volksheere statt stehender Heere als Lösungsstrategie gegen den grassierenden Militarismus anbot.

Nach dem Ersten Weltkrieg näherten sich die Strömungen, so Lennert, einander an, besonders bei der Frage der KDV. Bemühungen, diese Ansätze etwa zum »revolutionären Pazifismus« zusammenzubringen, führten bei den Friedenstagungen zu heftigen Debatten, die Carl von Ossietzky, selbst Mitglied der DFG, 1924 als „ungeheures Blutbad“ beschrieb. Konfliktthema war u.a. die Rolle des Krieges: „Krieg als Störfaktor“, so verstanden es die bürgerlichen Pazifist*innen, die lediglich den geregelten Ablauf eines Staates in Gefahr sahen, versus der „kranke Staat“, bei dem der Militarismus nur ein Symptom einer tieferliegenden Krankheit ist und die Fehler nicht im System zu beheben waren, sondern dieses selbst der Fehler war.

Auch heute seien diese gewachsenen Strömungen in den „Denktraditionen immer noch vorhanden, aber nicht säuberlich getrennt“. Es gebe, so Lennert, jedoch ganz unterschiedliche Mischungsverhältnisse. Dem Referenten gelang es durch seine Ausführungen, mit der Vorstellung zu brechen, dass Pazifismus neben einer Geisteshaltung auch in verschiedenen Traditionen verschiedene ganz praktische Antworten zu verschiedenen Formen von Gewalt anbot und anbietet.

Nach weiteren, eher theoretischen Ausführungen anderer Referent*innen, etwa zu den »Anforderungen eines wirksamen Pazifismus« (Andreas Zumach), skizzierte dann der zweite Tag des Symposiums mit seinem friedenspolitischen Potpourri zahlreiche Anwendungsfelder des Pazifismus. Hier blieb u.a. der kurze Impuls der Öko-/Friedens-/Kletteraktivistin Cécile Lecomte im Gedächtnis, die über die Kraft der gewaltfreien Aktion sprach. Persönliche Authentizität und ihr Mut waren die Merkmale, die zu beeindrucken wussten, inspirierten und aus einem Erfahrungsschatz heraus »Wissen schafften«.

Nach den zwei Tagen konnte mensch zumindest konstatieren, dass der politische Pazifismus noch keineswegs an seinem Ende angelangt ist. Auch wenn das Symposium engagiert versuchte, eine historische Inventur zu führen und aktuelle Handlungsfelder aufzuzeigen, so blieben die theoretischen Zugänge doch eher konventionell. Tatsächlich neue und innovative Impulse oder Zugänge bot das Symposium leider kaum. Für den nächsten Anlauf wäre mehr Mut wünschenswert, beispielsweise für post- und dekoloniale Ansätze, popkulturelle Zugänge oder auch die Frage, warum pazifistische Ideen in wissenschaftlichen Debatten eher unterrepräsentiert stehen, das heißt in welcher Form hier epistemische Gewalt wirkt. Das Symposium hat so auf mehrfache Weise gezeigt, dass Potenziale für (neue) Ideen zum politischen Pazifismus gewiss vorhanden sind.

Thomas Mickan

Ressourcen für den Frieden


Ressourcen für den Frieden

von Klaus Harnack

„Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift; allein die Dosis macht’s, dass ein Ding kein Gift sei.“ So sprach Paracelsus und verwies damit nicht zuletzt auf die Erkenntnis, dass wenn ein Ding im Übermaß konsumiert wird, Krankheiten selten ausbleiben.

Eine ökonomische Krankheit, die sich derselben Logik bedient und ihren Ursprung im übermäßigen Konsum von materiellen Ressourcen hat, ist die »Holländische Krankheit«. Seinen Namen bekam dieses Wirtschaftsmodell, das im Kern die negativen Konsequenzen einer zu starken Fokussierung auf Rohstoffexporte beschreibt, in den 1980er Jahren. Rund zwanzig Jahre zuvor kam es in den Niederlanden zu umfangreichen Erdgasfunden, die letztlich der Grund für die folgende Wirtschaftskrise waren.Seitdem steht die Holländische Krankheit stellvertretend für die negativen Konsequenzen auf die Wirtschaft eines Landes, wenn sich das Land zu sehr auf die direkte (Aus-) Nutzung einer einzigen Ressource, meistens eines Rohstoffs, konzentriert. Der Krankheitsverlauf ist immer ähnlich: Im Zuge starker Rohstoffexporte kommen vermehrt Devisen ins Land, damit einher geht die Aufwertung der eigenen Währung. Durch die verteuerte Währung werden Exporte anderer inländischer Produkte teurer und schaffen somit ein erschwertes Umfeld für die übrigen Agar- und Industriebereiche. Im selben Zuge verbilligen sich Importe, was zur weiteren Vernachlässigung eigener Wirtschaftszweige führt. Im Resultat wird die eigene Wirtschaft geschwächt, und es entstehen starke Abhängigkeiten von einzelnen Märkten, Unternehmen oder Ländern. Der ursprüngliche Segen einer Ressource kehrt sich in einen Fluch. Zwar sind die Niederlande inzwischen von ihrer eigenen Krankheit genesen, aber in Länder wie z.B. Venezuela kam es zu einer Chronifizierung dieser Krankheit.

Diese negativen Konsequenzen einer zu starken Fokussierung auf die Rohstoffe eines Landes werden in einer umfassenderen Betrachtung oft auch als Ressourcenfluch (resource curse) bezeichnet. Der Kern dieses Begriffes bezieht sich allerdings weniger auf die wirtschaftswissenschaftlichen Zusammenhängen als vielmehr auf die Bündelung menschlichen Fehlverhaltens, das oft im Zusammenhang mit einer dominanten Rohstoffquelle auftritt. Klassische Merkmale hierfür sind die im Zusammenhang mit der Rohstoffförderung zunehmenden Umweltzerstörungen, das Aufkommen von Korruption und antidemokratischen Staatsstrukturen, die geprägt sind von politischer Instabilität und oft auch bewaffneten Konflikten. In der Folge kommt es dann meist zur Vernachlässigung des Bildungssektors und der öffentlichen Gesundheits- und Sozialversorgung. Der Gier folgt die menschliche Verachtung oder wie es so schön heißt: Gier frisst Gehirne.

Dennoch sind Ressourcen nicht per se schlecht für ein Land, sie haben vielmehr einen ambivalenten Charakter. Es liegt an den Rahmenbedingungen, die entscheiden, ob sich Ressourcen zum Wohle einer Gesellschaft auswirken oder zu einer Last entwickeln. Ein Paradebeispiel für diese starke Ambivalenz materieller Ressourcen, besonders des Rohöls, sind die Unterschiede zwischen Nigeria und Norwegen – beides Länder mit riesigen Erdölvorkommen, allerdings mit komplett unterschiedlichen Rahmenbedingungen und somit gegensätzlichen Auswirkungen auf die jeweiligen Gesellschaften.

Folgerichtig fragt W&F in der Ausgabe »Ressourcen für den Frieden« nach Dingen, Personen, Systemen und Gegebenheiten, die dem Frieden zuträglich sind, ihn unterstützen, ermöglichen und nähren. Die vorliegende Ausgabe beleuchtet weitergehend die Frage, wie und unter welchen Umständen Ressourcen nicht zum Fluch, sondern zum Segen für den Frieden werden können. Wichtig ist hierbei die Erweiterung des Ressourcenbegriffs, der nicht auf materielle Ressourcen reduziert, sondern in seiner ganzen Breite betrachtet wird. Jenseits materieller Ressourcen, unter denen meist Betriebs- oder Geldmittel, Boden, Rohstoffe, Energie, Personen und Arbeit verstanden werden, stehen in dieser Ausgabe hauptsächlich immaterielle Ressourcen im Zentrum der Analysen. Jenseits von Öl, Gold und Seltenen Erden fragen wir deshalb nach Ressourcen wie Bildung, Gesundheit, Geschichtsbewusstsein, Handel, Religion, Kultur, Rechtstaatlichkeit und Medien, die als Unterbau und Mittel für friedliche Gesellschaften dienen können. Besonders diese immateriellen Ressourcen müssen aus ihrem Schattendasein geführt werden, um sie als bewusstes Mittel einsetzen zu können und als Erweiterung des gängigen Ressourcenbegriffs zu nutzen.

Das Hauptanliegen dieser Ausgabe ist es dementsprechend, Ressourcen wieder als Chance für den Frieden zu begreifen, im Gegensatz zu den klassischen Headlines wie »Kampf um Ressourcen«, »Der Krieg ums Wasser«, »Der Fluch der Ressourcen«, etc. Steckt doch im Wort Ressource das lateinische Wort »resurgere« für Quelle und Mittel, welche in ihrem ursprünglichen Sinne positive Konstrukte sind, aber im gegenwärtig politischen Sinne eher negativ assoziiert werden.

Viel Spaß bei der Erkundung neuer Ressourcen für den Frieden wünscht Ihnen

Ihr Klaus Harnack

Migration und Flucht als Prozess


Migration und Flucht als Prozess

Die individuelle und gesellschaftliche Perspektive

von Yuriy Nesterko und Heide Glaesmer

Im Jahr 2015 waren weltweit 65,3 Millionen Menschen auf der Flucht vor Verfolgung und Vertreibung, davon ca. ein Drittel über die Staatsgrenzen des jeweiligen Herkunftslandes hinweg (UNHCR 2016). Dies ist die höchste Zahl Schutzsuchender bzw. Vertriebener seit Ende des Zweiten Weltkrieges und spiegelt die Zunahme an bewaffneten Konflikten wider. Die Geflüchteten sind häufigen und wiederholten Belastungen und Traumatisierungen ausgesetzt, wobei diese nicht nur im Herkunftsland, sondern auch während und nach der Flucht erlebt werden. Sie stellen einen zentralen Risikofaktor für die psychische und physische Gesundheit dieses Personenkreises dar. Dieser Artikel erläutert den prozesshaften Charakter von Migration und Flucht aus individueller und gesellschaftlicher Perspektive.

In den letzten Jahrzehnten wurden verschiedene Konzepte zur Beschreibung von Migration entwickelt. In einigen Ansätzen wird die Migrationserfahrung als kritisches Lebensereignis oder gar als traumatisch aufgefasst. Andere Autoren gehen von einer weniger defizitorientierten Betrachtung aus und sehen Migration als Chance (Faltermeier 2001). Im Folgenden werden das Akkulturationsmodell von Berry (1997), das Migrationsphasenmodell von Sluzki (2001) sowie die Fluchtprozessmodelle von Berry (1991), Keilson (1979) und Becker (2006) vorgestellt.

Strategien der Akkulturation

Im Akkulturationsmodell von Berry werden Akkulturationsstrategien als Anpassungen an eine neue bzw. andere kulturelle Umgebung beschrieben (Berry 1997). Hier ist zwischen der Ebene der Gesellschaft und der des Individuums zu unterscheiden.

Manche Gesellschaften akzeptieren kulturelle Diversität und fördern diese, andere erwarten von Zuwanderer*innen eine Anpassung an die Mehrheitsgesellschaft, wieder andere grenzen Migrant*innen aus (Berry 2005). Berry beschreibt zwei Dimensionen der Orientierung: die Aufrechterhaltung der Herkunftskultur und die Hinwendung zur Aufnahmekultur. Er nimmt an, dass eine Ausprägung auf beiden Dimensionen hoch oder niedrig sein kann, was in vier Akkulturationsorientierungen resultiert (siehe Abb. 1). Dies gilt für die gesellschaftliche Ebene (Migrationspolitik, Einstellungen) wie auch für das Individuum. Wenn es das politische Ziel ist, die Migrant*innen an die Mehrheitsgesellschaft anzupassen, spricht Berry (2005) von einem »Melting Pot«, und wenn sowohl die Herkunftskultur aufrechterhalten als auch eine Hinwendung zur Aufnahmegesellschaft stattfinden soll, von »Multikulturalität«. Wenn die Integration der Einwanderer*innen nicht gewollt ist, können diese entweder ihre eigene Kultur weiter leben und sich in ethnischen Gruppen zusammenschließen (Segregation) oder ihnen wird die Aufrechterhaltung der Ursprungskultur verwehrt, was zur Exklusion führt.

Mehr noch als die Orientierungen auf gesellschaftlicher Ebene werden die auf der individuellen Ebene diskutiert. Analog zu der gesellschaftlichen Ebene spricht Berry (1997) von Assimilation, wenn Individuen ihre Herkunftskultur aufgeben und sich der Mehrheitskultur zuwenden, wenn sie im Gegenteil nur die »alte« Kultur aufrechterhalten und die neue Kultur nicht annehmen, von Separation. Wenn an beiden Kulturen partizipiert wird, wird von Integration gesprochen, und wenn ein Verlust der Ursprungskultur stattfindet, aber auch kein Interesse an der Aufnahmekultur besteht, von Marginalisierung. Auf individueller Ebene ändern sich nach Berry (1990, zitiert nach Schrader 2010) durch Akkulturation Verhalten, Identität, Werte und Einstellungen und nach Trimble (2003, zitiert nach Schrader 2010) auch Affekte und religiöse Glaubenssätze. Die individuelle und die gesellschaftliche Ebene sind nicht unabhängig voneinander. Es kann nur aus allen vier Strategien gewählt werden, wenn die Gesellschaft offen und inklusiv ist und dies zulässt (Berry 2005). Weiterhin wird die Orientierung der Gesamtgesellschaft von der Orientierung einzelner Personen beeinflusst.

Ausgehend von einer Vielzahl empirischer Untersuchungen bezüglich der gesundheitlichen Auswirkungen der Akkulturationsstile wird davon ausgegangen, dass die Integrationsstrategie auf längere Sicht zur nachhaltigen Reduktion von Akkulturationsstress führt und daher mit dem größten Wohlbefinden einhergeht (Schmitz 2001; Gavranidou und Abdallah-Steinkopff 2007).

Phasen der Migration

Ähnlich wie Berry beschreibt Sluzki (2001) Migration als ein Stress verursachendes Ereignis. Er erkennt im Prozess der Migration „[… -] sowohl über kulturelle Grenzen hinweg als auch innerhalb ähnlicher Kulturräume – eine erstaunliche Regelhaftigkeit“ und spricht sogar von einer „kulturübergreifenden Validität“ seines Modells. Den Verlauf der Migration unterteilt er in fünf Phasen (Abb.2).

Bei der Beschreibung der Phasen wird der Schwerpunkt auf Konflikte, Krisen und Anpassungserfordernisse aus dem Blickwinkel der Migrant*innen und ihres familiären Systems gelegt.

In der Vorbereitungsphase werden Informationen gesammelt, die die Entscheidung auszuwandern unterstützen bzw. in Frage stellen. Die meisten Migrant*innen bewältigen diese Phase recht erfolgreich (Gavronidou und Abdallah-Steinkopff 2007).

Als nächstes folgt der eigentliche Akt der Migration, der in seiner Dauer variieren und je nach Umständen Krisen verursachen kann.

In der Überkompensierungsphase sieht der Autor die erste Anpassung an die neue Umgebung. In dieser Zeit ist der Migrant/die Migrantin darauf bedacht, das Alltagsleben effektiv zu organisieren und neigt dazu, Widersprüchen und Unstimmigkeiten aus dem Weg zu gehen, indem diese »verleugnet« und «schöngeredet« werden. Die Phase ist durch erhöhte Anspannung gekennzeichnet, die oft in die Bereitschaft und den Wunsch mündet, sich möglichst gut der neuen Situation anzupassen. Diese Herangehensweise kann allerdings nicht dauerhaft aufrechterhalten werden, da „Träume und Sehnsüchte unter dem Druck der Realität zusammenbrechen“, was zu erneuten Spannungen führen kann.

Die Phase der Dekompensation ist durch Konflikte gekennzeichnet. Es ist die Zeit, in der Widersprüche realistisch eingeschätzt werden, die Anforderungen der Aufnahmegesellschaft eventuell zu hoch sind und die gewohnten Bewältigungsmechanismen nicht greifen. Infolgedessen können psychische und körperliche Symptome auftreten. Gavranidou und Abdallah-Steinkopff (2007) sehen in dieser Phase eine Verbindung zu Berrys Akkulturationsmodell, weil ein Abwägen zwischen den kulturellen Riten, Normen und Werten des Herkunftslandes und der Kultur der Aufnahmegesellschaft stattfindet.

Beendet wird der Prozess der Migration mit der Phase der generationsübergreifenden Anpassungsprozesse und der Integration. In diesem Stadium kommt es innerhalb der Familie zu Auseinandersetzungen mit noch offenen Migrationskonflikten und noch nicht bewältigten Anpassungsleistungen. Diese Aufgaben haben gegebenenfalls Vertreter*innen der nachfolgenden Generationen zu lösen.

Die Dauer der Phasen kann sehr unterschiedlich sein, und je nach Fragestellung kann das Modell unterschiedlich angewendet werden. Man kann die Stadien als biographiebezogene Etappen des Migrationsprozesses betrachten, gleichzeitig kann man die Phasen auf ein kurzes migrationsspezifisches Ereignis projizieren. Das Modell von Sluzki ist nicht nur wegen des dynamischen Verständnisses von Migration interessant, es liefert auch Hinweise für Reifungsschritte während des Verlaufs und berücksichtigt damit den Entwicklungsaspekt einer jeden Migration.

Menschen, die aufgrund bewaffneter Auseinandersetzungen, organisierter Gewalt und Verfolgung ihr Heimatland verlassen, sich lebensbedrohlichen Situationen während der Flucht aussetzen und nicht selten unter schwierigen Verhältnissen in dem Aufnahmeland leben, sind nicht nur im Hinblick auf ihre psychische Verfassung, d.h. auf der Individualebene, von den »regulären« Migranten zu unterscheiden. Auf Grundlage einer Vielzahl rechtlicher Bestimmungen der Herkunfts- und Aufnahmeländer, variierender politischer Haltungen innerhalb des jeweiligen Aufnahmelandes und folglich eines sehr breiten Spektrums an unterschiedlichen Institutionen, die die Aufnahme koordinieren bzw. übernehmen, durchlaufen die meisten Geflüchteten einen von der »regulären« Migration stark abweichenden Einwanderungsprozess.

Phasen der Flucht

Berry, der mit der oben beschriebenen Akkulturationstheorie die Migrationsforschung nachhaltig prägte, hatte einige Jahre zuvor bereits ein Modell vorgelegt, welches die typischen Phasen einer Flucht beschreibt. Neben den sechs aufeinanderfolgenden Phasen postuliert Berry (1991) eine Reihe von typischen Ereignissen und Erfahrungen, die Geflüchtete und Asylsuchende während der Flucht durchlaufen.

Mit der Aufbruchsphase wird vor allem der Zeitraum beschrieben, der die größte Notlage des Geflüchteten markiert. Je nach Umständen und Möglichkeiten kann es sich um eine kürzere oder längere Phase handeln, die häufig von Kriegsgeschehen, wirtschaftlicher Not, Verfolgung, Inhaftierung, politischer Unterdrückung, direkter körperlicher Gewalt und/oder anderen existentiellen Bedrohungslagen gekennzeichnet ist. Die Länge und Schwere dieser Phase haben einen direkten Einfluss auf den späteren Akkulturationsprozess, auch weil die Entscheidung hinsichtlich eines potentiellen Aufnahmelandes, d.h. die Auseinandersetzung mit dem zukünftigen Leben im Exil, in dieser Zeit stattfindet.

Die Fluchtphase, die in ihrer Dauer ebenfalls stark variieren kann, geht meist mit weiteren traumatischen Erfahrungen, wie Ausbeutung, physischen und sexuellen Übergriffen, Verletzungen oder Tod und nicht zuletzt gefährlichen Reiserouten, einher. Eine zusätzliche Belastung in dieser Phase kann die Trennung von Familie bzw. die Abwesenheit von nahen sozialen Kontakten bedeuten.

Die erste Asylphase ist die Zeit der Unterbringung in Camps für Geflüchtete, meist nahe der Grenze zum Herkunftsland, die mit der Gefahr von Bombardierung, Inhaftierung oder Rückführung, aber auch mit häufig sehr widrigen Lebensumständen, wie mangelnder Hygiene, Wasser- und Nahrungsmangel, begrenzten bzw. nicht vorhandenen Rückzugsmöglichkeiten u.ä., einhergeht. Der überwiegende Anteil der aktuell Geflüchteten weltweit verbleibt in dieser Phase.

Ist das Zielland erreicht, folgt die Phase der Antragsstellung, womit das Warten auf die rechtliche Anerkennung beginnt. Diese Zeit, in der das Individuum auf institutioneller Ebene mit dem Fehlen von Entscheidungs- und Kontrollmöglichkeiten im Hinblick auf seine Zukunft konfrontiert wird, ist oft von Unsicherheit, sozialer Isolation, unklaren Aufenthaltsbestimmungen und zum Teil drohender Abschiebung geprägt.

Nach einer Entscheidung im Asylprozess – sofern diese keine Rückführung nach sich zieht – folgt die Phase der Niederlassung. Erst hier, im anerkannten Asylstatus, sind die notwendigen Grundlagen für den Prozess der Akkulturation geschaffen. Diese Phase wird, vergleichbar mit Erfahrungen anderer Migrant*innen, durch »klassische« Migrationsbarrieren, wie z.B. Erlernen der neuen Sprache, erlebter Diskriminierung, erschwerter Arbeitssuche oder Zugangsbarrieren zum Gesundheitssystem, charakterisiert.

Abschließend wird im Sinne der erfolgreichen Akkulturation die Adaptionsphase postuliert, in der Integrationsbemühungen der Geflüchteten und der Aufnahmegesellschaft ineinandergreifen. Berry (1991) betont, dass nicht alle diese Phase erreichen und im Vergleich zu den »regulären« Migranten die persönlichen Ressourcen zur erfolgreichen Bewältigung aufgrund der vorangegangenen Belastungen bei Geflüchteten oft schwächer ausgeprägt sind.

Sequentielle Traumatisierung

Das Konzept der sequentiellen Traumatisierung von Keilson (1979) gewinnt in den letzten Jahren vermehrt an Aufmerksamkeit. In einer Reihe von Untersuchungen, die auf der therapeutischen Arbeit mit in den Niederlanden verfolgten jüdischen Kriegswaisen basieren, postuliert Keilson drei Sequenzen des Traumaerlebens, die sich aus den Erfahrungen dieser Jugendlichen vor, während und nach der Verfolgung durch die Nationalsozialisten manifestierten. Im Kern seiner theoretischen Überlegungen erweitert Keilson das klassische, auf der Individualebene stattfindende Konzept der Traumatisierung um einen größeren sozialen und politischen Rahmen, der zum Bedingungsfeld des individuell erlebten Traumas erklärt wird. Eine weitere bedeutende Erkenntnis seiner langjährigen Forschung ist die Beschreibung der kumulativen Wirkung der erlebten Belastung in der jeweiligen Phase, wobei der letzten Sequenz – der Wiedereingliederungsphase nach dem Nationalsozialismus – die stärkste kumulative Wirkung des erlebten Traumas zugeschrieben wird. Genau diese Zeit, d.h. der Neuanfang und die Rückkehr zur Normalität, wurde von den erwachsenen Befragten Jahrzehnte später als die schwierigste Zeit beschrieben (Keilson, 1979).

In Anlehnung an Keilsons Idee der gesellschaftlichen Kontextualisierung eines jeden traumatischen Erlebnisses erweiterten Becker und Weyermann (2006) auf Grundlage ihrer Arbeit mit politisch Verfolgten in Chile das Modell der sequentiellen Traumatisierung um drei weitere Sequenzen.

Die erste Sequenz nach Becker und Weyermann beschreibt den Beginn des traumatischen Prozesses, das heißt die Vorbedingungen, wie etwa Krieg oder politische Verfolgung, wirtschaftliche und soziale Not. Die zweite Sequenz ist die Phase der Eskalation der Bedingungen vor Ort, die jedoch noch keine unmittelbare Bedrohung des Einzelnen bedeutet. Die dritte Sequenz ist die Phase der akuten Verfolgung, die durch extreme existentielle Erfahrungen, wie Verhaftung, Folter, Kriegsgeschehen oder Tod, gekennzeichnet ist. Die vierte Phase, auch Chronifizierungsphase genannt, beschreibt neben der anhaltenden akuten Bedrohung die kurzen Zeiten des Wartens zwischen den unmittelbaren Verfolgungs- bzw. Bedrohungssituationen. Die fünfte Sequenz definiert die Zeit des Übergangs nach der akuten Bedrohung. Die Phase ist durch kontextuelle Umbrüche und persönliche Krisen gekennzeichnet. Je länger diese Sequenz dauert, umso traumatischer wird sie erlebt. Die sechste und letzte Sequenz ist die Zeit nach der Verfolgung, in der der traumatische Prozess weiter andauert, auch wenn die eigentliche Bedrohung nicht mehr existiert. Ähnlich der dritten Sequenz von Keilson ist es die Phase der Wiedereingliederung sowohl auf individueller als auch gesamtgesellschaftlicher Ebene.

In einer weiterführenden Arbeit übertrug Becker (2006) das Sechs-Sequenzen-Konzept auf die Situation der Geflüchteten und entwickelte ein Verlaufsmodell der potentiell traumatischen Sequenzen im Kontext von Flucht und Zwangsmigration (Abb. 3).

Die einzelnen Phasen bzw. Sequenzen sind dem Konzept von Berry (1991) sehr ähnlich und markieren die einzelnen, zum Teil von außen geschaffenen, institutionellen Stationen, die die meisten Geflüchteten durchlaufen. Eine Besonderheit des Ansatzes von Becker stellt die vierte Sequenz dar, die Chronifizierung der Vorläufigkeit. Es ist die Zeit, in der über den Asylantrag entschieden wird und Unklarheit hinsichtlich der eigenen Zukunft vorherrscht. Ein Ankommen im Aufnahmeland ist strukturell und innerpsychisch kaum möglich, der Bruch mit der Heimat setzt jedoch bereits ein. Diese Phase, in der der Einzelne eines wesentlichen Aspekts der eigenen Identität, nämlich der kulturellen bzw. ethnischen Zugehörigkeit, beraubt und als Geflüchteter seitens der Aufnahmegesellschaft stigmatisiert wird, kann unter Umständen mehrere Jahre dauern.

Psychische Belastungen

Die oben vorgestellten Modelle verdeutlichen den Prozesscharakter von Flucht und Migration aus individueller und gesellschaftlicher Perspektive. Die verfügbaren Befunde zu psychischen Belastungen bei Geflüchteten in Deutschland und international weisen im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung auf ein deutlich erhöhtes Risiko für Posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) und andere psychische Störungen. Auch wenn verlässliche epidemiologische Daten fehlen, müssen wir davon ausgehen, dass mindestens 30-40 % der Geflüchteten klinisch relevante psychische Störungen aufweisen. In manchen Subgruppen mit besonders schwerwiegenden und langfristigen traumatischen Erfahrungen (z.B: Folteropfer, Kindersoldaten, Opfer sexualisierter Kriegsgewalt) dürfte die Häufigkeit psychischer Störungen deutlich höher sein (BAfF, 2015; Böttche et al. 2016).

Generell erleben Geflüchtete häufig lang andauernde, wiederholte und interpersonelle Traumatisierungen wie Krieg, Verfolgung und Folter (Johnson and Thompson 2008). Dazu kommen die Erfahrungen während der Flucht, in manchen Fällen über Wochen, Monate oder gar Jahre andauernd, welche mit weiteren traumatischen Ereignissen einhergehen können, aber auch mit Veränderungen, die sowohl kulturelle Werte als auch den sozioökonomischen Status und die sozialen Bezüge betreffen können (Assion et al. 2011).

Im Aufnahmeland erleben Geflüchtete häufig weitere Belastungssituationen, wie die Unsicherheit über den Aufenthalt und den Ausgang des Asylverfahrens. Zudem bietet das Leben in einer Erstaufnahmeeinrichtung bzw. einer Notunterkunft auf engstem Raum mit fehlenden Rückzugsmöglichkeiten und kaum vorhandenen Beschäftigungsangeboten unzureichende Bewältigungsmöglichkeiten, um angemessen mit Traumafolgen umzugehen (Steel et al. 2009). Betrachtet man Flucht als Prozess, der mit der Ankunft im Zielland nicht abgeschlossen ist, so spielen die Bedingungen und Erfahrungen im Aufnahmeland für den Verlauf psychischer Belastungen sowie für die Fähigkeiten zur Akkulturation eine wichtige Rolle. Die psychosoziale und therapeutische Betreuung kann dabei nur einen Teil leisten; bei der Verbesserung der Gegebenheiten und Regularien im Aufnahmeland (z.B. Unterbringung, Länge des Asylverfahrens, Arbeitserlaubnis) sind vor allem die Akteure auf politischer und Verwaltungsebene gefragt.

Unterscheidung zwischen Flucht und Migration

Ziel des Aufsatzes war es, theoretische Konzepte aus der Migrationsforschung heranzuziehen, um sich mit Migration und Flucht als Prozess auseinanderzusetzen und dessen Implikationen herauszuarbeiten. Zentraler Punkt ist die Betonung des Prozesscharakters der Migration bzw. der Flucht und dessen Bedeutung für die psychische Verfassung von Geflüchteten vor, während und nach der Flucht. Eine zu frühe Intervention oder eine pauschale Pathologisierung aller Geflüchteten als »Traumatisierte«, hinter der sich oft die Erwartung verbirgt, dass alle Geflüchteten psychische Probleme haben, ist in diesem Zusammenhang wenig sinnvoll.

Vor dem Hintergrund der teilweise sehr kontrovers geführten Migrations- bzw. Integrationsdebatten in den meisten Aufnahmeländern sollte die Unterscheidung zwischen »regulären« Migranten und Asylsuchenden stets mitgedacht werden. Aus der Theorie wissen wir, dass die strukturell vorgegebenen und individuell erlebten Etappen eines »klassischen« Migrationsprozesses keinesfalls mit den Phasen einer Flucht gleichzusetzen sind. Wir wissen, dass bei »regulären« Migranten der Prozess der Akkulturation mit der Ankunft im Aufnahmeland einsetzt, wohingegen Geflüchtete erst in einem anerkannten Status in der Lage sind, der politisch und medial häufig zu lautstark geforderten Forderung nach Integration nachzukommen.

An dieser Stelle sei noch einmal darauf verwiesen, dass das von Berry (1997) entwickelte und definierte Konzept der erfolgreichen Akkulturation (im Sinne der Integration bzw. Multikulturalismus) eine zweiseitige Auseinandersetzung – d.h. sowohl seitens der Migrant*innen bzw. Geflüchteten als auch vonseiten der Vertreter*innen der Mehrheitsgesellschaft – mit der neuen und unbekannten Kultur meint. Ebenfalls psychologisch bedeutsam ist in diesem Zusammenhang die unter Umständen über Monate und Jahre andauernde Phase des Wartens auf die Entscheidung über den Asylantrag, die Becker (2006) als „chronifizierte Vorläufigkeit“ beschreibt. Es ist naheliegend, dass sich in dieser Zeit die kumulative Wirkung eines erlebten Traumas mit schwerwiegenden Folgen für die psychische und physische Gesundheit des Betroffenen potenziert. Daher ist von großer Bedeutung, dass die aus der Forschung gewonnen Befunde und Erkenntnisse eine stärkere Berücksichtigung in der unmittelbaren Arbeit mit Geflüchteten erfahren – sowohl auf der Ebene der Versorgung als auch in der politischen und medialen Auseinandersetzung.

Literatur

Assion, H.; Bransi, A.; Koussemou, J. (2011): Migration und Posttraumatische Belastungsstörung. In: Seidler, G.H.; Freyberger, H.J.; Maercker, A. (Hrsg.): Handbuch der Psychotraumatologie. Stuttgart: Klett-Cotta, S. 528-536.

Becker, D. (2006): Die Erfindung des Traumas – Verflochtene Geschichten. Berlin: Edition Freitag.

Becker, D and Weyermann, B. (2006): Toolkit – Gender, Conflict Transformation and the Psychosocial Approach. Bern: Swiss Development Co-operation.

Berry, J.W. (1991): Refugee Adaption in Settlement Countries – An Overview with an Emphasis on Primary Prevention. In: Ahearn, F.L. and Athey, J.L. (eds.): Refugee children – theory, research, and services. The John Hopkins series in contemporary medicine and public health. Baltimore: John Hopkins University Press, S. 20-38.

Berry, J.W. (1997): Immigration, Acculturation, and Adaptation. Applied Psychology – An International Review, 46, S. 5-68.

Berry, J.W. (2005): Acculturation – Living successfully in two cultures (Special Issue: Conflict, negotiation, and mediation across cultures – highlights from the fourth biennial conference of the International Academy for Intercultural Research). International Journal of Intercultural Relations, 29(6), S. 697-712.

Böttche, M.; Heeke, C; Knaevelsrud, C. (2016): Sequenzielle Traumatisierungen, Traumafolgestörungen und psychotherapeutische Behandlungsansätze bei kriegstraumatisierten erwachsenen Flüchtlingen in Deutschland. Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz, 59, S. 621-626.

Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer/BafF (2015): Frühfeststellung und Versorgung traumatisierter Flüchtlinge – Konzepte und Modelle zur Umsetzung der EU-Richtlinien für besonders schutzbedürftige Asylsuchende. Verfügbar unter baff-zentren.org.

Faltermeier, T. (2001): Migration und Gesundheit – Fragen und Konzepte aus einer salutogenetischen und gesundheitspsychologischen Perspektive. In: Marschalck, P. und Wiedl, K.H. (Hrsg.): Migration und Krankheit. Osnabrück: Universitätsverlag Rasch, S. 93-113.

Gavranidou, M. und Abdallah-Steinkopff, B. (2007): Brauchen Migrantinnen und Migranten eine andere Psychotherapie? Psychotherapeutenjournal, 4, S. 353-361.

Johnson, H. and Thompson, A. (2008): The development and maintenance of post-traumatic stress dis-order (PTSD) in civilian adult survivors of war trauma and torture – A review. Clinical Psychology Review, 28, S. 36-47.

Keilson, H. (1979 [2005]). Sequentielle Traumatisierung bei Kindern – Untersuchung zum Schicksal jüdischer Kriegswaisen. Unveränderter Nachdruck der Ausgabe von 1979. Gießen: Psychosozial-Verlag.

Schrader, A.-C. (2010): Die Gesundheit spanischer Migranten in Deutschland – Effekte nach Migration aus interkultureller, stresspsychologischer und gesundheitspsychologischer Sicht. Dissertation; verfügbar unter https://repositorium.uni-osnabrueck.de/handle/urn:nbn:de:gbv:700-201005126250.

Schmitz, P.G. (2001). Akkulturation und Gesundheit. In: Marschalck, P. und Wiedl, K.H. (Hrsg.): Migration und Krankheit. Osnabrück: Universitätsverlag Rasch, S. 123-145.

Sluzki, C.E. (2001): Psychologische Phasen der Migration und ihre Auswirkungen. In: Hegemann, T. und Salman, R. (Hrsg.): Transkulturelle Psychiatrie. Bonn: Psychiatrie-Verlag, S. 101-115.

Steel, Z.; Chey, T.; Silove, D.; Marnane, C.; Bryant, R.A.; van Ommerenn, M. (2009): Association of torture and other potentially traumatic events with mental health outcomes among populations exposed to mass conflict and displacement – a systematic review and meta-analysis. The Journal of the American Medical Association, 302, S. 537-549.

United Nations High Commissioner for Refugees/UNHCR (2016): Global Trends – Forced Discplacement in 2015. Geneva.

Dr. rer. med Yuriy Nesterko ist Psychologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung für Med. Psychologie und Med. Soziologie, Universität Leipzig. Er forscht im Bereich Migration und Gesundheit.
PD Dr. P.H. Heide Glaesmer ist Psychologin und Psychologische Psychotherapeutin und stellvertretende Abteilungsleiterin der Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie, Universität Leipzig. Sie leitet die Arbeitsgruppe »Psychotraumatologie und Migrationsforschung«.

FifFKon16 – in.visible systems

FifFKon16 – in.visible systems

Jahrestagung des FifF, 25.-27. November 2016, Berlin

von Stefan Hügel

In einer digitalisierten Gesellschaft untergraben unsichtbare Systeme die individuelle Selbst- und die demokratische Mitbestimmung. Doch nicht nur das: Die Manipulation von Denken und Handeln ist zur treibenden Kraft der IT-Entwicklung geworden. Dies wurde in Berlin auf der Jahreskonferenz 2016 des Forums InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung (FIfF) deutlich.

Unsere digitale Umwelt ist frei von Öl, Staub und Müll. Wir erfahren und erleben sie durch glänzende Oberflächen, flüssige Animationen und ästhetische Bilderwelten. Wir werden mit sozialen Räumen und (freiem) Internet versorgt, unsere E-Mail-Boxen und Kalender werden für uns betrieben, unsere Daten bequem verwahrt, das Internet durchsuchbar gehalten, der Verkehr optimiert und unser Zahlungsverkehr abgewickelt. Nun bleiben wir fit, können schneller Taxis finden und Zimmer vermieten. Gesundheitssysteme, der ÖPNV und andere staatliche Aufgaben werden digitalisiert. All dies geschieht mit Hilfe größtenteils unsichtbarer Systeme.

Zweck von Informationstechnik ist immer auch Komplexitätsreduktion und -verschleierung. Die Zusammenhänge bleiben nicht nur unsichtbar, sondern sie werden ganz gezielt versteckt. Dies geschieht einerseits zur sinnvollen Komplexitätsreduktion, andererseits auch, um verdeckte Zwecke zu verfolgen. Die Möglichkeit, ein inzwischen durchdigitalisiertes Leben und die genutzte Infrastruktur mündig zu beurteilen oder gar zu gestalten, wird so zunehmend unmöglich gemacht.

Auf der Konferenz wurden unsichtbare Systeme in Beiträgen und Workshops behandelt und diskutiert. Eingeleitet ­wurde sie durch eine historische und philosophische Einführung in verborgene Technik.

Kriegführung im Cyberspace steht im Widerspruch zur IT-Sicherheit und macht sich doch deren Methoden zunutze. Um den Cyberkrieg führen zu können, werden Schwachstellen in IT-Systemen geheim gehalten oder im Verborgenen erzeugt. Autonome Waffen werden im Geheimen entwickelt, und ihre Algorithmen und Verfahren entscheiden eigenständig und unsichtbar für den Menschen über Leben und Tod.

Die Überwachung der Menschen durch Geheimdienste, Sicherheitsbehörden und private Akteure schreitet fort: Durch weltweite Kommunikationsüberwachung, durch Videoüberwachung des öffentlichen und privaten Raums und durch biometrische Verfahren zur weiteren Automatisierung und Erkennung. Technologien wie »Big Data« erweitern das Instrumentarium der Überwachung – auch hier sind die automatisierten Entscheidungen und Ergebnisse für die Nutzer*innen oft nicht mehr nachvollziehbar. Effektiver Datenschutz muss juristisch und technisch durchgesetzt und sichergestellt werden.

Weitere Themen der Konferenz waren Geheimdienste und die Defizite ihrer (parlamentarischen) Kontrolle; Informationsfreiheit, ihre Verhinderung durch Amtsträger*innen und der Versuch, sie wieder durchzusetzen; Techniknutzung und Algorithmen in sozialen Kontexten; und Ethik in Informatik und Wissenschaft. Mehrere Workshops ergänzten das Programm mit Themen wie Malware, globale Friedensinitiativen, Menschenrechte, politische Informatik und nachhaltige Mobilität.

Die Antwort des FIfF auf die zunehmende Bedrohung durch Cyberwarfare ist »Cyberpeace«. Dazu haben wir auf zwei Jahre Cyberpeace-Kampagne und ihre Forderungen zurückgeblickt.

Kooperationspartner des FIfF bei der Tagung waren das Zentrum für Technik und Gesellschaft (ZTG) der TU Berlin, die Fachgruppe Informatik und Ethik der Gesellschaft für Informatik (GI) und der Chaos Computer Club (CCC). Die Web-Seite mit weiteren Informationen ist unter 2016.fiffkon.de zu finden. Von dort sind auch die Aufzeichnungen der Vorträge verlinkt, die unter media.ccc.de/c/fiffkon16 abgerufen werden können. Das Konferenzthema wird auch Schwerpunkt in der FIfF-Kommunikation 1/2017 sein, die Ende März erscheint.

Die FIfF-Konferenz 2017 wird am 20.-22. Oktober 2017 in Jena stattfinden.

Stefan Hügel

EU Action and Global Justice

EU Action and Global Justice

Annual State of Peace Conference 2016, 23.-25. November 2016, Graz

von Reaktion

Im November fand an der Universität Graz die »State of Peace«-Konferenz 2016 zum Thema »EU Action and Global Justice« statt. Dabei diskutierten internationale Expertinnen und Experten die Möglichkeiten und Grenzen der Europäischen Union, die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen in ihrer Nachbarschaft zu beeinflussen. Die jährlichen »State of Peace«-Konferenzen zu Themen rund um internationale Konflikte und Lösungsstrategien werden seit über 30 Jahren vom Österreichischen Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung (ÖSFK) in Stadtschlaining veranstaltet, in diesem Jahr fand sie erstmals in Kooperation mit der Rechtswissenschaftlichen Fakultät an der Universität Graz statt.

Die Konferenz wurde mit einer Paneldiskussion zu den historischen Hintergründen und zur gegenwärtigen Rolle von Normen und Werten in der EU-Innen- und -Außenpolitik von Stefan Lehne (Carnegie Europe), Claudio Corradetti (Universität Rom) und Joshua Castellino (Middlesex University) eingeleitet. Das zweite Panel griff diesen Faden auf und diskutierte die Problematik anhand regionaler Beispiele, wie dem Verhältnis der EU zu Russland (Mikhail Antonov, Universität St. Petersburg), zur Türkei (Kerem Öktem, Universität Graz) und zu den Balkan-Staaten (Florian Bieber, Universität Graz). Das letzte Panel widmete sich einer kritischen Auseinandersetzung mit der strategischen Formulierung und Anwendung von Normen in der EU-Nachbarschaftspolitik (Andrea Warnecke, ÖSFK) unter besonderer Berücksichtigung der Auswirkungen solcher Ansätze auf marginalisierte Gruppen am Beispiel des Libanon (Tamirace Fakhoury, Lebanese American University) und auf staatliche soziale Sicherungssysteme in der MENA-Region (Rana Jawad, Bath University).

Sämtliche Panels unterstrichen das gespannte Verhältnis zwischen idealistischen und pragmatischen Konzeptionen des Normtransfers sowie die Problematik widerstreitender Wertvorstellungen staatlicher und nicht-staatlicher Akteure. Ein weiteres sich durchziehendes Thema bildeten die jüngsten Auswirkungen geostrategischer und innenpolitischer Interessen verschiedener EU-Staaten auf die (Um-) Gestaltung der EU als werte- und normengeleiteter Akteur.

Bei der öffentlichen Podiumsdiskussion im Palais Kottulinsky diskutierte Stefan Lehne mit Hubert Isak (Universität Graz) und Benedikt Harzl (Johns Hopkins University).

Die Konferenz wurde im Rahmen des Conflict, Peace and Democracy Clusters veranstaltet. Zum Cluster gehören neben dem ÖSFK und der juristischen Fakultät der Universität Graz auch das Demokratiezentrum Wien und das Institut für Konfliktforschung (Wien).

Eine ausführliche Dokumentation der Konferenz in englischer Sprache ist auf der Website des ÖSFK (aspr.ac.at) oder über Dr. Andrea Warnecke
(warnecke@aspr.ac.at) erhältlich.

Friedensforschung und (De)Kolonialität

Friedensforschung und (De)Kolonialität

Workshop des Arbeitskreises Herrschaftskritische Friedens- und Konfliktforschung innerhalb der AFK, 7.-9. Dezember 2016, Wien

von Mechthild Exo

Anfang Dezember 2016 fand der Workshop »Friedensforschung und (De)Kolonialität« statt, organisiert vom noch jungen Arbeitskreis Herrschaftskritische Friedens- und Konfliktforschung innerhalb der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung (AFK). Bereits der Ort des Workshops war mit zwei kleinen Besonderheiten verbunden: Wir waren in Wien und gleichzeitig an der Universität Klagenfurt, von der aus dieser Workshop in Kooperation mit der Goethe-Universität Frankfurt am Main organisiert wurde. Claudia Brunner vom Zentrum für Friedensforschung und Friedenspädagogik der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, die uns gemeinsam mit Viktorija Ratkovi? als Organisatorinnenteam begrüßte, erklärte zu Beginn diese Besonderheit der Klagenfurter Uni, die Räume in Wien ihr eigen nennt. Erstmalig hat zudem die Deutsche Stiftung Friedensforschung (DSF) mit diesem Workshop ein Projekt finanziell gefördert, das nicht in Deutschland, sondern in Österreich durchgeführt wurde.

Als wir zwei Tage später den Workshop beenden, ist auf großen Plakaten Inspirierendes und Nachdenkliches gesammelt: „Friedensforschung ist ein guter Ort, um von hier aus intensiver an kognitiver und materieller Dekolonialisierung zu arbeiten – aber realistisch bleiben“ versus „utopische Ziele als befreiende, dekolonialisierende Prozesse JETZT verwirklichen“; „Dekolonialisierung bedeutet … explizites Ein- und Auftreten für Frieden und Gerechtigkeit“ und „Dekolonialisierung ist keine Metapher: Unordnungen & Umbrüche sind radikal … – aushalten?!“. Es werden auch offene Fragen festgehalten: „Unter welchen Bedingungen verlieren de-/postkoloniale Ansätze ihr emanzipatorisches Ziel?“, „Dekolonialität ? Frieden ? Gerechtigkeit – Konflikte benennen – zuspitzen?“, „Wissenschaftliche Praxis kaputthandeln – hä? – JAAA!“.

Vorausgegangen waren zweieinhalb Tage intensiver gemeinsamer Arbeit und bereits vor Beginn die Ausarbeitung von elf Aufsätzen. Diese Aufsätze wurden in einem eher selten praktizierten Format nicht von den Autor*innen selbst, sondern von einer anderen Person vorgestellt und gemeinsam ausführlich kommentiert und diskutiert. Das war für die meisten neu. Eine noch aktivere Beteiligung als gewöhnlich war von allen Teilnehmenden gefordert, und es zeigte sich, dass wir schnell in intensive Diskussionen kamen, angeregt durch die vorangegangene Lektüre der Aufsätze.

Am Anfang stand eine Auseinandersetzung um die Frage, ob epistemische Gewalt nicht besser als epistemische Macht bezeichnet werden sollte. Die tatsächliche Gewaltform, die durch Episteme wirksam wird und sich besonders deutlich in den kolonialen Wurzeln und Verwicklungen der eurozentrischen Wissensform zeigt, die als die universell gültige Wissenschaft verbreitet Anerkennung findet – angefangen mit der historischen Kategorisierung der Bewohner*innen der Kolonien als Nicht-Menschen – wurde so gemeinsam erinnert. Weitere Grundbegriffe dekolonialer Theorie standen im Fokus, etwa mit der Frage, wann es sinnvoll ist, von Okzidentalismus und wann von Orientalismus zu sprechen. Ein anderes Beispiel war die Verdeutlichung des Denkens in bestimmten Temporalitäten, die mit der globalen Struktur der Kolonialität und ihrer spezifischen Rationalität der Moderne verbunden sind und alternative Zeitlichkeiten unsichtbar machen.

Diese gemeinsame Vertiefung des theoretischen Verständnisses erfolgte nicht in einer losgelösten Abstraktion, sondern immer wieder angebunden an konkrete Anwendungen. Das reichte von der dekolonialen Reflexion der Praxis von Asylentscheidungen und von Zeugenvernehmungen für den Internationalen Strafgerichtshof bis zur dekolonialen Differenzierung des Opferbegriffs in Prozessen der Transitional Justice. Für die Veränderung von Präsentationsformen wurden hilfreiche Brückenschläge zu künstlerischer Forschung aufgezeigt. Die Gestaltung von Ausstellungsformaten, die mehreren Perspektiven, einschließlich Stimmen aus dem alltäglichen Leben in Kriegsgebieten, partizipativ Raum verschaffen, wurde nicht nur theoretisch reflektiert; die betreffende Ausstellung zum Jemen war während der Workshoptage aufgebaut und konnte in den freien Zeiten besucht werden. Besonders spannend war es, im Rahmen des Workshops auch an einer postkolonialen Führung durch das Heeresgeschichtliche Museum in Wien teilnehmen zu können. So konnten direkte Vergleiche zur unterschiedlichen Präsentation bzw. Produktion von Wissen in beiden Ausstellungen gezogen werden.

Eine andere Ebene der Anwendung drückte sich in der Frage aus, ob eine Dekolonialisierung innerhalb der bestehenden akademischen Institutionen/Universitäten überhaupt und, wenn ja, wie möglich ist, oder ob es neue Orte für dekoloniale Forschung und Bildung braucht, die nach anderen Kriterien und in andersförmigen Strukturen organisiert werden. Diese Frage begleitete uns mehr oder weniger durch den gesamten Workshop sehr intensiv. Die Forderung unter anderem von Walter Mignolo nach dekolonialem Delinking (Abkoppelung) wurde dementsprechend unterschiedlich beantwortet: zum einen – Gayatri Spivaks Kritik der Hochschule als „colonial teaching machine“ aufgreifend – bezüglich der Möglichkeiten und Probleme einer „decolonial teaching machine“, die Risse in Institutionen treibt, in die wir eingebettet sind; zum anderen als Notwendigkeit einer Herauslösung aus dem beständigen Druck der Anpassung und Rechtfertigung gegenüber einem Karrieresystem, dessen Grundlagen als kolonial, patriarchal und auf Konkurrenz, Leistung und Marktverwertung orientiert abgelehnt werden. Ein Teilnehmer formulierte in seinem Paper sehr treffend das, was die Workshopteilnehmer*innen während der zwei Tage am stärksten beunruhigte: „Dekoloniale Theoretisierungen, welche dem Ziel verschrieben sind, emanzipatorisches/befreienden Wissen zu produzieren und somit einen Beitrag zur epistemischen Dekolonialisierung liefern, […] müssen sich den Fragen stellen: Wer profitiert von den kolonialen Theoretisierungen? In welche Verwertungslogiken ist diese Wissensproduktion eingebettet? Wie trägt das eigene Handeln zur Reproduktion kolonialistischer Verhältnisse bei?“ (Johannes Korak) Wie verhindern wir, dass die radikale Herrschaftskritik dekolonialer Forschung absorbiert und dekoloniale Theorie in harmloser Form integriert wird? Zum Ende des zweiten Tages ist somit auch niemand irritiert, als Bezug nehmend auf Richard Jackson und Herman Schmid Argumente für eine „Konflikte schärfende Friedensforschung“ vorgetragen werden. Das Managen von Konflikten für den Erhalt bzw. die Wiederherstellung der gegenwärtigen Ordnung(-svorstellung) wird als Problem verstanden, die Aufgabe von wissenschaftlicher Arbeit im Erhalt der Menschheit und Menschlichkeit gesehen, damit als Teil des Widerstandes, hin zur radikalen Veränderung des bestehenden Systems und zu einer neuen Gesellschaftlichkeit. Nicht nur für dieses Argument bekam die Diskussion (der Überwindung) struktureller und kultureller Gewalt in diesem Workshop viel Beachtung.

Während die Etablierung anderer Wissensformen und Forschungsmethodologien bereits zur Praxis zahlreicher globaler anti-kolonialer, indigener und feministischer Bewegungen gehört, sind wir in Europa bzw. in Deutschland und Österreich gerade dabei, die noch vereinzelten, aber bereits auf hohem Niveau bestehenden Suchbewegungen der dekolonialen Hinterfragung und Veränderung wissenschaftlicher Praxis in Verbindung miteinander zu bringen und deren Vertreter*innen in handlungsfähigen Netzwerken zu verbünden. Für das Gebiet der Friedens- und Konfliktforschung war der Workshop in Wien dafür ein gut fundierter Anfang. Dieses Ziel der Vernetzung und gestärkten Handlungsfähigkeit war neben der theoretischen und methodologischen Vertiefung sehr präsent und wurde in der abschließenden Phase des Workshops aktiv bearbeitet.

Mechthild Exo

Friedenskonzepte im Wandel

Friedenskonzepte im Wandel

Analyse der Vergabe des Friedensnobelpreises von 1901 bis 2015

von Susanne Reitmair-Juárez

In jüngerer Zeit wird häufig kriti­siert, die Entscheidungen des Friedensnobelkomitees hätten mit dem Vermächtnis von Alfred Nobel wenig zu tun und es würden zu oft falsche Preisträgerentscheidungen getroffen. Selten wird die Logik hinter der Entscheidung für bestimmte Preisträger*innen beleuchtet. Dieser Beitrag stellt erste Ergebnisse eines Forschungsprojektes am Demokratiezentrum Wien vor, das untersucht, welche Friedenskonzepte bei der Vergabe des Friedensnobelpreises zugrunde gelegt wurden und wie diese sich im Laufe der Jahre 1901-2015 verändert bzw. ausgeweitet haben. Um das herauszufinden, wurden die Reden des norwegischen Nobelkomitees bei der Vergabe des Preises sowie die Dankesreden der Preisträger*innen analysiert.

In seinem Testament stellte der 1895 verstorbene Alfred Nobel sein gesamtes Vermögen für jährlich zu vergebende Preise zur Verfügung, darunter ein Friedenspreis, der an die Person gehen solle, die im vergangenen Jahr die meiste oder die beste Arbeit für die Verbrüderung der Völker und die Abschaffung oder Verminderung stehender Heere sowie für die Abhaltung und Förderung von Friedenskongressen geleistet hat“. In der praktischen Umsetzung arbeitete das Nobelkomitee bestimmte Friedenskonzepte heraus, die es für preiswürdig erachtete.

Frieden durch Recht

Seit 1901, der ersten Verleihung des Friedensnobelpreises, steht die Überzeugung des Nobelkomitees im Vordergrund, Frieden könne durch eine fortschreitende Verrechtlichung der internationalen Beziehungen erreicht werden. Dadurch soll das Handeln der Staaten gegenüber anderen Staaten beschränkt und allgemein gültigen Regeln unterworfen werden. Krieg soll verboten und bei Verstoß bestraft werden. Das »Recht« zu militärischen Aktionen soll nicht mehr bei einzelnen Staaten, sondern bei einer internationalen Organisation liegen (wie es 1945 in der Charta der Vereinten Nationen festgeschrieben wurde – mit Ausnahme des Rechts auf Selbstverteidigung im Falle eines Angriffs, das den Staaten weiterhin zusteht). Schiedsgerichte, völkerrechtliche Verträge und internationale Organisationen bieten in dieser Konzeption den notwendigen internationalen Rahmen für weltweiten Frieden. Auch wachsende Interdependenz durch intensive Handelsbeziehungen und Verträge in immer mehr Politikbereichen ist Teil dieses Friedensverständnisses. Als vorläufig letzte Vertreterin dieses Konzepts wurde 2012 die Europäische Union mit dem Friedensnobelpreis geehrt. Insgesamt gab es im Untersuchungszeitraum 41 Auszeichnungen für Bemühungen, Frieden durch Recht zu schaffen oder zu stärken.

Humanitäre Hilfe und Flüchtlingsarbeit

Humanitäre Hilfe, vor allem die Arbeit mit Flüchtlingen, steht bei 16 Preisträger*innen im Zentrum der Aktivitäten. Ziel ist es, Kriege »menschlicher« zu machen, sie Regeln zu unterwerfen und das Leid der Menschen (sowohl der Soldat*innen als auch der Zivilist*innen) zu lindern. Dies ist das einzige Friedenskonzept, für das Akteure mehrfach ausgezeichnet wurden, das Internationale Komitee vom Roten Kreuz gar drei Mal (1917, 1944, 1963).

Wichtige friedenschaffende ­Akteure kommen aus der nicht-staatlichen, zivilgesellschaftlichen ebenso wie aus der supranationalen Sphäre und üben häufig deutliche Kritik an Staaten, die ihre politischen und rechtlichen Verpflichtungen nicht genügend wahrnehmen.

Abrüstung

In der Geschichte des Friedensnobelpreises wurden 22 Auszeichnungen für Verdienste um die Abrüstung vergeben. Nach dem Zweiten Weltkrieg stand atomare Abrüstung im Vordergrund. Obwohl im Bereich Abrüstung eindeutig die Staaten die dominanten Akteure sind – schließlich müssen sie ihre Waffenarsenale reduzieren –, wurden vorwiegend nichtstaatlich aktive Akteure ausgezeichnet.

Wie beim Konzept »Frieden durch Recht« ging es dem Nobelkomitee auch hier darum, das Sicherheitsdilemma der internationalen Beziehungen abzu­schwächen: Rüstet ein Staat auf, so fühlen sich andere Staaten bedroht und rüsten nach, dadurch fühlt sich wiederum der erste Staat bedroht; je stärker die Staaten hochgerüstet sind, desto wahrscheinlicher wird der Krieg.

Frieden durch Entwicklung

Im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird vom Nobelkomitee auch die gleiche und gleichberechtigte sozio­ökonomische Entwicklung aller Staaten und aller Menschen als Weg zum Frieden definiert. Nur wenn ein gewisses Maß an Wohlstand und Gleichheit erreicht würde, könne es Frieden geben. Der Gerechtigkeitsbegriff wird als Kategorie eingeführt. Die Preisträger*innen lenken die Aufmerksamkeit weg vom negativen Friedensbegriff hin zur Qualität des Friedens. Gerechtigkeit bzw. gleiche Entwicklungschancen oder gleicher Wohlstand müssten auf beiden Ebenen erreicht werden: sowohl innerhalb (gesellschaftliche Ebene) als auch zwischen den Staaten (internationale Ebene). Damit wird die »Black Box« Staat geöffnet und gesellschaftliche Strukturen innerhalb einzelner Staaten kommen in den Blick. Durch die Konzeptualisierung von Ungleichheit als Keim von Konflikt wird auch der Gegenbegriff zum Frieden ausgeweitet: vom Krieg hin zum Konflikt, und zwar Konflikt auf allen Ebenen sozialer Organisation.

Staaten und internationale Organisationen sind weiterhin wichtige Akteure, sie haben bei der Entwicklung und Herstellung von Gerechtigkeit zentrale Handlungsmöglichkeiten und -macht. Friedensrelevant ist in diesem Feld aber nicht die Außen-, sondern die Innenpolitik, konkreter die Sozial-, Wirtschafts-, Bildungs- und Verteilungspolitik. Gleichzeitig rücken die Juror*innen bei »Frieden durch Entwicklung« die Eigenverantwortung des Individuums bzw. der Zivilgesellschaft in den Blick: Jede*r könne zu einem gesunden, gerechten (und damit friedlichen) Zusammenleben beitragen.

Beilegung regionaler Konflikte

Mehrmals wurde die Bearbeitung oder Beilegung regional begrenzter Konflikte oder Kriege mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet, z.B. die Klärung des deutsch-französischen Verhältnisses (Preise 1925-1927), Nordirland (1976, 1998), Ost-Timor (1996), Südafrika (1960, 1984, 1993), Nahost (1950, 1978, 1994), Vietnam (1973), Zentral­amerika (1987).

Eine Gemeinsamkeit dieser Friedensnobelpreise ist, dass konkrete gewaltsame Konflikte als Hindernis für eine insgesamt friedliche Welt verstanden werden – einerseits, weil ein Konflikt sich geografisch ausdehnen könne, andererseits, weil Frieden unteilbar sei: Niemand könne tatsächlich in Frieden leben, wenn es irgendwo auf der Welt Krieg oder Gewalt gebe (so Lutuli 1960, al-Sadat 1978). Einige Konflikte standen im Laufe der Zeit mehrmals im Fokus, teils um explizit einen bestehenden und vielleicht noch fragilen Friedensprozesses zu fördern (drei Friedensnobelpreise zu Südafrika, drei zum Nahost-Konflikt, zwei zu Nord­irland). Darüber hinaus ist eine wichtige Gemeinsamkeit, dass verschiedene Ebenen oder Rollen in einem Konflikt ausgezeichnet und somit ins Zentrum der Weltöffentlichkeit gerückt wurden: die politische wie die zivilgesellschaftliche. Es braucht einerseits eine politische Einigung, formelle Friedensprozesse, Abkommen und politische Strukturen, um eine friedliche Konfliktbeilegung zu ermöglichen (z.B. Mandela/de Klerk in Südafrika, Hume/Trimble in Nordirland, Chamberlain/Dawes und Stresemann/Briand für die deutsch-französische Aussöhnung, Ramos-Horta in Ost-Timor), andererseits kann eine Top-down-Lösung nicht ausreichen, besonders, wenn es um innerstaatliche Konflikte geht. Die Überzeugung von Individuen oder sozialen Bewegungen, dass ein Konflikt gewaltfrei bearbeitet werden muss, ist zentral für eine nachhaltige Konfliktlösung (Lutuli/Tutu in Südafrika, Buisson/Quidde für die deutsch-französische Aussöhnung, Williams/Corrigan für Nordirland, Belo in Ost-Timor).

In den Reden von Nobelkomitee und Preisträger*innen wird der Friedensbegriff inhaltlich qualifiziert: Es müssten die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Strukturen im Sinne von mehr Gerechtigkeit, Gleichheit und Mitbestimmung verbessert werden. Dies wird am besten in demokratischen Staaten erreicht. Frieden braucht demnach Demokratie, um einen gewaltfreien Interessens­ausgleich gestalten und institutionalisieren zu können.

Kodifizierung der Menschen­rechte und Demokratisierung

Ein weiteres Friedenskonzept sieht die Formulierung, Kodifizierung und Umsetzung der Menschenrechte in Kombination mit Demokratisierungsprozessen als wichtigsten Weg zum Frieden. Dafür wurden 29 Preise vergeben. Es wurden zwei Teilmodelle unterschieden, die auf unterschiedlichen (politischen) Ebenen ansetzen: einerseits die Kodifizierung und Einforderung der Menschenrechte auf einer allgemeinen (internationalen) Ebene (so wurde Cassin 1968 für seine Rolle bei der Formulierung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ausgezeichnet); andererseits wurden einige Preisträger*innen für ihr Engagement für die tatsächliche Umsetzung und Einhaltung dieser Rechte in konkreten politischen Systemen ausgezeichnet (z.B. Liu Xiaobo 2010). Ebenso wurden mehrere Dissident*innen sozialistischer oder diktatorischer Regime ausgezeichnet. Gemeinsam ist den Preisträger*innen das Prinzip der Gewaltlosigkeit.

1948 wurde die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet; schon 1951 wird Leon Jouhaux für seinen Einsatz für Menschenrechte mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Dieses Friedenskonzept nennt mehrere Akteure als wesentlich zur Erreichung des Friedens: Individuen und die (organisierte) Zivilgesellschaft sollen ihre eigenen Rechte selbstbewusst (aber gewaltfrei) einfordern. Ein wesentlicher Handlungsauftrag richtet sich direkt an die Staaten. Diese müssen die Menschenrechte garantieren und selbst einhalten, Verstöße dagegen abstellen. Als Korrektiv von staatlichem Handeln oder Unterstützung dafür dienen wiederum internationale Strukturen (z.B. Gerichtshöfe) und völkerrechtliche Abkommen. Frieden baut nun gewissermaßen auf der Abwesenheit direkter Gewalt auf und versucht, die Qualität des menschlichen Zusammenlebens in einer Gesellschaft zu verbessern: Die Menschenrechte begrenzen das staatliche Handeln einerseits und unterwerfen es andererseits gewissen Pflichten. Nachdem in anderen Friedenskonzepten die Begrenzung souveränen staatlichen Handelns nach außen – gegenüber anderen Staaten – im Zentrum stand, ist nun die Begrenzung staatlichen Handelns (und somit der nationalen Souveränität) nach innen zentral. Damit verschiebt sich die relevante Handlungsebene vom Staat hin zum Individuum. Ziel allen politischen Handelns sollen persönliche Freiheit, politische Mitbestimmung und das Wohlergehen der Menschen sein.

Es ist auffallend, dass Preisträger*innen, die sich für die Umsetzung von Menschenrechten in konkreten politischen Systemen einsetzen, großteils nicht aus Europa oder Nordamerika kommen, wohingegen bei allen anderen Friedenskonzepten sowie generell in der Geschichte des Friedensnobelpreises diese beiden Regionen stark dominieren.

Klimawandel und
Umweltschutz

Die jüngste Weiterentwicklung des Friedenskonzepts seitens des Nobelkomitees ist zweifelsfrei die Berücksichtigung der ökologischen Dimension. 2004 wird Wangari Muta Maathai aus Kenia für die Gründung des Green Belt Movement ausgezeichnet. 2007 erhalten Al Gore und das International Panel on Climate Change (IPCC) den Preis für ihren Kampf gegen den Klimawandel bzw. für entsprechende Bewusstseinsbildung in Politik und Gesellschaft. Alle drei Preisträger*innen verknüpfen ganz bewusst die Ökologie und die Umwelt mit Konflikt­ursachen und dem Friedensbegriff. Das Nobelkomitee erklärte ausdrücklich, dass es seinen ohnehin schon breiten Friedensbegriff nochmals erweitert habe (Rede des Komitees 2004). Es wird eine breite Palette an Akteuren benannt, die für Frieden arbeiten müssen: Die Individuen und Gesellschaften müssten sich der Auswirkungen des Klimawandels (und des eigenen Beitrags dazu) bewusst werden und ihre eigenen Handlungen überdenken; die Staaten müssten politische Maßnahmen ergreifen, sowohl innerstaatlich als auch auf internationaler Ebene. Jede*r habe Möglichkeiten, einen Beitrag zum Frieden zu leisten. Auch hier ist Frieden eng mit dem Begriff der Gerechtigkeit verbunden.

Entwicklungslinien

Aus der Analyse der Friedenskonzepte lassen sich einige Entwicklungslinien herausarbeiten, die im Folgenden kurz umrissen werden. Eine interessante Entwicklung ist die Positionierung der Preisträger*innen selbst, sowohl in geografischer und sozioökonomischer wie in politischer Hinsicht. Im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden verstärkt Personen und Organisationen aus Regionen, Religionen und Kulturen außerhalb Europas und Nordamerikas ausgezeichnet (z.B. Dalai Lama, Aung San Suu Kyi, Shirin Ebadi, Mohammad ElBaradei). Auch die gesellschaftliche und sozioökonomische Stellung der Preisträger*innen hat sich verbreitert und ist nicht mehr auf Eliten beschränkt.

Eine Öffnung ist auch hinsichtlich der Art der Konflikte oder Problematiken zu verzeichnen, die bei der Auszeichnung berücksichtigt wurden: Während in der Frühzeit des Preises die Verhinderung eines weiteren (europäischen) Krieges bzw. die Bearbeitung der »Erbfeindschaft« zwischen den europäischen Großmächten Frankreich und Deutschland im Zentrum stand, weitet sich das Themen­spektrum in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus, bis hin zu Entwicklungsfragen, Kinder- und Frauenrechten und Umweltschutz.

Selbst bei den Akteuren, die als Friedensstifter angesehen werden, lassen sich qualitative Veränderungen beobachten. Zwar bleibt der Staat zentraler Akteur für die Frage von Krieg und Frieden, es hat sich aber die relevante Handlungsebene verschoben, vom Handeln zwischen Staaten zum staatlichen Handeln gegenüber Bürger*innen. Der Wirkungsbereich der nationalen Souveränität wird damit wie oben erläutert durch die Menschenrechte nach innen und außen eingeschränkt.

Von Beginn an sollte durch die Verleihung eines Nobelpreises die internationale/supranationale Ebene als Koordinatorin, Kontrolleurin und Helferin gestärkt werden, etwa durch Würdigung von Schlichtungsverträgen, internatio­nalen Gerichten und Verträgen. Das Verständnis der Rolle der supranationalen Akteure hat sich nicht wesentlich verändert: Sie sollen einen rechtlichen Rahmen für staatliches Handeln bieten und dieses dadurch begrenzen.

Gewandelt hat sich hingegen das Selbstverständnis der Zivilgesellschaft: In den ersten Jahrzehnten wird die Zivilgesellschaft häufig als eine Art innerstaatliches Korrektiv der eigentlichen Akteure, also der Staaten, gesehen, und diese Rolle kommt ihnen bis heute zu. Allerdings hat sich ihre Position gegenüber dem Staat verschoben: Regierungen werden nicht mehr um etwas gebeten, sondern es werden bestehende Rechte eingefordert. Besonders die arabischen und afrikanischen Preisträger*innen im 21. Jahrhundert sagen sehr selbstbewusst, dass sie nicht um Frieden, um Hilfe oder Entwicklung bitten, sondern dass sie ihre Menschenrechte einfordern – von ihren Regierungen (z.B. Dankesrede von Tawakkol Karman 2011).

Auf verschiedenen Ebenen lassen sich also Veränderungen im Friedensverständnis, in der Konzeptualisierung einzelner Akteure und in den für Frieden relevanten Themenbereichen feststellen, meist im Sinne einer Öffnung. Allerdings verlaufen diese Entwicklungsprozesse weder linear noch chronologisch oder exklusiv. Seit dem Zweiten Weltkrieg wird mal das eine, mal das andere Konzept mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.

Weiteres Forschungsvorhaben

Im weiteren Verlauf des Forschungsprojekts werden zu den jeweiligen Friedenskonzepten vertiefende Fallstudien zu einzelnen Friedensnobelpreisträger*innen erarbeitet. Darüber hinaus erfolgt eine geopolitische und friedenswissenschaft­liche Kontextualisierung dieser Fallstudien, die Gender-Frage wird beleuchtet (es gibt nur 16 Frauen unter 129 Preisträger*innen), und postkoloniale Theorien werden berücksichtigt.

Susanne Reitmair-Juárez M.A., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Demokratiezentrum Wien. Ihr Studium der Politikwissenschaft absolvierte sie an der Universität Salzburg, einen Forschungsaufenthalt in Guatemala. Schwerpunkte ihrer Arbeit sind die Themenfelder Politische Bildung, Instrumente direkter und partizipativer Demokratie, Migration sowie Friedensforschung.