SIPRI

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Statistiken für die Friedensforschung

von Kai Kleinwächter

Das schwedische Friedensforschungsinstitut SIPRI macht regelmäßig Schlagzeilen, z.B. dann, wenn es neue Statistiken zu Rüstungsausgaben, zu Rüstungsexporten oder zum weltweiten Stand der Atombewaffnung zur Verfügung stellt. Auf die Datenbanken und Statistiken des Instituts greifen aber nicht nur die Medien, sondern vor allem auch andere Friedensforschungsinstitute und -projekte zu. Dafür geben u.a. die Unabhängigkeit des Instituts und die Nachvollziehbarkeit und Verlässlichkeit seiner Daten den Ausschlag. Just diese Unabhängigkeit gerät aufgrund von Veränderungen im SIPRI-Budget jetzt in Gefahr.

Auf Initiative der späteren Friedensnobelpreisträgerin und Ministerin für Abrüstungsfragen Alva Myrdal gründete die schwedische Regierung 1966 das Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI). Unter seinem ersten Präsidenten, dem Soziologen Gunnar Myrdal, entwickelte sich das Institut zu einer weltweit renommierten Einrichtung im Bereich der Friedens- und Konfliktforschung. Sein Schwerpunkt war und ist die „Erforschung der Voraussetzungen für dauerhaften Frieden sowie die friedliche Lösung von Konflikten“.1 Dabei folgt SIPRI dem Anspruch, nicht nur die theoretischen Ursachen von Konflikten zu beleuchten, sondern auch anwendungsorientierte Politikberatung auf der Basis nachprüfbarer Statistiken durchzuführen.2

Datenbanken zur internationalen Rüstung

Weltweite Bekanntheit erlangte SIPRI für seine quantitative Erfassung des globalen Militärsektors. Vor allem die Statistiken zu Militärausgaben, Nuklearwaffen sowie Waffenhandel und -produktion gelten als einmalig. Eine direkte politische Bedeutung erlangten diese in den 1970er/1980er Jahren: Die Abrüstungsverhandlungen im Rahmen des KSZE-Prozesses bezogen sich wesentlich auf Daten des neutralen Institutes.3

Die Statistiken beruhen auf offiziellen Angaben von Regierungen und internationalen zwischenstaatlichen Organisationen, wie der Vereinten Nationen. Sie haben dadurch eindeutige und bewertbare Datenquellen. Bei nicht genau geklärten Informationen publiziert SIPRI keine Angaben; ein prägnantes Beispiel sind statistische Daten zu Nordkorea. Hier unterscheidet sich SIPRI wohltuend von anderen »Forschungsinstituten«, wie beispielsweise dem International Institute for Strategic Studies (IISS), die nicht überprüfbare Daten aus »informierten Kreisen« verwenden. Die jedes Frühjahr erfolgende Aktualisierung der SIPRI-Datenbanken wird durch profunde Analysen und Einschätzungen ergänzt.

Militärausgaben

Die SIPRI-Angaben umfassen den gesamten Militärsektor. Auch Forschungsausgaben, Sozialprogramme für Mitarbeiter des Militärs oder militärische Hilfsprogramme für das Ausland werden mitgezählt. Viele Staaten verbuchen solche Ausgaben nicht im offiziellen Militärbudget. Entsprechend liegen die Angaben von SIPRI oft über den offiziellen Angaben der Staaten. So betrug der deutsche Militäretat 2015 nach offiziellen Angaben der Bundesregierung knapp unter 33 Mrd. Euro,4 SIPRI hingegen wies ein Budget von ca. 35,5 Mrd. Euro aus.

Mitarbeiter von SIPRI rechnen die in nationalen Währungen angegebenen Militärausgaben in US-Dollar und in konstante Realpreise um. Durch diese »Bereinigung« von Wechselkursen und Inflationsraten erhöht sich die Vergleichbarkeit auf Länderebene deutlich.5 Zusätzlich setzen die Forscher die Militärbudgets ins Verhältnis zu den sozio-ökonomischen Größen Bruttoinlandsprodukt, Bevölkerung und Regierungsausgaben. Die innere Militarisierung der Gesellschaft bzw. die Bedeutung des Militärs für diese wird so deutlicher erkennbar.

Waffenhandel und -produktion

Die Statistiken zu Waffenhandel und -produktion umfassen sowohl beteiligte Länder und monetäre Angaben als auch die Spezifikation der Waffen nach NATO-Standards. Dabei konzentriert sich SIPRI auf Großkampfwaffensysteme. Wo möglich erfolgt auch die Nennung der Rüstungsfirmen. Daraus leitet SIPRI eine Liste der »Top 100« der internationalen Rüstungskonzerne ab.

Verfügbarkeit der Daten

Durch die öffentlichen Geldgeber ist SIPRI (bisher) weniger unter Druck als andere Einrichtungen, um jeden Preis Aufträge zu erhalten oder Studien zu verkaufen. Daher sind die wissenschaftlichen Erkenntnisse von SIPRI der Öffentlichkeit fast vollständig zugänglich. Auch eine Wiedergabe, einschließlich der Erstellung eigener Grafiken, unterliegt kaum Einschränkungen.6 Diese Politik der offenen Information trug wesentlich dazu bei, dass SIPRI eine der Hauptquellen im Bereich der Friedens- und Militärforschung wurde. So übernimmt beispielsweise das Bonn International Center for Conversion (BICC) für seinen »Globalen Militarisierungsindex« wesentliche Daten aus der SIPRI-Statistik.

Grenzen der Datenlage

Auch die von SIPRI erhobenen und zur Verfügung gestellten Daten unterliegen allerdings Einschränkungen:

1. Historische Militärausgaben

Alle Statistiken reichen bis ins Jahr 1950 zurück. Eine wichtige Ausnahme sind die Militärausgaben. Für die NATO-Mitglieder reichen die Daten jeweils bis zum Eintritt in das Bündnis zurück. Bei Nicht-NATO-Staaten sind diese aber erst ab 1988 frei verfügbar. Davor liegende Angaben stellt SIPRI seit der Datenrevision von 1998 nicht mehr zur Verfügung – aus Sicht der Verantwortlichen entspricht die Datenqualität nicht den eigenen Standards.7 Für ältere Datenreihen müssen interessierte Wissenschaftler*innen, Journalist*innen oder Aktivist*nnen auf die älteren, nur noch in wenigen Bibliotheken vorhandenen Print-Ausgaben der SIPRI-Jahrbücher zurückgreifen. Das Institut arbeitet derzeit die entsprechenden Daten nach. Eine »Beta«-Version ist seit Mai dieses Jahres auf Nachfrage verfügbar. Es gibt bislang keine Aussagen darüber, wann entsprechende Daten in der öffentlichen Datenbank verfügbar sein werden noch wie vollständig die Datenreihen dann sind.

2. Staat und Transparenz

Da die Statistiken auf amtlichen Quellen beruhen, versagt dieser Ansatz bei einer Staatspolitik der Geheimhaltung. ­Katar oder Eritrea sind nur zwei Beispiele dafür. Auch bei militärischen Strukturen jenseits klassischer Staatlichkeit sind der Datenerhebung deutliche Grenzen gesetzt. Weder zu »failed states«, wie Somalia, oder Bürgerkriegsgebieten, wie Syrien, liegen Angaben vor. Auch bewaffnete Formationen unterhalb der staatlichen Struktur, wie beispielsweise der IS oder mannigfaltige Truppen von Warlords, werden nicht erfasst.

3. Folgekosten und Kosten für innere Sicherheit

Wesentliche Bereiche des militärisch-industriellen Komplexes werden von SIPRI nicht erfasst. Ausgaben zur Demilitarisierung, Abrüstung und Konversion gehen nicht in die Statistiken ein. Auch Folgekosten militärischer Aktivitäten, wie ökologische Schäden, Korruption oder einseitige Wirtschaftsstrukturen, werden nicht berücksichtigt. Ebenfalls gibt es keine Angaben zur zivilen Verteidigung, zu den (Inlands-) Geheimdiensten sowie zu Sicherheitskräften. Die Statistik gibt somit gegenwärtige Tendenzen der Vermischung von innerer und äußerer Sicherheit nicht adequat wieder.

Bewahrung der Unabhängigkeit

SIPRI wurde in der Vergangenheit als öffentliche Stiftung weitgehend vom schwedischen Staat finanziert; die Zuwendung beträgt derzeit 24 Mio. SEK (ca. 2,6 Mio. Euro).8 Aufgrund von Sparplänen der schwedischen Regierung seit Anfang des Jahrzehnts decken diese Gelder inzwischen nur noch die Hälfte der Kosten. Die fehlenden Mittel muss das Institut folglich extern einwerben. Bisher sprangen vor allem schwedische Institutionen ein, wie die Swedish International Development Cooperation Agency (SIDA) oder die Swedish Foundation for Strategic Environmental Research (MISTA). Des Weiteren unterstützen (zwischen-) staatliche Organisationen, wie die Europäische Kommission, die Weltbank, das US-Außenministerium oder das französische Verteidigungsministerium, einzelne Projekte.

Damit droht eine Balance zu kippen, die SIPRI immer ausgezeichnet hatte. Die Mitarbeiter des Institutes fühlen sich der wissenschaftlichen Arbeit für den internationalen Frieden verpflichtet. Dies spiegelt sich im aktuellen Governing Board wider, in dem zum Beispiel Dr. Dewi Fortuna Anwar (Indonesien) und Dr. Radha Kumar (Indien) einen Sitz haben. Andererseits bestehen aber auch engste personelle Verbindungen zum militärisch-industriellen Komplex, ohne die ein Teil der Forschung sicherlich nicht möglich wäre. Beispielhaft dafür steht Wolfgang Ischinger, Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz und ebenfalls Mitglied im Governing Board. Der derzeitige SIPRI-Direktor, Dan Smith, sieht dieses Spannungsfeld als Vorteil an, da „Leute sich [so] in einem weniger formalen Rahmen austauschen können“.9

Diese Diskussion ist nicht neu, wie 1986 die damalige Berufung von Walther Stützle an die Spitze des Institutes zeigte. Der Sozialdemokrat und ehemalige Planungschef im deutschen Verteidigungsministerium stieß bei vielen MitarbeiterInnen auf erheblichen Widerstand.10 Und die Wahrung der institutsinternen Balance wird mit den finanziellen Nöten immer schwieriger. Ein Anzeichen für den wachsenden Druck war die vorzeitige Abberufung des Direktors Tilmann Brück. Der mit großen Ambitionen11 gestartete deutsche Forscher scheiterte an der Mitarbeiterführung. Er trat auf Drängen der Gewerkschaften 2014, also bereits ein Jahr nach seiner Berufung, zurück.12 Ähnlich wie schon Walther Stützle konnte er zwischen den unterschiedlichen Strömungen innerhalb des Institutes keinen Ausgleich mehr erzielen.

Diese SIPRI-internen Auseinandersetzungen müssen vor dem Hintergrund der politischen Situation in Schweden gesehen werden. Die Ausrichtung der Außenpolitik des Landes ist derzeit äußerst umkämpft.13 Konservative Strömungen versuchen, das Land zur Aufgabe seiner Neutralität und zum Beitritt in die NATO zu bewegen. Es ist zu hoffen, dass die unbequeme Forschungsinstitution SIPRI, die ihre wesentliche objektivierende Kraft aus der Unabhängigkeit Schwedens bezieht, in diesem Prozess nicht geopfert wird. Um das zu verhindern, braucht es mehr kritische Aufmerksamkeit für die politischen Hintergrundprozesse bei der Erstellung von Datenbanken, die für die Friedensforschung so wichtig sind.

Anmerkungen

1) About SIPRI – History; sipri.org.

2) Siehe dazu Wulf, H.: Politikberatung der Friedens- und Konfliktforschung – nicht immer friktionsfrei und erfolgreich. W&F Nr. 4-2008.

3) W&F-Redaktion im Gespräch mit Michael Brzoska: SIPRI – Ein Porträt. W&F 4-1984.

4) Vgl. Bundesministerium der Verteidigung: Verteidigungshaushalt 2016.

5) Leider ändert sich das Basisjahr ständig. Im Bericht von 2015 wählten die Autoren das Basisjahr 2014. Davor galt über mehrere Jahre 2011 als Standard. Damit harmonieren SIPRI-Daten nur begrenzt mit anderen internationalen Berechnungen, beispielsweise der Weltbank oder dem Internationalen Währungsfonds. Diese orientieren sich an den UN-Standards für die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung. Hier gilt derzeit 2005 als entscheidendes Basisjahr.

6) About SIPRI – Terms and Conditions; sipri.org.

7) SIPRI Military Expenditure Database – Frequently asked questions: 4. Does SIPRI have military expenditure data before 1988?; sipri.org.

8) About SIPRI – SIPRI funding; sipri.org.

9) Hein, von M.: „Je mehr Austausch, desto besser“. Interview mit Dan Smith. Deutsche Welle/dw.com, 1.2.2015.

10) Berufliches – Walther Stützle. DER SPIEGEL, Nr. 14/1986.

11) Frey, C.: „Den Moment vergesse ich nicht so schnell“ – Porträt Tilman Brück. Der Tagesspiegel, 22.9.2012.

12) Dewitz, C.: Krise in der Stockholmer Fiedensinstitution? bundeswehr-journal.de, 16.5.2014.

13) Kleinwächter, K.: Außenpolitik Skandinaviens. e-politik.de, 14.6.2016.

Kai Kleinwächter ist Mitarbeiter der Redaktion von »WeltTrends – Zeitschrift für internationale Politik«. Er arbeitet als Dozent für Ökonomie an der bbw-Hochschule sowie der Hochschule für Wirtschaft und Recht (HWR) in Berlin. Außerdem bloggt der Autor auf e-Politik.de.

Soziale und politische Herausforderungen


Soziale und politische Herausforderungen

29. Jahrestagung des Forum Friedenspsychologie,
8.-10. Juli 2016, Landau in der Pfalz

von Jana Meyer und Nadine Knab

»Social and Political Challenges: Research, Action, & Policy« – dies war das Motto, unter dem die 29. Jahrestagung des Forum Friedenspsychologie am Campus Landau der Universität Koblenz-Landau stattfand. Die dreitägige Tagung wurde von der Arbeitseinheit für Sozial- und Wirtschaftspsychologie sowie von der Friedensakademie Rheinland-Pfalz, Akademie für Krisenprävention und Zivile Konfliktbearbeitung, organisiert.

Radikalisierung, Verlust von Vertrauen in Politik und soziale Vielfalt sind nur einige Themen, die Wissenschaftler*innen und Praktiker*innen im Umgang mit friedenspsychologischen Prozessen vor neue Herausforderungen stellen. Rund 70 Teilnehmer*innen kamen zur Vorstellung aktueller Forschung und interdisziplinärer Vernetzung in Landau zusammen. Die Zusammensetzung der Tagungsgemeinschaft reichte von Studierenden über Wissenschaftler*innen bis hin zu Praktiker*innen aus Politik, Zivilgesellschaft und Medien, wobei einige Teilnehmende aus Chile, England, Russland und den USA angereist waren.

Zu Beginn der Tagung gestaltete Jens Hellmann einen »Science Slam«-Workshop. Science Slam stellt eine neue Art der Forschungspräsentation dar, in dem es nicht um bloße Ergebnisdarstellung für ein Fachpublikum geht, sondern um die kreative und interessante Kurzdarstellung der eigenen Studie vor Laienpublikum, ähnlich einem Poetry Slam. Folglich hatten die Teilnehmenden die Möglichkeit, neue Kompetenzen im Bereich Wissenschaftskommunikation zu erlangen. Sie zeigten sich begeistert, Forschung auf eine völlig andere Art und Weise publikumswirksam präsentieren zu können.

Hauptbestandteil der Tagung waren die insgesamt 30 wissenschaftlichen Panelbeiträge, welche eine große thematische Bandbreite aufwiesen. Es wurden theoretische Modelle und Annahmen vorgestellt, wie bspw. der Vorschlag von Prof. em. Dr. Gert Sommer und Dr. Jost Stellmacher, den Begriff des »Menschenrechtsmissbrauch« in die UN-Menschenrechtscharta aufzunehmen.

Des Weiteren wurden in einem Symposium Untersuchungen zu Protestverhalten vorgestellt, u.a. vor dem Hintergrund des Bahnhofprojektes »Stuttgart 21«. In eine ähnliche Richtung gingen die beiden Symposien zu politischem Vertrauen bzw. Misstrauen. Im ersten Symposium standen Persönlichkeitsmerkmale im Vordergrund. Hier wurde erläutert, welche Merkmale Politiker*innen auszeichnen, denen vertraut wird, aber auch, welche Merkmale Protestbürger*innen besitzen und welche Auswirkungen dies auf ihre politische Partizipation hat. Im zweiten Symposium wurde u.a. der Frage nachgegangen, inwiefern soziale Vielfalt in politischen Gruppen die Wahrnehmung von Vertrauen beeinflusst. Die Studie zeigte, warum soziale Vielfalt von Politiker*innen für bestimmte Personen bedrohlich wirkt und deshalb zu einem Vertrauensverlust führen kann. In weiteren Vorträgen wurde auch die Rolle einer globalen Identität diskutiert (d.h. der Identifikation mit der gesamten Menschheit). Studien legen nahe, dass Personen mit einer höheren globalen Identität eher positiv gegenüber der Umwelt eingestellt sind und sich solidarisch mit Geflüchteten zeigen. Die Entwicklung erfolgreicher Strategien zur Förderung einer globalen Identität bleibt weiterhin eine Aufgabe für die Wissenschaft.

Ebenfalls diskutiert wurden Möglichkeiten zur Implementierung von Friedenspädagogik. Hier stellte unter anderem Inga Seifert vom Zivilen Friedensdienst (ZFD) die Versöhnungsschulen in Peru vor. In Versöhnungsschulen bearbeiten Teilnehmende ihre eigenen Gewalterfahrungen und lernen soziale Auswirkungen von Gewalt und die gesellschaftliche Dimension von Vergebung kennen. Dabei werden Täter-Opfer-Identitäten hinterfragt, Opferrollen verlassen und Handlungsalternativen für Täter*innen aufgezeigt. Die Besonderheit dieser Methode ist, dass sowohl Opfer als auch Täter*innen gemeinsam eine Gruppe bilden.

Der Frage, welche Verantwortung Wissenschaft und Politik bei der Entstehung, Kommunikation und Nutzung von Forschung haben, wurde am Freitagabend auf einer öffentlichen Podiumsdiskussion nachgegangen. Eingeladen waren Dr. Simon Meisch vom Internationalen Zentrum für Ethik und Wissenschaften, Bernhard Docke, ehemaliger Anwalt des Guantánamo-Inhaftierten Murat Kurnaz und Mitglied im Menschenrechtsausschuss der Bundesanwaltskammer, Dr. Sascha Werthes, Geschäftsführer der Friedensakademie Rheinland-Pfalz, sowie der Politikwissenschaftler Prof. em. Dr. Ulrich Sarcinelli, ehemaliger Vizepräsident der Universität Landau und Vorsitzender der Friedensakademie Rheinland-Pfalz e.V. Die Veranstaltung moderierte SWR-Redakteurin Doris Maull. In der Diskussion ging es vor allem um Schwierigkeiten und Hürden in der Kooperation zwischen Wissenschaft, Medien, und Politik. So sei es beispielsweise enorm schwierig, friedenswissenschaftliche Erkenntnisse in den Medien zu platzieren. Einen weiteren Schwerpunkt der Diskussion bildete der Aspekt der Wissenschaftsethik und die kritische Betrachtung von Kooperationen zwischen Politik und Forschung. Hierbei brachte Bernhard Docke mit seinem Wissen zu den Verstrickungen der American Psychological Association bei der Entwicklung und Durchführung von Foltermethoden in Guantánamo wertvolle Einschätzungen ein.

Abgerundet wurde das Tagungsprogramm durch die Verleihung des Gert-Sommer-Preises und den danach folgenden Keynote-Talk von Arie Kruglanski. Der Gert-Sommer-Preis des Forum Friedenspsychologie für die beste Abschlussarbeit wurde dieses Jahr an Katharina Neumann übergeben. Neumanns herausragende Masterarbeit beschäftigt sich mit der medialen Darstellung der rechten Szene und rückwirkenden Prozessen auf diese (siehe Artikel S. 44).

Im Anschluss an die Preisverleihung hielt der Radikalisierungsexperte Arie Kruglanski einen Keynote-Talk mit dem Titel »The Psychology of Radicalization and De-radicalisation«. Kruglanski ist Professor der University of Maryland und für seine Grundlagenforschung sowie seine Expertise im Bereich gewaltsame Radikalisierung bekannt.

Radikalisierung zeichne sich, so Kruglanski, erstens durch graduelle Abstufung (einstellungsbezogene Unterstützung von Gewalt bis hin zur selbst ausgeführten Gewalt) und zweitens durch die subjektive Beurteilung der Gruppe, welche Gewalt als Norm für wichtig erachtet, aus. Sein (De-) Radikalisierungsmodell baut auf drei Komponenten: Motivation, Ideologie und soziales Netzwerk. Auf Basis der empirischen Untersuchungen wurde ein Deradikalisierungsprogramm erarbeitet, das auf Sri Lanka in einem Gefängnis durchgeführt wurde. Teilnehmende waren Mitglieder der Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE). Der wichtigste Faktor ist die Vermittlung der eigenen Bedeutung in der Gesellschaft, die nicht an Gewalt gebunden ist, sowie eine Wiedereingliederung in diese. Kruglanski ließ ein nachdenkliches Publikum zurück, welches sich auf Basis der vorgestellten Studien auch fragen musste, welche Rolle die Gesellschaft spielt, wenn sich junge Menschen radikalisieren. Wo unser Alltag häufig von Abwertung und Ausgrenzung anderer geprägt ist, steht letztendlich jede*r in der Verantwortung, sich anderen gegenüber wertschätzend und anerkennend zu verhalten.

Den Abschluss der Tagung bildeten die offene Mitgliederversammlung und die Vorstandsversammlung des Forum Friedenspsychologie am Sonntagnachmittag.

Organisiert wurde die 29. Jahrestagung von Prof. Dr. Melanie C. Steffens, Dipl.-Psych. Franziska Ehrke, Dipl.-Soz. Julia Dupont und M.Sc. Nadine Knab. Die Organisatorinnen bedanken sich für die Unterstützung durch Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), Amnesty International Hochschulgruppe, Deutsche Gesellschaft für Verhaltenstherapie (dgvt), Fachgruppe Sozialpsychologie (FGSP), Freundeskreis der Universität Koblenz-Landau in Lan­dau/Pfalz e.V., Friedensakademie Rheinland-Pfalz sowie Forschungsschwerpunkt »Kommunikation, Medien und Politik« (KoMePol) der Universität Koblenz-Lan­dau.

Jana Meyer und Nadine Knab

Friedenslogik als Leitmotiv


Friedenslogik als Leitmotiv

von Plattform Zivile Konfliktbearbeitung

Nachfolgend dokumentiert W&F die Stellungnahme »Friedenslogik – Leitmotiv des Krisenengagements deutscher Politik im globalen Kontext«, die der SprecherInnenrat der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung für die öffentlichen Anhörung des Bundestags-Unterausschusses »Zivile Krisenprävention»« zu den neuen Leitlinien für das Krisen­engagement der Bundesregierung am 29. Mai 2016 abgab.

Das Auswärtige Amt entwickelt Leitlinien des Krisenengagements der Bundesregierung. Damit soll das deutsche Handeln im heutigen, und soweit voraussehbar zukünftigen, globalen Konfliktgeschehen ausgerichtet werden. Die angekündigten Leitlinien stehen im Kontext der Umstrukturierung des Auswärtigen Amtes, sollen sich jedoch nicht allein darauf beschränken, sondern auch den »Aktionsplan Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung« von 2004 ersetzen.

Mit der vorliegenden Stellungnahme benennen wir zu Beginn des Prozesses Werte, Prinzipien und besondere Herausforderungen, die aus Sicht der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung für das zivile Krisenengagement Deutschlands leitend sein sollen.

Krisenengagement benötigt eine Orientierung am »Frieden«

Der im Grundgesetz formulierte Auftrag „[…] dem Frieden in der Welt zu dienen“ ist für das Engagement in Krisen keine Leerformel: Friedensförderung ist die Messlatte für staatliches Handeln im globalen Kontext. Dieser Wertorientierung zu folgen, verlangt eine Ausrichtung am globalen Gemeinwohl. Auch die Wahrnehmung deutscher Sicherheitsinteressen muss sich daran orientieren. Ohne diese Zielorientierung unterliegt ziviles Krisen­engagement der Gefahr, in die Fallen einer kurzfristigen Sicherheitslogik zu geraten: Selbstbezüglichkeit, Angst-Entgrenzungen und Eskalation im Handeln könnten bestimmend werden.

Konkretisiert heißt dies, staatliches Handeln findet auf folgende Fragen konstruktive Antworten:

  • Dient das Handeln den Zielen eines gerechten Friedens:

– Vermeidung von Gewaltanwendung,

– Förderung von Freiheit zu einem Leben in Würde,

– Förderung kultureller Vielfalt,

– Abbau von Not durch Zugangs- und Verteilungsgerechtigkeit?

  • Fördert es die Umsetzung der unteilbaren Menschenrechte in ihren personalen, sozialen und kulturellen Dimensionen?
  • Trägt es zur Humanisierung von Gesellschaften und staatlichem Handeln bei und erhöht es die »menschliche Sicherheit« ?
  • Werden Gewaltdynamiken unterbrochen und wird gewaltfreies Handeln aller Beteiligten gestärkt?

Friedenslogische Handlungsprinzipien ermöglichen wirkungsvolles Krisenengagement

Ziviles Krisenengagement ist dann wirksam, wenn es Handlungsprinzipien folgt, die Widersprüche zwischen Mitteln und Zielen verhindern. Dazu sollte es folgende Prinzipien berücksichtigen:

Frühzeitiges Handeln im Sinne der Gewaltprävention

Engagement ist dann gefordert, wenn Gewalt gegenüber Menschen droht, unabhängig davon, wer sie für welchen Zweck ausüben wird. Das ausschlaggebende Kriterium für die Notwendigkeit, aktiv zu werden, kann nicht sein, dass das Durchsetzen eigener Interessen behindert wird. Frühzeitiges Handeln kann Gewalt verhindern, sodass die Gewaltspirale nicht erst in Gang kommt. Friedenslogische Politik ist sensibel für Konfliktdynamiken, um vorausschauend deeskalierend zu wirken.

Problemkontexte erkennen und Konflikte transformieren

In der Regel handelt es sich bei gewaltförmigen Konflikten um komplexe Konstellationen mit unterschiedlichen Beteiligten. Friedenslogische Politik nutzt Konfliktanalysen, um Konfliktursachen zu erkennen, Möglichkeiten der Konflikttransformation zu identifizieren und die Beteiligten zu unterstützen, den Konflikt konstruktiv auszutragen. In dem Wissen, dass es für jeden Akteur aussichtsreicher ist, sein eigenes Konfliktverhalten zu verändern als das Anderer, gilt es zu Beginn, den eigenen Anteil am Konflikt zu identifizieren und zu korrigieren.

Interaktions- und Prozessorientierung leiten die Konfliktbearbeitung

Ein konstruktiver Umgang mit Konflikten ist auf den Aufbau von Interaktionsstrukturen zwischen den Beteiligten angewiesen. Die Prinzipien Interaktions- und Prozessorientierung sind umso wirksamer, je zahlreicher konstruktive Interaktionen, z.B. Dialoge, stattfinden. Die Partizipation vielfältiger Akteure und die Aufklärungsarbeit auf zivilgesellschaftlicher Ebene erhöhen die Chancen für Nachhaltigkeit und gesellschaftlichen Rückhalt in komplexen politischen Transformationsprozessen.

Das Prinzip der Einhaltung universaler Normen

In der friedenslogisch orientierten Gewaltprävention und Friedensförderung wird die Legitimität von Interessen, des Konfliktverhaltens und der Mittel der Problembearbeitung auf der Grundlage universaler Normen geprüft. Auch wenn Normenbildung strittig und auch nie abgeschlossen ist, so existieren doch konkret anwendbare Maßstäbe einer globalen Ethik. Diese gilt es zu benennen und das eigene Verhalten auch im Sinne der eigenen Glaubwürdigkeit daran zu messen.

Reflexivität ermöglicht Handeln nach dem »Do no harm«-Prinzip

Menschliches, auch politisches Handeln birgt immer die Möglichkeit von Fehler und Irrtum. Die Reflexion eigenen Scheiterns, der Wahl falscher Mittel, von Fehleinschätzungen oder Selbstüberschätzung eröffnet Chancen der Veränderung, der Entwicklung von Alternativen, auch von Neuanfängen. Hierzu bedarf es begleitender Instrumentarien, die Kritik »organisieren« und die Institutionen des Krisenengagements und der Friedensförderung zu lernenden Organisationseinheiten werden lassen.

Herausforderungen an Instrumente der Krisenpräven­tion und Friedensförderung

Deutsche Politik verfügt heute über zahlreiche Instrumente und Handlungsräume, die helfen können, krisenhafte Entwicklungen und Gewalteskalation zu vermeiden und zu unterbrechen. Diese gilt es im Kontext von Friedensförderung auszubauen und auch interministeriell aufeinander abzustimmen.

1. Angesichts der Tendenzen zu Renationalisierung und einzelstaatlicher Interessenspolitik ist die Stärkung der Vereinten Nationen und von Regionalorganisationen, z.B. der OSZE, wesentlich. Nur auf der Basis gegenseitiger Anerkennung kann gemeinsam präventiv gehandelt werden, und nur in multilateraler Kooperation können Verfahren zur friedlichen Streitbeilegung auf der zwischenstaatlichen Ebene verankert werden.

2. Internationales staatliches Handeln wirkt nur tiefgreifend und nachhaltig, wenn die Gesellschaften Friedensprozesse tragen und gestalten. Zwischen politischen und gesellschaftlichen Realitäten besteht eine unmittelbare Wechselwirkung. Sie erfordert die Unterstützung lokaler zivilgesellschaftlicher Akteure zur Krisenprävention und Friedensförderung. Mit dem Zivilen Friedensdienst, dem zivik-Programm und der Arbeitsgemeinschaft Frieden und Entwicklung wurden Instrumente bzw. Strukturen geschaffen, die sich bewährt haben, aber deren Umfang und Ausrichtung das Potential bei Weitem nicht ausschöpfen. Deutsche zivilgesellschaftliche Organisationen haben über langjährige und auf Vertrauen beruhender Partnerschaftsarbeit eine hohe Kompetenz und weitreichendes Engagement für Krisenprävention und Friedensförderung entwickelt. Um diese partnerschaftliche Arbeit zu pflegen und auszubauen, sind sowohl weitere Programmlinien erforderlich wie auch neue Strukturen für Kommunikation und Austausch zwischen staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren, jenseits des unmittelbaren ministeriellen Beratungsbedarfs. Dies gilt gerade auch für die Einbeziehung zivilgesellschaftlicher Akteure aus den von Krisen betroffenen Ländern selbst.

3. Die »Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung« setzt Politikfelder explizit in einen Zusammenhang. Lebensbedrohende Zustände und gravierende soziale Ungleichheit, die es weltweit, regional und innerhalb von Gesellschaften gibt, werden als wesentliche Konfliktursachen benannt. Auch für Deutschland gilt es hier, internationale Verantwortung zu übernehmen, die sich auch im innerstaatlichen Handeln widerspiegelt. Eine wesentliche Herausforderung ist es, die eigenen Beiträge zu Ursachen und Dynamiken von Konflikten, seien es politische, wirtschaftliche oder kulturelle, zu reflektieren. Deutschland ist als »globaler Player« oder Bündnispartner oftmals kein »neutraler« Dritter, sondern indirekt oder direkt auch Konfliktbeteiligter. Dies zu erkennen, eröffnet Handlungsspielräume zur Friedensförderung und Gewaltprävention.

4. Um frühzeitig gewaltpräventiv handeln zu können, bedarf es der Implementierung von Frühwarnprozessen. Strukturen des Wissenstransfers zwischen internationalen, staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren sind notwendig; Kommunikationswege zu Entscheidungsstrukturen sollten systematisiert und transparent gemacht werden. Aus der Menschenrechtsarbeit wissen wir, wie wichtig es ist, solche Prozesse so zu gestalten, dass hierdurch niemand gefährdet wird und das Wissen nicht zu anderen als den vereinbarten Zwecken genutzt wird.

5. Konfliktanalysen und die Systematisierung von Frühwarnprozessen werden wenig bewirken, wenn es an angemessenen Entscheidungsstrukturen mangelt und die Fähigkeiten oder Ressourcen zur frühzeitigen Aktion fehlen. Dies ist gegenwärtig der Fall. Innerhalb des staatlichen Kontextes geht es um die interministeriellen Entscheidungsstrukturen, um die personellen und fachlichen Kapazitäten in den einzelnen Ressorts, auch jenseits des Auswärtigen Amtes. Um Kohärenz herzustellen, bedarf es eines Instrumentariums, um Entscheidungen in der Wirtschafts-, Entwicklungs- und Migrationspolitik wie auch der Umwelt- und Ressourcenpolitik auf Einklang mit den Leitlinien für ziviles Krisenengagement zu prüfen.

6. Die Entwicklung der letzten Jahre hin zu international vereinbarten Dokumenten, die nationale Selbstverpflichtungen nach sich ziehen, halten wir für einen guten Weg zur Umsteuerung. Diese Dokumente, wie z.B. der »Aktionsplan 1325« oder die »Agenda 2030«, basieren auf intensiven Aushandlungsprozessen zwischen den Staaten und mit zivilgesellschaftlichen Akteuren. Wesentliche Fortentwicklungen stellen dabei die Formulierung klarer Zielsetzungen, die Festlegung von Indikatoren und eine turnusmäßige Überprüfung der Handlungsschritte und Wirkungen dar. Diese Prozessgestaltung halten wir auch für vorbildhaft für das Politikfeld Konfliktprävention, Krisenengagement und Friedensförderung.

7. Jedes Engagement wird scheitern, wenn nicht ausreichend Ressourcen zur Verfügung gestellt werden. Dazu ist eine stärkere quantitative Erfassung des sich aus den Zielen, Prozessen und Instrumenten ergebenden Bedarfs notwendig, so wie es auch in anderen Politikfeldern Usus ist. Langfristige Planungen sind ebenso nötig wie eine stetige Überprüfung und gegebenenfalls Anpassung der Eckdaten. Die haushaltspolitischen Kennziffern sind daraus abzuleiten.

8. Hindernisse für zivilgesellschaftliches Engagement sind neben der Höhe der Haushaltstitel andere in diesem Politikfeld angelegte Verwaltungsregularien. Kurzfristige Laufzeiten, Inflexibilitäten und Planungsunsicherheit behindern nachhaltiges Handeln. Unseres Erachtens muss im Rahmen des Leitlinienprozesses darüber nachgedacht werden, wie die im Aktionsplan schon vorgesehene Abstimmung von Maßnahmen zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Trägern erfolgen kann. Das Konsortium Ziviler Friedensdienst könnte hier Modellcharakter haben. Übertragen auf andere Bereiche zivilgesellschaftlicher Friedensarbeit könnte dieses Modell dahingehend weiter entwickelt werden, dass zivilgesellschaftliche Träger direkt an der Programmentwicklung beteiligt werden. Dies kann zur Etablierung gemeinsamer Strukturen der Mittelvergabe führen, wie es in Bereichen der Wissenschaftsförderung oder der Jugendhilfe durchaus üblich ist. Uns erscheint dies als ein geeigneter Ansatz, um den originären fachlichen Kompetenzen zu entsprechen und die Eigenständigkeit zivilgesellschaftlicher Akteure zu erhalten, die wir vor allem international zunehmend als gefährdet ansehen.

9. Gewaltfreies und deeskalierendes Handeln sollte als Handlungsmaxime im öffentlichen Raum dargestellt und deutlicher wahrnehmbar werden. Das Sichtbarmachen von gewaltfreien Handlungsmöglichkeiten ist entscheidend, um den politischen und gesellschaftlichen Rückhalt für Entscheidungen, z.B. bei der Mittelverteilung zugunsten der zivilen Krisenprävention und des Engagements für Friedensförderung, zu erreichen. Vorbehalten gegenüber der Wirksamkeit zivilen Engagements muss aktiv begegnet werden. Hierfür bedarf es neuer Instrumente und eigens ausgewiesener Ressourcen. Gerade angesichts der »Krisen«-Verunsicherung innerhalb unserer Gesellschaft ist eine intensive und kontinuierliche Aufklärung über die Chancen und die Wirksamkeit gewaltfreier Konflikttransformation notwendig, die über die Fachkreise ­hinausreicht.

Beratungsprozess sollte Startpunkt sein

Aus der Sicht eines zivilgesellschaftli­chen Netzwerkes von in der zivilen Konfliktbearbeitung engagierten Organisationen und Personen begrüßen wir den vom Auswärtigen Amt begonnenen Leitlinien-Beratungsprozess. Wir hoffen, dass damit eine Debatte in Gang gesetzt wird, die nicht mit der Verabschiedung dieser Leitlinien für Krisenengagement endet. Es sollte der Startpunkt sein, um in Politik und Gesellschaft die friedenspolitischen Herausforderungen, vor denen wir stehen, offen zu reflektieren und anzugehen. Dies wäre ein wichtiger Schritt zur Entwicklung und Umsetzung eines umfassenden friedenspolitischen Leitbildes.

Kampf und Frieden im Islam

Kampf und Frieden im Islam

von Elhakam Sukhni

In der öffentlichen Diskussion über den Islam wird häufig unterstellt, gläubige Muslime seien generell aufgefordert, einen als »Heiligen Krieg« interpretierten Dschihad zu führen. Das ist eine fatale Fehlinterpretation des Dschihad-Konzepts, die sich auch darauf auswirkt, wie das Verhältnis dieser Religion zu Gewalt bzw. Krieg und Frieden wahrgenommen wird. Der Autor zeigt auf, dass sich im Koran und in den Aussprüchen des Propheten Muhammad zahlreiche Bezüge zu einem Friedensgebot finden, und belegt dies mit Zitaten aus islamischen Textquellen.

Dschihad« zählt zu den wohl am wenigsten verstandenen Konzepten der islamischen Religion. Die Fehldarstellung beginnt bereits bei der häufig verwendeten Übersetzung von Dschihad als »Heiliger Krieg«. Dabei wird ein Ausdruck aus der christlichen Tradition, der insbesondere die Kreuzzüge bezeichnete und bereits im Alten Testament (Joel 4:9) Erwähnung findet, auf den Islam übertragen. Hingegen findet sich in keinem der klassischen Texte und Hauptquellen der islamischen Tradition ein Ausdruck wie »Heiliger Krieg« (etwa »harb muqaddas«). Dschihad steht nicht primär für den bewaffneten Kampf, und Krieg wird keineswegs Heiligkeit zugesprochen, sondern höchstens eine zu vermeidende Notwendigkeit.

»Dschihad« bedeutet wörtlich »Anstrengung« oder »Eifer« um das Wohlgefallen Gottes und kommt in der islamischen Theologie als kleiner und als großer Dschihad vor. Diese Aufteilung geht auf eine Überlieferung zurück, wonach der Prophet Muhammad nach einer militärischen Auseinandersetzung seinen Gefährten erklärte, dass sie nun vom kleinen Dschihad in den großen Dschihad zurückkehren würden. Der kleine Dschihad war also die zurückliegende Schlacht, während die alltägliche Anstrengung im Kampf gegen die eigenen Triebe und Schwächen sowie zur Bewältigung der allgemeinen Lebensumstände, wie Arbeit, Familienleben und Einhaltung der religiösen Pflichten, als großer Dschihad bezeichnet wird. Dem Argument, bei dieser Überlieferung handele es sich um einen nicht authentischen Hadith (Ausspruch des Propheten), entgegnen muslimische Theologen, das Konzept von kleinem und großem, also wichtigerem Dschihad werde im Koran selbst formuliert.

In Sure 25 Vers 52 heißt es: „So gehorche nicht den Leugnern der Offenbarung [kuffar], sondern eifere mit ihm [dem Koran] in großem Eifer [dschihadan kabiran] gegen sie.“ Hier wird also nicht zum bewaffneten Kampf aufgerufen, sondern zum großem Dschihad, der mit dem Wort geführt wird. Bestätigt wird dieser Vers durch einen weiteren Ausspruch des Propheten: „Die höchste Anstrengung [Dschihad] ist das gerechte Wort gegenüber einem ungerechten Herrscher.“ (Vgl. an-Nawawi 1999) Und einer weiteren Aussage nach heißt es: „Der beste Dschihad ist der Dschihad gegen dein Ego und deine Begierden um des Willen Gottes wegen.“ (Vgl. as-Sanani 2011)

Regeln für den kleinen Dschihad

Der kleine Dschihad, also der bewaffnete Kampf, wiederum unterliegt strikten Regeln. Die drei wichtigsten Vorgaben lauten (vgl. Dagli 2013, S. 57):

  1. Das Töten von Zivilisten (also Nichtkombattanten), insbesondere Greisen, Frauen und Kindern, ist verboten.
  2. Die Religion anderer Menschen kann niemals Grund für einen Krieg gegen sie sein.
  3. Gewalt ist nur im Fall der Selbstverteidigung oder zum Schutz unschuldiger Dritter erlaubt.

Vor jedem Kriegseinsatz wies der Prophet Muhammad seine Kämpfer an, nicht zu plündern, den Feind nicht zu verstümmeln sowie Frauen und Kinder zu verschonen. Als er nach einer Schlacht eine getötete Frau liegen sah, sagte Muhammad: „Sie war keine Kämpferin!“, und wies seine Leute erneut an, keine Kinder, Frauen und andere Unbeteiligte zu töten. Der Prophetengefährte und erste Kalif Abu Bakr verbot darüber hinaus laut einer bekannten Überlieferung das unnötige Zerstören von Bäumen und das Töten von Tieren im Krieg (Dakake 2013, S. 108-109).

Die meisten muslimischen Gelehrten sind der Ansicht, Krieg dürfe nur zu Verteidigungszwecken geführt werden und Angriffskriege fänden keine Rechtfertigung, besonders in Zeiten internationaler Völkerrechtsabkommen. Ausschlaggebend hierfür ist die Koranstelle 22:39-40, welche besagt: „Die Erlaubnis [sich zu verteidigen] ist denen gegeben, die bekämpft werden, weil ihnen Unrecht geschah — und Allah hat wahrlich die Macht, ihnen zu helfen. / Jenen, die schuldlos aus ihren Häusern vertrieben wurden, nur weil sie sagten: »Unser Herr ist Allah [Gott].« Und wenn Gott nicht die einen Menschen durch die anderen zurückgehalten hätte, so wären gewiss Klausen, Kirchen, Synagogen und Moscheen, in denen der Name Gottes oft genannt wird, niedergerissen worden. Und Gott wird sicher dem beistehen, der Ihm beisteht.“

Wenn Frieden eingekehrt ist, die Muslime befreit sind und der Islam wieder praktiziert werden kann, muss gemäß Koranvers 2:193 auch der Kampf beendet werden: „Und kämpft gegen sie, bis es keine Verfolgung mehr gibt und die Religion wieder Allahs ist. Wenn sie jedoch aufhören, dann darf es kein feindseliges Vorgehen geben außer gegen die Ungerechten.“

Wenn von anderen Menschen keine Aggression und kein Unrecht ausgeht, sollte gemäß der koranischen Ausführung in Sure 60:8-9 auch von Muslimen keine Aggression ausgehen: „Allah verbietet euch nicht, gegen jene, die euch nicht des Glaubens wegen bekämpft haben und euch nicht aus euren Häusern vertrieben haben, gütig zu sein und redlich mit ihnen zu verfahren; wahrlich, Allah liebt die Gerechten. / Doch Allah verbietet euch, mit denen, die euch des Glaubens wegen bekämpft haben und euch aus euren Häusern vertrieben und [anderen] geholfen haben, euch zu vertreiben, Freundschaft zu schließen. Und wer mit ihnen Freundschaft schließt – das sind die Missetäter.“

Terrororganisationen wie al-Qaida behaupten, die Muslime stünden im ständigen Verteidigungskrieg gegen die imperialistischen westlichen »Kreuzzügler« und begründen ihre weltweiten Anschläge mit der Koranstelle „Und tötet sie, wo immer Ihr sie findet!“. Wie so oft wird hier ein Vers aus dem Zusammenhang gerissen, um extremistische Positionen durchzusetzen. Die entscheidende Textstelle im Koran lautet nämlich so: „Und kämpft auf dem Weg Allahs gegen diejenigen, die gegen euch kämpfen, doch übertretet nicht. Wahrlich, Allah liebt nicht diejenigen, die übertreten. / Und tötet sie, wo immer ihr sie findet, und vertreibt sie, von wo sie euch vertrieben haben; denn Chaos ist schlimmer als Totschlag.“ (2:190-1)

Deutlich wird hier, dass der Kampf als Reaktion auf einen Angriff oder auf Vertreibung legitimiert wird, jedoch mit der Einschränkung, nicht zu „übertreten“. Der angesehene klassische Koranexeget at-Tabari (gest. 923) interpretiert diese Koranverse außerdem in ihrem historischen Kontext und bezieht die Stelle „vertreibt sie, von wo sie euch vertrieben haben“ auf die Muslime zu Muhammads Zeiten, welche von den verfeindeten Mekkanern in die Flucht nach Medina genötigt wurden. Darüber hinaus definiert at-Tabari das „nicht Übertreten“ entsprechend der bereits erwähnten Prinzipien im Dschihad, zu denen insbesondere das Verbot des Tötens Unschuldiger zählt (vgl. Dakake 2013, S. 107-108). Weder al-Qaida noch der von ihr abgespaltene »Islamische Staat« halten sich an das islamische Kriegsrecht, sondern nehmen bewusst den Tod von Zivilisten und Unbeteiligten in Kauf.

Frieden als Grundprinzip der islamischen Theologie

Die Grundlage aller Ethikreligionen ist der Erhalt des Friedens, für dessen Schutz im Notfall Gewalt angewendet werden kann. Auch der Islam ist nicht per se eine pazifistische Religion, erlaubt aber die Anwendung von Gewalt nur als letztes Mittel. So geht das Konzept von Frieden (salaam) entsprechend der islamischen Quellen immer mit dem Konzept von Sicherheit (silm) einher – zwei Begriffe, die vom gleichen Wortstamm (s-l-m) abgeleitet werden wie der Begriff Islam.

Mithilfe der Religion des Islam (wörtlich Hingebung) soll also Salaam (Frieden) zwischen den Menschen bestmöglichen Silm (Sicherheit) garantieren. So beinhaltet auch der islamische Friedensgruß »as-salaamu alaikum« (der Frieden sei mit euch) den Wunsch, eine andere Person möge in Frieden und Sicherheit leben (Crow 2013, S. 256). »Der Frieden« (al-Salam) ist außerdem einer der 99 Namen und damit eine der Eigenschaften Gottes und wird als Synonym für »Allah« zu einem göttlichen Prinzip erhoben. Frieden ist immer zu bevorzugen, und so fordert Allah im Koran dazu auf, vom Krieg abzulassen, wenn der Gegner Frieden anbietet: „Und wenn sie jedoch zum Frieden geneigt sind, so sei auch du ihm geneigt und vertraue auf Allah. Wahrlich, Er ist der Allhörende, der Allwissende.“ (8:61)

Der Koran schreibt den Muslimen überdies einen friedlichen Umgang mit Andersgläubigen vor, insbesondere mit den »Völkern der Schrift« (Ahl al-kitab), namentlich Juden und Christen, mit welchen Muslime auch Ehen schließen und das von ihnen geschächtete Fleisch verzehren können (Koran 5:5). Grundsätzlich gilt für den Umgang mit allen Menschen das Prinzip, mit ihnen „gütig zu sein und redlich mit ihnen zu verfahren“, wie es Vers 60:8 vorschreibt.

Das islamische Friedenspotential ergibt sich nicht zuletzt aus der religiösen Pflicht zur Vertragseinhaltung. Auf diesem Wege regelt die islamische Rechtswissenschaft Beziehungen zu anderen Staaten und Nationen, und die entsprechende Begrifflichkeit lässt sich durchaus dem modernen Völkerrecht zuordnen (Rohe 2011, S. 147). Grundlage für das islamische Völkerrecht sind insbesondere Friedensabkommen und Waffenstillstandsvereinbarungen sowie Bündnisse, wie sie bereits der Prophet Muhammad vorlebte.

Exemplarisch steht dafür der Friedensvertrag von Hudaybiyya aus dem Jahre 628. Muhammad beschloss, mit den Muslimen von Medina in die bis dato verfeindete Stadt Mekka zu reisen, um an der Kaaba das Pilgerritual zu verrichten. Die Mekkaner verweigerten den Muslimen jedoch den Zugang zur Stadt. Die beiden Seiten lösten das Problem mit einem Friedensvertrag, in dem ein zehnjähriger Waffenstillstand vereinbart wurde. Der Vertrag sah vor, dass die Muslime ihre Pilgerfahrt auf das nächste Jahr verschieben. Sollten während dieser Zeit oder darüber hinaus Mekkaner zu den Muslimen überlaufen, verpflichtete sich Muhammad, diese flüchtigen Personen wieder auszuliefern. Im umgekehrten Fall jedoch, sollte ein Muslim nach Mekka fliehen, müsse dieser nicht wieder zurück geschickt werden. Diesen von Muhammad unterzeichneten Vertrag werteten seine eigenen Anhänger als Niederlage, und er sorgte bei vielen Muslimen für Unverständnis, sollten doch neue Anhänger des Islam dem Feind ausgeliefert werden. Der Prophet setzte jedoch auf Diplomatie.

Diese flexible und offene Verhandlungsbereitschaft Muhammads dient vielen Muslimen als Vorbild und liefert bis heute in zahlreichen alltäglichen Fragen die Grundlage zur Erhaltung oder Schaffung von Frieden.

Literatur

Crow, C.D. (2013): The Concept of Peace/Secur­ity (Salm) in Islam. In: bin Muhammad 2013, S. 250-268.

Dagli, C. (2013) : Jihad and the Islamic Law of War. In: bin Muhammad 2013, S. 56-98.

Dakake, D. (2013): The Myth of A Militant Islam. In: bin Muhammad 2013, S. 99-131.

bin Muhammad, G. (ed.) (2013): War and Peace in Islam – The Use and Abuse of Jihad. Cambridge: The Islamic Texts Society.

an-Nawawi, I. (1999): Riyad us-salihin – Gärten der Tugendhaften. München: Dar-u-Salam, Band I, S. 99.

Rohe, M. (2011): Das islamische Recht – Geschichte und Gegenwart. München: C.H. Beck.

as-Sanani, M. 2011): At-tanwir scharh al-jami as-saghir. Band II, S. 549, Riad.

Elhakam Sukhni ist Islamwissenschaftler und Völkerrechtler und beschäftigt sich in seiner Doktorarbeit mit den ideologischen Grundlagen dschihadistischer Gruppierungen. Er lehrte u.a. an den Universitäten Osnabrück, Köln und Krems. Zurzeit arbeitet er für die Stadt Wuppertal in der Extremismus-Prävention und Deradikalisierung.

Making the Invisible Visible

Making the Invisible Visible

Vierte Konferenz des Arbeitskreises junger Wissenschaftler_innen in der AFK, 2.-3. März 2016, Bonn

von Marlen Barthel

Vom 2. bis 3. März dieses Jahres fand am Gustav-Stresemann-Institut in Bonn die vierte Konferenz junger Wissenschaftler_innen statt. Organisiert wurde die Veranstaltung von den Sprechern und Sprecherinnen des Arbeitskreises junge Wissenschaftler_innen der AFK.

Den thematischen Rahmen gab in diesem Jahr der Titel »Making the Invisible Visible: (Un)sichtbarkeit im Konflikt und (un)sichtbare Konflikte« vor. Damit wollten die Organisator_innen der Veranstaltung bewusst an die zweite und dritte Konferenz des Arbeitskreises anschließen und kritischen Ansätzen innerhalb der Friedens- und Konfliktforschung einen Raum bieten.

Mit dem weit gefassten Thema wurden aktuelle Entwicklungen und Problemstellungen im weltweiten Konfliktgeschehen, wie die fortschreitende Technisierung sozialer Kommunikation oder die Kriegstechniken selbst, aufgegriffen. Außerdem sollte durch die Veranstaltung eine Möglichkeit geschaffen werden, insbesondere auch solche Forschungsprojekte zu präsentieren, die sich disziplinär und methodisch abseits des durch die Internationalen Beziehungen dominierten Mainstream verorten lassen. So konnte der interdisziplinären und methodischen Vielfalt der Friedens- und Konfliktforschung Rechnung getragen werden. Ziel der Konferenz war es, gerade auch kritische Diskussionen über Praktiken und Diskurse innerhalb der Sicherheits- und der Entwicklungspolitik sowie die Debatte um Selbstverständnis, epistemologische (erkenntnistheoretische) Ausrichtungen und Forschungspraktiken innerhalb der FuK zu befördern.

Insgesamt wurden auf der Konferenz in sechs Panels 13 Papers diskutiert und drei Workshops abgehalten. Die Vorträge fielen durch eine große disziplinäre und thematische Bandbreite auf. So gab es Beiträge zu Sicherheitspolitik, zur zukünftigen Gestalt militärischer Konflikte und zum Friedensbegriff in der Friedens- und Konfliktforschung, aber auch medienwissenschaftliche Reflektionen zu Zeitungsdiskursen und zu Streetart, soziologische Studien zu Intersektionalität und Kolonialität in Praktiken der Konflikttransformation sowie wissenssoziologische und rechtliche Reflektionen zur politischen Mobilisierung im Kontext erzwungener Migration.

In den Workshops wurden im Rahmen einer Ausstellung und einer Fishbowl-Diskussion alternative Formate der Konfliktdarstellung vorgestellt. Außerdem wurde innerhalb einer moderierten Gruppendiskussion die Frage erörtert, ob und wie sich Institutionen der Friedens- und Konfliktforschung und ihre Mitglieder öffentlich in politische Debatten einschalten sollten. Des weiteren verständigten sich die Teilnehmer_innen in einer Plenarveranstaltung am Abend des ersten Konferenztages über Konflikte und Probleme innerhalb der Friedens- und Konfliktforschung als Studien- und Arbeitsfeld und diskutierten Erfahrungen und Perspektiven einer zukünftigen Interessenvertretung junger Wissenschaftler_innen.

Im Anschluss an dieses Plenum wurden für die Periode 2016-2018 Tim Bausch, Christine Buchwald, Michael Nann und Lawreen Masekla als neue Sprecher_innen des AK junger Wissenschaftler_innen gewählt. Im Rahmen der Veranstaltung wurden auch Wünsche und Erwartungen an das neue Sprecher_innen-Team gerichtet. Als zentrale Punkte wurden die Vernetzung junger Wissenschaftler_innen und Studierender, die Präsenz und Transparenz der Aktivitäten des AK und lebendige Formate auf dem nächsten Kolloquium für junge Wissenschaftler_innen genannt. Weitere Anregungen, Vorschläge, Initiativen und Wünsche sind herzlich willkommen. Für Interessierte steht die Mailingliste AFK-Nachwuchsgruppe-subscribe@yahoogroups.com zur Verfügung, über die zukünftig auch über die Projekte des AK informiert wird.

Die alten und neuen Sprecher_innen des AK bedanken sich bei den Teilnehmer_innen für die Vielzahl innovativer Beiträge und die angeregten Debatten. Die Qualität der Panels und Workshops wurde nach Einschätzung des Organisationsteams, der Vortragenden und im Feedback der Teilnehmer_innen als sehr hoch eingeschätzt. Die Veranstaltung wurde durch die Geschäftsstelle und den Vorstand der AFK sowie durch unsere Kooperationspartner_innen vom evangelischen Studienwerk Villigst begleitet und unterstützt. Die Deutsche Stiftung Friedensforschung übernahm die Tagungs- und Anfahrtskosten. Hierfür geht unser herzlicher Dank an alle Beteiligten.

Marlen Barthel

Braucht Frieden Ordnung?

Braucht Frieden Ordnung?

AFK-Jahreskolloquium 2016, 3.-5. März 2016, Bonn

von Lisanne Lichtenberg und Christine Schnellhammer

Das 48. Jahreskolloquium der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung e.V. (AFK) fand im Gustav-Stresemann-Institut in Bonn statt und wurde in Kooperation mit der Evangelischen Akademie Villigst und dem Gustav-Stresemann-Institut e.V. organisiert. Auch in diesem Jahr förderte die Deutsche Stiftung Friedensforschung (DSF) die wissenschaftliche Tagung finanziell.

Im Mittelpunkt des AFK-Kolloquiums stand die Frage nach dem Beziehungsgeflecht zwischen Frieden und Ordnung. Hier wurde unter anderem diskutiert, welchen Beitrag Ordnung zur Überwindung von Konflikten leisten kann und welchem bzw. wessen Frieden bestimmte Ordnungssysteme dienen. In der Auseinandersetzung mit diesen Fragestellungen wurden verschiedene Begriffe und Konzepte herangezogen, die sich sowohl mit staatlichen als auch mit gesellschaftlichen Formen von Ordnung und Unordnung beschäftigen. Aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen und Perspektiven stellten die Vortragenden empirische Analysen mit Fallbeispielen aus Vergangenheit und Gegenwart vor, um relevante ordnungs- und friedensstiftende Faktoren aufzuspüren.

Im Fokus der Diskussionen stand häufig die Frage nach den Adressaten bzw. Garanten von Sicherheit, Stabilität und Ordnung, sowohl auf der nationalen als auch auf der internationalen Ebene. In diesem Zusammenhang wurde deutlich, dass staatlichen Akteuren und internationalen Organisationen immer noch die Hauptverantwortung für die Herstellung von öffentlicher Ordnung sowie für Staatsbildungs- und Friedensprozesse zugeschrieben wird. Zugleich bestehen jedoch auch Forderungen danach, eine offene, pluralistische Perspektive einzunehmen und gesellschaftliche Akteure stärker einzubeziehen.

Die nachfolgenden Abschnitte geben einen inhaltlichen Überblick über ausgewählte Panels und Themen.

Alltägliche Praktiken von Friedensordnungen

Prof. Dr. Séverine Autesserre (Columbia University, New York/USA) eröffnete die Tagung mit einer Keynote zum Thema »Peaceland: Conflict Resolution and the Everyday Politics of International Intervention«. In ihrem Vortrag stellte sie eine Perspektive auf internationale Friedensmissionen vor, die die bestehenden Routinen und Alltagspraktiken der intervenierenden Akteure in den Blick rückte. So wurden Narrative und Handlungsmuster sichtbar, die externen Intervenierenden angesichts ihrer Befremdung Orientierung in Nachkriegsgesellschaften bieten. Derartige Praktiken würden jedoch Begegnungen mit Einheimischen erschweren und lokale Wissensbestände abwerten, anstatt lokale Expertise systematisch mit einzubeziehen und den darin liegenden Nutzen für die Herstellung von Frieden und Ordnung zu erkennen. Die Kritik der Referentin richtete sich daher insbesondere auf diese alltäglichen Handlungspraktiken, die von externen Intervenierenden als selbstverständlich und zweckmäßig angesehen werden, obwohl sie dem eigenen Anspruch zur Friedensschaffung und der Effektivität von Peacebuilding-Interventionen diametral entgegen stehen. Als zentrale Ordnungskräfte fungieren folglich häufig externe Intervenierende, die keine ausreichenden Kenntnisse über die Gegebenheiten und Strukturen vor Ort besitzen – mit weitreichenden Konsequenzen für den Erfolg friedenschaffender Missionen.

Auch einige Panels beschäftigten sich mit internationalen Peacebuilding-Interventionen und durch externe Akteure angestoßenen Statebuilding-Prozessen. Ein Vortrag untersuchte beispielsweise historische Konstanten des State- und Peacebuilding anhand verschiedener treuhänderischer Übergangsverwaltungen. Durch die Auswahl der Fallbeispiele Kamerun, Kosovo und Timor-Leste wurden sowohl die Gegenwart als auch die späte Kolonialzeit in den Blick genommen. Ein anderer Beitrag beleuchtete hingegen die Rolle, Funktion und Ziele von Intermediären, die im Rahmen internationaler Interventionen eine Mittlerfunktion zwischen externen Akteuren und lokaler Bevölkerung einnehmen. Zwar seien Intermediäre von zentraler Bedeutung für die Handlungsfähigkeit externer Akteure, der Einfluss mächtiger lokaler Interessengruppen wirke sich jedoch nicht zwingend positiv auf Friedens- und Staatsbildungsprozesse aus.

Im Laufe der verschiedenen Diskussionen über Staatsbildungs- und Friedensprozesse wurde mehrfach kritisiert, dass internationale Interventionen mit ihren auf Stabilität und Ordnung abzielenden Einsätzen häufig nur eine vorübergehende Pazifizierung der Konfliktsituation anstelle einer nachhaltigen Friedenskonsolidierung erreichen würden.

In anderen Panels stand die Beziehung zwischen Formationen politischer Ordnung und deren Anfälligkeit für Konflikte im Vordergrund. Dadurch wollten die Vortragenden Erkenntnisse darüber gewinnen, welche politischen Ordnungen und Staatsformen eher konfliktverstärkende oder aber friedensstiftende Tendenzen aufweisen. In diesem Zusammenhang wurden neben historischen Analysen auch unterschiedliche Möglichkeiten der Konfliktaustragung und der Umgang mit Widerstand thematisiert. Basierend auf zentralen Texten aus der Friedensforschung widmete sich ein weiteres Panel der theoretischen Diskussion über die Bedingungen eines Weltfriedens.

Räumliche Ordnungen von Frieden

Daneben beschäftigten sich mehrere Beiträge mit Fragen räumlicher Ordnung(en). Während ein Vortrag räumliche Aspekte der Gewalt in Kenia und die konfliktverschärfenden Auswirkungen einer sozialen Sortierung nach Ethnie und Territorium beleuchtete, untersuchte ein anderer Beitrag »sichere Räume« in Krisen- und Kriegsgebieten, die den Menschen vor Ort eine gewisse Ordnung und Sicherheit bieten. Auch die Flüchtlingsproblematik war zentraler Untersuchungsgegenstand einiger Vorträge und wurde u.a. aus raumsoziologischer Perspektive untersucht, um (begrenzte) Handlungsspielräume sowie Inklusions- und Exklusionsmechanismen aufzuzeigen. Hierbei wurde deutlich, dass sich Flüchtlinge in Räumen der Ungleichheit bewegen. Dies spiegelt sich auch in den Asylverfahren wider, deren Unordnung und Techniken ebenfalls analysiert wurden. Flucht als Herausforderung für Ordnung war außerdem Gegenstand eines Panels, das sich im Hinblick auf aktuelle Entwicklungen vor allem mit den Maßnahmen der Zielländer und deren Auswirkungen auf die Herkunfts- und Transitländern beschäftigte.

Als weiterer Themenkomplex wurden Ressourcenkonflikte aufgegriffen, die in gewissen Regionen ein hohes Konfliktpotenzial aufweisen und somit eine Gefährdung für Frieden, Stabilität und Sicherheit darstellen. Anhand ausgewählter Fallbeispiele wurden sowohl gewaltgeprägte als auch gewaltfreie Ressourcenkonflikte aus raumtheoretischer, politischer und entwicklungspolitischer Perspektive analysiert.

Ordnungen jenseits des Staates

Während im Rahmen der Panels insbesondere konkrete Fallbeispiele untersucht wurden, konzentrierten sich die beiden Podiumsdiskussionen auf die Makroebene und diskutierten die derzeitige Weltordnung sowie Zukunftsmodelle für Frieden und Ordnung.

Die erste Podiumsdiskussion mit Prof. em. Dr. Dieter Senghaas, Prof. Dr. Ursula Schröder und Dr. Jörn Grävingolt zum Thema »Friedensordnung in einer zerklüfteten Welt« legte den Fokus auf aktuelle Entwicklungen und die Frage nach zukünftigen Modellen für eine friedliche neue Weltordnung. Die Redner*innen stimmten überein, dass sich auf globaler Ebene eine zunehmende Heterogenität an Ordnungssystemen herausbilde – sowohl innerhalb wirtschaftlich und gesellschaftlich ähnlich strukturierter Ländergruppen als auch durch die wachsende Zahl von Staaten, die von Zerfallsprozessen geprägt sind. Gleichzeitig würden Staaten in ihrer zentralen Funktion für die Herstellung von Sicherheit und Ordnung zunehmend von nicht-staatlichen Akteuren und von lokalen Formen der Konfliktlösung unterhalb der Staatsebene abgelöst. Im Hinblick auf die derzeitige Erosion der internationalen Ordnung müsse zukünftig die Frage nach alternativen Ordnungsmodellen jenseits des westlichen Staatensystems diskutiert werden, hob Prof. Dr. Schröder hervor.

Den Abschluss der Tagung bildete das Plenum »Hegemonie, Anarchie oder Weltgesellschaft? Weltordnungsmodelle für das 21. Jahrhundert«. Auf dem Podium diskutierten Prof. a.D. Dr. Ulrich Menzel, Dr. Corinna Hauswedell und Prof. Dr. Dirk Messner über die Frage nach einer neuen internationalen Ordnung vor dem Hintergrund aktueller Zerfallsprozesse. Als Kennzeichen der derzeitigen Phase eines tiefgreifenden Umbruchs der Weltordnung wurden der Niedergang der USA, die Ausbreitung von Gewaltökonomien, Chinas Aufstieg sowie die Entstehung einer »post-westlichen« Welt genannt. Im Hinblick auf zukünftige Ordnungsstifter wurde ein radikaler Perspektivwechsel von der staatlichen Ebene auf Akteure jenseits des Staates gefordert. Zudem seien neue Ordnungen, Prinzipien und Normen nötig.

Verleihung des Christiane-Rajewsky-Preises 2016

Einen Höhepunkt der Tagung stellte die Verleihung des Christiane-Rajewsky-Preises 2016 dar. In diesem Jahr wurden zwei herausragende Arbeiten geehrt, die eine juristische Perspektive auf die Friedens- und Konfliktforschung eröffnen, indem sie sich mit Rechtsvorstellungen und Rechtskonstruktionen befassen. Dr. Evelyne Schmid erhielt den Christiane-Rajewsky-Preis für das aus ihrer Dissertation an der Universität Basel hervorgegangene Buch »Taking Economic, Social and Cultural Rights Seriously in International Criminal Law«. Dorte Hühnert wurde der Preis für ihre Masterarbeit mit dem Titel »New Kind of War – New Kind of Detention? How the Bush Administration Introduced the Unlawful Enemy Combatant« (Goethe-Universität Frankfurt am Main) verliehen.

Aus der AFK

Die Mitgliederversammlung der AFK beinhaltete unter anderem die Wahl eines neuen Vorstands für die kommenden zwei Jahre: Prof. Dr. Conrad Schetter (BICC) wurde als Vorsitzender der AFK bestätigt; als stellvertretende Vorsitzende wurde Prof. Dr. Bettina Engels (FU Berlin) gewählt. Hauptthema der Mitgliederversammlung war die Suche nach einem neuen Standort für die Geschäftsstelle ab 1. Juli 2016.

Das Netzwerk Friedensforscherinnen und die Arbeitskreise (AK) der AFK – AK junge Wissenschaftler*innen und AK Curriculum & Didaktik – nutzten die Tagung für den Austausch über inhaltliche Themen und zukünftige Projekte. Der AK Herrschaftskritische Friedensforschung und der AK Natur, Ressourcen, Konflikte boten darüber hinaus inhaltliche Panels zum Tagungsthema an. Außerdem wurde ein Arbeitskreis für Empirische Methoden der Friedens- und Konfliktforschung gegründet.

Lisanne Lichtenberg und Christine Schnellhammer

Transforming Worldviews

Transforming Worldviews

Tagung in der Evangelischen Akademie Bad Boll,
12.-13. Februar 2016

von Mauricio Salazar

Die Tagung »Transforming Worldviews – Gesellschaftliche und soziokulturelle Friedensansätze in Afrika« in der Evangelischen Akademie Bad Boll sollte zu einem Perspektivenwechsel bei der Betrachtung von Konflikten in der Region Horn von Afrika und Burundi anregen.

Weltweit nimmt die Intensität von Konflikten zu, die auf internationaler Ebene oft nur dann wahrgenommen werden, wenn sich zivile Betroffen auf den Weg machen, um anderswo Zuflucht zu finden. In der Berichterstattung der Medien werden die Konfliktursachen in der Regel stark vereinfacht und die systemische, durch unterschiedliche Interessen gekennzeichnete Komplexität der Konflikte vernachlässigt.

Die Antworten der internationalen Gemeinschaft auf diese Konflikte sind von den strategischen Interessen in der jeweiligen Region abgeleitet, und oft werden zur Befriedung militärische Einsätze auf den Weg gebracht. Werden gewisse Konflikte aber nicht gezielt geschürt, um Interessenspolitik zu bedienen, und werden dann als religiöse oder ethnische Konflikte etikettiert, obwohl sie damit gar nichts zu tun haben?

Strategische Interessen

Die Region, die bei der Tagung im Fokus stand, war schon immer kriegsträchtig, nicht zuletzt aufgrund ihrer geostrategischen Lage: gegenüber der Arabischen Halbinsel gelegen, an der Schnittstelle zwischen Rotem Meer, Arabischem Meer und Indischem Ozean. Diese Region ist für mächtige internationale Akteure seit der Eröffnung des Suezkanals im Jahre 1869 von großem Interesse; die oberste Prämisse war und ist die Sicherung der Schifffahrtsrouten und die Ölversorgung der reichen Länder. Während des Kalten Krieges war das Horn von Afrika neben dem Südlichen Afrika der zweite große Brennpunkt des Ost-West-Konfliktes in Afrika. Und heute kommt der Region im Kontext der so genannten Terrorismusbekämpfung große Bedeutung zu.

Die Einbeziehung des Horns von Afrika in globale Interessenszusammenhänge führt also zu einer häufig destruktiven Verknüpfung lokaler und regionaler Konfliktformationen mit den Interessen- und Machtpolitiken fremder Mächte. Und obwohl es sich in der Regel um einen lokalen, regionalen und internationalen Wettbewerb um die in vielen Fällen immer knapper werdenden Ressourcen handelt, werden die Konflikte nur allzu oft mit dem Etikett »ethnischer« oder »religiöser Krieg« versehen, und es werden katastrophale Interventionsmaßnahmen ergriffen.

Die Rolle der traditionellen Gesellschaften

Ein wichtiger Aspekt in der Region ist die Rolle der traditionellen Gesellschaften, die aus vielschichtigen, oft sehr kleinen Gemeinschaften, Ethnien, Clans, Sippen, Religionsgemeinschaften und anderen Zusammenschlüssen bestehen und für die Menschen in der Region die alltägliche Organisationsstruktur darstellen. Es gibt zwar auch staatliche Strukturen, die spielen im täglichen Überlebenskampf aber eine untergeordnete Rolle.

Vor allem wenn Konflikten auftreten, sorgen die örtlichen sozialen Strukturen, z.B. in Form von Ältestenräten, für eine gewisse Stabilität. Lokale Gegebenheiten werden so lange besprochen, bis gemeinsam eine annehmbare Lösung gefunden ist. Mit solchen Mechanismen regeln traditionell sowohl nomadische als auch sesshafte Völker die Verteilung und den Zugang zu Ressourcen bzw. Wirtschaftsgütern, wie Land und Wasser. Im Idealfall bleiben die Dorfgesellschaften dann selbst bei häufig extremer Armut und trotz des Einflusses unterschiedlicher Armeen in sich stabil – und gewaltfrei. Damit sind sie möglicherweise Modelle für Friedenserhaltung und Friedensbildung, für »Friedensräume«.

Die traditionellen Strukturen werden von den westlichen Medien und Forschern oft fehlinterpretiert. Ihnen gelten zuallererst die modernen staatlichen Institutionen europäischer Prägung, die von einem starken Gewaltmonopol ausgehen, als Garanten von Frieden. Für deren Förderung werden erhebliche Ressourcen bereitgestellt, die jedoch mehr destabilisieren als stabilisieren. Bedeutet die Förderung der Staatsinstitutionen doch oft die Bevorzugung der Interessen von Machteliten, so z.B. in Äthiopien und Somalia, wo mit ausländischen Finanzhilfen und mit Waffenkäufen die traditionellen lokalen Strukturen der Stabilität zerschlagen wurden.

Friedensräume

Manche Regionen bleiben hingegen trotz Konflikten und Ressourcenknappheit recht stabil. Ein Beispiel hierfür ist die Provinz Tigray im Norden Äthiopiens, wo sich lokale Strukturen mit eigenen politischen Handlungsspielräumen herausgebildet haben, die wirtschaftliche und politische Gerechtigkeit organisieren und damit einen hohen Grad an innerer Stabilität erreichen. Diese Friedensräume sind charakterisiert durch ein Netz der Solidarität und ein sehr hohes Verpflichtungsgefühl gegenüber der örtlichen Gemeinschaft. Die ausgeprägte Solidarstruktur sorgt in den einzelnen Dörfern dafür, dass sich niemand der Notwendigkeit entzieht, zur Versorgung des Gemeinwesens beizutragen.

Solche Friedensräume sind zwar lokal sehr effektiv, es mangelt aber an Kompetenzen für die Austragung darüber hinausgehender öffentlicher Konflikte. Mit Blick auf die staatlichen Institutionen würde dringend eine verbindende Komponente zwischen den lokalen Mechanismen der Konfliktbeilegung durch Dialog und der öffentlichen Konfliktbeilegung mit institutionellen Regulativen gebraucht.

»Erfolgreiches Scheitern« staatlicher Institutionen?

Aus entwicklungspolitischer Perspektive stellt das Horn von Afrika schon seit Langem ein »Armenhaus« dar, das immer wieder von katastrophalen Hungersnöten heimgesucht wird. Darüber hinaus machen etliche systemische Problemlagen, wie der Zugang zu Ressourcen in seiner lokalen und globalen Dimension, das Horn von Afrika zur chronischen Krisenregion. Und tatsächlich gehen immer wieder Menschen, die jahrhundertelang miteinander gelebt haben, plötzlich aufeinander los – zugunsten der strategischen Interessen fremder Mächte. Die mit diesem »erfolgreichen Scheitern« der staatlichen Institutionen verbundene Polarisierung wird dann dazu genutzt, Konflikte kurzerhand mit dem Etikett »ethnisch« oder »religiös« zu versehen.

Die derzeitige »Realpolitik« in der Region ist durch anhaltende Gewaltkonflikte, hochgradige Militarisierung, autoritär-repressive Herrschaftsformen, tiefsitzendes Misstrauen sowie gegenseitige und externe Einmischungspolitik gekennzeichnet. Aufgrund der demographischen Entwicklung und des Klimawandels mit der damit einhergehenden ökologischen Degradation, der strukturellen Ernährungsunsicherheit und einer wachsenden Konkurrenz um knappe natürliche Ressourcen werden sich die Konflikte am Horn von Afrika in Zukunft wohl eher noch verschärfen. Dem ist für diese Region die Forderung nach einer umfassenden Sicherheitsarchitektur auf der Basis des Konzepts »menschlicher Sicherheit« gegenüberzustellen. Eine Umsetzung dieser Vision ist momentan allerdings nicht in Sicht.

Mauricio Salazar

Zurück voran?

Zurück voran?

Die Idee eines Mächtekonzerts für das 21. Jahrhundert

von Lothar Brock und Hendrik Simon

Dass die Welt aus den Fugen gerät, ist eine inzwischen weit verbreitete Einschätzung der weltpolitischen Lage. Aber was tun, um sie doch noch zusammenzuhalten und auf einen besseren Kurs zu bringen? Noch bevor Russland und der Westen sich so richtig entzweiten, bemühte sich eine Forschergruppe aus Frankfurt zusammen mit Kollegen aus Russland und den USA darum, Licht in das Halbdunkel dieser Frage zu bringen. Ein Ergebnis ihrer Beratungen war der Vorschlag, nach dem historischen Vorbild des frühen 19. Jahrhunderts ein »Konzert der (Groß-) Mächte« einzurichten. Läuft der Rückgriff auf frühere Kooperationsansätze auf einen Rückfall hinter die Bemühungen der vergangenen 25 Jahre hinaus, das Gebot der kollektiven Friedenssicherung gegen einen hegemonialen Unilateralismus zu verteidigen? Bietet das 19. Jahrhundert in dieser Hinsicht Anlass zu (verhaltenem) Optimismus? Oder sprechen die historischen Erfahrungen eher gegen den Versuch, die vorhandenen Kakophonien unter Leitung der Großmächte in einem globalen Konzert zusammenzuführen?

In einem viel zitierten Aufsatz prophezeite John Mearsheimer, Exponent des Neorealismus in der Lehre von den internationalen Beziehungen (IB), Anfang der 1990er Jahre, die internationale Politik würde sich nach dem Ende des Ost-West-Konflikts „zurück in die Zukunft“ entwickeln. Gemeint war damit, dass sich die Zukunft der internationalen Politik nach dem Intermezzo des Ost-West-Konflikts wieder ihrer Vergangenheit annähern, die Staatenpolitik also zu den alten Agenden machtgestützter Interessendurchsetzung zurückkehren würde. Das verursachte einen Aufschrei all jener, die von der Möglichkeit eines substantiellen Fortschritts in den internationalen Beziehungen ausgingen und gerade im friedlichen Ende des Ost-West-Konflikts den Beleg für diese Möglichkeit sahen. Die Hoffnungen, die daran geknüpft wurden, blieben angesichts immer neuer kriegerischer Gewalt stets prekär. Heute sind sie einer Belastungsprobe ausgesetzt, die alle Zweifel der vergangenen Jahre in den Schatten stellt.

Wenn Mearsheimer Recht hat, bewegt sich die Weltpolitik in strukturell vorgegebenen Bahnen, die man nur um den Preis der Selbstaufgabe verlassen kann, denn jedes Land wird mit Machtverlust bestraft, wenn es die Verhaltenszwänge, die sich aus der Struktur des internationalen Systems ergeben, ignoriert. Aus dieser Perspektive muss man sich also um der eigenen Zukunft willen den Lehren der Vergangenheit stellen und sich den durch sie vermittelten strukturellen Gegebenheiten des internationalen Systems unterwerfen.

Nagelt uns die Geschichte wirklich auf eine solche Weltsicht fest? Oder bietet gerade die historische Erfahrung Anhaltspunkte für die Möglichkeit, Staatenwelt und Weltgesellschaft in ein neues, konstruktives Verhältnis zu bringen und zumindest die Gefahr großer Kriege zu bannen, wenn es schon nicht gelingen sollte, alle »kleinen« zu beenden? Könnte zu diesem Zweck ausgerechnet ein Blick in das 19. Jahrhundert weiterhelfen, obwohl es als Projektionsfläche für unsere Vorstellungen von klassischer Staatenpolitik und klassischen Staatenkriegen dient? Oder riskieren wir, auf diesem Wege zwischenzeitliche Fortschritte der internationalen Politik (namentlich in Gestalt des Völkerrechts und der Vereinten Nationen) noch weiter zu gefährden, als das gegenwärtig ohnehin schon geschieht?

Blaupause für ein neues »Konzert der Mächte«

Harald Müller, Konstanze Jüngling, Daniel Müller und Carsten Rauch (alle Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung/HSFK in Frankfurt) sind im Rahmen eines international ausgerichteten Forschungsprogramms der Frage nachgegangen, ob ein Rückgriff auf die Geschichte des 19. Jahrhunderts neue (Denk-) Möglichkeiten für einen konstruktiven Umgang mit den Krisen und Konflikten des 21. Jahrhunderts eröffnen kann (Müller et al. 2014; Müller und Rauch 2015). Es handelt sich um den Entwurf einer „Blaupause für eine von Großmächten getragene multilaterale Sicherheitsinstitution“, der sich in Gegenwart und Zukunft die Aufgabe stelle, den Machtübergang von der US-amerikanischen Hegemonie zu einer multipolaren Ordnung in friedliche Bahnen zu lenken.

Eine zentrale Annahme der Überlegungen besteht darin, dass sich im Zeichen der Globalisierung zwar die allgemeine Interdependenz zwischen den Staaten verstärke, diese Entwicklung aber nicht mit einem Abbau bestehender internationaler Machtdisparitäten einhergehe; vielmehr würden die Großmächte weiterhin eine dominierende Rolle im internationalen System spielen. Unter dieser Annahme liegt es nahe, die Chancen der Kooperation von Großmächten auf dem Gebiet der kollektiven Friedenssicherung in den Blick zu nehmen und dabei – soweit möglich – die Geschichte selbst gegen Vorstellungen von der Wiederkehr des ewig Gleichen zu mobilisieren, wie sie der in der Politikwissenschaft so genannte Realismus1 vetritt. Zu diesem Zweck bezieht sich das Autorenteam auf das »Konzert der Großmächte« des 19. Jahrhunderts als Referenzrahmen für eine Neustrukturierung der kollektiven Friedenssicherung im 21. Jahrhundert2

Dieses Unterfangen verdient eine gründliche Auseinandersetzung. Hier wollen wir auf zwei Aspekte eingehen: die Brauchbarkeit des historischen Konzerts als Bezugspunkt für eine Neustrukturierung der kollektiven Friedenssicherung und die Bedeutung einer von Großmächten getragenen Sicherheitsinstitution für die Zukunft der Vereinten Nationen und das Völkerrecht.

Der historische Referenzrahmen: Wofür steht das »Konzert der Mächte«?

Der Autorengruppe der HSFK geht es nicht darum, das Zustandekommen des Konzerts zu erklären, sondern jene Faktoren zu identifizieren, die dazu beigetrugen, einen Krieg zwischen den Großmächten für mehr als eine Generation zu verhindern. Als zentraler Aspekt wird die friedensstiftende Wirkung gemeinsam geteilter Normen herausgearbeitet (Müller und Rauch 2015, S.36). Ausgehend vom Wiener Kongress 1814/15 zur Neuordnung Europas nach den napoleonischen Kriegen habe sich „eine permanente Praxis“ (ebenda, S.63) der Konsultation und Gleichbehandlung etabliert. Konflikten seien die Großmächte im Sinne der militärischen Zurückhaltung, der Akzeptanz des geopolitischen Status quo und der gegenseitigen Nichteinmischung begegnet (ebenda, S.55f).

Diese Einschätzung wird von großen Teilen der jüngeren Forschung geteilt (Schulz 2009). Mehr noch: Den europäischen Großmächten sei es demnach gelungen, zwischen 1815 und 1914 einen gesamteuropäischen Krieg zu verhindern (Schulz 2009, S.4f.). Diese optimistische Interpretation stützt auch die These, das 19. Jahrhundert sei das „friedlichste Jahrhundert der Neuzeit“ gewesen (Levy 1983, S.90f). Insofern könnte das Konzert der Großmächte im 19. Jahrhundert nicht nur als „historisches Vorbild“ (Müller und Rauch 2014, S.36), sondern geradezu als „Prototyp“ der institutionalisierten Zusammenarbeit von Großmächten zur gemeinsamen Gestaltung und Wahrung der internationalen Ordnung angesehen werden (Müller et. al. 2014, S.7).

In der Tat steht das Europäische Konzert für ein Krisenmanagement durch Konferenzdiplomatie. Außerdem waren die Kongresse und Konferenzen der »Wiener Ordnung« politische Katalysatoren für eine Institutionalisierung und Verrechtlichung der internationalen Beziehungen (Koskenniemi 2002). Die kollektive Handlungsfähigkeit der Großmächte im Rahmen des Konzerts stieß jedoch dort an ihre Grenzen, wo es um die Einschränkung eigenmächtiger Gewaltanwendung durch die Großmächte selbst ging. In dieser Hinsicht blieben die direkten Verrechtlichungseffekte des Konzerts begrenzt. Dass die Staatenwelt gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein völkerrechtliches Kriegs- und Gewaltverbot zu diskutieren begann, was sich auch in der Einberufung der Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907 niederschlug, war nicht unmittelbarer Ausfluss der zuvor praktizierten Konferenzdiplomatie, sondern Folge der Schwächen dieser Diplomatie mit ihren informellen Verfahrensweisen, die darauf ausgerichtet waren, Konflikte zu managen, ohne die Handlungsfreiheit der Großmächte einzuschränken (Simon 2016).

Das »Doppelantlitz« des Konzerts

So gelang es zunächst nur, Regeln für den Krieg (ius in bello), nicht aber Regeln gegen den Krieg zu formulieren; Der 1899 eingerichtete und 1907 modifizierte Haager Schiedsgerichtshofs konnte lediglich als administrative Verfahrensform der friedlichen Schlichtung, nicht aber als obligatorische, völkerrechtlich bindende Autorität institutionalisiert werden (Dülffer 1981). Diese mangelnde normative Einhegung einzelstaatlicher Handlungsfreiheit drückte sich nicht nur in zahlreichen »kleinen Kriegen«, sondern auch in Kriegen zwischen Großmächten aus: Am Krimkrieg 1853-56 nahmen mit England, Russland und Frankreich gleich drei Großmächte teil. Preußen setzte sich in drei (Einigungs-) Kriegen gegen Dänemark 1864, Österreich 1866 und Frankreich 1870/71 über nahezu alle Konzertnormen der Zurückhaltung und Bewahrung des Status quo (Müller und Rauch 2015, S.63) hinweg.

Das Konzert entfaltete sich unter den Bedingungen eines Gleichgewichts zwischen den Großmächten, konnte aber nicht verhindern, dass das Deutsche Reich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die bestehende Ordnung in Frage stellte (Zamoyski 2007, S.556f). Damit war eine „bilaterale Duell-Situation“, die das Konzert gerade verhindern sollte (Müller und Rauch 2015, S.63), wahrscheinlicher geworden (Wette 2014, S.60). Eine Zivilisierung der Machtpolitik im Rahmen des Konzerts gelang also nur dort, wo keine als essentiell eingestuften Interessen der Großmächte dem entgegenstanden (Schulz 2015, S.97).

Einer der gravierendsten Konstruktionsfehler des Konzerts lag in der mangelnden Normierung des Interventionsrechts (Schulz 2009, S.74-76; Vec 2010). Man kann diese Problematik zwar zur Entlastung des Konzerts überwiegend der »Heiligen Allianz« zuschreiben, zu der sich Russland, Preußen und Österreich nach dem Sieg über Napoleon zusammenschlossen, um die monarchischen Herrschaftsansprüche gegen die neuen national-liberalen Strömungen des frühen 19. Jahrhunderts zu verteidigen. (Der Allianz trat nach der Restauration der Monarchie auch Frankreich bei). Aber die unzulängliche normative Einhegung unilateraler Interventionen wirkte auf das Konzert zurück. Die militärische Intervention stellte das gewaltsame Mittel der Großmächte dar, um die im Wiener Frieden zugrunde gelegte Trennung von Außen- und Innenpolitik (Müller und Rauch 2015, S.56) im Bedarfsfall aufzuheben (Osterhammel 2001, S.168). Militärisches Vorgehen gegen Aufstände und Revolutionen konnte der Stabilität der Großmächteordnung durchaus dienlich sein, erhöhte aber letztlich das Konfliktpotential zwischen ihnen, wie sich mit Beginn des Ersten Weltkrieges zeigte.

In der Gleichzeitigkeit von (teilweisem) Frieden zwischen den Großmächten und ausgeübtem Zwang durch die Großmächte zeigt sich das „Doppelantlitz der internationalen Beziehungen“ im 19. Jahrhundert (Schlichte 2010, S.161): Dem Fortschritt des modernen Statebuilding und des Handels in den europäischen Hauptstädten standen Krieg, Intervention, Überwachung, informeller Imperialismus und Kolonialerwerb gegenüber (Zamoyski 2007, S.568 f.). Mittlere bzw. kleine Mächte in Europa sowie „un-“ bzw. „halb-civilisirte“ Staaten oder politische Ordnungen in Europa, in Übersee und in Afrika wurden unter Einsatz und Androhung von militärischer Gewalt zur „Verfügungsmasse der Großmächte“ degradiert (Langewiesche 1993, S.12).

Die Marginalisierung und aktive Bekämpfung progressiver Stimmen war Nährboden für gesellschaftliche Unzufriedenheit in Europa, für politische Opposition, aber auch für internationale Geheimbünde, Aufstände und politisch motivierte Attentate, die die Krisenmanagementkapazitäten der Großmächte (in Gestalt des Konzerts) tendenziell überforderten. Die Logik der exklusiven Großmächtediplomatie und seine Orthodoxie in der Behandlung soziopolitischer Entwicklungen in Europa säten damit selbst „Keime seiner Selbstzerstörung“ (Zamoyski 2007, S.569).

Der Befund ist also gemischt: Einerseits gelang es dem Konzert, auf der Grundlage gemeinsam geteilter Normen eine Kommunikationspraxis zu entwickeln, die die Konflikte zwischen den Großmächten für eine gewisse Zeit einhegte. Realistische Erklärungsangebote zum Konzert greifen also zu kurz (Müller und Rauch 2015, S.43), denn sie erfassen die Komplexität der Verbindung zwischen Normen und Macht nicht. Das herauszuarbeiten, ist eines der Verdienste des Frankfurter Autorenteams. Andererseits standen dem angestrebten „Machtübergangsmanagement“ der Großmächte (ebenda, S.36) nicht nur zwischen- und innerstaatliche Krisen und Kriege, sondern auch ein Missmanagement der sozialen Konflikte in den europäischen Staaten gegenüber. Nationalismus und Chauvinismus bestimmten das politische Klima in Europa am Ende des 19. Jahrhunderts.

Aber nicht nur diese Dimension des Krisenmanagements durch das Konzert gilt es zu berücksichtigen, sondern auch das gesellschaftliche Konfliktpotential innerhalb der Großmächte selbst – sowohl bezogen auf die politischen Eliten als auch auf die jeweiligen sozialen Auseinandersetzungen, die etwa in Russland nach dem Dritten Pariser Frieden von 1856 oder in der Julikrise von 1914 kriegsfördernd wirkten (Wette 2014). Das Mächtekonzert steht für beides, Frieden und Zwang. Es offenbart die möglichen negativen Folgen eines exklusiven Großmächtekonzerts, die ihrerseits auf die Funktionsfähigkeit des Konzerts zurückwirken. So hatte sich unter dem Konzert ein enormes Konfliktpotential angesammelt, das sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts Bahn brach.

Konstruktive Blaupause oder Aushöhlung der internationalen Rechtsordnung?

Die Frankfurter Forschergruppe ist sich bewusst, dass ein Konzert der Großmächte heute in einem vollkommen anderen institutionellen Umfeld operieren würde als in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Zu diesem anderen Umfeld gehört ein dichtes Netz internationaler Einrichtungen und völkerrechtlicher Regelungen, die heute fast jeden Aspekt des kollektiven Handelns erfassen. Wie soll das Konzert in diesem Geflecht von Institutionen und rechtlichen Regelungen verortet werden?

Aus sicherheitspolitischer Perspektive besteht ein zentrales Problem des heutigen Multilateralismus in der institutionellen Schwäche des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen als höchstem Organ der kollektiven Friedenssicherung. Die Forschergruppe der HSFK geht von der Möglichkeit aus, die Entscheidungsprozesse im Sicherheitsrat zu verbessern, ohne die Privilegien der fünf Ständigen Mitglieder und Vetomächte als Vorbedingung für eine neue Verfahrensweise aufgeben zu müssen. Das angedachte Konzert könnte sozusagen als eine dem Sicherheitsrat vorgelagerte Instanz zur Konsensfindung fungieren und helfen, die Bedeutung des Vetos im Sicherheitsrat abzuschwächen, indem die Vetomächte sich außerhalb des Sicherheitsrates mit anderen Großmächten beraten oder Vetostaaten von anderen Mitgliedern des Konzerts durch »naming and shaming« unter Druck gesetzt werden, auf Obstruktion zu verzichten (Müller et al. 2014, S.23; Müller und Rauch 2015, S.62).

Es geht so gesehen also nicht um die Ausschaltung der Vereinten Nationen, sondern um eine Verbesserung ihrer Funktionsweise. Dementsprechend grenzt sich die Frankfurter Forschergruppe auch dezidiert gegenüber der Vorstellung ab, eine »Liga von Demokratien« könne als Alternative zu den Vereinten Nationen den sich vollziehenden Machtübergang von der hegemonialen zu einer pluralen Weltordnung bewerkstelligen. Eine solche Liga, so wird überzeugend argumentiert, würde zur Bildung von Gegenallianzen führen, so dass sich im Ergebnis die Probleme des Machtübergangs verschärfen würden (ebenda, S.48). In diesem Sinne kann man die »Blaupause« der Forschergruppe als ein Angebot für die Bearbeitung gegenwärtiger Weltordnungsprobleme verstehen, das im Gegensatz zu der Idee der Liga die Einheit des Völkerrechts wahrt und das System der Vereinten Nationen respektiert.

Insofern soll das Konzert mit der bestehenden Völkerrechtsordnung und den Vereinten Nationen kompatibel sein. Ob diese Kompatibilität aber gewahrt bleibt, hängt nach dem Urteil der Frankfurter Autoren davon ab, ob „das Konzert Selbstbeschränkung“ übt (Müller et al. 2014, S.23). Hier stellt sich jedoch die Frage, weshalb eine solche Selbstbeschränkung im Konzert besser funktionieren soll als im Sicherheitsrat, zumal den Entscheidungen im Sicherheitsrat ohnehin Konsultationen zwischen den Großmächten (und zwar auf verschiedenen Ebenen) vorgelagert sind. Eine Form der Selbstbeschränkung wäre natürlich der Ausschluss missliebiger Mitglieder (wie bei der G7/G8), aber gerade das gälte es ja zu vermeiden, soll das Konzert als solches nicht ad absurdum geführt werden.

Eine weitere Frage ergibt sich aus Folgendem: Für das 19. Jahrhundert kann man nur dann von einer Selbstbeschränkung des Konzerts sprechen, wenn man es zu heuristischen (analytischen) Zwecken von der Heiligen Allianz trennt, wie es die Autoren tun. In der Praxis hat es diese Trennung aber insofern nicht gegeben, als die Interventionspolitik der »Heiligen Allianz« auf das Konzert zurückwirkte (s.o.). Auch für die heutige Zeit wäre davon auszugehen, dass ein Großmächte-Konzert immer auch als Herrschaftsallianz fungieren würde, und zwar im doppelten Sinne: zur Kontrolle kleinerer Staaten und zur Kontrolle missliebiger sozialer Bewegungen im Namen der internationalen Sicherheit. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Wie sich heute in beklagenswerter Weise zeigt, ist nicht alles, was sich im Widerspruch zum etablierten Staatensystem auf innerstaatlicher oder transnationaler Ebene tut, als emanzipatorisch zu werten. Das Gegenteil kann der Fall sein (und das ist es im Falle des Terrorismus auch). Aber Selbstbeschränkung und Selbstermächtigung liegen eng beieinander und dürften sich, wie die historische Erfahrung zeigt, in der Praxis immer wieder in die Quere kommen.

Könnte das Konzert über die Kompatibilität mit der bestehenden Völkerrechtordnung in Gestalt der Vereinten Nationen hinaus zu deren Stärkung und Weiterentwicklung beitragen (Müller et al. 2014, S.23)? Bekanntlich hat Jürgen Habermas 1999 räsoniert, die unilaterale Intervention der NATO im Kosovo könnte sich unter bestimmten Bedingungen als Vorgriff auf eine angemessen institutionalisierte Weltordnung erweisen (Habermas 1999). Man hat heute nicht den Eindruck, dass es sich bei der Kosovo-Intervention tatsächlich um einen solchen Vorgriff gehandelt hat, sonst müsste man jetzt nicht über Alternativen wie die hier diskutierte nachdenken.

Andererseits hat sich die Verhandlungspolitik als Mittel des Krisenmanagements inzwischen weiterentwickelt, nicht trotz, sondern wegen der Zuspitzung gefährlicher Konflikte (Iran, Ukraine, Syrien). Würde Verhandlungspolitik zur Routine, wäre das durchaus ein gewisser Fortschritt im Umgang mit laufenden und kommenden Krisen und Konflikten (Staack 2015, 250). Das gedachte Konzert könnte in diesem Sinne den Raum für einen konstruktiven Umgang mit dem sich vollziehen Machtwechsel erweitern. Das ist jedoch nicht gleichbedeutend mit einer Weiterentwicklung der bestehenden Völkerrechtsordnung.

Es besteht die Gefahr, dass eine solche Weiterentwicklung durch die Fixierung auf eine konzertante Großmächtepolitik gänzlich von der Tagesordnung der Weltordnungspolitik verschwinden würde. Es waren, wie bereits gesagt, die Funktionsschwächen des historischen Konzerts, die zu dem Unterfangen führten, die Entscheidung über Krieg und Frieden dem Ermessen der Einzelstaaten zu entziehen und in ein System positiv-rechtlicher Regelungen zu überführen (Völkerbund, Vereinte Nationen). Die Fokussierung auf ein Konzert könnte diese Entwicklung umdrehen und wieder verstärkt auf die informelle Kooperation von Großmächten setzen. An Stelle einer rechtlichen Einschränkung einzelstaatlicher Handlungsfreiheit träte dann wieder die kluge Politik, von der schon Kant wusste, dass sie sich nicht von alleine einstellt, sondern unbedingt der positivrechtlichen Begleitung bedarf. Ohne eine solche Politik der Klugheit geht es nicht. Gefragt ist also eine Balance zwischen formellen und informellen Verfahren (Daase 2009), die durch die Einrichtung des Konzerts noch weiter zugunsten des Informellen verschoben würde und damit das völkerrechtliche Prinzip der souveränen Gleichheit der Staaten als Wendepunkt der Völkerrechtsentwicklung (Art. 2, Ziff. 1 UN-Charta) noch weiter aushöhlen würde (Fassbender 2004).

Fazit

Die Lehren des 19. Jahrhunderts für die kollektive Friedenssicherung sind gemischt. Einerseits zeigt die damalige Entwicklung, dass es Chancen einer multilateralen Kooperation zur Vermeidung großer Kriege gibt, die so von den Realisten nicht erkannt werden (können). Auf diese Chancen kann und muss man bauen. Andererseits zeigt sich im historischen Konzert ein Ineinandergreifen von Kriegsverhütung im Großen und Kriegstreiberei im Kleinen, die das Konzert von innen zerstörte. Die Errichtung einer positiv-rechtlichen Ordnung, die das freie einzelstaatliche Ermessen bei der Anwendung von Gewalt aufhebt, soll dem entgegenwirken. Ohne Ausbau des Völkerrechts kann man sich Mearsheimers Logik einer strukturell vorgegebenen Machtpolitik schwer entziehen.

Das Motto für alle Konzert-Partituren muss also lauten: „Zurück zum Völkerrecht!“ (Brock 2016) Denn eine grundlegende Verschiebung der Gewichte von der formellen auf die informelle Ebene der internationalen Politik (von der kollektiven Friedenssicherung zum »gerechten Krieg«) würde letztlich ins 19. Jahrhundert zurückführen. Aus dem »Zurück voran« würde dann doch ein »Voran zurück«, wenn auch nicht im Sinne Mearsheimers.

Anmerkungen

1) Politikwissenschaftliche »Realisten« stehen einem Fortschritt internationaler Ordnung durch Bindung einzelstaatlicher Handlungsfreiheiten an Rechtsnormen skeptisch gegenüber. Zentraler Fokus ist hingegen (wenn auch nicht ausschließlich) Politik als »ewiger« Streit um Macht und Sicherheit.

2) Beim »Konzert der Mächte« handelt es sich um eine mehr oder minder stark institutionalisierte, »konzertierte« Kooperation zwischen den europäischen Großmächten zur Gestaltung der europäischen Friedensordnung, die zunächst als Defensivbündnis gegen das revolutionäre Frankreich mit dem Vertrag von Chaumont am 1. März 1814 gegründet worden war und sich durch unregelmäßige diplomatische Treffen während des 19. Jahrhunderts verstetigte. Frankreich wurde nach dem endgültigen Sieg über Napoleon in das »Konzert« aufgenommen.

Literatur

Lothar Brock (2016): Zurück zum Völkerrecht – Friedensarchitekturen in kriegerischer Zeit. Blätter für deutsche und internationale Politik, 61(1), S.47-58.

Christopher Daase (2009): Die Informalisierung internationaler Politik – Beobachtungen zum Stand der internationalen Organisation. In: Klaus Dingwerth (Hrsg.): Die organisierte Welt – Internationale Beziehungen und Organisationsforschung. Baden-Baden: Nomos, S.290-308.

Jost Dülffer (1981): Regeln gegen den Krieg? Die Haager Friedenskonferenzen 1899 und 1907 in der internationalen Politik. Frankfurt am Main: Ullstein.

Bardo Fassbender (2004): Die souveräne Gleichheit der Staaten – ein angefochtenes Grundprinzip des Völkerrechts. Aus Politik und Zeitgeschichte, 15.10.2004.

Jürgen Habermas (1999): Bestialität und Humanität – Ein Krieg an der Grenze zwischen Recht und Moral. DIE ZEIT, 29. April 1999.

Michael Jonas, Ulrich Lappenküper und Bernd Wegner (Hrsg.) (2015): Stabilität durch Gleichgewicht – Balance of Power im internationalen System der Neuzeit. Paderborn: Ferdinand Schöningh.

Martti Koskenniemi (2002): The Gentle Civilizer of Nations – The Rise and Fall of International Law 1870-1960. Cambridge: Cambridge University Press.

Dieter Langewiesche (1993): Europa zwischen Restauration und Revolution – 1815-1849. München: Oldenbourg Wissenschaftsverlag, 3. Aufl.

Ulrich Lappenküper und Reiner Marcowitz (Hrsg.) (2010): Macht und Recht – Völkerrecht in den internationalen Beziehungen. Paderborn: Ferdinand Schöningh.

John J. Mearsheimer (1990): Back to the future – Instability in Europe after the Cold War. International Security, 15(1), S.5-56.

Harald Müller et. al. (2014):, Ein Mächtekonzert für das 21. Jahrhundert – Blaupause für eine von Großmächten getragene multilaterale Sicherheitsinstitution. HSFK-Report Nr. 1/2014.

Harald Müller und Carsten Rauch (2015): Machtübergangsmanagement durch ein Mächtekonzert – Plädoyer für ein neues Instrument zur multilateralen Sicherheitskooperation. Zeitschrift für Friedens- und Konfliktforschung, 4(1), S.36-73.

Jürgen Osterhammel (2001): Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaats – Studien zu Beziehungsgeschichte und Zivilisationsvergleich. Bonn: Vandenhoeck & Ruprecht.

Klaus Schlichte (2010): Das formierende Säkulum – Macht und Recht in der internationalen Politik des 19. Jahrhunderts. In: Lappenküper und Marcowitz 2010, op.cit., S.161-177.

Matthias Schulz (2009): Normen und Praxis – Das Europäische Konzert der Großmächte als Sicherheitsrat – 1815-1860. München: De Gruyter Oldenbourg.

Matthias Schulz (2015): Mächterivalität, Rechtsordnung, Überlebenskampf – Gleichgewichtsverständnis und Gleichgewichtspolitik im 19. Jahrhundert. In: Jonas et. al. 2015, op.cit., S.81-99.

Hendrik Simon (2016): The Myth of Liberum Ius Ad Bellum in 19th Century International Legal Discourse. Manuskript.

Michael Staack (2015): Von der »Pax Americana« zur multipolaren Konstellation – Perspektiven einer neuen Weltordnung zu Beginn des 21. Jahrhunderts. In: Jonas et. al. 2015, op.cit., S.225-254.

Miloš Vec (2010): Intervention/Nichtintervention – Verrechtlichung der Politik und Politisierung des Völkerrechts im 19. Jahrhundert. In: Lappenküper/Marcowitz 2010, op.cit., S.135-160.

Wolfram Wette (2014): Der Erste Weltkrieg – nur noch Geschichte? In: Bruno Schoch et al. (Hrsg.): Friedensgutachten 2014. Münster: LIT, S.59-71.

Adam Zamoyski (2007): Rites of Peace – The Fall of Napoleon and the Congress of Vienna. New York: HarperCollins; deutsche Ausgabe 2014 erschienen unter dem Titel »1815: Napoleons Sturz und der Wiener Kongress« bei C.H. Beck.

Lothar Brock ist Seniorprofessor für Politikwissenschaft an der Goethe-Universität und Gastforscher am Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, beide Frankfurt am Main.
Hendrik Simon, Dipl.-Pol. und M.A., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main und promoviert zur Rechtfertigung von Gewalt und Frieden in den internationalen Beziehungen.

Kommerzialisierung des Sozialen

Kommerzialisierung des Sozialen

FIfF-Jahrestagung, 6.-8. November 2015, Universität Erlangen-Nürnberg

von Stefan Hügel

Im Zentrum der 31. FIfF-Konferenz, die am 6.-8. November 2015 unter dem Motto »Kommerzialisierung des Sozialen – Markt und Macht im Zeitalter digitaler Kompletterfassung« an der Universität Erlangen-Nürnberg stattfand, stand die Auseinandersetzung mit digitaler Sensorik, die zunehmend unser Leben durchdringt und unaufhörlich Daten generiert und speichert, von deren Existenz wir oft gar nichts wissen. Die Daten entstehen in Computern und Smartphones, aber auch in Navigationsgeräten, Fitnesstrainern und digitalen Implantaten. Jeder Mensch und jede menschliche Interaktion hinterlässt dadurch digitale Spuren, ein Umstand, den nicht nur Suchmaschinen und soziale Netzwerke zu einem Geschäftsmodell gemacht haben. Nachdem der Mensch als Arbeitskraft und Konsument umfassend überwacht, analysiert und kommerzialisiert wurde, folgt mit dem »Internet der Dinge« nun die Kommerzialisierung des privaten und sozialen Lebens? Welchen Wert haben unsere privaten und sozialen Daten, und wer verdient an ihnen? Welche Konsequenzen haben Likes, LifeStyle-Apps und das »Internet der Dinge« auf das Machtgefüge der Gesellschaft?

Ein weiteres Thema der Konferenz war die Kampagne »Cyberpeace« des FIfF, zu der ein (Zwischen-) Fazit gezogen und die Frage diskutiert wurde, wie sie weitergeführt werden soll. Derzeit wird die Kampagne durch die Stiftung Bridge gefördert.

Felix Freiling, Professor für Informatik an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und Gastgeber der Konferenz, begrüßte die Teilnehmer_innen am Freitagabend. Darauf folgten zwei Vorträge: Miika Blinn, Referent für Digitales und Medien beim Verbraucherzentrale Bundesverband, sprach zum Thema »Individuelle Preise – Eine Herausforderung für Verbraucher«. Der Einsatz von »Big Data«, so Blinn, verändere Wettbewerb und Marktprozesse fundamental. Wenn zunehmend selbstlernende Algorithmen auf Basis von »Big Data« Preise gestalten, führe dies zu einer erheblichen Informationsasymmetrie zugunsten der Anbieter. Wenn sich Preise auf Grund nicht nachvollziehbarer Mechanismen im Minutentakt ändern, könne dies die Verbraucher stark verunsichern.

»Smart-TVs im Fokus der Datenschutzaufsichtsbehörden« war das Thema von Andreas Sachs, dem Leiter des technischen Referats beim Bayerischen Landesamt für Datenschutzaufsicht in Ansbach. Als eine der letzten Bastionen des analogen Zeitalters erfahre das Fernsehen durch die (breitbandige) Internetanbindung der aktuellen Geräte, der SmartTVs, tiefgreifende Veränderungen. Stichworte wie »Konvergenz der Medien« lösen das lineare Rundfunksignal – und damit das anonyme Fernsehen – ab und bieten den Bürgern Angebote wie HbbTV, Mediatheken, personalisierte Dienste und Apps auf dem Fernsehgerät an. Unter der Federführung des Bayerischen Landesamtes für Datenschutzaufsicht führten die Datenschutzaufsichtsbehörden der Länder im Winter 2014/15 ein technisches Prüfprojekt zu den Datenflüssen bei SmartTVs durch, mit dem Ziel, eine Basis für eine rechtliche Bewertung und einen aufsichtlichen Vollzug zu schaffen. Im Vortrag wurde neben den technischen Aspekten der Prüfung auch auf die rechtlichen Gegebenheiten und Probleme und die Möglichkeiten der aufsichtlichen Kontrolle bei SmartTVs eingegangen.

Der deutsche Künstler Florian Mehnert erlangte mit mehreren Kunstprojekten und Ausstellungen zum Thema Überwachung international Aufmerksamkeit. Bereits im Rahmen des Schwerpunkts in der FIfF-Kommunikation 3/2015 hatte er von seinem Kunstexperiment »11 TAGE« berichtet, in dem er den Einsatz ferngesteuerter bewaffneter Drohnen und somit die gezielte Tötung als Folge der Überwachung untersuchte. Die internationalen Reaktionen auf das Projekt waren extrem kontrovers, es folgten ein Shitstorm und Morddrohungen, die Behörden reagierten nervös. In seinem Vortrag arbeitete er vor allem die Reaktionen auf das Projekt auf sowie die Fragen, die sich aus den Reaktionen ergaben. Ergänzend berichtete er von weiteren Kunstprojekten, wie beispielsweise dem Projekt »Waldprotokolle« in dem er Wege und Lichtungen in Wäldern mit Mikrofonen verwanzte, die vorbeigehende Passanten abhörten. (In der aktuellen Ausgabe der FIfF-Kommunikation wird im Rahmen eines Schwerpunkts von einer Veranstaltung in Freiburg berichtet, in der ebenfalls das Kunstprojekt »11 TAGE« Thema war und aus unterschiedlichen Blickwinkeln – medientheoretisch, kunsttheoretisch, juristisch, soziologisch und zivilgesellschaftlich – beleuchtet wurde.)

Sebastian Hahn, Student an der Universität Erlangen-Nürnberg und seit 2008 am Tor-Projekt zur Anonymisierung von Verbindungsdaten im Internet beteiligt, berichtete über »Privacy by Design in einer digitalen Welt«. Historisch betrachtet war das Internet nie dazu gedacht, die Daten seiner Nutzer zu schützen. Die Protokolle, die im Internet Verwendung finden, müssen daher mühevoll erweitert oder ersetzt werden, um die informationelle Selbstbestimmung möglich zu machen. Gleichzeitig werden die Qualitätsprobleme unserer Softwareinfrastruktur immer deutlicher sichtbar, ein neuer, ganzheitlicher Ansatz würde der digitalen Welt gut tun. Am Beispiel von Tor wird aufgezeigt, welche Probleme Overlaynetzwerke lösen können und wo sie versagen, welche typischen Fehler im Entwicklungsprozess auftreten können und wie versucht wird, diese zu identifizeren und zu beheben, bevor ein Schaden entstehen kann.

Den Abschluss bildete am Sonntagmorgen der Vortrag von Sebastian Jekutsch »Was gibt’s Neues in Sachen Faire Computer?«. Sebastian Jekutsch recherchiert und informiert seit nun fünf Jahren über sozialverträgliche IT-Produktion. Er ist Sprecher der AG Faire Computer des FIfF und Initiator des Blog faire-computer.de. In seinem Vortrag berichtete er davon, was in den letzten Jahren im Bereich der sozialverträglichen IT-Produktion geschehen ist und in welche Richtung sich die Szene entwickelt. Nach eine kurzen Einführung ging es zur Sache: Apple und Samsung, ein Siegel und viele Rankings, Konfliktfreiheit und Sklavenarbeit, Unternehmens- und Konsumentenverantwortung, Fairphone und die faire Nager-IT-Maus. Man erkennt, dass praktisch alle Fortschritte auf Druck aus der Zivilbevölkerung und aus professionell arbeitenden Nichtregierungsorganisationen zustande kamen. Sebastian Jekutsch stellte die Szene vor, in der sich auch das FIfF bewegt. Es folgten Hinweise, wie man sich als Konsument und Aktivist beteiligen kann, wenn einem Fairness wichtig ist. Am Schluss standen Forderungen, aber nicht an die Hersteller oder uns Konsumenten, sondern an die, die tatsächlich die Macht haben: an die Politik.

Arbeitsgruppen befassten sich mit den Themen »Internet der Dinge«, »Teilhabe an der allgegenwärtigen Kommunikation« und »Grenzen der Biometrie«. Zwei Arbeitsgruppen gab es zur Kampagne Cyberpeace: Auf die bisherige Kampagne wurde Rückschau gehalten und davon ausgehend diskutiert, wie sie weitergeführt werden kann. Die Teilnehmenden waren sich einig, dass dieses Thema über den Zeitraum der Förderung durch die Stiftung Bridge hinaus zentrales Thema des FIfF bleiben und auch künftig – ggf. in abgewandelter Form – weitergeführt werden soll. Ein zweiter, praxisorientierter Workshop hatte zum Ziel, das Logo der Cyberpeace-Kampagne zum Blinken zu bringen – dadurch haben wir jetzt einen echten Blickfang für weitere Aktionen der Kampagne.

Bereits am Samstagabend wurde zum fünften Mal der FIfF-Studienpreis verliehen. Die Laudatoren Britta Schinzel und Stefan Hügel gratulierten Christian Kühne aus Berlin zum ersten Preis für seine Arbeit »GNUNet und Informationsmacht – Analyse einer P2P-Technologie und ihrer Folgen«, Laura Fichtner aus Twente zum Preis für ihre Arbeit »Scientia est Potentia: Techno-Politics as Network(ed) Struggles« und Angela Meindl aus Bremerhaven zum Preis für ihre Arbeit »Internet-Profiling – Umfang, Risiken und Schutzmaßnahmen am Beispiel von Google«.

Auf der abschließenden Mitgliederversammlung des FIfF wurde u.a. ein neuer Vorstand gewählt. Kern des Vorstandsberichts waren ebenfalls die Kampagnen zu Cyberpeace und Faire Computer, mit einer beeindruckenden Anzahl von Aktivitäten und Publikationen.

Bei der Vorstandswahl wurden Stefan Hügel als Vorsitzender und Dietrich Meyer-Ebrecht als sein Stellvertreter bestätigt. Als Beisitzer_innen wurden Anne Schnerrer und Benjamin Kees (beide Berlin) und Michael Ahlmann (Bremen) neu gewählt und die bisherigen Mitglieder Sylvia Johnigk, Hans-Jörg Kreowski, Kai Nothdurft, Rainer Rehak, Jens Rinne, Britta Schinzel, Ingrid Schlagheck, Werner Winzerling und Eberhard Zehendner bestätigt.

Stefan Hügel

Netzwerke organisierter Gewalt

Netzwerke organisierter Gewalt

BICC-Jahrestagung 2015, 28. Oktober 2015, Bonn

von Susanne Heinke und Elvan Isikozlu

Nach den Terrorattacken vom 11. September 2001 sprach Mark Duffield vom Beginn eines »Krieges der Netzwerke«. Er stellte die These auf, dass Staaten und ihre Sicherheitsapparate zwar nach wie vor von wesentlicher Bedeutung seien, zunehmend aber auch Netzwerke existierten, die nicht territorial verortet sind. Solche Netzwerke stellen die Friedens- und Konfliktforschung vor die grundsätzliche Herausforderung zu verstehen, mit welcher (neuen) Art von Akteuren sie es zu tun hat und wie auf diese reagiert werden kann, um organisierte Gewalt einzudämmen.

Diesem Thema widmete sich die internationale Konferenz »Netzwerke organisierter Gewalt«, die das BICC (Internationales Konversionszentrum Bonn) am 28. Oktober 2015 im Bonner Universitätsclub veranstaltete. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler diskutierten sowohl die Rolle, die Netzwerke für die Mobilisierung von Kombattanten haben, als auch die Frage, welche finanziellen, technologischen oder sozialen Ressourcen sie bereitstellen.

Die verschiedenen Podien der Konferenz brachten dabei durchaus widersprüchlich erscheinende Erkenntnisse zu Tage. So beleuchtete das erste Panel »Neue Formen der multidimensionalen Kriegsführung« und ging vor allem auf die Gewaltakteure und ihre unterschiedlichen Strategien im jeweiligen Kampfgebiet ein. Andreas Heinemann-Grüder verglich die Rekrutierungsmethoden der ukrainischen und der pro-russischen nicht-staatlichen Kombattanten im Ukrainekonflikt, wo 2014 binnen vier bis fünf Monaten bis zu 80 paramilitärische Gruppen entstanden, und analysierte ihre Gewaltdynamiken. Margit Bussmann untersuchte die Logik zielgerichteter einseitiger Gewaltanwendung seitens staatlicher und nicht-staatlicher Gruppen gegen die Zivilbevölkerung in Bürgerkriegen, die einerseits mit den Kräfteverhältnissen zwischen Konfliktparteien, andererseits aber auch mit fehlender internationaler Kontrolle bzw. mangelnden Sanktionsmechanismen zusammenhinge. Teresa Kolomba Beck stellte basierend auf einer Feldforschung in Kabul 2015 dar, wie sich ein internationalisierter Konflikt auf das Alltagsleben auswirkt und in manchmal paradoxer Weise starke Erfahrungen von Globalität produziert. Ausgehend davon stellte sie die Frage, welche Auswirkungen dies auf Konfliktmanagement und Peacebuilding haben könne.

Das Panel »Netzwerke der Militärtechnologie« setzte einen entgegengesetzten Schwerpunkt, indem es darstellte, wie es der technische Fortschritt zunehmend erlaubt, den Krieg zu entterritorialisieren. So argumentierte Niklas Schörnig, dass unbemannte Kampfsysteme Staaten neue Möglichkeiten bieten, sich relativ verlustarm und aus der Ferne in militärischen Operationen zur Unterstützung lokaler »Partner« zu engagieren und damit potenziell die Schwelle militärischen Eingreifens zu senken. Ein solcher neuer »Western way of war« sei, so Max Mutschler in seinem Vortrag »On the Road to Liquid Warfare?«, nicht das Resultat demokratischer Institutionen und Werte, sondern der Exterritorialisierung der Macht und der Tatsache geschuldet, dass westliche Staaten über entsprechende militärische Technologien verfügen und sie nutzen. Dies führe zu der Frage, ob es sich in erster Linie um ein speziell westliches Phänomen handele. Peter Wezemann stellte zum einen dar, wie die Kombination von Netzwerken und militärischen Technologien militärische Kapazitäten schaffe, die zur Veränderung des regionalen – konventionellen oder atomaren – strategischen Gleichgewichts führen könnten. Zum anderen hob er den Beitrag hervor, den internationale politische und ökonomische Netzwerke bei der Verbreitung solcher Militärtechnologien leisten.

Die dritte Panelrunde ging u.a. anhand der Beispiele Kurdistan und Afghanistan auf »Wechselnde Allianzen und Akteure« ein. Carina Schlüsing präsentierte eine Fallstudie zu kurdischen Gruppierungen im Mittleren Osten. Zum besseren Verständnis der Konflikte sei es notwendig, die Fragmentierung der Akteure genau zu untersuchen, zum Beispiel in Bezug auf ihre ideologischen Positionen, politischen Ziele und Kooperationsmechanismen. Max Gallop trug seine Ergebnisse zur quantitativen Netzwerkanalyse im Rahmen eines Strukturmodells zur Prognostizierung ziviler Krisen anhand des Beispiels Thailand vor. In seinem Beitrag erläuterte Conrad Schetter seine auf der »Social Network Analysis«-Methode basierende Forschung zu Stammesnetzwerken in Ostafghanistan. Sie stellt die Entstehung von Allianzen und Konflikten unter Bezug auf die dortige Stammespolitik während der US-Militärintervention dar und kommt zu dem Schluss, dass diese auch deshalb zum Scheitern verurteilt gewesen sei, weil sie die Schlüsselcodes und Interaktionen innerhalb der Stammesgesellschaft ignorierte.

Als schwierig erwies sich die abschließende Fragestellung, wie vor dem Hintergrund verschiedener Netzwerke organisierter Gewalt ein »nachhaltiger Frieden« zu schaffen sei. Jocelyn Mawdsley verwies darauf, dass der Westen bestimmte Strukturen zur Regulierung organisierter Gewalt selbst unterminiert habe. So hätten Staaten zum Beispiel Sicherheitsfunktionen an Netzwerke übertragen, die keinerlei demokratischer Rechenschaftspflicht unterworfen sind. Diese Sicherheitsnetzwerke gilt es kritisch zu analysieren, um zu erkennen, ob und wie sie mit Netzwerken organisierter Gewalt zusammenhängen.

Conrad Schetter unterstrich, dass die BICC-Konferenz zum Thema »Netzwerke organisierter Gewalt« einen Beitrag dazu leisten sollte, den bisher dominierenden Fokus auf Institutionen, Strukturen und Staaten zu verändern. Gleichzeitig stelle sich die Frage, welche neuen Erkenntnisse und Einsichten in Bezug auf organisierte Gewalt das Netzwerkkonzept oder andere Methoden zur Erforschung von Netzwerken bringen und wie diese angewandt werden können.

So wandten Diskussionsteilnehmer ein, dass zum Beispiel die Erhebung von Daten immer auch an gewisse Grenzen stieße und von keiner Methode erwartet werden könne, alle relevanten Daten zu sammeln. Ziel müsse es vielmehr sein, verschiedene Mittel und Methoden zur Erforschung organisierter Gewalt zu kombinieren. Dabei kann die Netzwerkanalyse nur eine Momentaufnahme anbieten, da Netzwerke immanent fluid und dynamisch sind. Die Stärke dieser Methode sei eher die Detailaufnahme als das große Ganze. Gleichwohl habe sie sich als sehr nützlich erwiesen, wenn es darum ging, Netzwerke zu verstehen, die helfen, Gewalt zu überleben und zu überwinden.

Netzwerke gehören möglicherweise mehr denn je zum gegenwärtigen Bild von Frieden und Sicherheit. Sie sollten, statt sie vor allem als Herausforderung zu betrachten, auch auf ihr Potenzial untersucht werden, Frieden zu schaffen und organisierte Gewalt zu reduzieren.

Susanne Heinke und Elvan Isikozlu