Ein nachhaltiger Friedensprozess?

Ein nachhaltiger Friedensprozess?

Innovatives Potential in den Mindanao-Friedensverhandlungen

von Jan Pospisil und Johanna Rodehau-Noack

Mit dem »Umfassenden Abkommen über die Bangsamoro« soll der seit Jahrzehnten andauernde bewaffnete Konflikt in Mindanao endgültig in friedliche Bahnen gelenkt werden. Der Friedensprozess ist allerdings durch kurz- wie langfristige Herausforderungen gekennzeichnet. Der Beitrag analysiert diese Herausforderungen im Vergleich zu vorangegangenen Friedensprozessen in der Region und diskutiert, wie ihnen im Zuge der Verhandlungen offensiv begegnet wurde. Trotz seiner innovativen Gestaltung ist der Friedensprozess noch keineswegs gesichert; vor allem die starke Verknüpfung mit der Präsidentschaft Aquino und die fehlende Einbindung relevanter Konfliktparteien stellen schwerwiegende Risiken dar.

Am 27. März 2014 wurde mit der Unterzeichnung des »Comprehensive Agreement on the Bangsamoro« (Umfassendes Abkommen über die Bangsamoro) der mehrjährige Verhandlungsprozess zwischen der philippinischen Regierung und der Moro Islamic Liberation Front (MILF) in eine (zumindest dem Anspruch nach) als umfassend geltende Vertragsform gebracht. Mit dem Friedensvertrag wollen beide Seiten den seit den 1960er Jahren andauernden bewaffneten Konflikt auf Mindanao, der in Teilen islamisch geprägten Südinsel der Philippinen, dauerhaft in Richtung einer friedlichen, demokratischen Aushandlung transformieren.

Ohne Zweifel ist der formelle Abschluss der Verhandlungen Ergebnis einer positiven Entwicklung, die noch vor einigen Jahren von den meisten Beobachter/innen für undenkbar gehalten wurde. Zugleich sind im Verlauf des Friedensprozesses nach wie vor schwerwiegende Herausforderungen auf kurzfristiger wie langfristiger Ebene zu bewältigen. Der vorliegende Beitrag diskutiert diese Herausforderungen im historischen Kontext bisheriger Friedensbemühungen für Mindanao. Gefragt wird einerseits, wie es gelungen ist, die kurzfristigen Schocks und langfristigen Stressfaktoren so weit in den Griff zu bekommen, dass die Verhandlungen selbst nicht substantiell gefährdet waren. Andererseits wird diskutiert, wie sich die potenziellen Schocks und die vorhandenen Stressfaktoren im weiteren Verlauf des Friedensprozesses auswirken könnten und ob das nun eingerichtete strukturelle Setting ausreicht, um den Prozess der Konflikttransformation in Mindanao auch nachhaltig garantieren zu können.

Der Mindanao-Friedensprozess in historischer Perspektive

Drei zentrale Aspekte kennzeichnen alle bisherigen Friedensbemühungen in Bezug auf den Mindanao-Konflikt. Die Implementierung einer Autonomielösung für die »Moro« – dies der inzwischen von den so Genannten selbst übernommenen Bezeichnung für die indigene, islamische Volksgruppe in Mindanao (Rodil 2003, S.31f.) – ist die Konstante, die das institutionelle Korsett bestimmt. Zweiter Aspekt ist die Fokussierung – und damit im Ergebnis exklusive Gestaltung – der Verhandlungen auf die größte bewaffnete Gruppierung. Dies erleichterte zwar den Verhandlungsfortgang, resultierte aber in Abspaltungen und Strategiewechseln konkurrierender Gruppierungen. Schließlich war immer eine starke Anbindung des jeweiligen Friedensprozesses an eine spezifische Präsidentschaftsperiode feststellbar, womit sich nach einem Wechsel in der Präsidentschaft jeweils wieder Brüche ergaben.

Diese drei Aspekte sind auch im gegenwärtigen Friedensprozess bestimmend. Die Autonomieregelung für Bangsamoro, die Siedlungsgebiete der Moro, ist zentraler Baustein des 2014 geschlossenen Abkommens. Eine erste Autonomieregelung wurde bereits im Rahmen des »Tripolis Agreement« 1976 zwischen der Moro National Liberation Front (MNLF) und dem Marcos-Regime vereinbart und rudimentär umgesetzt. Die Autonomieregierung wurde damals allerdings von der Zentralregierung eingesetzt; statt legislativer Befugnisse wurde nur ein an den Präsidenten gerichtetes Resolutionsrecht zugestanden (Ferrer 2013, S.142).

Nach dem Sturz von Marcos wurde diese ausgehöhlte Autonomieregelung unter der Präsidentschaft von Corazon Aquino neu aufgesetzt. Aufbauend auf dem 1987 zwischen der MNLF und der philippinischen Regierung geschlossenen »Jeddah Accord« wurde die »Autonomous Region of Muslim Mindanao« eingerichtet.

Eine zweite Kontinuität, die sich im gegenwärtigen Friedensprozess abzeichnet, ist die Abspaltung radikaler Teile der im Friedensprozess involvierten Gruppierungen. So war schon das 1976 von der MNLF geschlossene »Tripolis-Agreement« eine wesentliche Motivation für die Abspaltung der MILF; das 1996 von der MNLF geschlossene Abkommen führte zu einer weiteren starken Abwanderungsbewegung in Richtung der konkurrierenden Organisation. Der gegenwärtige, nun von der MILF betriebene, Friedensprozess führte zu einem Zulauf zu den Friedensprozess ablehnenden Teilen der MNLF. Zusätzlich hat sich ein Teil der MILF unter dem Einfluss einer radikal-islamistischer Ideologie als Bangsamoro Islamic Freedom Fighters von der MILF abgespalten.

Die Abspaltungstendenzen können als Konsequenz einer unzureichenden Eingliederung der Verhandlungsprozesse in das bestehende »Political Settlement« (Parks and Cole 2010) in Mindanao gelesen werden. So ist es in keinem Friedensprozess auch nur annähernd gelungen, alle Kräfte aufseiten der Moro – neben den bewaffneten Gruppierungen gehören dazu auch die traditionellen »Strongmen« (Datus) – sowie die christlichen Eliten einzubinden.

In allen Verhandlungsprozessen wurde diese schwache Inklusivität durch ein starkes Engagement der jeweiligen Präsidentschaft konterkariert. Insbesondere die drei PräsidentInnen Corazon Aquino, Fidel Ramos und Benigno Aquino verschrieben sich einem Mindanao-Friedensprozess und konnten jeweils ein formales Friedensabkommen erreichen (Jeddah Accord 1987, Final Peace Agreement 1996, Comprehensive Agreement on the Bangsamoro 2014). Als problematisch erwies sich jedoch immer die Kontinuität des darauffolgenden Prozesses. Zwar besteht seit dem Jahr 1993 mit dem »Office of the Presidential Adviser on the Peace Process« eine speziell dafür zuständige Agentur. Das institutionelle Gedächtnis innerhalb des Büros ist allerdings nur schwach ausgeprägt. Informierte Beobachter merken denn auch an, dass Fehler daher immer aufs Neue wiederholt und Erfahrungen immer aufs Neue gemacht werden müssten.1

Schocks und Stressfaktoren

Diese Problemlagen sind auch für den gegenwärtigen Friedensprozess relevant. Im Folgenden wird davon ausgegangen, dass ein Friedensprozess als ein resilientes System verstanden werden kann, das in der Lage sein muss, kurzfristige Bedrohungen abzufedern und sich gegenüber langfristigen Problemfaktoren anpassungsfähig zu erweisen. Auf Basis dieser Annahme werden nachfolgend die gegenwärtigen Herausforderungen in (kurzfristige) Schocks und (langfristige) Stressfaktoren untergliedert.

Schocks sind allein schon angesichts ihrer systemischen Charakterisierung nicht vorhersagbar, lassen aber eine Annäherung anhand einer Typologisierung zu. Drei Typen von Schocks erscheinen derzeit als primär relevant:

  • Zunächst sind bewaffnete Aktivitäten von Akteuren, die dem Friedensprozess ablehnend gegenüberstehen, herauszustreichen. In diesem Zusammenhang sind vor allem die um den historischen Kopf des Moro-Nationalismus, Nur Misuari, gruppierten militanten Reste der MNLF (vgl. Lau 2014, S.268) sowie die von der MILF abgespaltenen Bangsamoro Islamic Freedom Fighters zu nennen.
  • Dazu kommen potenzielle bewaffnete Störfeuer militanter und krimineller Gruppierungen in der Sulu-Region, die sich dem Verhandlungsprozess entziehen und, nicht zuletzt aufgrund der ihnen eigenen Verwurzelung in der Konfliktökonomie, politischen Lösungen nicht zugänglich sind. International ist hier vor allem die Abu Sayyaf Group bekannt.
  • Zugleich gibt es auch aufseiten der philippinischen Zentralregierung mögliche Schocks. So ist durchaus nicht auszuschließen, dass der philippinische Kongress das »Bangsamoro Basic Law« (BBL) ablehnt, das wesentliche Regelungen für die Autonomie beinhaltet. Ein vergleichbares Problem – die auf Betreiben christlicher Senatoren erfolgte höchstgerichtliche Zurückweisung des »Memorandum of Agreement on Ancestral Domain« im Jahr 2008 (Williams 2010, S.126f.) – hatte bereits einmal zu einem mehrjährigen Einfrieren der Friedensbemühungen geführt. Zwar schloss die MILF immer wieder eine Rückkehr zum bewaffneten Kampf aus, selbst im Falle einer Ablehnung des BBL, garantiert ist dies allerdings nicht.

Auch bei den Stressfaktoren sind drei Typen auszumachen:

  • Hier ist zunächst die erneute Fokussierung auf eine Autonomielösung hervorzuheben, was sich bereits mehrfach als nicht funktional erwiesen hat. Neben der überbordenden Korruption und der Ineffizienz, die die bestehende »Autonomous Region of Muslim Mindanao« kennzeichnen – beide stellen sicherlich auch für die einzurichtende Bangsamoro-Region relevante strukturelle Herausforderungen dar –, wird zuvorderst die zumindest geplante Verdrängung der gegenwärtig die autonome Region politisch dominierenden Akteure (eingebundene alte MNLF-Kader und traditionelle lokale Eliten, Datus) durch die MILF-Führung unausweichlich zu Spannungen führen.
  • Als zweiter Faktor sind die traditionellen, substanziell auf dem lang andauernden bewaffneten Konflikt aufbauenden, sozio-ökonomischen Strukturen zu nennen. Neben der sehr hohen Prävalenz von Schusswaffen in der Region (vgl. Quitoriano 2013), deren Reduktion durch eine äußerst liberale nationale Waffengesetzgebung auf den Philippinen erschwert wird, könnte sich vor allem die bestehende Konfliktökonomie als langfristiger Stressfaktor erweisen. Ganz abgesehen von den kriminellen Aktivitäten (hauptsächlich das im Sulu-Archipel gängige »kidnap for ransom«), hat vor allem die mittelbar durch den Gewaltkonflikt ermöglichte Schattenwirtschaft keinerlei Interesse an einem nachhaltigen Frieden: Waffenhandel, illegaler Bergbau, illegaler Handel in Sulu und Tawi-Tawi sowie Landraub und Drogenhandel sind integrale Bestandteile der Wirtschaft im Westteil Mindanaos (vgl. Lara/Schoofs 2013).
  • Dritter Stressfaktor ist schließlich die Entwicklung auf nationaler Ebene. Im Unterschied zu den meisten anderen Friedensprozessen im internationalen Vergleich findet der Friedensprozess in Mindanao in der philippinischen Öffentlichkeit, insbesondere auf der Nordinsel Luzon mit der Hauptstadt Manila, kaum Beachtung. Beobachter/innen sehen dies kurzfristig keineswegs als Nachteil, da die generelle Stimmung in der dominant christlichen Bevölkerung der Nordinseln latent anti-islamisch sei; ein Friedensengagement im (aus Sicht der Hauptstadt) fernen Süden rufe so nicht notwendigerweise positive Resonanz hervor.2

Innovative Lösungsansätze und ihre Grenzen

Obgleich manche Ansätze des aktuellen Friedensprozesses stark an frühere, gescheiterte Versuche der Friedensentwicklung in Mindanao erinnern, wurden dennoch einige der angesprochenen problematischen Aspekte aufgegriffen und aktiv bearbeitet. Der wohl weitreichendste und im internationalen Vergleich interessanteste derartige Schritt wurde mit der Einrichtung der International Contact Group (ICG) gesetzt.

Die ICG wurde im Jahr 2009 gegründet, als die Ablehnung des »Memorandum of Agreement on Ancestral Domain« zum Rückschlag des Mindanao-Friedensprozesses führte. Die Gruppe besteht aus vier von den Konfliktparteien vorgeschlagenen Staaten (Vereintes Königreich, Japan, Saudi-Arabien und Türkei) und vier internationalen Nichtregierungsorganisationen (Conciliation Resources, Muhammadiyah, Centre for Humanitarian Dialogue und The Asia Foundation, wobei letztere im Jahr 2013 in das Monitoring-Team zur Überwachung des Bangsamoro-Abkommen gewechselt ist und durch die christliche Gemeinschaft Sant’Egidio ersetzt wurde). Bei der ICG handelt es sich um die erste hybride Mediationsinitiative weltweit, in der internationale Nichtregierungsorganisationen direkt an Track-1-Verhandlungen beteiligt sind. Sie stellt damit eine bedeutende Innovation auf dem Feld der kollektiven Konfliktbearbeitung dar (Herbolzheimer and Leslie 2013, S.1; vgl. auch Crocker et al. 2011, S.11).

Die Arbeit der ICG findet auf formeller wie informeller Ebene statt: Geraten die Friedensgespräche ins Stocken, vermittelt die ICG durch Pendeldiplomatie zwischen den beiden Konfliktparteien und versucht, Schnittmengen als Anschlusspunkte für die Wiederaufnahme des Dialogs zu finden. Zwischen den offiziellen Gesprächsrunden ist die ICG ebenfalls aktiv und führt etwa Gespräche mit Entscheidungsträger/innen in Mindanao und Manila und bildet die Brücke zur lokalen Zivilgesellschaft (Herbolzheimer and Leslie 2013, S.2f.). Die Gruppe ist nur lose koordiniert, wodurch eine Hierarchisierung der beteiligten Staaten und Organisationen vermieden wird. Dadurch entstehen jedoch Überschneidungen bei den Aktivitäten. Nicht zuletzt betrifft die fehlende Harmonisierung auch die Konkurrenz um Fördergelder, da jedes ICG-Mitglied für seine eigene Finanzierung zuständig ist.

Die ICG ist, nicht zuletzt bedingt durch die hervorragende Vernetzung der indonesischen Muhammadiyah in Mindanao, jedenfalls ein wesentlicher institutioneller Ankerpunkt für die Inklusivität des Friedensprozesses. Zugleich garantiert ihre mittlerweile langjährige, nicht an einen konkreten Verhandlungsprozess gebundene Tätigkeit eine Prozesskontinuität, die sich von vergleichbaren Anstrengungen in der Vergangenheit unterscheidet. Conciliation Resources spricht in diesem Zusammenhang von der Notwendigkeit einer Entmystifizierung des Verhandlungstisches (Herbolzheimer 2012), die durch die ICG mitbetrieben werde.

Die Einbindung der philippinischen Zivilgesellschaft soll wiederum vor allem durch die Verhandlungsführung des »Government Peace Panel« garantiert werden. Dessen derzeitige Leiterin, Miriam Coronel-Ferrer, kommt aus dem akademischen Bereich und war vor ihrer gegenwärtigen Aufgabe lange als zivilgesellschaftliche Friedensaktivistin aktiv. Bereits ihr Vorgänger, der Rechtswissenschaftler und jetzige Höchstrichter Marvic Leonen, konnte auf einen hervorragenden Ruf in der friedensorientierten Zivilgesellschaft zählen. Diese Inklusivität ist durch personelle Besetzungen keineswegs nachhaltig garantiert. So kam Miriam Coronel-Ferrer angesichts ihres zeitweilig als unglücklich wahrgenommenen Krisenmanagements unter Kritik einiger ihrer langjährigen zivilgesellschaftlichen Mitstreiter/innen.3

Ausblick

Die entscheidende, zum gegenwärtigen Zeitpunkt aber offene Frage lautet, ob diese auf Prozessinklusivität abzielenden Maßnahmen die notwendige Schockresistenz und Adaptionsfähigkeit gewährleisten können, um den laufenden Friedensprozess zu verstetigen. Dies wäre jedenfalls wünschenswert, denn obwohl einige substanzielle Fehler der Vergangenheit wiederholt werden, hat der gegenwärtige Mindanao-Friedensprozess das Potential, den entscheidenden Schritt zu einer nachhaltigen Konflikttransformation auf der philippinischen Südinsel zu setzen. Die Resilienz des Prozesses gegenüber den aufgezeigten möglichen Schocks und Stressfaktoren wurde schon einige Male getestet, insbesondere durch die Aktionen der bewaffneten islamistischen Opposition. Die großen Prüfungen stehen jedoch noch bevor. Neben den legalen und elektoralen Hürden, die vor der Implementierung des Abkommens zu überwinden sind, wird insbesondere der im Mai 2016 bevorstehende Wechsel der Präsidentschaft zu einem wesentlichen Test des Friedensprozesses werden.

Das Abkommen ist tatsächlich keineswegs so »umfassend«, wie es der Titel eines »Umfassenden Abkommens über die Bangsamoro« andeutet. So bleibt etwa abzuwarten, wie sehr sich die nun aus der Autonomieführung verdrängte MNLF langfristig mit der neuen Machtkonstellation arrangieren wird. Trotz aller erwähnten Aktivitäten wurde eine maximale Inklusivität des in Mindanao herrschenden »Political Settlement« weder aktiv angestrebt noch erreicht. Es wird denn auch die Hauptaufgabe der zukünftigen Autonomieführung und der nächsten philippinischen Regierung sein, bislang nicht eingebundene Bevölkerungsgruppen mit einzubeziehen sowie die Akzeptanz zumindest der katholischen Eliten in Mindanao sicherzustellen. Die historische Erfahrung zeigt, dass Frieden in Mindanao nur auf breiter gesellschaftlicher Basis gelebt werden kann.

Anmerkungen

1) Interviews mit Soliman M. Santos (Naga City) und JessDureza (Davao City), Oktober 2013.

2) Interview mitBenedicto Bacani (Manila), Oktober 2013.

3) Interview mit Soliman M. Santos (Naga City), Oktober 2013.

Literatur

Fermin Adriano and Thomas Parks (2013): The Contested Corners of Asia – Subnational Conflict and International Development Assistance. The Case of Mindanao, Philippines. San Francisco: The Asia Foundation.

Miriam Coronel Ferrer (2013): Costly Wars, Elusive Peace. Collected Articles on the Peace Processes in the Philippines 1990-2007. Quezon City: University of the Philippines Press.

Kristian Herbolzheimer (2012): Desmitificar la mesa de negociación. Semana, 23. Oktober 2012.

Kristian Herbolzheimer and Emma Leslie (2013): Innovation in mediation support: The International Contact Group in Mindanao. London: Conciliation Resources, Practice Paper.

Sachiko Ishikawa (2014): The Role of a Development Agency in Peacebuilding: Track One-and-a-Half Mediation in Mindanao. Asian Journal of Peacebuilding, 2/1, S.79-95.

Francisco Lara, Jr. and Steven Schoofs (2013): Out of the Shadows. Violent Conflict and the Real Economy of Mindanao. London: International Alert.

Bryony Lau (2014): The Southern Philippines in 2013 – One Step Forward, One Step Back. Southeast Asian Affairs 2014. S.260-273.

Thomas Parks and William Cole (2010): Political Settlements: Implications for International Development Policy and Practice. San Francisco: The Asia Foundation, Occasional Paper No. 2.

Eddie L. Quitoriano (2013): Shadow economy or shadow state? The illicit gun trade in conflict affected Mindanao. In: Lara and Schoofs, op.cit., S.49-84.

B.R. Rodil (2003): A Story of Mindanao and Sulu in Question and Answer. Davao City: MINCODE.

Timothy Williams (2010): The MoA-AD Debacle – An Analysis of Individual’s Voices, Provincial Propaganda and National Disinterest. Journal of Current Southeast Asian Affairs, Nr. 1. S.121-144.

Dr. Jan Pospisil ist Senior Researcher am Österreichischen Institut für internationale Politik (oiip) und Lehrbeauftragter an der Universität Wien. Seine Forschungsschwerpunkte beinhalten Entwicklungs- und Sicherheitspolitik mit dem Fokus auf fragiler Staatlichkeit, neuen Sicherheitskonzepten und Resilienz sowie gesamtstaatlichen Ansätzen in der Sicherheitspolitik.
Johanna Rodehau-Noack, BA, ist Masterstudentin der Politikwissenschaft an der Universität Wien. Ihre Forschungsinteressen sind Entwicklungsforschung, internationale Beziehungen und Politik sowie Friedens-und Konfliktforschung auf Grundlage feministischer Theorien.

Friedensverhandlungen

Ein hoffnungsvoller Trend

Friedensverhandlungen

von Manuela Nilsson

Friedensverhandlungen, also Dialoge zwischen Akteuren als Alternative zur fortgesetzten gewaltsamen Lösung ihrer Probleme miteinander, kommen als Konfliktlösungsmechanismus immer häufiger zum Einsatz. Im 19. und noch bis ins späte 20. Jahrhundert endeten bewaffnete Auseinandersetzungen überwiegend mit dem Sieg einer Seite, nur 15-20% durch Friedensverhandlungen. Seit dem Ende des Kalten Krieges wurden aber schon mehr als 50% aller Bürgerkriege, die häufigste Form gewaltsamer Konflikte, am Verhandlungstisch beendet (Bell 2006), und Zweidrittel dieser Verhandlungen führten auch wirklich zum Frieden (Joshi und Quinn 2015). Die Forschung und vor allem Praxis der Friedensverhandlungen haben aber noch einen langen Weg vor sich, denn bisher bringen Friedensverhandlungen im Vergleich immer noch einen weniger haltbaren Frieden als militärische Siege (DeRouen et al. 2010). Der längerfristige Trend berechtigt aber zur Hoffnung, dass Verhandlungen in Zukunft eine immer größere Rolle spielen werden.

Friedensverhandlungen spielen seit Jahrzehnten eine immer prominentere Rolle bei der Beendigung von Kriegen, obwohl der Kalte Krieg eigentlich keine günstige Kulisse für den Akt des Dialoges bot: Eine Welt, die auf der Vorstellung eines »Nullsummenspiels« basierte und in gegensätzliche und als unvereinbar aufgefasste Narrative der Vergangenheit, Vorstellungen der Gegenwart und Hoffnungen für die Zukunft aufgeteilt war, ließ für Dialog wenig Raum. Im Lichte der Erfahrung mit Verhandlungen vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wurden Kompromisse außerdem als »appeasement« abgelehnt.

Friedensverhandlungen können zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen führen und münden bei weitem nicht immer in einen Friedensvertrag, der – so zumindest die Erwartung – einen gewaltsamen Konflikt beendet. Die Akteure halten schriftlich einen Konsensus fest, der die zwischen ihnen bestehenden Konfliktpunkte konstruktiv analysiert und Lösungen bereitstellt, die für die Kontrahenten akzeptabel sind. Das gilt auch, wenn nicht allen Interessen, Wünschen und Vorstellungen, die an den Verhandlungstisch gebracht wurden, entsprochen werden konnte. Wird in den Verhandlungen nicht für alle wesentlichen Streitpunkte eine Lösung gefunden, welche die Kosten des Friedens gegen die der bewaffneten Auseinandersetzung aufwiegen, dann ist dieser Frieden oft auf lange Sicht nicht haltbar, und es kommt zu erneuten gewaltsamen Auseinandersetzungen.

Struktur und Phasen

Friedensverträge können verschiedene Formen annehmen, je nachdem, welche Zwecke sie erfüllen sollen – solange sie die Bewegung zum Frieden hin in Gang halten. Häufig ist eine Waffenruhe Teil des Friedensvertrages, obwohl diese oft erst in der letzten Verhandlungsphase vereinbart wird, weil die Konfliktakteure nicht bereit sind, ihren Anspruch auf Gewaltanwendung aus der Hand zu geben, bevor sie ihre Ziele am Verhandlungstisch erreicht haben.

Eine Waffenruhe ist eine wichtige Teilbestimmung eines Friedensvertrages, aber sie stellt noch keine Lösung für die eigentlichen Probleme dar, die den Konflikt gewaltförmig werden ließen. Nur in sehr wenigen Fällen, wie im Krieg zwischen Iran und Irak in den 1980er Jahren, brachte eine Waffenruhe Frieden oder wenigstens die Abwesenheit von Gewaltakten zwischen den Akteuren. Wie das Beispiel Kolumbien vor Augen führt, sind Waffenruhen Gespinste, deren Fragilität die Akteure in laufenden Friedensverhandlungen oft harten Prüfungen aussetzt (siehe dazu »Den Frieden verhandeln im Krieg – Der Fall Kolumbien« von José Armando Cárdenas Sarrias in diesem Heft). Heutzutage werden die meisten Friedensverhandlungen konstant von Gewaltakten begleitet, wodurch sich das Misstrauen zwischen den Verhandlungsparteien noch erhöht. Allerdings können Gewaltakte die Friedensverhandlungen auch vorantreiben, indem sie die Gegner an die Kosten und Risiken eines fortgesetzten Konfliktes erinnern (Höglund 2008). Das Gewaltniveau steigt häufig in der schwierigen Implementationsphase von Friedensverträgen sogar noch weiter an (Darby 2006).

Friedensverhandlungen beginnen in den meisten Fällen mit einer Vorverhandlungsphase, in der Bedingungen, Akteure, Verhandlungspunkte, Tagesordnung und technische Details des Dialoges bestimmt werden. Diese Vorverhandlungsphase kann eine lange Zeit in Anspruch nehmen, wie an dem Beispiel Israel-Ägypten in den 1970er Jahren gut zu beobachten war, und ist oft eine erste Fühlungnahme zwischen den Konfliktakteuren. Gibt es bereits Schwierigkeiten im Verlauf der Vorverhandlungen, sind die eigentlichen Verhandlungen problembehaftet und finden oft gar nicht mehr statt. Drittparteien mit einem starken Interesse an einer friedlichen Beilegung des Konfliktes sind oftmals notwendig, um Vorverhandlungen überhaupt zustande zu bringen.

Normalerweise gehen auch die eigentlichen Friedensverhandlungen durch verschiedene Phasen; in Übergangsabkommen werden die zu unterschiedlichen Zeiten erreichten Lösungen festgehalten. Selbst wenn diese Teilabkommen oft nur einen Konsensus über den eigentlichen Verhandlungsprozess dokumentieren oder einfach nur das Vertrauen aller Beteiligten in die Friedensverhandlungen als Methode der Konfliktlösung unterstreichen, so sind sie für einen erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen oft grundlegend. Nur wenige Friedensverhandlungen enden mit einem einzigen, alle Punkte umfassenden Dokument. Häufig sind vielmehr die Ergebnisse der Übergangsabkommen in einem abschließenden Gesamtvertrag zusammengefasst. Diesem folgt meist noch ein Vollzugsvertrag, der die im Friedensvertrag festgelegten Bestimmungen in ihrer Ausführung detailliert fixiert. Unzählige Beispiele haben gezeigt, dass die Sorgfalt, die auf diese Ausführungsbestimmungen verwandt wird, wesentlich zum Gelingen des Friedens beiträgt.

Alle Friedensverträge sind Teil des Völkerrechts und müssen von allen Beteiligten, den Konfliktakteuren sowie den internationalen und nationalen Beobachtern (unter denen heutzutage oft auch nicht-staatliche Organisationen sind), unterzeichnet werden. Manchmal, wie im Friedensvertrag von 2005 zwischen den damals noch zu einem Staat gehörenden Teilen Sudans, sichert der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen einen Friedensvertrag durch Kapitel VII der UN-Charta ab, um die Basis des vereinbarten Friedens noch zu verstärken.

Haben Friedensverhandlungen ein erfolgreiches Ende genommen, so heißt das dennoch bei weitem nicht immer, dass die Vereinbarungen auch sofort – oder in allen Teilen – umgesetzt werden, selbst wenn die so lange geplagte Bevölkerung das fordert und erwartet. Oft führt Frustration über nicht umgesetzte Verhandlungspunkte zu erneuten gewaltsamen Auseinandersetzungen.

Den Verhandlungen über die substantiellen Konfliktpunkte folgt oft noch eine Runde interner Verhandlung mit den staatlichen Institutionen, z.B. dem Parlament, damit eine Ratifizierung des Vertrages diesen auch auf nationaler Ebene absichert oder damit die im Vertrag festgesetzten Bestimmungen auch in die Verfassung miteinbezogen werden. Außerdem muss die Bevölkerung des betroffenen Landes mit von der Partie sein, weshalb im Fall des nordirischen Karfreitagsabkommens Ende der 1990er Jahre die Zustimmung des Volkes über eine Volksabstimmung eingeholt wurde. Sind Parteien, Teile der Bevölkerung oder organisierte innerstaatliche Akteure nicht mit dem Vertrag einverstanden, so kann der Frieden nicht gesichert werden, wie das Beispiel der Mindanao-Verhandlungen auf den Philippinen in den 1990er Jahren zeigt (siehe dazu »Ein nachhaltiger Friedensprozess? Innovatives Potential in den Mindanao-Friedensverhandlungen« von Jan Pospisil und Johanna Rodehau-Noack in diesem Heft).

Selbst wenn der Friedensvertrag endlich durch Ratifikation und Konsensus gesichert scheint, ist sein Vollzug durch die nachfolgenden Regierungen nicht garantiert, wie die erfolglosen Verhandlungen im Nahen und Mittleren Osten oft genug unterstreichen.

Verhandlungsformen

Konfliktakteure sind meist nur dann zu Friedensverhandlungen bereit, wenn sie einsehen, dass sie ihre Ziele ohne eine Übereinkunft mit der anderen Seite nicht erreichen können und dass die derzeitige Situation auf Dauer nicht zu halten ist. Dieser Zeitpunkt der Verhandlungsreife wird selten von allen Gegnern zur gleichen Zeit erreicht und deshalb manchmal von Drittparteien durch eine Mischung von »Zuckerbrot und Peitsche« herbeigeführt, die auch in militärischen Interventionen münden kann. Allerdings haben solche Eingriffe bisher wenig dazu beigetragen, nachhaltig Frieden und Demokratie zu sichern (Pickering und Peceny 2006). Manche Konflikte überleben lange in einem von sporadischen Gewaltakten durchsetzten Limbus-Stadium, das nur dadurch nicht zu einer manifesten Auseinandersetzung eskaliert, weil die Konfliktakteure, wie im Kaschmirkonflikt zwischen Indien und Pakistan, gelegentlich Maßnahmen ergreifen, die die Kooperation und Kommunikation miteinander und das Vertrauen zueinander fördern, auch wenn die Wurzeln des Konfliktes selbst unangetastet bleiben.

Sind in einem Konflikt direkte Verhandlungen zwischen Gegnern möglich, dann sind sie oft die beste Methode zu einem schnellen Erfolg. Meist finden direkte Verhandlungen allerdings zwischen Gegnern statt, die ein recht unterschiedliches Machtniveau haben, und können deshalb zu Verhandlungsergebnissen führen, die zumindest auf lange Sicht erfolglos bleiben, weil nicht alle Akteure ihre Hauptinteressen berücksichtigt sehen. Direkten Verhandlungen geht oft die militärische Niederlage einer Seite voraus, wie im Fall des Bürgerkrieges in Angola im Jahr 2002. Eine Einmischung von Drittparteien wird bei direkten Friedensverhandlungen nicht geduldet, da diese häufig – und oft zu Recht – unter dem Verdacht stehen, hauptsächlich ihre eigenen Interessen zu verfolgen.

Nicht immer sind direkte Verhandlungen zwischen Konfliktakteuren die beste oder überhaupt eine mögliche Form des Dialoges. In bis zu 50% aller Krisen werden daher heutzutage die Dienste einer Drittpartei in Anspruch genommen. Im Vergleich zu Verhandlungen ohne Drittpartei ist die Wahrscheinlichkeit fünfmal höher, ein Abkommen abzuschließen, und die Chancen sind fast zweieinhalbmal größer, die Spannungen langfristig abzubauen (Squaitamatti und Hellmüller 2012).

Der Einfluss von Drittparteien auf Friedensverhandlungen variiert sehr. Drittparteien können Verhandlungen einleiten, indem sie Botengänge zwischen den Konfliktparteien erledigen (shuttle diplomacy) und die nötigen Voraussetzungen für die eigentlichen Verhandlungen auf neutralem Gebiet schaffen, sie können als Vermittler fungieren oder den Schiedsrichter darstellen. Solche Rollen werden vorwiegend von den Vereinten Nationen oder regionalen Organisationen übernommen. Manchmal aber greifen auch prominente Privatpersonen oder Vertreter religiöser Gruppen als Mediatoren in Konflikte ein, und oft mit größerem Erfolg als die erstgenannten. Oft versucht man auch Konflikte, die ganze Regionen bedrohen, z.B. den Syrienkonflikt, durch internationale Friedenskonferenzen zu beenden. Allerdings ist hier die Erfolgsquote nicht sehr hoch, wie die Afghanistankonferenzen der letzten Jahre gezeigt haben.

Oft werden Verhandlungen zwischen den primären Konfliktakteuren von weiteren Verhandlungen auf unterschiedlichen Ebenen begleitet. Bei dieser so genannten »citizen« oder »multi-track diplomacy« handelt es sich um Verhandlungen zwischen Vertretern unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen der Konfliktparteien, die entweder in Workshops ihre Feindbilder aufarbeiten, um Spannungen abzubauen, Verständnis für die andere Seite aufzubauen und den Versöhnungsprozess anzutreiben, oder konkrete Konfliktlösungen finden, die in den Hauptverhandlungen übersehen wurden, wie das Beispiel der Oslo-Verhandlungen zur Krise im Nahen und Mittleren Osten in den 1990er Jahren zeigt.

Akteure

Wer am Verhandlungstisch sitzt, ist für den zu verhandelnden Frieden ausschlaggebend. Oft werden die direkten Konfliktakteure – in den meisten Bürgerkriegen sind das Vertreter der Staatsmacht und bewaffnete Gruppen, die politische, wirtschaftliche, religiöse, soziale oder kulturelle Veränderungen fordern – von »stakeholder« und Drittparteien begleitet. Stakeholder sind Akteure, die zwar nicht als bewaffnete Gegner in die Auseinandersetzung eingreifen, deren Interessen aber durch die Auswirkungen des Konfliktes direkt berührt werden. Diese Gruppe kann z.B. multinationale Konzerne, Umweltschutzgruppen, Fachvereinigungen oder auch andere Länder, besonders Nachbarländer, umfassen. Nicht immer sind alle Stakeholder an einem friedlichen Ende des Konfliktes interessiert, weil manche ihre Interessen in einer Kriegssituation besser verfolgen können. Eine negative Konfliktumgebung dieser Art kann für Friedensverhandlungen katastrophale Auswirkungen haben (Stedman 2002).

Die Auswahl der Verhandlungsparteien ist deshalb von besonderer Bedeutung, und Friedensforscher sind sich bisher nicht einig, ob exklusive oder inklusive Verhandlungen einen größeren Erfolg versprechen (Paffenholz 2014; Zanker 2014). Vertreter der inklusiven Seite argumentieren, die Einbeziehung aller von einem Konflikt betroffenen Gruppen sei eine Grundvoraussetzung für das Engagement aller für die Implementierung der Vertragspunkte und damit für einen haltbaren Frieden. Sie plädieren besonders dafür, Frauen und Vertreter von Bürgervereinigungen in die Verhandlungen einzubeziehen, und beklagen, dass oft nur die Akteure am Tisch sitzen, welche die Macht und den Einfluss haben, die verhandelten Punkte in die Tat umzusetzen oder, im Fall so genannter »spoiler«, selbige zu boykottieren (Anderlini 2007; Nilsson 2012). Andererseits führten exklusive Verhandlungen, die meist auch wesentlich weniger öffentlich durchgeführt werden, besonders in Lateinamerika oft zu erfolgreicheren Resultaten (Kurtenbach 2012).

Drittparteien sind in fast allen Friedensverhandlungen vertreten. Sie fungieren nicht nur als Vermittler, sondern sind in den meisten Konflikten auch hilfreich, um den Frieden zu garantieren, indem sie den Vollzug der Vertragsbestimmungen überwachen und wichtige Teile davon entscheidend mitfinanzieren. Drittparteien werden vor allem dann zu einem unvermeidlichen Bestandteil von Friedensverhandlungen, wenn die Verhandlungsparteien kulturell so unterschiedlich sind, dass ihre politisierten Gruppenidentitäten zur Dämonisierung der anderen Seite führen (cultural othering) und so den konstruktiven Dialog blockieren. Hier müssen Drittparteien oft als kulturelle Vermittler fungieren. In der Regel sind Verhandlungen zwischen Akteuren ähnlicher Kulturen einfacher und erfolgreicher. »Cultural othering« kann dazu führen, dass Friedensverhandlungen in einem Teufelskreis des Missverständnisses enden. Eine bewusst durchgeführte Suche nach der Erfüllung gemeinsamer Interessen kann »cultural othering« übertönen und aus Gegnern Kooperationspartner machen (Starkey, Boyer und Wilkenfeld 2010).

Ziele

Wie lange Drittparteien, besonders wenn es sich um hoch entwickelte, westliche Länder handelt, nach dem Friedensprozess im Land bleiben sollten, wie sehr sie in den Entwicklungsprozess der Nachkriegszeit eingreifen sollten und welche Art Frieden am Ende im Land herrscht, sind heiß diskutierte Themen der Friedensforschung (Richmond 2005; Paris 2004; Duffield 2001). Auf der einen Seite werden Drittparteien oft angeklagt, ihre im Friedensvertrag als Garanten übernommenen Verpflichtungen nicht bis zum Ende durchzuführen; auf der anderen wird ihnen vorgeworfen, anderen Völkern ihre eigene Art von Frieden, den liberalen Frieden der westlichen Welt, aufzuzwingen, um demokratische Systeme nach westlichem Vorbild und Wirtschaftsstrukturen zu schaffen, die besonders ihnen selbst zu Gute kommen. Neuerdings sprechen Forscher von einem »hybrid peace«, einem Kompromiss zwischen internationalen und lokalen Friedensvorstellungen und -durchführungen (MacGinty 2010).

Letztendlich ist die Frage, ob Friedensverhandlungen erfolgreich waren, ob sie also wirklich Frieden geschaffen haben, nur von der betroffenen Bevölkerung zu beantworten. In vielen langwierigen Konflikten sind die Gründe für die gewaltsamen Auseinandersetzungen da zu finden, wo der norwegische Soziologe Johan Galtung, einer der Väter der heutigen Friedensforschung, von »struktureller Gewalt« spricht: in den unterdrückenden und diskriminierenden politischen, religiösen, kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Strukturen, die in einer Gesellschaft vorherrschen. Bekennen sich alle Verhandlungsparteien zur Notwendigkeit von Reformen, können Friedensverhandlungen eine wichtige Basis für eine bessere Zukunft bringen.

Viele der heutigen Konfliktakteure, wie Boko Haram in Nigeria und ISIS im Nahen und Mittleren Osten und im Norden Afrikas, stellen die Friedensforschung allerdings vor neue Herausforderungen. Sie werfen die Frage auf, ob sich Friedensverhandlungen mit Gruppen, die eine völlig neue, mit der in der westlichen Welt vorherrschenden Vorstellung von Demokratie und Menschenrechten nicht zu vereinbarende staatliche Ordnung einfordern und zudem zu einem Kompromiss nicht bereit zu sein scheinen, überhaupt lohnen (siehe dazu »Verhandeln nicht immer eine Option« von Jochen Hippler in diesem Heft). Solchen Akteuren Gewalt entgegenzusetzen, scheint in diesen Situationen des Zwiespaltes zwischen Prinzipien und Moral auf der einen und Pragmatismus auf der anderen Seite manchmal die einzig denkbare Reaktion zu sein.

Gewaltsame Interventionen brachten allerdings nach dem Zweiten Weltkrieg nur in den allerwenigsten Fällen eine nachhaltige Verbesserung der Situation, wie die Interventionen in Afghanistan, Irak und Libyen zeigen. Die grundliegenden Konflikte werden durch solche Eingriffe nicht gelöst, daher kann der Frieden auf Dauer nicht gesichert werden. Beispiele wie Liberia, Angola, Afghanistan und Sierra Leone zeigen vielmehr, dass Dialoge und Abkommen mit so genannten schwierigen Akteuren heutzutage sogar recht häufig vorkommen. Obwohl risikoreich, sind sie doch eher Zeichen realistischer Machteinschätzung aller Beteiligten und können den Frieden schrittweise näherbringen, auch wenn sie nicht allen Idealvorstellungen entsprechen (Wennmann 2014). Friedensverhandlungen sind deshalb immer noch der pragmatischste Weg zu haltbarem Frieden.

Literatur

Sanam Naraghi Anderlini (2007): Peace Negotiations and Agreements. In: Institute for Inclusive Society, Inclusive Security, Sustainable Peace: Inclusive Security, Sustainable Peace – A Toolkit for Advocacy and Action, S.16-31.

Cristine Bell (2006): Peace Agreements: Their Nature and Legal Status. American Journal of International Law 100(2), S.373-412.

John Darby (2006): Post-Conflict Violence in a Changing World. In: ders. (ed.): Violence and Reconstruction. Notre Dame: University of Notre Dame Press, S.143-161.

Karl DeRoue,et al. (2010): Civil war peace agreement implementation and state capacity. Journal of Peace Research 47(3), S.333-346.

Mark Duffield (2001): Global Governance and the New Wars.The Merging of Development and Security. London: Zed Books.

Kristine Höglund (2008): Peace Negotiations in the Shadow of Violence. Leiden: Martinua Nijhoff Publishers.

Madhav Joshi and Michael J. Quinn(2015): Is the Sum Greater than the Parts? The Terms of Civil War Peace Agreements and the Commitment Problem Revisited. Negotiation Journal 31(1), S.7-30.

Sabine Kurtenbach (2012): Kolumbien – der weite Weg zu Kriegsbeendigung und Frieden. GIGA Focus Lateinamerika 11/2012.

Roger MacGinty (2010): Hybrid Peace – The Interaction Between Top-down and Bottom-up Peace. Security Dialogue 41(4), S.391-412.

Desirée Nilsson (2012): Anchoring the Peace – Civil Society Actors in Peace Accords and Durable Peace. International Interactions 38(2), S.243-266.

Tania Paffenholz (2014): Civil Society and Peace Negotiations: Beyond the Inclusion-Exclusion Dichotomy. Negotiation Journal30(1), S.69-91.

Roland Paris (2004): At War’s End. Building Peace after Civil Conflict. New York, NY: Cambridge University Press.

Jeffrey Pickering and Mark Peceny (2006): Forging Democracy at Gunpoint. International Studies Quarterly 50(3), S.539-560.

Oliver P. Richmond (2005): The Transformation of Peace. London: Palgrave.

Brigid Starkey, Mark A. Boyer und Jonathan Wilkenfeld (2010): International Negotiation in a Complex World. Plymouth: Rowman and Littlefield Publishers.

Stephen John Stedman and Donald Rothchild (2002): Ending Civil War -The Implementation of Peace Agreements. London: Lynne Rienner.

Damiano Angelo Squaitamatti und Sara Hellmueller (2012): Macht und Gerechtigkeit in Friedensverhandlungen – Mediation normativ erforschen. In: Dominic Busch und Claude-Helene Mayer (Hrsg.): Mediation erforschen: Fragen – Forschungsmethoden – Ziele. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, S.87-110.

Achim Wennmann (2014): Negotiated Exits from Organized Crime? Building Peace in Conflict and Crime-affected Contexts. Negotiation Journal 30(3), S.255-273.

Franzsika Zanker (2014): Legitimate Representation – Civil Society Actors in Peace Negotiations Revisited. International Negotiation 19(1), S.62-88.

Dr. Manuela Nilsson ist Assistant Professor im Department of Peace and Development Studies der Linnaeus University in Vaxjö, Schweden. Sie lehrt und erforscht insbesondere Peacebuilding nach gewaltsamen Konflikten mit Schwerpunkt auf der Nachhaltigkeit von Friedensabkommen und Versöhnungsprozessen in Lateinamerika.

Frieden verhandeln

Frieden verhandeln

Voraussetzungen, Widersprüche, Ansätze

von Hans Joachim Gießmann und Paul Schäfer

»Friedensverhandlungen« – der Begriff weckt Assoziationen zu den Schauplätzen großer Friedensregelungen der Vergangenheit: Münster/Osnabrück, Wien, Versailles, Jalta, Potsdam, Paris. Die Verhandlungsergebnisse waren jeweils unterschiedlich, sie spiegelten den Verlauf der vorangegangenen kriegerischen Auseinandersetzungen wider, und nicht selten legten sie bereits die Saat für nachfolgende Kriege (Hankel 2011). Manchmal endeten Friedensverhandlungen mit der Demütigung der unterlegenen Partei (Versailles 1919), andernorts zementierten sie erstrittene Kriegsergebnisse (Wiener Kongress 1815, Potsdamer Abkommen 1945), gelegentlich boten sie einen gesichtswahrenden Ausweg aus Kriegen, die für keine Seite zu gewinnen waren (Paris 1975). Der Charakter vieler Kriege hat sich seit 1945 stark verändert, damit entstanden neue Herausforderungen für Friedensverhandlungen.

Friedensverhandlungen waren und sind bis heute ein Weg zur Beendigung von Kriegen mit anderen Mitteln, d.h. in ihnen geht es darum, eine Vereinbarung zu erzielen, die den beteiligten Parteien die Fortexistenz nach dem Kriegsende (zu mehr oder weniger günstigen Konditionen) erlaubt. Sie zielen im Kern auf ein kooperatives Regelwerk, zu dessen Einhaltung sich die Verhandlungsparteien verpflichten, um eine beständige gewaltfreie Interaktion zwischen ihnen zu gewährleisten.

Friedensverhandlungen sind ein Ausdruck des Charakters derjenigen Kriege, die sie beenden sollen. Die meisten großen Friedensschlüsse entsprangen der Interaktion von Staaten. Deren Beteiligung barg von vorneherein ein gewisses Maß an Symmetrie: Souveränität, territoriale Grenzen, stehende Heere, staatliche Institutionen. Seit 1945 sind allerdings andere Kriegsformen (wieder) stärker in den Vordergrund gerückt und haben die einstige Dominanz zwischenstaatlicher Kriege deutlich zurückgedrängt. Mit dieser Entwicklung veränderten sich nicht nur die Merkmale der Kriege, sondern auch die Herausforderungen für deren Beendigung.

Um unter diesen Bedingungen tragfähige Verhandlungskonzepte zu entwickeln, bedarf es einer sorgsamen Konfliktanalyse, die die Triebkräfte der Eskalation sowie die Interessen der beteiligten Akteure zutage bringt. Dabei geraten natürlich auch strukturelle Aspekte in das Blickfeld, die nicht zwingend als Ursache eines gewaltförmigen Konfliktaustrags zu erachten sind, diesen aber befeuern können und im Zusammenhang mit anderen Treibern deren Wirkung verstärken. Hierzu gehören Gewaltkulturen und –märkte (Elwert 1997), aber auch religiöse, ideologische oder ethnisch-nationale Aufladung/Mobilisierung (Ronen 1995). Hierzu gehört aber auch das Erbe früherer Fremdherrschaft oder kolonialer Bevormundung, durch die Prozesse demokratischer Staatsbildung verhindert bzw. klientelistische Herrschaftsstrukturen begünstigt wurden.

Neue Herausforderungen – alte Methoden?

Vorauszuschicken ist: Nicht alle Erfahrungen aus früheren Friedensverhandlungen sind unnütz, nicht alle Instrumente und Ansätze obsolet. Im Gegenteil. Zum einen bleiben Staaten in vielen Fällen nicht nur Teil des Problems, sondern unverzichtbar auch für deren Lösung. Zum anderen sind die aus früheren Verhandlungen hervorgegangenen Instrumente, Strukturen und Institutionen auch für die Beendigung asymmetrischer Gewaltkonflikte bzw. deren Prävention eine wichtige Ressource. Schließlich bieten Verlauf, Erfolg und Misserfolg früherer Friedensverhandlungen wichtige Lernerfahrungen. Der Rechtsrahmen der Vereinten Nationen, ihre Charta, vereinbarte Konventionen sowie Rüstungskontroll- und Abrüstungsvereinbarungen – all dies ist im weitesten Sinne das Produkt von Verhandlungen zwischen Staaten mit dem Ziel, Kriegshandlungen auf Dauer einzuhegen. Sie bieten heute eine unterstützende Struktur für laufende bzw. künftige Friedensverhandlungen. So ist der nukleare Nichtverbreitungsvertrag wichtige äußere Voraussetzung für einen noch auszuhandelnden Friedensvertrag auf der koreanischen Halbinsel sowie für die Verhandlungen über das iranische Atomprogramm. Das Chemiewaffenübereinkommen wurde zur wichtigsten Bezugsgröße für die jüngsten Verhandlungen über die Vernichtung der Chemiewaffenbestände Syriens unter internationaler Kontrolle.

Dennoch: Stoßen wir zum harten Kern von Friedensverhandlungen in asymmetrischen Konflikten vor, stellen sich viele Fragen neu. Sind die zu befriedenden Konflikte gesellschaftspolitischen und sozialökonomischen Ursprungs, können Verhandlungen nur einen Rahmen setzen, einen Anstoß bieten, um durch die Anerkennung von Regeln in der Folge eine strukturell nachhaltige Transformation der gesamten Gesellschaft zu befördern. Hierzu sind neue bzw. ergänzende Instrumente gefragt. Mediation ist ein solches Instrument, inklusive Dialogforen ein anderes. Die herkömmliche Diplomatie versucht sich der Unterstützung anderer gesellschaftlicher Akteure zu bedienen: Neue Begriffe wie »public diplomacy« oder »multi-track diplomacy« drücken aus, dass in systemischen Friedensprozessen Akteure auf unterschiedlichen Handlungsebenen zusammenarbeiten müssen und die politische Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft nicht ausgegrenzt werden dürfen (Loccumer Protokolle 2008).

Friedensmediation hat sich in vielen Fällen als ein taugliches Instrument der Beilegung lang anhaltender Gewaltkonflikte erwiesen (z.B. Burundi, Nepal, Philippinen). In jedem der genannten Fälle spielten auch Verhandlungen immer wieder eine wichtige Rolle, langwierige Mediation schuf Voraussetzungen für die Durchführung letztlich zügiger und Ergebnis bringender Verhandlungen. Jedoch: Mediation ist keine Garantie für dauerhaften Erfolg, insofern gibt es eine Parallele zu Verhandlungen. Friedensprozesse können rasch entgleisen, halten sich eine oder alle Parteien nicht an die getroffenen Vereinbarungen.

Mediation muss übrigens nicht nur Vorläufer von Verhandlungen sein, sie kann auch deren Ergebnis sein. Vor allem bei durch formale Vereinbarung eingefrorenen Konflikten bleibt der Friedensschluss fragil, wenn grundlegende Verhaltensmuster sich nicht ändern. Hier kann Friedensmediation Ergänzendes leisten.

Gemischte Bilanz: Ein Erklärungsversuch

Insgesamt fällt die Bilanz der dauerhaften Beilegung asymmetrischer Gewaltkonflikte durch Verhandlungen gemischt aus. Dies führen wir auf die besonderen Herausforderungen der heutigen Konflikte zurück.

Legitimationsfragen zentral

An Kriegen der Gegenwart sind zumeist nicht-staatliche und staatliche Akteure beteiligt. Oft erweisen sich die Austragsformen der Konflikte als »hybrid«. Beide Seiten des Konflikts bestreiten grundsätzlich die Legitimation des jeweiligen Gegenübers. Die Inhaber der Regierungsgewalt sehen sich als die einzig legitimen Repräsentanten des jeweiligen Staates. Umgekehrt bestreiten die nichtstaatlichen Widerständler in asymmetrischen Gewaltkonflikten eben diesen Anspruch. Sie halten ihre Anwendung von Gewalt für legitim, weil sie die bestehenden Machtverhältnisse als illegitim erachten. Sie vertreten oft gesellschaftliche Gruppen – unterdrückte Klassen, Ethnien, Religionsgemeinschaften, Minderheiten – und ziehen aus deren Schutzbedürfnissen das Mandat für ihren bewaffneten Kampf. Dies betrifft FARC und ELN in Kolumbien (siehe dazu »Den Frieden verhandeln im Krieg – Der Fall Kolumbien« von José Armando Cárdenas Sarrias in diesem Heft), die Rebellen gegen das syrische Assad-Regime oder auch die Maoisten in Indien. Die umstrittene Legitimation ist eine hohe Hürde für die Aufnahme von Verhandlungen. In der Regel kommen sie unter solchen Voraussetzungen nur zustande, wenn alle beteiligten Seiten nicht mehr damit rechnen, durch Fortsetzung der Kampfhandlungen Vorteile für sich zu erzielen. Der „wechselseitig schmerzhafte Stillstand“ (mutually hurting stalemate), wie es William Zartman beschrieb, bildet insoweit nicht selten den Beginn der Besinnung auf potenzielle Alternativen zum bewaffneten Kampf (Zartman 2001).

Emotionale und ideologische Aufladungen

Ein weiteres Moment kommt vor allem bei ethnopolitisch und religiös mobilisierten Gesellschaften hinzu. Aus den Kriegen in Bosnien und Kosovo wissen wir, dass in Gewaltkonflikten, in denen sich nicht »anonyme« uniformierte Streitkräfte begegnen, sondern Täter und Opfer einander kennen, es sich um frühere Nachbarn aus Betrieben oder Wohngemeinschaften handelt, ein Friedensschluss viel schwerer zu bewerkstelligen ist. Rachegefühle und Misstrauen pflanzen sich oft über Generationen fort. Vergangenheitsarbeit und Aussöhnung sind für die Beilegung dieser Konflikte um vieles wichtiger, zugleich aber um vieles komplizierter. In Südafrika hat man Mittel und Wege gefunden, um aus dieser Schwierigkeit herauszufinden, anderswo dauerte es Jahrzehnte (Kambodscha), oft ist es auch gar nicht gelungen (Bosnien, Kroatien).Verhandlungen erscheinen dort besonders schwierig, wo in den Auseinandersetzungen gezielt ethnopolitische oder religiöse Identitäten gegeneinander konstruiert werden und die Existenzberechtigung anderer Ethnien oder Religionsgemeinschaften bestritten wird. Von Gruppen wie Boko Haram, Al Shabaab, aktuell v.a. Islamischer Staat werden öffentlich nicht verhandelbare Werte als Konfliktursache so porträtiert, dass sie die Bereitschaft zum Kompromisse ausschließen.

Konflikttransformation – Gesellschaftsumbau

In den Gewaltkonflikten der Gegenwart geht es um mehr als um Waffenstillstand und friedliche Koexistenz. Die Ursachen dieser Kriege sind in tiefer liegenden gesellschaftlichen und ökonomischen Verwerfungen, der Unterdrückung politischer Gegner oder Minderheiten, der Missachtung elementarer Menschen- oder Minderheitenrechte begründet. Verhandlungslösungen sind nur dann realistisch, wenn sie diese tiefer liegenden Ursachen adressieren und gesellschaftlichen Reformprozessen den Weg bahnen. Die Palette der Forderungen reicht von der Teilhabe an der Macht und weitreichender Autonomie bis hin zur Sezession. Und selbst die Durchsetzung dieser Forderungen ist keine Garantie für Frieden, wenn nicht zugleich gesellschaftliche Strukturreformen eingeleitet werden, die einen gewaltfreien Umgang mit schwierigen Streitfragen, wie den gleichberechtigten Zugang zu Ressourcen, Bildung oder staatlicher Verwaltung, ermöglichen. Süd-Sudan ist ein trauriges Beispiel dafür, wie selbst ein neuer Staat zerrüttet wird, wenn sich die Unterhändler der Vergangenheit den Staat der Zukunft aneignen.

Innere Widersprüche und zwischenstaatliche Konflikte

Nicht selten werden benachbarte oder dritte Staaten hineingezogen, die eigene, konkurrierende Interessen hegen. Insofern ergibt sich eine Überlagerung von innergesellschaftlichen und zwischenstaatlichen Konflikten, die die Dinge verkompliziert (z.B. Georgien/Abchasien – Russland; Kongo/Ruanda – Uganda).

Schwäche internationaler Regelungsmacht

Viele Kriege der Gegenwart sind, da sie innerhalb von Staaten ausgetragen werden, der Regelungsmacht des internationalen humanitären Völkerrechts entzogen. Oft sind es die Regierungen selbst, die sich gegen völkerrechtliche Bezüge innerstaatlicher Konflikte wehren, weil sie eine Aufwertung der nichtstaatlichen Opposition oder die Einmischung dritter Staaten bzw. der Vereinten Nationen befürchten. Dies erschwert die Aufnahme ernsthafter Verhandlungen, da gerade diese ein bestimmtes Maß von Einverständnis für den geregelten Umgang der Parteien miteinander voraussetzen. Werden zudem diese Regeln während oder nach Abschluss der Verhandlungen einseitig verletzt, sind die Friedensschlüsse kaum von Dauer (z.B. syrische Regierung/Genfer Verhandlungen, Türkei/PKK).

Internationale Beteiligung

Damit ist zugleich die Frage aufgeworfen, wie »von außen« überhaupt mittels Verhandlungen auf diese Konflikte eingewirkt werden kann. Studien haben gezeigt, dass Friedensverhandlungen mit Aussicht auf Erfolg durch externe Akteure weder aufgezwungen werden können noch der nachhaltige Bestand ihrer Ergebnisse gesichert werden kann, wenn die Konfliktparteien selber nicht bereit sind, den vereinbarten Regeln zu folgen (Giersch 2009).

Aber es trifft auch dies zu: Ohne internationale Mitwirkung geht es oft nicht. Internationale Akteure können erst den nötigen politischen Druck aufbauen, der die Konfliktparteien dazu bringt, sich auf Verhandlungen überhaupt einzulassen. Internationale Akteure können auch als Garanten für die beteiligten Parteien auftreten (z.B. Norwegen für die kolumbianische Regierung; Venezuela für FARC), während wiederum andere Staaten sich als Verhandlungsplatz zur Verfügung stellen (Kuba für Kolumbien/FARC, Frankreich für USA/Vietnam, Finnland für Indonesien/GAM [Aceh]). Externe Akteure können finanzielle Mittel und Anreize bereitstellen, sie können »capacity building« betreiben sowie sich an der Überwachung erzielter Übereinkünfte beteiligen (Berghof 2011, D. and W. Spencer 1995). All dies funktioniert allerdings nur, wenn die Drittparteien ihre Funktionen nicht für eigene Zwecke missbrauchen. Der Nahostkonflikt ist das Paradebeispiel für eine überfällige kritische Bestandsaufnahme bisheriger westlicher Einwirkstrategien (Lüders 2015).

Gelegentlich können konkurrierende Angebote dritter Parteien die Lage noch komplizierter machen, etwa wenn Regierungen oder nichtstaatliche Akteure den Beteiligungswettbewerb zwischen dritten Parteien anheizen, um für sich selbst einen größeren Vorteil herauszuschlagen. Im Falle des Nahostkonflikts oder auch in Afghanistan entstand in den zurückliegenden Jahren der Eindruck, dass zu viele Akteure unkoordiniert zu Werke gingen und damit eine klare Verhandlungsperspektive nicht zu erreichen war.

Besonders heikel bleibt die Frage nach militärischen Beiträgen zur Beilegung von Konflikten. Nach 1990 wurden bewaffnete Interventionen vielerorts als Mittel der Wahl zur Eindämmung von Gewaltkonflikten angesehen. Die Bilanz ist überwiegend ernüchternd. Manuela Nilsson ist beizupflichten: „Gewaltsame Interventionen brachten […] nur in den allerwenigsten Fällen eine nachhaltige Verbesserung der Situation […]“ (siehe ihren Beitrag in diesem Heft). Genauer: Sie haben die Situation, wie nicht zuletzt die Beispiele Irak und Libyen zeigen, oft dramatisch verschlechtert. In Afghanistan sind die Aussichten auf dauerhaften Frieden kaum besser als vor 15 Jahren.

Voraussetzungen für erfolgreiche Verhandlungen

In einem gewaltförmigen Konflikt sind Verhandlungen ein Weg, die gestörten Beziehungen zwischen den Konfliktparteien neu zu regeln und Rahmenbedingungen für ein gewaltfreies Miteinander zu schaffen. Im Idealfall steht ein gemeinsam vereinbartes Ergebnis, oft ein Kompromiss, am Ende des Prozesses. Dabei steht für die Konfliktparteien aber im Vordergrund der Verhandlungen, dass sie ihre Interessen maximal durchsetzen wollen. Sie wollen ein Resultat erzielen, dass ihren Zielen am nächsten kommt. Diesen Zusammenhang zu erkennen, ist für das Zustandekommen und den erfolgreichen Verlauf von Verhandlungen essentiell: Glauben die Verhandlungsparteien nicht daran, dass sie mit Verhandlungen mehr erreichen können als mit anderen Mitteln, werden sie diese nicht ernsthaft verfolgen und sie gegebenenfalls platzen lassen.

Oft – und dies gilt gerade für asymmetrische Konflikte – ist auch die Verteilung der Interessen der Konflikt- und Verhandlungsparteien asymmetrisch, und die jeweils prioritär verfolgten Ziele sind nicht identisch. Daher gilt es Ergebnisse anzustreben, die in der Summe die unterschiedlichen Interessen bzw. Prioritäten ausgewogen bedienen. Aus der europäischen Vergangenheit ist uns in diesem Zusammenhang die miteinander verbundene »Korb«-Struktur des KSZE-Prozesses in Erinnerung, bei der westliche Interessen an der Durchsetzung von Menschenrechten, östliche Interessen an der Anerkennung des politischen Status quo sowie gemeinsame Interessen an engerer wirtschaftlicher Zusammenarbeit zu einem Verhandlungspaket gebündelt wurden, in dem die unterschiedlichen Interessen ausbalanciert werden konnten.

In gesellschaftspolitischen Konflikten kommt es überdies nicht nur auf die unmittelbar verhandelnden Akteure an. Jeder Kompromiss bedarf der Akzeptanz im Lager der jeweiligen Parteien. Schließlich geht es auch um die nicht am Verhandlungsprozess direkt Beteiligten, die aber von dessen Ergebnissen betroffen sind. Werden deren Belange nicht angemessen einbezogen, verlieren die Verhandlungsergebnisse schnell an Bedeutung.

Vielfältige Erfahrungen belegen: Internationale Akteure können eine wichtige Erfolgsbedingung für Verhandlungen sein. Von besonderer Bedeutung ist eine rahmensetzende explizite oder implizite Mandatierung zur Verhandlungsunterstützung durch die Vereinten Nationen – z.B. den Sicherheitsrat – oder die Mitwirkung regionaler und subregionaler Organisationen, wie der Afrikanischen Union oder ECOWAS (z.B. in Burundi). Problematisch war hingegen die Parteinahme Äthiopiens und Kenias im Somaliakonflikt.

Für Konfliktparteien, die sich über lange Zeit ineinander verhakt haben, ist das Vertrauen in einen unabhängigen dritten Vermittler von großer Bedeutung, um Zuversicht in die Aufnahme von Verhandlungen zu entwickeln. Die Glaubwürdigkeit dieser Vermittler entsteht über kontinuierliches, unparteiliches Engagement. In der internationalen Gemeinschaft verfügen diesbezüglich Länder wie die Schweiz oder Norwegen über einen guten Ruf. Die Möglichkeiten der Vereinten Nationen, in eigener Verantwortung tätig zu werden, sind hingegen häufig begrenzt. Sie sind auf »Geberkonferenzen« angewiesen, in denen Einrichtungen wie Weltbank und IWF, aber auch die EU oder Einzelstaaten über Umfang und Richtung der Mittelvergabe gebieten. Um die Möglichkeiten der Vereinten Nationen zu stärken, sollte daher die Idee eines globalen Fonds weiter verfolgt werden, mit denen jederzeit abrufbare Finanzmittel bereitgestellt werden könnten (Gebauer 2014).

Von Verhandlungen zur Transformation von Konflikten

In den innergesellschaftlichen, politisch-ökonomischen Konfliktformationen geht es immer auch um Verteilungsfragen: die Beteiligung an Entscheidungsprozessen, die Teilhabe an der Macht, der Zugang zu Ressourcen (Wennmann 2009). So genannte Powersharing-Ansätze können helfen, das Spannungspotenzial ethnopolitisch oder religiös aufgeladener Projekte zu verringern und Dialogräume zu erweitern (Mehler 2009). Inwieweit dabei eine sukzessive Föderalisierung des Staates ein probater Fokus des Verhandlungsprozesses – präziser: des Aushandlungsprozesses – ist, mag umstritten sein. In Ländern mit starker sozialer Fragmentierung, wie z.B. Somalia oder Afghanistan, kann Föderalisierung ein starker Anreiz sein, sich auf einen nationalen Verhandlungsprozess einzulassen. Ebenso wichtig sind identitätsstiftende kollektive Werte, auf die sich die Konfliktparteien grundsätzlich verständigen könnten: soziale Gerechtigkeit, ein verlässliches Rechtssystem oder eine »Kultur des Friedens«.

Hierbei gewinnen die Beteiligung zivilgesellschaftlicher Akteure und die Herausbildung einer intakten Zivilgesellschaft zunehmend an Bedeutung. Gerade Vertreter der Zivilgesellschaft engagieren sich in wachsendem Maße für eine Beendigung der »Bürgerkriege«, und sie entwickeln eigene Vorstellungen zur Entwicklung der Nachkriegsgesellschaften. Ihre Konzepte werden zum wichtigen Prüfstein, an dem sich alle Verhandlungsergebnisse messen lassen müssen. Oft handeln sie im Verbund mit internationalen Nichtregierungsorganisationen, die ihnen Hilfe zukommen lassen und den Rücken stärken. Zugleich verschafft ihnen diese Kooperation den unmittelbaren Zugang zur Weltöffentlichkeit, z.B. mithilfe sozialer Netzwerke.

Die Frage, ob Friedensverhandlungen exklusiv oder inklusiv zu führen seien, wird strittig diskutiert (siehe den » Friedensverhandlungen – Ein hoffnungsvoller Trend« von Manuela Nilsson in diesem Heft). Für uns bleibt als Faustregel, die größtmögliche Einbeziehung aller beteiligten und wichtigen Akteure in den Friedensprozess anzustreben. In welcher Form, ist nur fallweise zu beantworten. Die Friedensprozesse u.a. in Westafrika und Nordirland haben gezeigt, dass der Anstoß zum Frieden aus der Zivilgesellschaft kommen kann und die Umsetzung des Friedensschlusses in hohem Maße davon abhängt, ob Friedens- und Versöhnungsprozesse in die Gesellschaft hineinwirken. Gerade der inklusive Ansatz zieht eine weitere Erkenntnis nach sich: Um Friedensprozesse in Gang zu bringen und, fast mehr noch, um sie nach einem Friedensschluss auch innergesellschaftlich zu implementieren, muss Raum für zivilgesellschaftliche Initiativen und deren aktive Einmischung in Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse geschaffen werden (Lederach 1995, Rupesinghe 1995).

Literatur

Beatrix Austin, Martina Fischer, Hans J. Gießmann (eds.) (2011): Advancing Conflict Transformation. The Berghof Handbook II. Opladen, Farmington Hills: Barbara Budrich.

Georg Elwert (1997): Gewaltmärkte. In: Trutz von Trotha (Hrsg.): Soziologie der Gewalt. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Sonderheft 37.

Manuel Fröhlich: Vertreter, Vermittler und mehr als Verwalter. Die Arbeit der Sondergesandten des UN-Generalsekretärs. Vereinte Nationen, Heft 3/13.

Thomas Gebauer (2014): Soziale Gerechtigkeit global. In: Paul Schäfer (Hrsg.): In einer aus den Fugen geratenden Welt. Hamburg: VSA.

Gerd Hankel (2011): Friedenskonferenzen/Friedensverträge. In: Hans Joachim Gießmann und Bernhard Rinke (Hrsg.): Handbuch Frieden. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S.171-179.

Carsten Giersch (2009): Risikoeinstellungen in internationalen Konflikten. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

John Paul Lederach (1995): Preparing for Peace. New York: Syracuse University Press.

Corinna Hauswedell, Ulrich Frey, Wiebke Zorn (Hrsg.) (2010): Diplomatie und Zivilgesellschaft. Konfliktbearbeitung auf Augenhöhe? Loccumer Protokolle 32/09.

Michael Lüders (2015): Wer den Wind sät – Was westliche Politik im Orient anrichtet. München: C.H. Beck.

Philipp Lustenberger: A Time to Fight, and a Time to Talk? Negotiability of Armed Groups. Bern: Swiss Peace, Working Paper 1/2012.

Andreas Mehler (2009): Peace and Power Sharing in Africa – A Not So Obvious Relationship. African Affairs 108.

Dov Ronen (1995: Ethnic Conflict and Self-Rule: On a New Approach to the Study of Conflict Transformation. In: Rupesinghe 1995.

Kumar Rupesinghe (1995) (ed.): Conflict Transformation. New York: St Martins’s Press.

Dayle Spencer and William Spencer (1995): Third-Party Mediation and Conflict Transformation: Experiences in Ethiopia, Sudan, and Liberia. In: Rupeshinge 1995.

Achim Wennmann (2009): Getting Armed Groups to the Table: peace processes, the political economy of conflict and the mediated state. Third World Quarterly, Vol. 30, No. 6, S.1123-1138.

I. William Zartman: The Timing of Peace Initiatives – Hurting Stalemate and Ripe Moments. The Global Review of Ethnopolitics, Vol. 1, No. 1, Sept. 2001.

Prof. Dr. Hans Joachim Gießmann ist Executive Director der Berghof Foundation in Berlin.
Paul Schäfer ist Publizist und Mitglied der Redaktion von »Wissenschaft und Frieden«.

Verhandeln nicht immer eine Option

Verhandeln nicht immer eine Option

von Jochen Hippler

Verhandeln geht nur, wenn mit dem Kriegsgegner ein Gespräch möglich ist. Immer wieder gibt es aber Konstellationen, wo dies nicht aussichtsreich ist. Für Friedensverhandlungen gibt es darüberhinaus einige weitere Voraussetzungen, die ebenfalls nicht immer gegeben sind. Der Autor erläutert, wann aus seiner Sicht Friedensverhandlungen überhaupt eine Option sind und wann sie nicht zweckdienlich scheinen. Er belegt seine Einschätzung am Beispiel der Taliban bzw. des Islamischen Staates.

Verhandlungen in Kriegssituationen führt man mit seinen Gegnern oder mit Feinden, nicht mit Freunden. Friedensverhandlungen erfordern Kommunikation und Verständigung gerade mit denjenigen, mit denen man nicht übereinstimmt, sondern sich sogar im Kriegszustand befindet. Das Argument, solche Verhandlungen seien falsch und unangebracht, weil der Gegner schließlich Gewalt anwende, ist zunächst einmal unsinnig: Gerade deshalb sind solche Verhandlungen ja notwendig. Außerdem führt die eigene Partei den Krieg ebenfalls nicht nur mit Worten, sondern mit den Mitteln militärischer Gewalt. Auch politische oder ideologische Gegensätze können kein Argument gegen Friedensverhandlungen sein, da man von seinem Feind kaum als Gesprächsvoraussetzung verlangen kann, er müsse erst so werden wie man selbst.

Diese einfachen Wahrheiten implizieren allerdings nicht, dass Verhandlungen zur Beilegung eines Gewaltkonfliktes oder Krieges immer, mit jedem und zu jedem Zeitpunkt sinnvoll oder möglich wären. Verhandlungen können aussichtslos sein, wenn man selbst oder der Gegner sie nur als Mittel für andere Zwecke betrachtet, etwa zur Propaganda oder um Zeit zu gewinnen, um die Kriegführung später effektiver fortsetzen zu können. Häufig werden Verhandlungsangebote auch mit Vorbedingungen belastet, die vom Gegner gar nicht erfüllt werden können, z.B. die Gegenseite solle die Waffen niederlegen, während man die eigenen behält – das ist in Kriegssituationen kaum mehr als die freundliche Aufforderung zu Kapitulation. Oder man verlangt in einem Bürgerkrieg, die Gegenseite solle zuerst einmal die »geltende Verfassungsordnung akzeptieren« – die aber gerade umstritten ist und gewaltsam bekämpft wird.

Hier wird deutlich, dass schon das Reden über Verhandlungen ein Teil der Kriegführung sein kann, wenn es den Versuch darstellt, den Gegner wenn nicht militärisch, so doch politisch und ideologisch zu entwaffnen oder zu schwächen, indem man ihn delegitimiert.

Besonders offensichtlich sind solche Probleme, wenn ein Gewaltkonflikt oder Krieg »asymmetrisch« geführt wird, also zwischen Großmächten und Kleinstaaten oder insbesondere zwischen Regierungen und nicht-staatlichen Gewaltakteuren. Tatsächliche Verhandlungen setzen in der Regel eine minimale Gleichheit der Verhandlungspartner voraus, eine prinzipielle Machtgleichheit (keine Seite kann die andere militärisch besiegen) und/oder eine vergleichbare Legitimationsstärke. Ein legitimer Staat – oder was sich dafür hält – kann mit einer Verbrecherbande keine »Friedensverhandlungen« führen, ohne den Anspruch auf seine Legitimität als Staat aufzugeben und sich auf eine gleiche Ebene mit der Verbrecherbande zu stellen. Bereits die öffentlich Erörterung einer möglichen Verhandlungslösung kann deshalb die Legitimität der Konfliktparteien und die Konfliktdynamik beeinflussen. Auch deshalb sind Verhandlungen zwischen Ungleichen zur Beilegung von Gewaltkonflikten so schwierig: Beide Seiten können bereits dadurch politisch gewinnen oder verlieren, dass sie sich öffentlich auf Verhandlungen einlassen.

In der Debatte um Gewaltkonflikte hört man häufig das Argument, dass »Gewalt keine Lösung« sein könne. Würde dies stimmen, wäre Krieg inzwischen den Weg der Dinosaurier gegangen und ausgestorben. Kriege und Gewalt können unter bestimmten Bedingungen durchaus eine Lösung sein, sonst würde ja kaum eine Konfliktpartei noch Gewalt einsetzen, kein Aggressor einen Krieg beginnen. Allerdings bedeutet eine gewaltsame Konfliktlösung in aller Regel ein beträchtliches Maß an Blutvergießen und Zerstörung. Nicht allein der Tod vieler Menschen, sondern auch die Zerstörung ganzer Gesellschaften können das Ergebnis sein, wie der syrische Bürgerkrieg erneut demonstriert. Auch wenn Gewalt also pragmatisch gesehen unter bestimmten Bedingungen »funktionieren« kann (gemessen an ihren Zielen), ist sie unter normativen Gesichtspunkten keine Option.

Keine Garantie für Erfolgschancen

Ein Problem besteht darin, dass die aus normativen wie pragmatischen Gründen berechtigte Ablehnung gewaltsamer oder militärischer Konfliktlösung nicht automatisch Alternativen impliziert, wie Konflikte auf andere Art gelöst werden können oder sollten. Häufig wird vorgebracht, an die Stelle der Gewalt solle eine »politische Lösung« treten – eine ebenso sympathische wie prinzipiell richtige Forderung. Allerdings ist oft nicht klar, was der Begriff »politische Lösung« genau bedeutet, meist wird er synonym mit »Verhandlungslösung« verwandt. Diese Einengung ist alles andere als hilfreich, weil sie einerseits andere politische Optionen ignoriert und andererseits die Erfolgschancen von Verhandlungen unterstellt, ohne den konkreten Kontext und die Erfolgsvoraussetzungen zu prüfen. Viele Erfahrungen, etwa die Verhandlungen zwischen Israel und der PLO bzw. der palästinensischen Autonomieregierung, die der US- oder afghanischen Regierung mit den Taliban oder die zur Beendigung des Bürgerkrieges in Sri Lanka, demonstrieren, dass Verhandlungen nicht immer zu einer Lösung führen. Und selbst dann ist nicht automatisch gewährleistet, dass die Vereinbarung wirklich umgesetzt wird oder zum Frieden führt.

Es sind viele Kontexte vorstellbar, in denen Verhandlungen kaum aussichtsreich wären. Dazu gehören: Situationen, in denen

  • das Machtungleichgewicht so groß ist, dass eine Seite Kompromisse nicht nötig zu haben glaubt,
  • eine Seite ihre existentiellen Ziele erreicht hat, die andere nicht,
  • die politisch Verantwortlichen oder die Verhandlungsführer aufgrund von Widerstand im eigenen Lager nicht über den nötigen Kompromiss- und Handlungsspielraum verfügen,
  • die Konfliktparteien besonders fragmentiert oder die jeweiligen Seiten im jeweils »eigenen« Lager untereinander verfeindet sind,
  • keine wirksame Kontrolle über die bewaffneten Einheiten durch die politische Führung besteht oder
  • eine Seite aus nachvollziehbaren Gründen eine baldige schrittweise oder plötzliche Verschiebung der Kräfteverhältnisse zu eigenen Gunsten erwartet.

Offensichtlich können mehrere dieser Kontexte zugleich gegeben sein, womit die Wahrscheinlichkeit eines Verhandlungserfolgs noch weiter sinkt, wie die jahrzehntelangen Versuche, den Palästinakonflikt durch Verhandlungen beizulegen, zeigen.

Insgesamt erfordern Verhandlungslösungen (a) den Willen aller relevanten Konfliktparteien, eine Einigung zu erreichen, was (b) eine ausreichende Überlappung der Interessen der Konfliktparteien voraussetzt, ebenso (c) einen erfolgreichen Verhandlungsprozess, der externe oder interne »Spoiler« marginalisiert, und (d) die fortdauernde Bereitschaft und Fähigkeit der Konfliktparteien und ggf. einflussreicher Dritter, die Verhandlungsergebnisse tatsächlich umzusetzen bzw. Verstöße wirksam zu sanktionieren. Keine dieser Voraussetzungen darf immer als gegeben unterstellt werden.

Verhandlungen mit den Taliban zu spät ins Spiel gebracht

Betrachten wir zur Illustration die Verhandlungen mit den afghanischen Taliban. In den Jahren 2002 bis ca. 2005 wären Erfolg versprechende Verhandlungen vermutlich möglich gewesen: Die Taliban waren nach ihrem Sturz politisch wie militärisch schwach, ihr früheres Prestige im Land und ihre Legitimität waren schwer beschädigt, und nach der schnellen militärischen Niederlage bestand in der afghanischen Gesellschaft und bei ihnen selbst nicht die Erwartung, dass sie bald in eine starke Machtposition zurückkehren könnten. Ein politisches Verhandlungsangebot für ihre – durchaus begrenzte – Machtbeteiligung oder wenigstens Duldung im neuen politischen Rahmen hätte zu einer zumindest teilweisen Integration ins politische System führen können. Damals allerdings waren weder die afghanische Regierung noch die USA und ihre Verbündeten zu einer solche Politik (oder auch nur zu irgendwelchen Gesprächen oder gar Verhandlungen) bereit, weil sie triumphalistisch und überheblich glaubten, ein solches Zugeständnis nicht nötig zu haben. Zu dieser Zeit war selbst der Begriff »Verhandlungen« auch in Deutschland tabuisiert, wie es ja auch tabu war, den Krieg einen Krieg zu nennen. Das Ergebnis: Den Taliban blieb keine andere Option, als sich politisch außerhalb und gegen das neue System zu organisieren.

Ab 2005 wurde immer klarer, dass die Taliban militärisch doch nicht zu schlagen waren, sondern zunehmend zu einer ernsten Bedrohung wurden, dass Sicherheit auch nicht durch die ausländischen Truppen zu erreichen war und die Regierung Karzai nicht die Lösung, sondern selbst ein Teil des Problems war. Da erst führten das Scheitern der westlichen Afghanistanpolitik und die blanke Not dazu, auf eine Verhandlungslösung zu setzen. Allerdings hatten die Taliban nun ernsthafte Gespräche oder Verhandlungen nicht mehr nötig, konnten sie aber nutzen, um als legitimer und prinzipiell ebenbürtiger Partner akzeptiert und damit politisch gestärkt zu werden.

Insbesondere nachdem in den USA und Westuropa die Diskussion über einen Abzug der eigenen Truppen aus Afghanistan begonnen hatte, hatten die Taliban weder ein Interesse an massiven und riskanten Militäroffensiven noch an der Beendigung des Bürgerkrieges durch einen Kompromiss. Aus ihrer Sicht waren Geduld und Abwarten die richtige Strategie: Da die afghanische Regierung nicht einmal mit Hilfe der NATO-Truppen zu einem Sieg über die Taliban in der Lage gewesen war, wie sollte dies erst ohne die ausländischen Soldaten gelingen? Die Taliban zielten darauf, den Druck auf die Regierung und die fremden Truppen sowie die allgemeine Situation der Unsicherheit aufrecht zu erhalten, punktuell sogar noch zu erhöhen, dabei aber den Truppenabzug nicht zu gefährden. Zugleich halfen Gespräche mit der Regierung oder den USA dabei, den Abzug in den westlichen Ländern innenpolitisch zu rechtfertigen und zu befördern. Jenseits dessen haben die Taliban kein Interesse an einem Verhandlungskompromiss. Die Zeit arbeitet für sie, und die afghanische Regierung verfügt über keine legitimen und effektiven Governance- Strukturen, um sie politisch zu marginalisieren. Nach dem Abzug der ausländische Truppen und der später zu erwartenden Verminderung der finanziellen Unterstützung aus dem Ausland würde, so das Kalkül, die afghanische Regierung weiter geschwächt und ein Erfolg der Taliban, etwa durch eine Fragmentierung der Regierung und des Staates, wahrscheinlicher.

Umgekehrt darf nicht übersehen werden, dass auch die afghanische Regierung bisher keinen wirklichen Anreiz hat, den Bürgerkrieg durch einen Verhandlungskompromiss zu beenden. Solange sie sich gegenüber dem Westen als einziges Bollwerk gegen die Taliban präsentieren kann, darf sie sich Hoffnungen auf militärische und finanzielle Unterstützung machen. Ein Machtverlust oder auch nur eine Machtteilung infolge von Verhandlungen würde die politische und materielle Unterstützung der Anti-Taliban-Kräfte in Frage stellen und damit deren Kerninteressen und Zusammenhalt bedrohen.

Eine Verhandlungslösung in Afghanistan würde nur dann eine realistische Option, wenn sich dort zwei (oder sehr wenige) halbwegs geschlossene Konfliktparteien gegenüberstünden, die beide keine Aussicht auf einen politischen oder militärischen Erfolg haben, aber so stabil sind, dass sie keine Niederlage fürchten müssen. Ein solches Patt ist allerdings nicht in Sicht.

Verhandlungen mit dem IS keine Option

Anders ist die Lage in Bezug auf den »Islamischen Staat« (IS). Gegenwärtig gibt es erste, wenngleich noch vorsichtige, Vorschläge, mit diesem Gespräche und Kontakte zu pflegen (siehe z.B. „Die Anbahnung von Kontakten zum IS sollte nicht von vornherein aus den Möglichkeiten des Konfliktmanagements ausgeschlossen werden“ im Friedensgutachten 2015, S.12).

Soweit sich dies auf humanitäre Notsituationen bezieht (Versorgung der Zivilbevölkerung, Geiselnahmen), ist gegen solche Kontakte und Gespräche nichts einzuwenden. Sollte man sich allerdings Hoffnungen auf eine Konfliktbeilegung (bzw. ein »Konfliktmanagement«) in Syrien oder dem Irak machen, wäre Zurückhaltung angebracht. Der bisherige Erfolg des »Islamischen Staates« beruht auf seiner kompromisslosen Brutalität, die er zum Alleinstellungsmerkmal gegenüber allen anderen politischen und militärischen Gruppen ausgebaut hat. Gerade diese Eigenschaft trägt zur Anziehungskraft des IS bei, insbesondere auf ausländische Kämpfer im arabischen Raum und in Westeuropa. Während viele jihadistische Gruppen, auch al Kaida, sich durch oft langatmige theologische Belehrungen profilieren wollen, setzt der IS bei seiner Propaganda auf »Aktion«, auf Offensive, Kompromisslosigkeit, Brutalität und Sieg. Dies wirkt auf bestimmte Personengruppen anziehend und schüchtert die Gegner ein.

Der »Islamische Staat« erhebt den Anspruch, »der« Staat aller Muslime zu sein. Er definiert sich als »Kalifat«, also zugleich als oberste religiöse wie als politische Instanz mit globalem Machtanspruch. In diesem Sinne versteht sich der IS nicht einfach als irgendein Staat neben anderen, sondern als allen anderen Staaten und nichtstaatlichen Akteuren übergeordnet. Wer sich dem IS nicht unterwirft, ist automatisch aus der Gemeinschaft göttlicher Legitimität ausgeschlossen und gilt als Ketzer.

Beide Aspekte, der pragmatische und der ideologische, stellen ernsthafte Hindernisse für Gespräche oder gar Verhandlungen dar. Das Geschäftsmodell des IS auf dem politischen Markt des Jihadismus beruht gerade auf brutaler Kompromisslosigkeit und würde durch Dialoge und Gespräche infrage gestellt. Zugleich sind Gespräche und Verhandlungen kaum möglich, wenn die Bereitschaft fehlt, andere zumindest als legitim und als prinzipiell gleichwertig zu akzeptieren.

Nun ließe sich einwenden, dass der IS nach Durchlaufen eines erfolgreichen Staatsbildungsprozesses aus pragmatischen Gründen eine »normale« Staatlichkeit herausbilden wird, vielleicht nach dem Muster von Saudi Arabien, das eine salafistische Ideologie mit diplomatischem Verkehr in Einklang bringt. Dies ist nicht grundsätzlich auszuschließen; sollte ein solcher Prozess der Mäßigung tatsächlich einsetzen, dürfte er allerdings in sehr ferner Zukunft liegen. Der Vorschlag, so lange mit Gesprächen oder Verhandlungen zu warten, wäre politisch absurd, insbesondere, weil die kompromisslose Brutalität des IS bis dahin so viele Opfer kosten und die Menschenrechtssituation dauerhaft so katastrophal prägen dürfte, dass dies unter humanitären Gesichtspunkten schlicht undenkbar ist.

»Politische Lösung« als Begriff weiter fassen

Das Problem im Umgang mit dem »Islamischen Staat« besteht darin, dass eine primär militärische Lösung (etwa durch Waffenlieferungen an seine Gegner, Luftangriffe, Ausbildung des irakischen Militärs, westliche Bodentruppen) keinen Erfolg verspricht, eine »politische Lösung« im Sinne von Verhandlungen mit dem IS aber eine absurde Vorstellung ist. Tatsächlich käme es in vielen Gewaltkonflikten darauf an, den wichtigen Begriff einer »politischen Lösung« weiter zu fassen. Wenn ein Konflikt nicht militärisch, sondern nur politisch gelöst werden kann, bedeutet das nicht automatisch, eine »Verhandlungslösung« zu favorisieren, für die in vielen Situationen die Voraussetzungen fehlen.

Eine politische Lösung wird oft auf einer anderen Ebene ansetzen müssen: So wäre es beispielsweise entscheidend, im Irak eine Politik zu betreiben, die die arabischen Sunniten nicht marginalisiert, sondern wieder in den nationalen Politikprozess reintegriert. Solange die Sunniten sich von der Regierung in Bagdad oder den schiitischen Milizen stärker bedroht fühlen als vom IS, wird der Krieg nicht beendet werden können, weder durch Bombardierung noch durch »Verhandlungen«. Die Ansatzpunkte für eine politische Lösung finden sich nicht in aussichtslosen und schädlichen Gesprächen mit dem »Islamischen Staat«, sondern in der Arbeit daran, in den betroffenen Gesellschaften Bedingungen herzustellen, die ihm gesellschaftlich und politisch durch Delegitimierung den Boden entziehen. Erst dann können andere Politikinstrumente mit Aussicht auf Erfolg angewandt werden.

Privatdozent Dr. Jochen Hippler ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Entwicklung und Frieden der Universität Duisburg/Essen; www.JochenHippler.de.

Den Frieden verhandeln

Den Frieden verhandeln

Lotte Kirch

Ende Juni 2015 trafen sich der südsudanische Präsident Salva Kiir und Rebellenführer Riek Machar unter der Vermittlung des kenianischen Präsidenten Uhuru Kenyatta in Nairobi, um erneut eine Lösung des Konfliktes im Südsudan zu verhandeln. Seit Anfang des Bürgerkrieges im Dezember 2013 gab es immer wieder Friedensverhandlungen zwischen den Konfliktparteien. Bis jetzt blieben sie ergebnislos; zahlreiche Waffenstillstandsabkommen wurden nach kurzer Zeit gebrochen. Fast zeitgleich scheiterten vorerst in Genf die indirekten Verhandlungen zwischen den schiitischen Huthi-Rebellen und Vertretern der jemenitischen Regierung über eine Waffenruhe und den Truppenabzug. Da die Parteien bisher nicht bereit waren, sich gemeinsam an den Verhandlungstisch zu setzen, pendelte der UN- Sondergesandte für den Jemen, Ismail Ould Cheikh Ahmed, zwischen ihnen.

Die gewaltsamen Konflikte im Südsudan und Jemen stehen für viele weitere, in denen sich Konfliktparteien an den Verhandlungstisch begeben, um mit oder ohne Mediation durch Drittparteien Regelungen zur Konfliktlösung zu erarbeiten und in einem Friedensabkommen festzuhalten. Sie sind Ausdruck dafür, dass Friedensverhandlungen sich als ein Konfliktlösungsmechanismus etablieren konnten, als Alternative zu einem militärischen Sieg einer Seite. Damit einhergehend entwickelt(e) sich dieses Instrument und die Möglichkeiten seiner Anwendung kontinuierlich. Friedenspolitische Nichtregierungsorganisationen haben sich auf Mediation spezialisiert, die Vereinten Nationen benennen Sondergesandte für bestimmte Länder und regionale Organisationen, wie die Afrikanische Union und der Verband südostasiatischer Nationen, üben Druck auf Konfliktparteien aus und übernehmen eine tragende Rolle in der Vermittlung.

Gleichzeitig unterstreichen die Beispiele die Komplexität von Friedensverhandlungen. Hier sitzen sich keine Partner gegenüber, sondern verfeindete Individuen und Gruppen, die sich oft jahrzehntelang militärisch bekriegt haben und dies in vielen Fällen parallel zum Verhandlungsgeschehen noch tun. Neben einem Waffenstillstand stehen Fragen der Machtaufteilung, Ressourcenverteilung, der Demilitarisierung und des Übergangsprozesses auf der Agenda. Diese erfordern weitgehende politische, rechtliche und soziale Reformen und berühren häufig sowohl strukturelle Ursachen des Konflikts als auch die Legitimität der Verhandelnden selbst.

Mit dem Schwerpunkt »Friedensverhandlungen« widmet sich dieses Heft dem Instrument, seiner Vielfältigkeit, seinem Potential, seiner Komplexität. Angesichts der deutlichen Zunahme von Versuchen, Konflikte am Verhandlungstisch beizulegen, zeichnen die Artikel die Entwicklung des Instruments entlang der sich verändernden globalen Rahmenbedingungen seit Ende des Kalten Krieges nach und gehen auf die vielfältigen Akteure, Phasen und Formen von Friedensverhandlungen je nach Konfliktkontext ein. So erläutern Paul Schäfer und Hans Joachim Gießmann, „Friedensverhandlungen sind ein Ausdruck des Charakters derjenigen Kriege, die sie beenden sollen“. Neben der Entwicklung des Instrumentariums stehen die Bedingungen für erfolgreiche Verhandlungen und deren Herausforderungen unter besonderer Betrachtung. Was sind günstige Zeitpunkte und -räume für Verhandlungen? Was sind aussichtsreiche Konstellationen der Verhandlungsparteien? Welche Interessen der Konfliktparteien sind vereinbar? Wie wirken sich internationale Akteure auf Verhandlungen aus? Welche Rolle spielt die nationale und internationale Zivilgesellschaft? Wie wird aus gescheiterten früheren Versuchen gelernt?

Während die Beiträge wichtige konzeptionelle Aspekte von Friedensverhandlungen berühren, werden einige hier nicht behandelt. So bleibt sowohl die Diskussion der Rolle von Gender in Verhandlungen als auch die intensivere Auseinandersetzung mit typischen Inhalten der Verhandlungen künftigen Artikeln vorbehalten. Dennoch lassen die Beiträge im Kontext der Konflikte in Afghanistan, Kolumbien, der DR Kongo und auf den Philippinen keine Zweifel: Friedensverhandlungen bringen enorme kurz- und langfristige Herausforderungen mit sich – vor, während und selbst nach erfolgreichem Abschluss ?, bergen dafür aber auch ein großes Potential. Beeinflusst durch äußere Faktoren und den spezifischen politischen Kontext sind sie meist zäh und fordern politischen Willen, Sorgfalt und Geduld aller Beteiligten – der Konfliktparteien, Vermittlenden, Zivilgesellschaft, internationalen Gemeinschaft und Medien. Es sind, wie Jochen Hippler schlüssig argumentiert, viele Kontexte vorstellbar, in denen Verhandlungen wenig aussichtsreich und andere politische Lösungen notwendig sind. Dennoch: Friedensverhandlungen sind als diplomatisches Instrument unabdingbar, um Konflikten zu begegnen und die Gewalt einzudämmen. Auch angesichts der stetig wachsenden Komplexität heutiger Konflikte (wie in Syrien), Akteure (wie dem Islamischen Staat) und entsprechend schwierigen Verhandlungskonstellationen (wie im Jemen) ist ein kontinuierliches Überdenken und Weiterentwickeln des Instruments der Friedensverhandlung in Praxis und Wissenschaft angebracht. Raum für Innovation gibt es genug.

Ihre Lotte Kirch

Das Iran-Abkommen – ein Grund zur Freude

Das Iran-Abkommen – ein Grund zur Freude

von Jan Oberg

Am 14. Juli, dem französischen Revolutionstag, fand 2015 eine weitere Revolution statt: Die fünf ständigen UN-Sicherheitsratmitglieder plus Deutschland (P5+1) einigten sich mit Iran auf den »Joint Comprehensive Plan of Action«. Statt mit einem weiteren kontraproduktiven Krieg des Westens gegen ein nahöstliches Land lösten sie den langjährigen Streit durch Verhandlungen. Das Abkommen ist ein Sieg der Gewaltlosigkeit und Intelligenz über Gewalt und menschliche Dummheit. In den vergangenen Wochen gelang dem iranischen Außenminister Zarif und seinem Team das scheinbar Unmögliche: eine Verhandlungslösung in einem hochgradig asymmetrischen Konflikt.

Asymmetrisch? Ja, es war kaum zu übersehen, dass der Westen seit dem CIA-gelenkten Putsch der demokratisch gewählten iranischen Führung im Jahr 1953 Iran schikanierte. Der Westen und Israel drohten Iran wiederholt mit Bombenangriffen (nicht andersherum). Der Westen unterstützte Saddam Husseins grauenhaften Krieg gegen Iran in den 1980er Jahren. Jahrelang wurden iranische Wissenschaftler ermordet, Sanktionen verhängt und erniedrigende Forderungen vorgebracht.

Am Tisch in Wien saßen die P5, die fünf größten Atomwaffenstaaten, plus das an der nuklearen Teilhabe mitwirkende Deutschland. Sie alle ignorieren seit Jahrzehnten de facto und de jure systematisch die Bestimmungen des nuklearen Nichtverbreitungsvertrags. Niemals würden sie auf ihrem Hoheitsgebiet so weitreichende Inspektionen zulassen, wie sie Iran jetzt erlauben will. Und nie würden sie das israelische Atomwaffenarsenal thematisieren. Mit dem Iranabkommen hat sich die Asymmetrie von Rechten und Pflichten noch verstärkt.

Stattdessen… Stellen Sie sich eine Welt vor, in der in den Verhandlungen ein endgültiger Verzicht des Iran auf Atomwaffen gefordert worden wäre (zur Erinnerung: Iran hatte stets betont, ohnehin keine Atomwaffen anzustreben) und die Atomwaffenmächte im Gegenzug zugesagt hätten, ihre Arsenale substanziell zu reduzieren. Stellen Sie sich vor, die Zugeständnisse wäre gegenseitig, fair und ausgewogen gewesen. Und der Westen hätte sich an die simple Rechtsnorm gehalten, dass keiner bestraft wird, bevor seine Schuld bewiesen ist, hätten also nie Sanktionen gegen Iran verhängt – Sanktionen, die vor allem die iranische Zivilbevölkerung und Geschäftswelt trafen, während Hardliner und Schattenwirtschaft davon profitierten.

Leider baute die Verhandlungsstrategie die ganzen Jahre auf militärische und strukturelle Macht, nicht auf die Macht der Vernunft und Vertrauen. Die Berichterstattung der Mainstream-Medien tat ihr Übriges, ein negatives Bild von Iran zu transportieren. Erinnern Sie sich an eine einzige Fernsehdokumentation in letzter Zeit über Iran, seine Geschichte, Zivilisation, Kultur, moderne Kunst, Filmindustrie oder das Alltagsleben der Menschen? Jeder Tourist, der ein oder zwei Wochen durch Iran reist, sieht sofort, dass die einseitige Berichterstattung wenig zu tun hat mit dem Land und seinen gastfreundlichen, weltoffenen, gebildeten Bürgern, die offenbar auf nichts mehr hoffen, als auf bessere Beziehungen zum Westen.

Stellen Sie sich vor, wir hätten Iran anstatt der Peitsche Zuckerbrot angeboten, Hilfe bei technischen und wirtschaftlichen Reformen, beim Kampf gegen die enorme Luftverschmutzung in den Städten, bei der Erzeugung von solarer und anderer erneuerbaren Energie. Wir hätten unsere Länder für vielfältige Kooperationsprojekte öffnen können, u.a. für universitären und kulturellen Austausch. Glücklicherweise bereitet das Abkommen genau dafür nun den Weg.

Zuvor sind aber sind noch etliche Hürden zu überwinden:

  • Die entstehende Interessenallianz zwischen Saudi-Arabien, Israel, dem IS und dem Golfkooperationsrat will das Abkommen buchstäblich gegen den Rest der Welt sabotieren.
  • Ein israelischer Angriff auf Iran ist immer noch möglich – nicht im Interesse der israelischen BürgerInnen, sondern zur Selbsterfüllung der paranoiden Prophezeiungen von Premierminister Netanyahu, der seit 1992 vorhersagt, Iran wäre binnen weniger Jahre eine Atommacht, und das jetzige Abkommen einen schweren Fehler nennt.
  • Der US-Kongress könnte dem Abkommen die Zustimmung verweigern.
  • Streit um die Interpretation des Kleingedruckten im Vertrag könnte während der 15-jährigen Umsetzungsphase zu neuem Streit zwischen den P5+1 und Iran führen.

Werden diese Schwierigkeiten aber gemeistert, dann werden sich der Nahe und Mittlere Osten und unsere Beziehungen zu ihm durch das Abkommen wandeln. Darauf freue ich mich schon jetzt.

Prof. Dr. Jan Oberg ist Friedensforscher an der Lund University und Mitbegründer der Transnational Foundation for Peace and Future Research (tff.org).

Kompetenzaufbau für Krisenprävention

Kompetenzaufbau für Krisenprävention

Zivile Konfliktbearbeitung in Namibia

von Angela Mickley

Militärische oder polizeiliche Einsätze, betonen Politiker in ihren öffentlichen Verlautbarungen gern, seien nur das allerletzte Mittel, wenn alle anderen Möglichkeiten der Konfliktlösung oder –vermeidung versagt hätten. Die Wirklichkeit sieht oft ganz anders aus: Warnsignale und –hinweise für gesellschaftliche, innerstaatliche oder zwischenstaatliche Konflikte werden ignoriert, präventive Maßnahmen kommen nicht zum Zug, und schließlich scheint der Einsatz von Truppen oder Polizeieinheiten wieder alternativlos. Dies muss nicht so sein, wie Angela Mickley schildert, die in Namibia ein Projekt initiiert und geleitet hat, das dem Kompetenzaufbau in Konfliktbearbeitung und Mediation bei Universitäten, Ministerien, Behörden, zivilgesellschaftlichen Organisationen und sogar dem Militär dient.

Mediation spielt im Vermittlungsinstrumentarium internationaler politischer Konflikte neben den sichtbaren Verhandlungen der politischen Akteure eine immer wichtigere Rolle. Die Afrikanische Union berücksichtigt die zunehmende Bedeutung der in der Mediation angelegten nachhaltigen Konfliktbearbeitung in der Konstruktion ihres »Peace and Security Council«. Er sieht für die externe Unterstützung regionaler Kriegs- und Konfliktsituationen durch zivile Intervention den Einsatz mediativer Methoden vor und greift damit die Tradition außergerichtlicher Konfliktbearbeitung auf, die in vielen Ländern Afrikas – neben oder in Konkurrenz zu den mit der Unabhängigkeit eingeführten verfassungsrechtlichen Methoden der Streitregelungen – weiter besteht.

Mediation wird zwar in ihren Ursprüngen auf afrikanische Formen der Konfliktregelung zurückgeführt, aber in Afrika im beruflichen und familiären Alltag wie auf der politischen Ebene noch wenig genutzt. Das schien angesichts des vielfältigen Entwicklungsbedarfs und zahlreicher Konfliktlinien vieler afrikanischer Staaten eine unnötige Lücke, wie Kirchen- und Bildungsvertreter, Unternehmer, Landwirte und Politiker bei meinen ersten Recherchen für das hier beschriebene Projekt im Jahr 2003 betonten. Von 2004-2009 führte ich gemeinsam mit ehrenamtlichen Experten (Mediatoren, Richtern, Anwälten, Ethnologen, Sozialarbeitern) in Namibia das Projekt »Initiative for Active Conflict Transformation in Namibia« (I-ACT) durch und bildete über 100 Schlüsselakteure in Politik, Wirtschaft, Zivilgesellschaft und dem Bildungssektor in nachhaltiger Konfliktlösung und sozialer Zukunftsgestaltung aus.

Eine Projektidee und ihre Konkretisierung

Die Entscheidung, ein solches Projekt in Namibia durchzuführen, hatte verschiedene Gründe: Namibia ist eine junge Demokratie mit kolonialer Vergangenheit und multiethnischer Bevölkerung, hat wertvolle Bodenschätze, darunter Uran, aber auch zwei Wüsten und extreme Trockenheit. Die geostrategische Lage im südlichen Afrika, die Größe des Landes und seine mit zwei Millionen Einwohnern äußerst geringe Bevölkerungszahl prädestinieren es für die Einflussnahme anderer Staaten. Der Völkermord an den Herero/Nama/Damara 1904 hinterließ Deutschland eine besondere Verantwortung und in Namibia die Hoffnung auf eine Versöhnungsgeste für das Land, das ab 1915 unter südafrikanischer Besatzung und von 1920-1990 mit einem Mandat des Völkerbundes unter südafrikanischer Verwaltung stand, was auch die Einführung der Apartheidgesetzgebung mit sich brachte. Erst 1990 erlangte Namibia die Unabhängigkeit.

Im Gegensatz zu Südafrika beschloss Namibia, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Die ehemaligen Unabhängigkeitskämpfer in der Mehrheitspartei SWAPO (South West Africa People’s Organisation) wollten alle Kräfte auf den wirtschaftlichen und politischen Aufbau konzentrieren. Die kolonialen und Apartheids-Altlasten erwiesen sich jedoch als soziale Landminen: Die individuellen und kollektiven Traumata aus Gewalt- und Unrechtserfahrungen wirken in allen Bereichen des Gesellschafts- und Arbeitslebens nach. Bei allen Unterschiedlichkeiten, Dissensen und Feindseligkeiten gibt es jedoch in der Bevölkerung eine hohe Bereitschaft sowohl zu Versöhnung und friedlichem Dialog mit ehemaligen Feinden als auch zur gemeinsamen Lösung der Probleme des Landes. Die Methoden hierfür fehl(t)en allerdings.

Probleme, mit denen Namibia kämpft (und die viele afrikanische Länder so oder ähnlich teilen), sind u.a.:

  • Land- und Ressourcenverteilung, Wassermangel,
  • latente oder offene Ungleichbehandlung nach Hautfarbe und kultureller Zugehörigkeit,
  • verstärkt auftretende Konflikte zwischen ethnischen Gruppen mit transgenerationaler traumatischer Belastung (in Namibia gibt es mehr als ein Dutzend unterschiedliche ethnische Gruppen, die sich gegenseitig geschichtlich bedingt mit Vorurteilen begegnen),
  • wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, Herausbildung einer »Blackoisie«
  • Korruption,
  • Folgen der Globalisierung,
  • erodierende Sozial- und Sicherheitsstrukturen durch HIV und AIDS,
  • Eingliederungsprobleme von Ex-Freiheitskämpfern,
  • divergierende kulturelle Prägungen afrikanischen und europäischen Ursprungs sowie fremde Wertvorstellungen zahlreicher Namibier aus Exilaufenthalten in unterschiedlichen politischen Systemen, u.a. in der DDR und Sowjetunion,
  • hohe gesellschaftliche Toleranz von Gewalt gegen Frauen und Kinder,
  • Forderungen der Opfer der Kolonialzeit (hauptsächlich das Volk der Herero, seit Oktober 2006 unterstützt vom namibischen Parlament) an die deutsche Regierung nach Dialog und Versöhnung.

Die »Initiative for Active Conflict Transformation in Namibia« sollte Entscheidungsträgern in Ministerien, Verwaltung und Wirtschaft sowie auf der Mesoebene, darunter Nichtregierungsorganisationen und regionale Bevölkerungsgruppen, ein grundlegendes Verständnis von Konfliktentstehung und Handlungskompetenz für konstruktive Intervention und Bearbeitung vermitteln. Dazu wurden in exemplarischen Trainings- und Schulungsprogrammen lokale Trainer ausgebildet, die die namibischen Kulturen und Sprachen sowie traditionelle Methoden der Konfliktlösung kennen und in die Ausbildung und Praxis einbringen. Eine Anpassung der Inhalte und Methoden an lokale kulturelle Kontexte war ausdrücklich erwünscht. Fernziel war, im Land eine ganzheitliche Ausbildung in Konfliktbearbeitung zu etablieren, die von lokalen Mediatoren und Trainern weiterentwickelt wird, so dass allmählich ein landesweit verfügbares Expertennetzwerk entsteht.

Konzeption des Projekts und erste Workshops

Dem Projekt vorangegangen waren meine Recherchen und Interviews zum südafrikanischen Transformationsprozess und der Vergleich mit deutschen Bemühungen um eine politische Vergangenheitsbewältigung.1

In einer weiteren Erkundungsmission Ende 2004 mit zwei Studierenden der FH Potsdam führten wir zahlreiche Vorgespräche mit Kollegen und Experten sowie lokalen Schlüsselakteuren, um Vertrauen aufzubauen und Kenntnisse zu gewinnen. Wir hörten vor allem zu, erfragten die verfügbaren Kompetenzen im Umgang mit biografischen, wirtschaftlichen und sozio-politischen Umwälzungen, identifizierten gemeinsam mögliche Beiträge zur Stabilisierung und erfuhren Einzelheiten über die Gestaltung und den ersten Aufbau des unabhängigen Namibia. Die Gesprächspartner schilderten ihre Erfahrungen mit Deutschland und ihre sehr unterschiedliche Einschätzung der Deutschen in Namibia, und sie benannten den überall sichtbaren Bedarf an konstruktiver Konfliktaustragung und -bearbeitung auf individueller wie gesellschaftlicher Ebene. Viele Namibier hatten in den Exilzeiten in der DDR und Sowjetunion, den USA und Großbritannien eine Vielfalt politischer Systeme und Werte kennen gelernt. Unsere Probleme mit der deutschen Vergangenheit und der oft defizitären Bewältigung wurden ebenso thematisiert, und wir beschrieben Beispiele gelungener Vergangenheitsbearbeitung aus der eigenen Konfliktpraxis.

Zur Präzisierung des Projektdesigns definierten wir gemeinsam mit den namibischen Partnern zuerst deren Ausbildungsbedarf, und sie benannten mögliche Multiplikatoren. Dieses interaktive Vorgehen bewährte sich, generierte viel sozio-politische und kulturelle Erkenntnisse und gegenseitigen Respekt. In den folgenden Jahren konzipierten wir die angestrebten Kompetenzen für interessierte Gruppen und Institutionen sowie die erforderliche Methodik auf ähnliche Weise. Hauptthemen waren neben der Konfliktbearbeitung Führungsfähigkeit, Interessenvertretung, Verhandlungsführung, Entscheidungsfindung und Intervention in Gewaltsituationen mit und ohne Kleinwaffen.

Die Finanzierung erwies sich als schwierig, da die ursprüngliche Idee, die Initiative als zivilgesellschaftlichen Baustein des 2004 vom deutschen Kabinett beschlossenen Fokus auf Krisenprävention und Friedensaufbau einzubringen, offenbar verfrüht kam. Der Hinweis auf eine nötige, sinnvolle und von Namibiern immer deutlicher thematisierte Versöhnungsgeste verhinderte zwar langfristig die staatliche Unterstützung durch Deutschland, führte aber zu wachsendem Vertrauen und guter Kooperation mit Vertretern der Herero. Sie schätzten an dieser Initiative die wahrnehmbare Steigerung ihrer Fähigkeit, Krisen zu erkennen und Konflikte zu bearbeiten, die den Fortschritt des Landes behinderten. So wurde das Projekt als unabhängige zivilgesellschaftliche Initiative mit Spenden und ehrenamtlichen Experten durchgeführt, mit Unterstützung einzelner Projektphasen durch Forum Berufsbildung, Friedrich-Ebert-Stiftung, Deutschen Akademischen Austausch Dienst (DAAD) und namibisches Verteidigungsministerium.

Anfang 2005 begannen die ersten Workshops in Konfliktbearbeitung und Mediation sowie eine auf Vermittlung von Konfliktkompetenz fokussierte Kooperation mit der University of Namibia.2 In den folgenden Jahren nahmen über 100 Beamte, Akademiker, Psychologen, Schulleiter, Lehrer, Schüler, Studenten, Offiziere, Sozialarbeiter, Psychologen und ehemalige Freiheitskämpfer aus folgenden Institutionen an unseren Workshops teil:

  • Ministerien für Gesundheit und Soziales, Verteidigung, Landwirtschaft,
  • Ombudsman’s Office (direkt dem Präsidenten unterstellt),
  • Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften der University of Namibia,,
  • Schulen (Waldorf-SchuleWindhoek, Delta),
  • Executive Committee des SWAPO Women’s Council,
  • Legal Assistance Centre der Paralegal Association,
  • P.E.A.C.E. Centre, ein freier Träger, der mit Ex-Freiheitskämpfern, Traumatisierten und sozial benachteiligten Angehörigen verschiedener Kulturen arbeitet.

Gemeinsam entwarfen sie gesellschaftliche Zukunftsvisionen, die häufig unter das von der SWAPO propagierte Motto »Unity and Diversity« gestellt wurden. In der detailliert festgelegten schrittweisen Veränderung des eigenen Verhaltens und der sozio-ökonomischen Lebensbedingungen wurde häufig eine soziale Wirklichkeit erkennbar, in der es Raum für Begegnung, Versöhnung und Entwicklung gab.

Eigenes Lernmodul für den namibischen Generalstab

2006 begann an der Universität Namibia der erste Master-Studiengang in »Strategy and Security Studies« zur Qualifizierung des namibischen Generalstabs. In das Curriculum konnten Regierungsführung, Entscheidungsfindung und Konfliktbearbeitung noch integriert werden, und 2007 beschäftigten sich erfahrene, mehrheitlich in der Sowjetunion ausgebildete Militärs, darunter der Vize-Verteidigungsminister, im Modul »Human Security« drei Wochen lang mit ziviler Intervention, Krisenbewältigung und -prävention sowie Konfliktbearbeitung. Sehr engagiert entwickelten sie Analysen und Bearbeitungsoptionen für aktuelle Konflikte, wie z.B. den in Zimbabwe, das sie aus militärischen Austauschprogrammen gut kannten, und diskutierten erforderliche Ergänzungen der Mandatierung von Friedensmissionen der Vereinten Nationen und der Afrikanischen Union. Alle hatten in entsprechenden Einsätzen selbst erfahren, welche Diskrepanz zwischen militärischer und »menschlicher Sicherheit« bestand und wie sie – und zwar als Einzige im Kampfgebiet – das Leid der zivilen Bevölkerung dort verringern konnten. Alle hatten bereits über ihr Mandat hinaus Zivilisten geholfen oder erleben müssen, wie das, etwa bei Landminen, nicht möglich war. Eine besondere Rolle spielte hier die Notwendigkeit der nachhaltigen Stabilisierung von Krisengebieten, die sie während der UN Mission im angolanischen Bürgerkrieg mit dem Aufbau einer sicheren Wasserversorgung und Kooperation mit lokalen Zivilisten unterstützt hatten. Eine auch didaktische Schwierigkeit lag darin, die Krisen generierenden Elemente von Kultur und Wirtschaft in das strategische Vorgehen einzubeziehen.

Die Lehr- und Lernformen bildeten neben den Inhalten einen eigenen Fokus, da die meisten im Exil autoritäre Bildungsformen erlebt und erlitten hatten, die Kritik, Diskurs und selbständiges Arbeiten nicht vorsahen. Die interaktiven Elemente, Mediationsübungen und Gruppenarbeiten waren so konzipiert, dass jeweils ein eigenes Ausprobieren der neuen Methoden, z.B. offene Fragen oder empathische Zusammenfassung in der Konfliktbearbeitung, der vertiefenden Theorie vorausging. Folgende Methoden wurden eingesetzt:

  • Einführung und Arbeit mit der Thematik durch interaktive Lehr- und Lernmethoden (z.B. soziometrische Übungen, Kleingruppen und Partner-Interviews),
  • Inputs zu Theorien und Methoden der Konfliktanalyse und -lösung sowie deren praktische Anwendung (z.B. Konfliktentstehung und Eskalationsmodelle, Kommunikationsfähigkeiten, Mediation),
  • Rollenspiele einzelner Phasen sowie vollständiger Konfliktlösungsverfahren,
  • künstlerische und kreative Übungen, um Lernprozesse zu unterstützen, zu verbessern und zu beschleunigen,
  • alternative Ansätze anhand beispielhafter Fallstudien, mit Nutzung von Dramatechniken,
  • Einschätzung individueller Kompetenzen und deren Transfer in neue Arbeitsgebiete, jeweils adaptiert entsprechend eigenem Bedarf und Können.

Im interaktiven Teil der Seminare kam es häufig zu unterhaltsamen Sequenzen, wenn alle die kulturellen Ausprägungen der eigenen Konfliktverhaltensweisen darstellten oder Besonderheiten, etwa der Eingeborenen in Regionen Deutschlands oder Namibias, zum Besten gaben. Unterschiede wie Übereinstimmungen riefen Erstaunen hervor, erleichterten die Anpassung unserer Materialien an die lokalen Bedürfnisse und erhöhten das Bewusstsein der Teilnehmer für interkulturelle Unterschiede und die Notwendigkeit der Verständigung in Konflikten. Die Offiziere formulierten sogar eine Forderung, Kulturen als eigenes Thema in den Studiengang einzufügen.

Nachwirkungen des Projekts

Die im Projekt erarbeiteten Lernschritte und Beispiele für Konfliktbearbeitung/Mediation sind übertragbar und können von Multiplikatoren und Funktionsträgern in Kommunen, Verwaltung, Universität und Politik eingesetzt und weiterentwickelt werden. Die Kooperationspartner engagieren sich für eine Fortführung des Projekts, um den hoffnungsvollen Prozess der Dialoggestaltung und Deeskalation fortzusetzen und die Entscheidungsstrukturen in Namibia zu stabilisieren.

Zu den Auswirkungen des Projekts gehörte u.a. eine Mediationsweiterbildung, die das Landministerium im November 2006 zur Optimierung seiner politisch folgenreichen Entscheidungen für die Trainer der Communal Land Boards durchführte, die für die Landverteilung in ihren Regionen verantwortlich sind. Die Landverteilung im Rahmen der Landreform ist ein wesentlicher Konfliktpunkt in Namibia. Inzwischen hat die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammearbeit (GIZ) für die Landreformkommission Trainings zur Verhandlungsführung, Beteiligung und Konfliktregelung durchgeführt. Der Women’s Council der SWAPO veranstaltete mit uns Workshops zur Konfliktbearbeitung für sein Exekutivkomitee, darunter Ministerinnen und die regionalen Koordinatorinnen. Die Außenministerin legte Wert auf eigene Erfahrungen mit der Wirkung von Mediationsverfahren, nahm an einem Workshop teil und engagiert sich heute nachdrücklich für die Reduzierung häuslicher Gewalt, die durch die immer noch große Kleinwaffendichte verstärkt wird.

Im März 2007 tauschten sich ehemalige Projektteilnehmer in einer Open-Space-Konferenz mit unterschiedlichen Berufs- und Bevölkerungsgruppen aus und vernetzten sich, um Mediation und zivile Konfliktbearbeitung in Namibia nachhaltiger zu verankern.

Zwei weitere Netzwerke wurden im Anschluss an das Projekt gebildet: ein lokales Netzwerk von Fachleuten für Mediation im Alltag (Familie, Schule, Arbeit, Gericht, Politik) und ein Netzwerk für Krisenprävention im nationalen oder lokalen Kontext und für mögliche Interventionen in afrikanischen Krisen. Sie teilen das Interesse an der Frage, wie einer krisenhaften Entwicklung frühzeitig begegnet und eine gewaltsame Konfliktaustragung kurzfristig verhindert werden kann.

Der Kompetenzaufbau in Namibia schaffte neben einer konstruktiven Interessenvertretung die Grundlagen für die autonome Gestaltung gesamtgesellschaftlicher Versöhnungsprozesse.3 Unabhängig von akuten Konflikten wurden Veränderungen der persönlichen Haltung und Einstellung zu Wertesystemen initiiert, die langfristig eine stabilisierende Wirkung auf die soziale und politische Handlungskompetenz der Beteiligten ausüben und die Lebenssituation der Bevölkerung verbessern helfen. Trotz sehr geringer Finanzierung fand das Projekt »Initiative for Active Conflict Transformation in Namibia« großen Anklang: Die Teilnehmer der Trainings nutzen die Impulse und wenden das Gelernte in ihrem Umfeld an. Das Ombudsman’s Office beispielsweise bildete in den letzten Jahren Mediatoren aus, die in vielen Fällen eher den sozialen Frieden wieder herstellen als eine monatelange Gerichtsverhandlung.

Fazit

Zivile Konfliktbearbeitung wird in vielen Ländern Afrikas allmählich bekannter. Wie das Beispiel Namibias zeigt, sind Expertise und Kompetenzaufbau in diesem Bereich dringend nötig und auch erwünscht. Deutschland jedoch scheint Afrika diesbezüglich in den letzten Jahren aus den Augen verloren zu haben. In Afrika selbst ist das Wissen über zivile Konfliktbearbeitung zumindest auf gesamtafrikanischer Ebene vorhanden: Die South African Development Community (SADC) und weitere regionale Ebenen der Afrikanischen Union bekundeten Interesse an der Erweiterung von Friedensmissionen mit zivilen Mitteln, und Konferenzen mit SADC-Vertretern behandeln zivile Aspekte von Sicherheit.

Anmerkungen

1) Methoden der gesamtgesellschaftlichen Vergangenheitsbewältigung bei Truth and Reconciliation Commission (TRC) in Südafrika und Gauck Behörde in Deutschland, Vergleich der Ansätze und sozio-politischen Wirkungen, Entwicklung eines Modellkonzeptes für Bearbeitung von Täter-Opfer Situationen aus Staatssicherheitsaktivitäten. FH Potsdam 2002/3.

2) Anfang 2006 wurde der Kooperationsvertrag zwischen der Fachhochschule Potsdam und der University of Namibia unterzeichnet.

3) Siehe dazu die im Auftrag des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) erstellte Studie zur Wirkung derartiger Kompetenzbildung in Krisengebieten: Luxshi Vimalarajah (2012): Mapping German Development Cooperation in Peace Negotiations and Mediation: Experience, Potentials, Gaps and Areas for Strategic Support. Berlin: Berghof Foundation.

Prof. Dr. Angela Mickley ist Hochschullehrerin für Friedenserziehung, Konfliktbearbeitung/Mediation und Ökologie an der Fachhochschule Potsdam; sie forschte und arbeitete zu politischer Gewalt und Konflikten in Nord-Irland, dem Südlichen Afrika und dem Kaukasus und wirkte mit an Kriseninterventionskonzepten für Zivilgesellschaft, Polizei und Militär.

Theater und zivile Konfliktbearbeitung

Theater und zivile Konfliktbearbeitung

von Linda Ebbers

Frieden und Konflikt und Theater: Welche Verbindungen und Wirkungszusammenhänge gibt es zwischen diesen unterschiedlich anmutenden Bereichen. Konkret: Was machen Konflikte im Theater. Vor allem aber: Was macht Theater mit Konflikten? Inwieweit kann das Methodenspektrum des »Theaters der Unterdrückten« in der Tradition seines Begründers Augusto Boal zur Konflikttransformation beitragen und damit Frieden stiften? Der folgende Artikel stellt diese Theaterform vor, wie sie heute am Zentrum des Theaters der Unterdrückten in Rio de Janeiro, Brasilien, praktiziert und weitergegeben wird, als eine kreative Methode der Konflikttransformation. Im Fokus des Textes steht das »Forumtheater«, welches anhand der Projektgruppe der »Marias do Brasil« dargestellt wird.

Die leidenschaftliche Auseinandersetzung auf der Bühne ist existenziell für das Theater, für das konventionelle wie für das Theater der Unterdrückten. Theater lebt von Widersprüchen und Konflikten und den davon ausgehenden Spannungen. „Im Theater ist der Konflikt Berechtigungsgrund der Inszenierung. Ein gutes Stück hängt von einem guten Konflikt ab.“ (Santos S.110) Das Theater der Unterdrückten nimmt Konflikte grundsätzlich als etwas Positives an: Sie sind Ausgangspunkt und zugleich Gegenstand. Das Theater der Unterdrückten versucht Konflikte kreativ zu bearbeiten und gesellschaftliche Veränderungen zu erreichen. Dabei folgt es der Annahme, dass Konflikte notwendig sind für Veränderungen und ein erhebliches Transformationspotenzial in sich tragen. Das Theater der Unterdrückten bietet einen »Ästhetischen Raum«1, in dem persönlich erlebte Konflikte, abstrahiert ins Kollektive, bearbeitet werden können. Hier können subjektive Erinnerungen und Emotionen projiziert und Techniken der Konfliktanalyse angewendet werden, um den Konflikt zunächst besser zu verstehen, ihn dialogisch zu bearbeiten und dann Handlungsalternativen zu erproben, mit dem Ziel, dass diese außerhalb des ästhetischen Raumes in der Realität Umsetzung finden. Augusto Boal, der »Vater« des Theaters der Unterdrückten, formulierte es so: „Theater der Unterdrückten heißt Auseinandersetzung mit einer konkreten Situation, es ist Probe, Analyse und Suche.“ (Boal 1989, S.68)

Das Theater der Unterdrückten

Das Theater der Unterdrückten ist ein dialogisches, partizipatorisches, politisches Theater, welches mit realen Konflikten – in der Sprache Augusto Boals: mit real durch die Teilnehmer erlebten Situationen von Unterdrückung – arbeitet und eine soziale Transformation dieser Konflikte anstrebt. Grundlage der in einem Gruppenprozess erarbeiteten Stücke sind konkrete Erlebnisse der Vergangenheit, die noch ungelöst sind und deren Veränderung in der Gegenwart für die Umsetzung in der Zukunft geprobt wird. „Sein ursprünglich politisch motiviertes Konzept umfasst […] Techniken, die von der politischen Aktionsmethode bis zum therapeutischen Verfahren reichen.“ (Neuroth 1994, S.34)

Für Boal kommt dem Dialog eine zentrale Bedeutung zu. Er strebt einen Dialog zwischen Bühne und Zuschauerraum, zwischen Schauspieler und Zuschauer an. Boal hebt die Grenze zwischen ihnen auf und entwickelt den »Espectador« (Zu-Schauspieler), eine Wortschöpfung aus den Begriffen »Zuschauer« und »Schauspieler«. Der Zuschauer kann aktiv in das Geschehen eingreifen und wird dadurch zum Schauspieler und anders herum. Die Bühne dient dabei der Probe für die Wirklichkeit, auf der alle Protagonisten die Transformation für die Realität erproben. Damit sind die zwei grundlegenden Prinzipien von Boals Theater der Unterdrückten beschrieben: zum einen die Transformation des Zuschauers in den Protagonisten der theatralen Aktion, zum anderen der Versuch, ausgehend von dieser Transformation eine Veränderung der Gesellschaft zu erreichen und sie nicht (wie im konventionellen Theater) »nur« zu interpretieren (Boal 2004, S.319). Die Methoden und Techniken des Theaters der Unterdrückten zielen auf die Befreiung aus und Überwindung von Unterdrückung und damit auf die Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse. Das Theater der Unterdrückten will Transformationen auf verschiedenen Ebenen erreichen. Dabei ist die Transformation von Konflikten auf der intrapersonalen Ebene stets Ausgangspunkt und Voraussetzung, um Transformationen auf anderen Ebenen zu erreichen.

Theater ist in Boals Verständnis nicht einer bestimmten Gruppe vorbehalten. Das Theater der Unterdrückten ist nicht elitär oder exklusiv, denn nach Boal sind alle Menschen Schauspieler. Boal zielt darauf ab, jegliche Art von Subjekt- und Objektbeziehung aufzuheben. Er möchte, dass alle Menschen Protagonisten werden, also aktive handelnde Akteure auf der Bühne wie in der Wirklichkeit. Nach Boal ist die Essenz des Theaters „der Mensch, der sich selbst betrachtet. Der Mensch »macht« nicht nur Theater, er »ist« auch gleichzeitig Theater. Und neben der Tatsache, dass alle Menschen Theater »sind«, machen einige von ihnen zusätzlich noch Theater auf der Bühne.“ (Boal 2006, S.28)

Entstehungskontext und Entwicklung

Das Theater der Unterdrückten, sein Name und die Entwicklung dieser Theatermethoden sind in ihrem Entstehungskontext zu verstehen und in besonderer Weise mit dem Leben Augusto Boals, des brasilianischen Regisseurs, Pädagogen, Politikers und Autors, verbunden.

„Das Theater der Unterdrückten und seine Formen […] entstanden als Antwort auf die Repressionen in Lateinamerika, wo täglich Menschen auf offener Straße niedergeknüppelt werden, wo die Organisationen der Arbeiter, Bauern, Studenten und Künstler systematisch zerschlagen, ihre Leiter verhaftet, gefoltert, ermordet oder ins Exil gezwungen werden.“ (Boal 1989, S.67) In diesem Zitat beschreibt Boal die Situation zur Zeit der Militärdiktaturen in Lateinamerika und seine reale Erfahrung, aufgrund seines politischen Theaters und als Leiter des Volkstheaters »Teatro Arena« in Sao Paulo während der brasilianischen Militärdiktatur (1969-1985) immer mehr unter Druck gesetzt worden zu sein. Die von Boal erlebten Repressionen reichten von der Zensur seiner Stücke bis hin zu Verhaftung und Folter. Boal floh zunächst nach Argentinien und Peru, später ins europäische Exil. Die verschiedenen Methoden und Techniken, die er zeitlebens weiterentwickelte und systematisierte, sind als Reaktion auf die soziale und politische Realität, in der er sich bewegte, zu verstehen.

Das noch in Brasilien entwickelte »Zeitungstheater« beispielsweise ist eine Methode politischen Theaters, um die Zensurbehörde zu umgehen. Im »Unsichtbaren Theater«, welches in Argentinien entstand, wird nicht nur die Grenze zwischen Schauspieler und Zuschauer aufgehoben, sondern es wird sich der Bühne vollkommen entledigt. Das Unsichtbare Theater findet im öffentlichen Raum statt und »spielt« mit den Reaktionen der Öffentlichkeit, die gar nicht erfährt, dass das, was da passiert, »Theater« ist. Um subtilere Unterdrückungsformen zu überwinden, auf die Boal vor allem während seines Exils in Europa gestoßen ist, entwickelte er die Techniken des »Regenbogens der Wünsche«. Mit diesen können internalisierte Konflikte, deren Ursprünge häufig in der Gesellschaft verankert sind, bearbeitet werden.

In Peru, im europäischen Exil und zurück in Brasilien entwickelte Boal Methoden, die Wirksamkeit auf verschiedenen Ebenen entfalten. So werden internalisierte Konflikte auf intrapersonaler Ebene, soziale Konflikte auf gesellschaftlicher Ebene und Konflikte, deren Ursprung in der Gesetzgebung (bzw. im fehlenden Rechtsschutz) begründet sind, auf legislativer Ebene bearbeitet und letztlich zu überwinden versucht. Damit folgt Boal einem ganzheitlich-integrativen Ansatz der Konfliktbearbeitung.

Gründung des Zentrums des Theaters der Unterdrückten

Nach dem Ende der Militärdiktatur in Brasilien (1985) entschloss sich Boal 1986, mit seiner Familie dauerhaft nach Brasilien zurückzukehren. 1989 gründeten einige seiner Mitarbeiter das Zentrum des Theaters der Unterdrückten (CTO) in Rio de Janeiro; Boal wurde sein künstlerischer Leiter. 1992 ließ sich Boal als Kandidat der Arbeiterpartei PT (Partido Trabalhador) für das Stadtparlament aufstellen und wurde, in der Kampagnenarbeit unterstützt durch das CTO, zum Abgeordneten gewählt. So zog er 1993 ins Stadtparlament von Rio de Janeiro ein und konnte die Mitarbeiter des CTO als seinen Mitarbeiterstab einstellen. „Das war für ihn die Möglichkeit mit Hilfe des [Theater der Unterdrückten] im Parlament direkte Demokratie zu praktizieren.“ (Staffler 2009, S.119) Dies war die Entstehungszeit des »Legislativen Theaters« (Teatro Legislativo), in der mithilfe des Theaters konkrete Gesetzentwürfe erarbeitet wurden. Fünfzehn mit dieser Methode entwickelte Gesetze wurden in Boals Mandatszeit bis 1996 verabschiedet.

Auch ohne politisches Mandat hatte Boal bis zu seinem Tod (2009) die künstlerische Leitung des CTO inne. Das CTO führte und führt bis heute in der Organisationsform einer Nichtregierungsorganisation Projekte u.a. in Schulen, Gefängnissen, psychiatrischen Kliniken und forensischen Einrichtungen durch. Außerdem bietet es Multiplikatorenausbildungen, Workshops und ein internationales Austauschprogramm für Interessierte an.

Transformation sozialer Konflikte

Die weltweit bekannteste und am häufigsten praktizierte Methode des Theaters der Unterdrückten ist das »Forumtheater«. Hier wird in einer Konfliktsituation gemeinsam mit den Zuschauern durch direkte theatrale Interaktion nach Handlungsalternativen gesucht. Das Forumtheater steht im Zentrum des Methodenspektrums des Theater der Unterdrückten und ist hinsichtlich seiner konflikttransformativen Potentiale besonders relevant.

Gegenstand des Forumtheaters ist ein real existierender, ungelöster Konflikt, der durch die Improvisation von Handlungsmöglichkeiten transformiert werden soll. Es können im Forumtheater sowohl antagonische als auch nicht-antagonische Konflikte bearbeitet werden. Bei antagonischen Konflikten verfolgen die Konfliktparteien unterschiedliche Interessen, die einander entgegenstehen. Bei nicht-antagonischen Konflikten besteht zwar eine Konfliktsituation, unabhängig davon streben aber beide Konfliktparteien nach Verständigung und Versöhnung. Das Theater der Unterdrückten arbeitet in der Regel mit asymmetrischen Konflikten, in denen eine Asymmetrie zwischen Unterdrückern und Unterdrückten vorherrscht. Mittels des Theaters der Unterdrückten wird versucht, die ungleiche Verteilung bzw. Verfügbarkeit von beispielsweise Ressourcen, Macht und Handlungsoptionen zu überwinden.

Zentrales Merkmal dieser Methode ist die oben genannte Aufhebung der Trennlinien zwischen Schauspieler und Zuschauer. Bei der Aufführung eines Forumtheaterstückes kann der Zuschauer aktiv intervenieren. Die Person, die den Gruppen- und dramaturgischen Prozess begleitet hat, nimmt während der Aufführung eine intermediäre Funktion zwischen Bühne und Zuschauerraum ein und regt einen Diskurs über den Ausgang des Stückes an. Diese Rolle übernimmt der im Brasilianischen so genannte »Curinga« (im englischen Sprachgebrauch »Joker« genannt), dessen Rolle in vielen Punkten der des Konflikt-Facilitators (nach dem Begriffsverständnis des Konfliktforschers John Paul Lederach) im Prozess der Konfliktbearbeitung entspricht. Zur Diskussion stehen die Neutralität und Unparteilichkeit des Curinga, die von einem Mediator zu fordern sind. Der Curinga sollte nach Boal mit Bedacht seinen Arbeitsort (wo und mit wem er mit den Methoden arbeitet) wählen bzw. eine bewusste Positionierung für die Unterdrückten vornehmen, um dann im dialogischen Prozess einer Aufführung Neutralität wahren zu können. Dies ist erforderlich, damit Interventionen und Interaktionen im Schutzraum dargestellt werden und somit eine Diskussion sowie letztlich eine Reflexion angestoßen werden können.

„Es ist wahr, dass der Curinga, beispielsweise bei einer Forumtheater-Aufführung, seine Neutralität bewahren soll und nicht versuchen soll, seine eigenen Ideen durchzusetzen […] dies jedoch erst, nachdem er den Arbeitsort gewählt hat. Seine Neutralität kommt erst ins Spiel, wenn er seine Wahl getroffen hat.“ (Boal 2005, S.26)

Das Forumtheater bietet einen diskursiven und antiautoritären interaktiven Raum, einen Raum der Begegnung, in dem Reflexionen angebahnt sowie Bewusstwerdungsprozesse über Unterdrückungsmechanismen aktiviert werden. Dieser ästhetische Raum, der im Grunde überall, zum Beispiel durch eine gegenständliche Markierung im öffentlichen Raum oder auf einer Bühne in einem Theatersaal entstehen kann, ist ein »Schutzraum« und ein »Raum der Möglichkeiten«, in dem Konfliktalternativen erprobt und somit Handlungsspielräume erweitert werden können. Ihm wird eine friedensbildende Kraft im Sinne der Wissensgenerierung und der Erweiterung der Handlungsspielräume zugeschrieben. Verschiedene (Zeit-) Dimensionen lassen sich in ihm abbilden, er dient der Erinnerung (der Vergangenheit) und der Imagination (der Zukunft). Er ist formbar und gestaltbar; er setzt Erinnerungen frei, und Wünsche und Vorstellungen können in ihn hineinprojiziert werden. Durch die Retroperspektive können Konfliktursachen identifiziert und analysiert werden, durch die Zukunftsperspektive Lösungen für den Konflikt erarbeitet werden.

Im ästhetischen Raum können verschiedene Rollen und damit verschiedene Perspektiven eingenommen werden. Er bietet die Chance der Doppelung, sich selbst und zugleich den Charakter, in dessen Rolle geschlüpft wird, zu betrachten. Außerdem kann beobachtet werden, wie man selbst von anderen wahrgenommen wird. Der Protagonist muss sich entscheiden, wer er ist, da er sich im Raum, im Verhältnis zu den anderen und zu dem Konflikt positioniert. Dies regt eine intensive Auseinandersetzung und Reflexion über sich und seine Rolle im Konflikt, über die andere Konfliktpartei und den Konfliktgegenstand an. Einzelne Situationen können unter das Brennglas genommen und tiefer liegende Annahmen und Verhaltensweisen sowie Vergessenes bzw. Unterbewusstes an die Oberfläche gebracht werden.

Wenn die Konfliktbearbeitung im Forumtheater an ihre Grenzen stößt, wenn die Handlungsmöglichkeiten erschöpft sind und sich im Dialog von Bühne und Zuschauerraum bei einer Forumtheater Aufführung herausstellt, dass eine Konflikttransformation nicht erreicht werden kann, da z.B. bestimmte rechtliche Barrieren die Transformation be- oder verhindern, kann mit dem »Legislativen Theater« weitergearbeitet werden. Das legislative Theater schließt in der Praxis an eine Aufführung eines Forumtheaters an. Es werden dazu verschiedene Vertreter der Zivilgesellschaft, möglichst auch Politiker und Rechtsexperten, geladen, um gemeinsam mit den Schauspielern und Zu-Schauspielern Gesetzeslücken zu identifizieren und Gesetzesinitiativen zu erarbeiten.

Die Gruppe »Marias do Brasil«

Die »Marias do Brasil« (Marias aus Brasilien) sind brasilianische Hausangestellte, die in einem langjährigen Prozess durch die Anwendung verschiedenster Techniken des Theater der Unterdrückten Transformationen auf verschiedenen Ebenen erreicht und durch konkrete soziale und politische Aktionen gefestigt haben. Seit über einem Jahrzehnt wenden die Hausangestellten diese Techniken an und entwickelten zwei Forumtheaterstücke. In den Stücken werden u.a. aus gesellschaftlicher Diskriminierung und arbeitsrechtlicher Unterdrückung entstehende Konflikte sowie Konflikte zwischen ihren Arbeitgebern und ihnen als Arbeitnehmerinnen, wie z.B. sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz, dargestellt und diskutiert. Ein anderes Beispiel ist die (nicht gesetzlich vorgeschriebene) Verpflichtung der Arbeitgeber, Zahlungen zur Absicherung der Hausangestellten im Falle von Erwerbsunfähigkeit oder Arbeitsunfällen zu leisten. Neben Bewusstwerdungsprozessen, der Analyse der Ursachen der Konflikte, der Transformation von individuellen und sozialen Konflikten wurden von den »Marias do Brasil« im dialogischen Prozess Gesetzesinitiativen erarbeitet und durch Kooperationen mit Gewerkschaften und anderen Organisationen die Verabschiedung und Umsetzung dieser Gesetze angestrebt. Die »Marias do Brasil« sind ein reales Fallbeispiel für das transformative Potenzial des Theater der Unterdrückten und seiner Wirkkraft auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen.

Chancen und Grenzen dieser Methode

Als Methode der zivilen Konfliktbearbeitung verzichtet das Theater der Unterdrückten auf Gewaltanwendung und fördert den konstruktiven Umgang mit Konflikten. Die Stärke der Methoden liegt in der umfassenden und ganzheitlichen Bearbeitung asymmetrischer Konflikte auf verschiedenen Ebenen, in denen ein klares Machtungleichgewicht vorherrscht.

Ausgangspunkt des Theaters der Unterdrückten ist der Mensch mit seiner subjektiven Konflikterfahrung, die im Gruppenprozess erweitert und im Kollektiv bearbeitet wird. Es wird davon ausgegangen, dass der Mensch unentdeckte Potenziale in sich trägt und durch den dialogischen und damit Wissen generierenden Aspekt im ästhetischen Raum selbst Handlungsalternativen für die Konflikttransformation erprobt. Dem ästhetischen Raum wird eine katalysatorische Versöhnungsfunktion zugeschrieben; in ihn werden Gefühle und Erfahrungen projiziert; er dient der Bewusstwerdung, Wissensgenerierung und Reflexion.

Das Theater der Unterdrückten, wie es am CTO praktiziert wird, kann mit dem Konfliktforscher J.P. Lederach als Konfliktlösungstraining und Empowerment-Werkzeug beschrieben werden, denn es setzt intrinsische Potenziale der Menschen frei und fördert den Beziehungsaufbau. Als Nichtregierungsorganisation setzt das CTO dabei an der Grasswurzelebene an und versucht, in andere gesellschaftliche Ebenen hineinzuwirken.

Das Theater der Unterdrückten positioniert sich in asymmetrischen Konflikten an der Seite der »Unterdrückten« und »empowert« zunächst diese. Konfliktbearbeitung im Sinne der Konfliktforscher Lederach und Galtung sollte von beiden Konfliktparteien ausgehen. Inwieweit trotz der Parteinahme im Theater der Unterdrückten ein Beziehungsaufbau über die Konfliktparteien hinweg möglich ist, bleibt vertiefend zu untersuchen und gegebenenfalls zu modifizieren. Im Hinblick auf die Möglichkeit, dass die Methode in Zukunft nicht nur punktuell ihre Wirkkraft entfaltet, sondern weiteren Eingang in die zivile Konfliktbearbeitung und eine breitere Anwendung findet, ist dieser Aspekt von besonderer Bedeutung.

Einige Praktiker des Theater der Unterdrückten haben die Methode bereits in Nachkriegsgesellschaften und Konfliktregionen angewendet und das Konfliktbearbeitungs- und Versöhnungspotenzial der Methode reflektiert, beispielsweise Barbara Santos im Sudan, Joffre Eichhorn in Afghanistan oder Hannah Reich im Libanon. Aus ihren Erfahrungen kann resümierend festgehalten werden, dass eine besondere Sensibilität im Umgang mit konfliktverstärkenden Narrativen in Post-Konfliktkontexten gefordert ist.

Als Methode, die Bewusstwerdungsprozesse anstößt, die der dialogischen Vergangenheitsbewältigung und der Beziehungsbildung dient, mit Hilfe derer Transformationen für die Zukunft angestrebt werden, sollte das Theater der Unterdrückten mehr Beachtung erhalten und stärker in die Praxis der zivilen Konfliktbearbeitung integriert werden. Denn Versöhnung und kollektives Erarbeiten einer gemeinsamen Vision für die Zukunft sind Wegbereiter des Friedens.

Anmerkung

1) »Ästhetischer Raum« im TdU meint Zuschauerraum einschließlich Bühnenraum, die sich durch Interaktion durchdringen.

Literatur

Augusto Boal (1989): Theater der Unterdrückten. Übungen und Spiele für Schauspieler und Nicht-Schauspieler. Frankfurt am Main: edition suhrkamp; aktualisierte und erweiterte Ausgabe 2013.

Augusto Boal (2004): Jogos para atores e não atores, edicão revista e ampliada. Rio de Janeiro: Civilização brasileira.

Augusto Boal (2005): Teatro do Oprimido e outras poéticas políticas. Rio der Janeiro: Civilização brasileira.

Augusto Boal (2006): Der Regenbogen der Wünsche. Methoden aus Theater und Therapie. Berlin, Milow, Strasburg: Schibri-Verlag, Lingener Beiträge zur Theaterpädagogik Band III.

Hjalmar Jorge Joffre-Eichhorn (2013): Wenn die Burka plötzlich fliegt. Einblicke in die Arbeit mit dem Theater der Unterdrückten in Afghanistan. Stuttgart: ibidem-Verlg. derselbe: Ohne die Menschen geht es nicht. Theater als Waffe des Friedens. W&F 3-2013.

Simone Neuroth (1994): Augusto Boals »Theater der Unterdrückten« in der pädagogischen Praxis. Weinheim: Deutscher Studienverlag.

Hannah Reich (2014): Frieden stiften durch Theater. Konfessionalismus und sein Transformationspotential: interaktives Theater im Libanon. Bielefeld: transcript. dieselbe: Die friedensbildende Kraft interaktiver TheaterRäume. Wissensgenerierung, Transformation und politische Öffentlichkeit. W&F 4-2010.

Barbara Santos (2008): Conflito + Diálogo= Transformacao. In: Antídoto. Seminario international de acoes culturais em zonas de conflitos. São Paulo: Itaú Cultural.

Armin Staffler (2009): Augusto Boal: Einführung. Essen: Oldib.

Linda Ebbers studierte Friedens- und Konfliktforschung an der Philipps-Universität Marburg. Im Januar 2014 wurde ihre Studie »Darstellende Kunst und zivile Konfliktbearbeitung – Das Theater der Unterdrückten als kreative Methode der Konflikttransformation« im ibidem-Verlag veröffentlicht. Grundlage der Studie ist ein zweimonatiger Forschungsaufenthalt über das konflikttransformative Potenzial des Theater der Unterdrückten am Zentrum des Theaters der Unterdrückten in Rio de Janeiro (Brasilien). Linda Ebbers lebt zur Zeit in Berlin und arbeitet in einem Frauenhaus.

Nordirland

Nordirland

Sieht so Frieden aus?

von Corinna Hauswedell

Aus internationaler Sicht gibt es gute Gründe, Nordirland auch sechzehn Jahre nach dem Belfaster Abkommen1 für eine Erfolgsgeschichte konstruktiver Konfliktbeilegung zu halten. Im Lande selbst hingegen mehren sich kritisch-warnende Stimmen. Soeben ist der dritte »Northern Ireland Peace Monitoring Report«2 erschienen. Dort ist im Rückblick auf das vergangene Jahr, das durch den »Flaggenprotest« und eine extensive Saison der Paraden und Märsche erschüttert wurde, von den Gefahren eines »Culture War« die Rede.

Wenn man durch die Belfaster Innenstadt schlendert, hat man keine Probleme, nette Angebote zum Shoppen oder Cappuccino-Trinken zu finden. Straßencafés und Bars, Flusspromenade am Lagan, Titanic Center und die Glaskuppel des Victoria Square, von der aus man einen großartigen Blick über die ganze Stadt hat – hier ist Friedensdividende sichtbar und spürbar angekommen. In Sachen Szene und Kult scheint die Hauptstadt im Norden der Insel zuweilen sogar Dublin den Rang abzulaufen. Jeden Monat gibt es ein anderes Festival – Musik, Film, Theater.

Und Derry-Londonderry, Nordirlands zweitgrößte Stadt, war 2013 »City of Culture« – so zeichnet das Vereinigte Königreich Städte aus, die durch ihr gelebtes Bekenntnis zu kultureller Vielfalt auffallen. Mehr als 200.000 Besucher nahmen allein im August 2013 an einem attraktiven Festivalprogramm teil, das sowohl eher typisch britische als auch irisch-keltische Angebote bereit hielt. Und nicht zu vergessen die große Politik. Undenkbar sei es noch vor zehn Jahren gewesen, so Premier David Cameron, ein internationales Gipfeltreffen hier abzuhalten: Das Lough Erne Hotel im nordirischen County Fermanagh diente den G8-Oberhäuptern im Juni 2013 als »show case« für den Erfolg eines Friedensprozesses – auch wenn die Verlockungen für Business in der nordirischen Provinz noch eher die Gestalt Potemkin’scher Dörfer hatten. Sicherheit wird aufgrund der hauseigenen »Terrorismus«-Erfahrungen groß geschrieben – und kaum irgendwo im Königreich ist die Kriminalitätsrate so niedrig wie in Nordirland. Soweit also so gut!?

Flaggenprotest …

Das vergangene Jahr hielt aber auch andere Botschaften bereit: Am 3. Dezember 2012 hatte der Belfaster Stadtrat nach längerem Streit auf Antrag der Alliance-Partei und in Analogie zur Praxis auf dem Parlamentsgebäude in Stormont beschlossen, die Nationalflagge des Königreichs und Nordirlands, den Union Jack, nur noch an 18 statt wie bisher an 365 Tagen im Jahr auf dem Rathaus zu flaggen. Die Folge waren mehrtätige Straßenschlachten zwischen aufgebrachten loyalistisch-protestantischen Gruppen und der Polizei. In ihrer medialen Inszenierung erinnerten die Bilder durchaus an die heißen Tage der »Troubles« vor mehr als zwanzig Jahren. Auch wenn die Proteste an Intensität und Umfang seit dem Frühjahr deutlich abnahmen, gab es im ganzen letzten Jahr Flaggenproteste. Insgesamt wurden dabei über 100 Polizisten verletzt, mussten mehr als 350 Rechtsbrüche geahndet werden.

Am 3. Dezember 2013 wurde ein weiterer Jahrestag in den loyalistischen Kalender aufgenommen: ein Jahr Flaggenprotest! Von den bis zu 10.000 erwarteten Demonstranten erschienen zwar nur ca. 1.500; aber inzwischen hatte eine heiße Saison der traditionellen Märsche (parades) die Provinz weiter verunsichert: Gegenüber 2005 hat sich die jährliche Zahl der Paraden und Traditionsumzüge mehr als verdoppelt, auf eine Rekordhöhe von insgesamt 4.637 Veranstaltungen. Davon waren 61% von protestantisch-loyalistischen Organisationen wie dem Orange Order, den Apprentice Boys u.a. organisiert, knapp 4% von katholisch-republikanischen Gruppierungen, das übrige Drittel von Bürgergruppen und -vereinen aus unterschiedlichen kulturellen Kontexten (Nolan 2014, S.157).

… und der Ruf nach internationaler Hilfe

Der Flaggenprotest, eine überdimensionierte Marsch-Saison mit erheblichem Droh- und Einschüchterungspotenzial sowie das große ungelöste Thema, wie mit der Aufarbeitung der gewaltschweren nordirischen Vergangenheit umzugehen sei, überforderte die seit 2007 im »power sharing« regierende Belfaster Exekutive. Im Juli riefen die beiden Regierungsparteien, die protestantische Democratic Unionist Party (DUP) und die republikanische Sinn Fein, zur Beilegung dieser Konflikte ein internationales Vermittlerteam zu Hilfe: Mit dem renommierten US-Diplomaten Richard Haass kam ein Nordirland-Kenner, der schon zwischen 2001 und 2003 bei der Umsetzung des Belfaster Abkommens geholfen hatte; die Harvard-Professorin Meghan O’Sullivan war bereits als US-Sicherheitsberaterin im Irak und in Afghanistan tätig gewesen. Aber auch nach fast sechs Monaten mit über hundert Sitzungen, die sich mit mehr als 600 Eingaben aus der Zivilgesellschaft befassten, gelang es nicht, die Zustimmung aller nordirischen Parteien für die Vorschläge der Vermittler zu erhalten, die in dem Dokument »An Agreement amongst the Parties of the Northern Ireland Executive on Parades, Select Commemorations and Related Protests; Flags and Emblems; and Dealing with the Past«3 niedergelegt und veröffentlicht wurden.

Möglicherweise enthielt das Paket, das hier geschnürt werden sollte, zu viele verschiedene Einzelthemen von zu unterschiedlichem Gewicht für die Kontrahenten. Während die nationalistisch-republikanischen Parteien SDLP und Sinn Fein bereit waren, der Gesamtlinie der Vorschläge zu folgen, lehnten die Unionisten, UUP und DUP, das Dokument ab – ironischerweise nicht zuletzt mit einem Hinweis auf die Zustimmung der anderen Seite. Die gewöhnlich auf politische Kompromisse orientierte Alliance-Partei unterstützte selektiv lediglich den Teil zur Vergangenheitsbewältigung (vorgesehen sind u.a. die Einrichtung einer Historischen Untersuchungseinheit, eine unabhängige Informationskommission, ein Archiv und eine politische Steuerungsgruppe) (Nolan 2014, S.173f). Als am schwersten verdaulich erwiesen sich – vor allem für die Unionisten – die Vorschläge für den Umgang mit Flaggen und Emblemen.

»Culture War«? Was Unionisten und Loyalisten umtreibt

Hinter dem Streit um die Symbole steht das größere Thema ungelöster nationaler und kultureller Identität. Das macht die Sache so schwer traktierbar, insbesondere für diejenigen Nordiren, die sich aus unterschiedlich plausiblen Gründen eher als Verlierer der jüngeren (Friedens-) Geschichte sehen.

In ihren Ansprachen zum 12. Juli 20134 beklagten Vertreter des protestantischen Orange Order, dass sie sich einem »Culture War« ausgesetzt fühlten. „Die Republikaner führen einen Kulturkrieg, in dem sie alle Symbole britischer Identität entfernen wollen“, so Edward Stevenson, Großmeister des Orange Order in Derry-Londonderry am 12.7.2013 (Nolan 2014, S.161). Gerald Solinas, der als Sozialarbeiter in dem aus Anlass des Flaggenkonflikts gegründeten Twaddel Avenue Protest Camp in Nord-Belfast arbeitet, bringt die loyalistische Befindlichkeit auf diesen Punkt: „Das Einholen unserer Flagge auf dem Rathaus und die Dämonisierung unserer kulturellen Ausdrucksformen in den Paraden geht uns sehr nahe. Es ist im Grunde, als ob jemand in dein Haus kommt und die Möbel umräumt. Es hinterlässt ein sehr ungemütliches Gefühl …“ 5

Das Belfaster Abkommen von 1998 hatte ja ein Paradox geschaffen: Hinsichtlich des konstitutionellen Hauptkonfliktthemas bescherte es den Unionisten einen »Sieg«: Nordirland würde bis auf weiteres zu Großbritannien gehören. Diese allerdings wollten den Sieg nicht als solchen verbuchen. Die Nationalisten andererseits, die auf eine Vereinigung mit Irland gehofft hatten, hätten dieses Ergebnis eigentlich als Niederlage empfinden können. Sie arrangierten sich aber und kamen zu einer eher positiven Gesamtbewertung der politischen und sozialen Anerkennung, die mit dem Abkommen verbunden war. Daraus wiederum entwickelten die Unionisten bald eine neue Akzentuierung ihrer Besorgnisse und Bedrohtheitsgefühle, nach dem Motto: Da die Republikaner Nordirland nicht aus Großbritannien herauslösen konnten, wollen sie nun wenigstens soweit als möglich das Britische aus Nordirland entfernen.

Die Realitäten, die Paul Nolan in seinem neuen Report analysiert, sind komplexer, als es diese eingängige Semantik vermuten lässt. Die nordirischen Protestanten konfrontieren sich selbst mit einer Art kulturellem „Zwei-Fronten-Krieg“ (Nolan 2014, S.160): Einerseits wollen sie die zunehmenden Anteile irischer Kultur im öffentlichen Leben (Sprache, Straßenschilder, Kunst- und Musikszene etc.), die ja im Sinne des Gleichheitsgebots des Friedensabkommens vorgesehen sind, eindämmen. Andererseits grenzen sie sich mindestens ebenso heftig von einem modernen britischen Gesellschaftsentwurf ab, der Anti-Diskriminierung und Minderheitenschutz heute in vielen Lebensbereichen der britischen Insel proklamiert und praktiziert. Daran reibt sich das loyal-konservative Verständnis der Unionisten von »Britishness« so sehr, dass von einem doppelten Identitätsverlust gesprochen werden kann: Man fühlt sich weder im englischen Mainland noch in der eigenen Provinz länger zuhause – eine »self-fulfilling prophecy«.

Nur noch Minderheiten in Nordirland?

Im Hintergrund dieser Wahrnehmungen finden manifeste demografische und ökonomische Veränderungen statt, wie sie bereits in den Bevölkerungsstatistiken des Zensus von 2011 festgestellt wurden und in den Peace Monitoring Reports 20136 und 2014 tiefergehend analysiert werden: Innerhalb eines Jahrzehnts (2001-2011) ist der Anteil der Protestanten in der Bevölkerung von Belfast um 12% auf 42,3% (119.000) gesunken, der Anteil der Katholiken dagegen um 4,3% auf 49% (136.000) gestiegen. Andere ethnische Gruppen mit einem relevanten Migrantenanteil aus Mittel- und Osteuropa haben sich verdoppelt und machen jetzt 9% der Belfaster Bürger aus; auch sie haben zu dem veränderten Mix beigetragen, der den relativen protestantischen Anteil drastisch sinken ließ (Nolan 2014, S.22f).

Bereits 2013 enthielt der Peace Monitoring Report deshalb eine pointierte Feststellung: Nordirland sei jetzt eine Gesellschaft, die nur noch aus Minderheiten bestehe (Nolan 2013, S.5 und 34/35). Interessanterweise sind die Selbstzuordnungen zwischen religiöser Zugehörigkeit und nationaler Identität, die der Zensus 2011 erstmals erlaubte, bei weitem nicht mehr so eindeutig, wie dies in den Jahrzehnten zwischen 1970 und 2000 der Fall war. Trotz eines Gesamtanteils von 48% Protestanten bezeichnen sich nur weniger als 40% heute als britisch; bei einem Katholikenanteil von 45% beanspruchen sogar nur 25% eine irische Identität, und weniger als 20% favorisieren ein vereinigtes Irland. Erstmals taucht eine neue Kategorie auf: 21% der Bevölkerung bezeichnen sich als »Northern Irish« und befürworten eine umfassendere nordirische Selbstverwaltung bzw. Autonomie.

Diese Daten in ihrer Diversität und politischen Konsequenz zu reflektieren, könnte geeignet sein, die Irrationalität mancher unionistischer Sorgen und Ängste zu relativieren bzw. zu beseitigen. Nicht jeder demografische Wandel muss auch mit Majorisierungsabsichten einhergehen, und kulturelle Identitäten sind nicht statisch, sondern Veränderungen unterworfen, die wiederum nicht passiv erlitten werden müssen, sondern gestaltbar sind. Zunächst aber erscheint die Verschiebung zwischen den beiden großen ethnischen Gruppen und der an der Alterspyramide ablesbare, unumkehrbare Trend – in allen Altersgruppen bis 39 sind die Katholiken bereits in der Mehrheit – als das Fanal, vor dem radikale protestantische Führer wie der inzwischen milde gewordene Reverend Ian Paisley immer gewarnt haben.7

Die Scheu vor der Klassenfrage

Neben den demografischen Veränderungen verweisen auch die ökonomischen Daten auf Ungleichheiten, die an der Oberfläche vor allem die jungen männlichen Protestanten zu Verlierern stempeln. Der strukturelle Umbruch (Abschied von den alten Industrien wie Schiffbau, Textil etc.) in den 1980er/90er Jahren traf die Protestanten deshalb relativ stärker, weil sie priviligierten Zugang zu diesen Arbeitsplätzen gehabt hatten. Die Erschütterungen seit der globalen Finanzkrise verschärfen in einer Region, die besonders stark am fiskalischen Tropf der EU bzw. Großbritanniens hängt, vorhandene Trends von Fehl- und Unterinvestitionen. Sie zeitigen aber auch Ähnlichkeiten mit der Wirtschaftslage in anderen Teilen der EU, z.B. was die Arbeitslosigkeit in der Altersgruppe von 16 bis 24 Jahre betrifft, die in Nordirland bei etwa 24% liegt (Nolan 2014, S.88f). In der nordirischen Post-Konflikt-Gesellschaft hält sich jedoch aufgrund der Spaltung entlang ethno-nationaler Lager eine besonders hartleibige Negation sozialer bzw. klassenbedingter Ursachen von Ungleichheit.

Dabei sind die Daten frappierend: Die schlechtesten Chancen am Arbeitsmarkt und auf höhere Bildung und Ausbildung hat der protestantische Junge aus der Arbeiterklasse (das schaffen nur 20%), die besten hat das katholische Mädchen aus der Mittelschicht (77%) (Nolan 2014, S.96f). Dazwischen liegen die Welten einer unbeackerten Bildungsreform, die bisher an beiderseitigen Blockaden scheitert: Soll z.B. die »11+ Regel«, die nach wie vor Mittelschichtkinder (beider Lager) beim Übergang zu weiterführenden Schulen begünstigt, ganz fallen? Wie kann das streng separierte Schulwesen mit der Perpetuierung getrennter kultureller Narrative (nur 7-8% gehen auf so genannte integrierte Schulen) endlich aufgeweicht werden? Wollen und können die Protestanten den Bildungseifer und -erfolg der Katholiken (drei von fünf Studierenden sind katholisch) »aufholen«?

Für Nolan und andere Beobachter der politischen Zuspitzungen im vergangenen Jahr liegt der Zusammenhang von »Benachteiligung« in den sozial besonders schwachen Schichten und einer Bereitschaft, sich aus Identifikations- und Erfolgsnot dem loyalistischen gewaltgeneigten Machismo anzuschließen, auf der Hand.8 Der Anteil sehr junger protestantischer Männer, die in den Flaggenprotesten oder bei den vielen neuen Marschrouten durch Gewalttätigkeiten auffielen, war überproportional hoch (Nolan 2014, S.13).

Wiederum könnte das richtige Lesen der Daten und Analysen aus dem Monitoring Report eine Chance bieten, sich von den alten Lagermentalitäten zu verabschieden und die Ursachen für Diskriminierung jenseits der ethnischen Spaltung dort zu suchen, wo politische und ökonomische Eliten versagen: bei einer humanen und gerechten Gestaltung des sozialen Wandels.

Verdunstet die Moral des Friedensabkommens? Die Schwäche der Konkordanz

Denn gleichzeitig, auch das konstatiert der Peace Monitoring Report 2014 in seinen zehn Kernpunkten, waren die Aktivitäten zur Verständigung (reconciliation) an der Basis, gerade auch dort, wo direkt angrenzende protestantische und katholische Arbeiterwohngebiete in Belfast durch »peace walls« (Mauern, Drahtzäune, Trennwände) vor einander »geschützt« werden, 2013 unvermindert hoch. Regelmäßige Treffen, gemeinsame »walking groups« oder kleine Feste z.B. der Frauengruppen an der Shankill Road und der Falls Road waren keine Ausnahmen (Nolan 2014, S.14). Das Problem liegt eher »oben«, dort, wo die nordirischen Parteipolitiker sich mit der Power-sharing-Konstruktion in einer so genannten Konkordanzdemokratie9 eingerichtet haben. Sie gewährleistet zwar eine gewisse Stabilität, aber durch die gegenseitige Vetomöglichkeit und das Fehlen einer starken Opposition entsteht kein Spielraum, um die notwendigen Reformen ernsthaft anzupacken. „Die Mechanismen der Konkordanzdemokratie funktionieren gut, solange es um den Schutz und die Befriedigung der Interessen der Konfliktparteien geht. Sie zeigen aber Schwächen, wenn Aufgaben der gesellschaftlichen Integration (z.B. im öffentlichen Wohnungsbau, im Bildungswesen, in der Infrastruktur) auf die Tagesordnung rücken.“ (Robin Wilson)10

Die Akteure in Nordirland sind es gewohnt, mit den Ambivalenzen eines unvollkommenen Friedens zu leben. Und die Gefahr, dass es zu wirklichen Rückfällen in die alten Gewaltformen des Bürgerkriegs kommen könnte, wird von allen Seiten als sehr unwahrscheinlich eingeschätzt. Weder haben die dissidenten Gruppen der Republikaner dafür das materielle Potenzial, noch sind die identitätsschwachen, loyalistischen Paramilitärs dazu politisch in der Lage. Insofern kann man einer Negativ-Statistik »Was 2013 alles nicht geschah« durchaus etwas Positives abgewinnen: 2013 wurde kein Polizist getötet, kein Katholik von einem Protestanten umgebracht und auch kein Protestant von einem Katholiken, und niemand starb bei einer Bombenexplosion. Der Zugewinn an Sicherheit geht bisher aber eben nicht mit einem Zugewinn an Handlungsfähigkeit der gewählten Repräsentanten in den »bread and butter issues« einher. Was in der ersten Phase nach der Umsetzung des Belfaster Abkommens als konstruktive Zweideutigkeit (constructive ambiguities) gelten konnte, erweist sich nun zusehends als Hindernis: Das Demokratiedefizit der Konkordanzdemokratie begünstigt das mentale Verharren in den alten Gräben, der Konfliktinhalt lebt fort. Es scheint, als habe sich der moralische Impuls des Neuanfangs, den das Belfaster Abkommen darstellte, verbraucht.11

Besonders krass traten diese Widersprüche und das Unvermögen der Exekutive im Mai vergangenen Jahres in Erscheinung. Damals veröffentlichte das Büro des Ersten Ministers und des Stellvertretenden Ersten Ministers (OFMDFM) das bemerkenswerte Dokument »Together: Building a United Community«12 und proklamierte es als Meilenstein für die Entwicklung guter Beziehungen in der nordirischen Gesellschaft. Wenig später sah sich das Büro in einem hilflosen Akt aber genötigt, zur Beilegung der Krise dieser Beziehungen eine ausländische Vermittlungsinstanz anzurufen. Papier ist geduldig, aber die politischen Eliten übernehmen nicht wirklich die Verantwortung, ihre Wähler auf dem Weg der notwendigen Veränderungen mitzunehmen oder sich von ihnen zuweilen gar den Weg zeigen zu lassen. Die Schaufenster unterwegs sehen schon ganz gut aus, aber die Regale sind noch halb leer. Es überrascht in dieser Situation nicht, dass eine externe Mission wie die von Haass/O’Sullivan im vergangenen Jahr scheiterte. Die Zeiten, in denen die Krise so existenziell war, dass man ohne Patenschaften von außen nicht auskam, sind – Gott sei Dank – in Nordirland vorbei. Die nordirischen Akteure sind jetzt selbst gefragt, haben aber immer noch Angst vor der eigenen Courage – und vor der eigenen Klientel. Die Warnung von Richard Haass, Nordirland könne seinen Status als „Modell für Konfliktlösung“ (Nolan 2014, S.11) verlieren, muss man deshalb nicht teilen. Modell ist nicht, wer immer hübsch gekleidet ist, wir sind hier nicht auf dem Laufsteg.

Monitoring kann Diskurs initiieren

Negative und positive Entwicklungen in eine plausible Balance zu bringen, könnte eine wichtige Funktion für das unabhängige Monitoring von Friedensprozessen sein. Der Report, wie er in Nordirland nun zum dritten Mal vorgestellt wurde, mit seinen Kernindikatoren Sicherheit, soziale Gleichstellung, gesellschaftlicher Zusammenhalt und politischer Fortschritt, sucht im internationalen Vergleich bisher seinesgleichen, weil er die diagnostische Datensammlung mit normativ geleiteter Analyse und der Bereitstellung von Handlungswissen verbindet. Er versteht sich als eine Art Gesundheitscheck für die fragile Post-Konflikt-Gesellschaft, aus dem Frühwarnung und Prävention abgeleitet werden können, um Rückfälle oder Neuerkrankungen vermeiden zu helfen.

Man darf gespannt sein, wie die nordirische Öffentlichkeit, »oben« und »unten«, ihren dritten Monitoring Report diskutieren wird und ob sich vielleicht ein Modell für das Monitoring von Frieden im internationalen Kontext aus den nordirischen Erfahrungen ableiten lässt.

Sieht so Frieden aus?

Ja. So kann Frieden aussehen, wenn man sich damit nicht zu»frieden« gibt. Die Frustration nach dem Scheitern der Vermittlungen war dem nordirischen Sozialdemokraten Mark Durcan anzumerken, als er im Februar vor dem britischen Unterhaus sagte: „Wir haben einen schmutzigen Krieg für einen schmutzigen Frieden eingetauscht.“ 13

Anmerkungen

1) Das Belfast Agreement oder Good Friday Agreement wurde nach langen Verhandlungen am 10. April 1998 (Karfreitag) zwischen den nordirischen Parteien und Großbritannien und Irland geschlossen und beendete den 30-jährigen Bürgerkrieg (Troubles). Es regelte u.a. Bürgerrechte, Entwaffnung, neue Polizei und Justiz und eine teil-autonome gemeinsame Regierungsform. Das Abkommen erhielt die Zustimmung der Bevölkerung in zwei Referenden. Wortlaut des Abkommens unter cain.ulst.ac.uk/events/peace/docs/agreement. htm.

2) Paul Nolan (2014): Northern Ireland Peace Monitoring Report Number Three. Community Relations Council, Belfast.

3) Verfügbar unter cfr.org.

4) Am 12. Juli wird traditionell mit Paraden der Sieg des protestantischen englischen Königs Wilhelm III von Oranien gefeiert, den dieser im Jahre 1690 bei der Schlacht am Boyne über den mit den Iren verbündeten katholischen ehemaligen englischen König Jakob II errang.

5) Martina Purdy: Catholics now outnumber Protestants in Belfast. BBC News, 3.4.2014.

6) Paul Nolan (2013): Northern Ireland Peace Monitoring Report Number Two. Community Relations Council, Belfast.

7) Corinna Hauswedell (2011): Reverend Ian Paisley in Nordirland – Vom Konflikttreiber zum Friedensermöglicher. In: Bernd Oberdorfer/Peter Waldmann (Hrsg.): Machtfaktor Religion. Formen religiöser Einflussnahme auf Politik und Gesellschaft. Köln/Weimar/Wien: Böhlau-Verlag, S.201–220.

8) Corinna Hauswedell (2012). Das protestantisch-loyalistische Milieu in Nordirland – Reaktionäre Radikalisierung und ethno-sozialer Identitätsverlust. In: Stefan Malthaner und Peter Waldmann (Hrsg.): Radikale Milieus. Das soziale Umfeld terroristischer Gruppen. Frankfurt/New York:Campus, S.307-337.

9) John McGarry and Brendan O’Leary (2004): The Northern Ireland Conflict. Consociational Engagements. Oxford: Oxford University Press.

10) Zitiert nach Bernhard Moltmann (2013): Ein verquerer Frieden. Nordirland fünfzehn Jahre nach dem Belfast-Abkommen von 1998. HSFK Report 5/2013, S.29.

11) Ibid., S.30f.

12) Office of the First Minister and Deputy First Minister; ofmdfmni.gov.uk.

13) Social Democratic and Labour Party (SDLP): Press Releases – Durkan: SDLP warned secret deals would blight peace process. 27.2.2014. sdlp.ie.

Dr. Corinna Hauswedell leitet Conflict Analysis and Dialogue (CoAD) in Bonn und ist seit April 2014 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) in Heidelberg.

Syrien

Syrien

Vorrang für zivil oder Spielball internationaler Politik?

von Christine Schweitzer und Andreas Buro

Der Konflikt in Syrien begann als ein ziviler Aufstand, ähnlich den Aufständen in Nordafrika und anderen arabischen Ländern. Aber er schlug schnell in einen Bürgerkrieg um, in dem diejenigen, die mit gewaltlosen Mitteln ein demokratisches und multikulturelles Syrien schaffen wollten, längst marginalisiert sind. Seit März 2011 sind über 100.000 Menschen getötet und bis zu acht Millionen vertrieben worden; zwei Millionen dieser Vertriebenen halten sich als Flüchtlinge in völlig überlasteten Lagern in den Nachbarländern Syriens auf. Aber es war nicht das Elend dieser Menschen, was die Bereitschaft einiger westlicher Staaten zu einem Militäreinsatz weckte, es war – zumindest vordergründig – der Einsatz von Giftgas.

In der Nacht zum 21. August 2013 sind in der Region Ghuta nahe Damaskus bei einem Giftgaseinsatz zwischen 350 und 1.400 Menschen ums Leben gekommen, 3.600 wurden verletzt.1 Was danach folgte, hatte alle Elemente eines Politthrillers. Am 25.8 sprach Obama zunächst von einer „gründlichen Prüfung der Vorwürfe und aller Optionen“,2 allerdings stellte sein Außenminister schon einen Tag später mit martialischen Worten einen begrenzten Militärschlag in den Raum. Frankreich und Großbritannien erklärten sich sofort bereit, gemeinsam mit den USA militärisch zu handeln, notfalls auch ohne Zustimmung des UN-Sicherheitsrates. Andere Länder, darunter auch Deutschland, teilten hingegen mit, dass sie sich auf keinen Fall an einem Militärschlag beteiligen würden.

Schnell wurden Zweifel laut. Nicht nur die Friedensbewegungen in den USA und Europa, sondern auch Medien, Stimmen aus dem Militär selbst und politische BeobachterInnen fragten nach Sinn und Zweck eines solchen Eingreifens und verwiesen auf die schlecht berechenbaren Konsequenzen. In den USA sprachen sich in Meinungsumfragen 59% gegen einen Militärschlag aus. Selbst Think-tanks wie die International Crisis Group, die in der Vergangenheit für manche Krisen durchaus auch militärische Optionen empfahl, warnten: Ein Militärschlag sei gefährlich und kaum im Interesse des syrischen Volkes.3

Die konzertierte Kritik zeigte Wirkung: Zuerst erklärte der britische Premierminister Cameron, er wolle nur mit Zustimmung des Parlaments handeln, und dann kündigte Obama an, dass er auch die Zustimmung der beiden Kammern seines Parlaments (Kongress und Senat) einholen werde. Die Abstimmung im britischen Unterhaus war für Cameron ein Desaster: Die Mehrheit stimmte am 29.8. gegen einen Militäreinsatz.

Während sich der Angriff, der ursprünglich noch vor dem G20-Gipfel in St. Petersburg in der ersten Septemberwoche erwartet wurde, verzögerte, wurde sein Charakter immer diffuser. Anfänglich war von einem kurzen, vielleicht zweitägigen gezielten Angriff aus der Luft auf Militäreinrichtungen des Assad-Regimes die Rede (unter Aussparung der Chemiewaffendepots), also einer reinen Strafexpedition ohne entscheidenden Einfluss auf den Bürgerkrieg im Land. Später erklärte sich der US-Senat bereit, einen bis zu 60-tägigen Luftangriff mit einer Verlängerungsoption für weitere 30 Tage zu billigen. Und Außenminister Kerry sprach in einer Pressekonferenz am 3.9. davon, dass auch Bodentruppen nicht ausgeschlossen werden könnten, sofern die Gefahr bestünde, dass Chemiewaffen in die Hände von Extremisten fallen könnten. Kurz danach nahm er diese Aussage wieder halb zurück.4

Bei dem G20-Gipfel in St. Petersburg, der am 6. September endete, konnten die USA und Russland keine gemeinsame Position finden. Die verhärtete Haltung zwischen Ost und West wurde sichtbar, als die anwesenden EU-Länder Großbritannien, Frankreich und Italien zusammen mit der Türkei, Japan, Australien, Kanada und Südkorea ein gemeinsames Statement verabschiedeten, in dem sie die Angriffspläne der USA als Antwort auf Giftgasangriffe in Syrien unterstützen: „Wir fordern eine starke internationale Antwort auf diese schwerwiegende Verletzung internationalen Rechts […], die deutlich macht, dass derartige Gräueltaten sich nicht wiederholen können […]“ und „Diejenigen, die diese Verbrechen begangen haben, müssen zur Verantwortung gezogen werden.“.5 Deutschland schloss sich der Erklärung erst einen Tag später an mit der Begründung, man habe erst einmal eine einheitliche Position der EU abwarten wollen. Diese ließ auf ihrem Gipfel in Vilnius am 7.9. verkünden, sie appelliere an Obama, zunächst das Ergebnis der UN-Untersuchungen abzuwarten.

Unterdessen bemühte sich Obama weiter, in den beiden Häusern seines Parlamentes Zustimmung für den Militärschlag zu gewinnen. Der Auswärtige Ausschuss des Senats hatte am 4. September mit 10:7 Stimmen für einen Militärschlag gestimmt, was als erster Erfolg für Obama gewertet wurde. Aber seine Aussichten, auch den Kongress auf seine Seite zu ziehen, schienen gering: Nicht nur die Mehrheit der Bevölkerung in den USA war gegen einen Angriff auf Syrien, sondern auch die Mehrheit im Repräsentantenhaus. Nach Meldungen vom 9. September hatte Obama dort nur 30 der 435 Abgeordneten hinter sich.

Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung ändern kann

Drei Tage nach Ende des G20-Gipfels griff Russlands Präsident Putin eine Äußerung auf, die US-Außenminister Kerry bei einer Pressekonferenz am Montag, den 9.9. gemacht hatte und der zu entnehmen war, bei einer Vernichtung der syrischen Chemiewaffen wäre ein Militärschlag unter Umständen verzichtbar. Putin kündigte eine Initiative an mit dem Ziel, die Chemiewaffen Syriens unter Kontrolle der Vereinten Nationen zu stellen und anschließend zu vernichten.6 Aus den USA verlautete, dies sei zwischen den USA und Russland am Rande des G20-Gipfels abgesprochen worden – ob das stimmt, muss dahingestellt bleiben. Assad stimmte jedenfalls am nächsten Tag dem russischen Vorschlag zu und erklärte sich danach bereit, dass Abkommen zum Verbot von Chemiewaffen zu unterzeichnen, seine Bestände und Produktionsstätten unter internationale Kontrolle zu stellen und sämtliche Chemiewaffen vernichten zu lassen.

Ebenfalls am 10.9. verkündete Obama in einer mit Spannung erwarteten Ansprache an die Nation, er werde vorerst von einem Militärschlag gegen Syrien absehen, und bat den Kongress, die Abstimmung aufzuschieben. Seine Drohung mit einem Militärschlag hob er zwar nicht auf, aber er werde „keine Maßnahmen mit offenem Ende verfolgen, wie in Irak oder Afghanistan. Ich werde keinen Luftfeldzug über längere Zeit verfolgen, wie in Libyen oder im Kosovo. Es würde sich um einen gezielten Militärschlag mit klarem Ziel handeln: vom Einsatz chemischer Waffen abzuschrecken und Assads Fähigkeiten zu schwächen“.7 Mit anderen Worten: Von einem 60-tägigen Einsatz war nicht mehr die Rede.

Die Situation hatte sich also plötzlich grundlegend verändert. Die bis dahin auf das Nebengleis geschobenen Vereinten Nationen traten plötzlich wieder in den Vordergrund. Die Außenminister der USA und Russlands einigten sich am 16.9. auf die Grundzüge einer Resolution des UN-Sicherheitsrates: UN-Inspektoren sollen die von Syrien binnen einer Woche offen gelegten Waffen registrieren und ihre Vernichtung oder den Abtransport vorbereiten. In der entsprechenden, am 27.9. beschlossenen Resolution kündigt der Sicherheitsrat für den Fall, dass Syrien nicht kooperiere, an, er werde Maßnahmen nach Kapitel VII der UN-Charta verhängen, ohne allerdings die Möglichkeit einer Militärintervention beim Namen zu nennen. Parallel dazu legte UN-Generalsekretär Ban Ki-moon einen ehrgeizigen Plan vor, demzufolge die Chemiewaffen Syriens bis zum 30. Juni 2014 unschädlich gemacht werden sollen. Dazu müssen sich die UN-Kräfte in einem Gebiet bewegen, in dem weiterhin Krieg herrscht.

Der Giftgaseinsatz: Erkenntnisse und Spekulationen

Die Regierung Assad hatte schon im Jahr 2012 zugegeben, dass Syrien über Giftgas verfügt. Militärstrategisch sind diese Waffen wohl als Abschreckungsmittel gegenüber den israelischen Atomwaffen zu verstehen. Viele BeobachterInnen zweifeln jedoch nicht daran, dass sie auch im Bürgerkrieg eingesetzt wurden. Es bleiben aber viele Fragen offen, was am 21. August tatsächlich geschehen ist. Die von den USA vorgelegten »Beweise« für die Verantwortung des Regimes bleiben zumindest bislang nur Indizienbeweise und berufen sich auf vage „Geheimquellen“.8

Auf Facebook soll am 21.8. kurzfristig eine Meldung gepostet gewesen sein, in der sich Anhänger des Regimes zu dem Giftgasangriff bekannten.9 In einer saudischen Zeitung wurde gar behauptet, eine syrische Eliteeinheit habe gegen den Willen ihres Kommandanten Giftgas entwendet und zum Einsatz gebracht.10

Die syrische Regierung ihrerseits macht die Rebellen für den Einsatz verantwortlich. Es kann in der Tat gefragt werden, warum die Regierung Assad gerade zu dem Zeitpunkt einen solchen Angriff durchführen sollte, an dem UN-Inspektoren zur Überprüfung der Vorwürfe früherer Giftgaseinsätze im Land waren. Es ist nicht nur der Reflex, bei allem, was die USA behaupten, erst einmal das Gegenteil als zutreffend anzusehen, wenn aus Kreisen der Linken und Teilen der Friedensbewegung die Vermutung geäußert wurde, Rebellen seien für den Giftgasangriff verantwortlich. Die Logik des »cui bono« (wem nützt es) lässt sie in Verdacht geraten, denn sie fordern seit Beginn des Bürgerkrieges eine internationale Militärintervention. Der Krieg lief die letzten Monate nicht gut für sie, und die USA hatten mit ihrer »roten Linie« für den Fall eines Giftgaseinsatzes eine Intervention angedroht. Es gab in der Vergangenheit zahlreiche Fälle, in denen eine Seite einen Angriff auf die eigene Seite vortäuschte, um einen Grund zu haben, in den Krieg zu ziehen. Man denke z.B. an den von Deutschland inszenierten Angriff auf den Sender in Gleiwitz an der polnischen Grenze 1939 oder an die von den USA vorgetäuschte Attacke auf ein US-Kriegsschiff im Golf von Tonkin vor Vietnam 1964.

In den Medien wie in der Politik wird überwiegend der US-Behauptung folgend von einer Verantwortung des Regimes ausgegangen. Es gibt andererseits auch Berichte, Kämpfer der Jabhat al-Nusra, die von Saudi-Arabien Giftgas bekommen hätten, seien verantwortlich. Die Gasmunition sei in Tunneln versteckt worden, ohne dass diejenigen, die sie transportierten, überhaupt gewusst hätten, worum es sich dabei handelte.11

Bisher behaupten weder Washington noch die EU-Staaten, sicher zu wissen, wer in Syrien Giftgas eingesetzt hat. Man spricht nur von „hoher Wahrscheinlichkeit“. Diese wird in einem Memorandum hochrangiger ehemaliger Mitarbeiter von US-Geheimdiensten , das an Obama gerichtet ist, in Zweifel gezogen. Sie sind zusammengeschlossen zu den »Veteran Intelligence Professionals for Sanity» (VIPS) und sprachen sich schon im Jahr 2003 klar gegen die lügenhafte Begründung für den US-Angriff gegen Irak aus. Ihr Tenor: Die zuverlässigsten Geheimdienstinformationen besagten, das Assad-Regime habe das am 21.8.2013 verwendete Giftgas nicht eingesetzt und die britischen Geheimdienste wüssten dies sehr wohl. Bereits eine Woche vor dem Giftgaseinsatz habe am 13. und 14. August 2013 in der türkischen Kaserne in Antalya (Hatay Provinz), die jetzt als Hauptquartier der Freien Syrischen Armee dient, ein Treffen hoher Kommandeure der vom Westen unterstützten Aufständischen mit Geheimdienstoffizieren aus den USA, der Türkei und Katar stattgefunden. Die Aufständischen wurden dort unterrichtet, in Kürze werde eine Eskalation im Kriegsgeschehen eintreten, die zu einer Bombardierung Syriens durch US-Streitkräfte führen würde. Die Aufständischen sollten sich darauf vorbereiten, diese Situation für die Eroberung von Damaskus und die Beseitigung des Assad-Regimes zu nutzen. Große Waffenlieferungen wurden zugesagt und zwischen 21. und 23.8.2013 abgewickelt. Die Waffen kamen aus Lagern unter türkischer und katarischer Aufsicht und unter Kontrolle von US-Geheimdiensten.12

Der syrische Bürgerkrieg als Stellvertreterkrieg

Die Wünsche der Bevölkerung nach Freiheit, Demokratie und Anerkennung von Minderheiten spielen auf dem syrischen Schlachtfeld heute keine Rolle mehr. Die außersyrischen Akteure verfolgen ihre Eigeninteressen ohne Rücksicht auf die syrische Bevölkerung.

  • Saudi-Arabien und Katar fördern sunnitische Milizen, die Al Kaida nahe stehen. Aus Syrien soll ein sunnitisch-islamistischer Partnerstaat werden. So würde der Rivale Iran als potentielle Regionalmacht geschwächt.
  • Der Iran hält mit der Entsendung schiitischer Kämpfer und mit Waffenlieferungen dagegen.
  • Russland setzte ebenfalls lange Zeit seine Waffenlieferungen an die syrische Regierung fort und erwies sich mit China darüber hinaus als verlässlicher Partner des Assad-Regimes bei den Beratungen des UN-Sicherheitsrates.
  • Die libanesische Hisbollah schickt eigene Kämpfer nach Syrien, um das befreundete Assad-Regime zu stützen, das seinerseits für ihr eigenes Überleben wichtig ist. Dabei riskiert sie die Ausweitung des Krieges in den Libanon.
  • Die Türkei finanziert und bewaffnet islamistische Milizen und Teile der Freien Syrischen Armee (FSA), damit sie gegen die Autonomiebestrebungen der syrischen Kurden kämpfen.
  • Frankreich liefert ebenfalls Waffen an die FSA und gibt politische, finanzielle und mediale Unterstützung.
  • Die konservative britische Regierung wollte mit in diesen Kampf ziehen, wurde allerdings vom eigenen Unterhaus ausgebremst.
  • Die anderen EU Staaten sind vorwiegend damit befasst, Flüchtlinge aus Syrien abzuwehren.13
  • Die USA sind geostrategisch involviert. Der Sturz des Assad-Regimes würde dazu beitragen, den Iran zu isolieren, zu schwächen und dort letztlich einen Regimewechsel zu erreichen. Damit würden die USA ihrem Ziel näher kommen: der Kontrolle des gesamten Nahen und Mittleren Ostens. Ihr Zögern, dafür umfassende militärische Mittel einzusetzen, dürfte einerseits an der Kriegsmüdigkeit der US-Gesellschaft nach den langen Kriegen im Irak und Afghanistan liegen, andererseits ist aber auch schwer absehbar, wer nach einem Sturz von Assad die Macht übernehmen würde.

Eine amerikanische Alleinkontrolle der Region kann weder der russischen noch der chinesischen Regierung gefallen. Den Russen geht es nicht nur, wie immer berichtet wird, um den Kriegshafen in Syrien, sondern vor allem um die Abwehr der US-Dominanz in dieser großen, bis Zentralasien reichenden Region.

Das grundlegende Problem aller Akteure der Stellvertreter-Kriege liegt in der fehlenden Kompatibilität ihrer jeweiligen Ziele. Das gilt insbesondere für diejenigen, die das Assad-Regime stürzen wollen: Die einen wollen einen islamistischen Staat, die anderen einen laizistischen, damit die Kräfte des »islamistischen Terrorismus« nicht weiter gestärkt werden.

Bei der Diskussion um eine Militärintervention ging es deshalb keineswegs um die moralische Empörung über den teuflischen Einsatz von Giftgas, der ein Verstoß gegen das Giftgasprotokoll von 1925, das humanitäre Völkerrecht (die Genfer Konventionen von 1949) und das Chemiewaffen-Verbotsabkommen von 1996 ist. In anderen Situationen hatten die westlichen Mächte die Anwendung von Giftgas hingenommen.14 Vielmehr ging es darum, mit welchen Mitteln so in den syrischen Bürgerkrieg eingegriffen werden konnte, dass das Ergebnis den strategischen Interessen der jeweiligen externen Parteien entgegenkommen würde.

Bewertung

Es hat seit langem keinen Plan einer Militärintervention gegeben, der auf so viel Widerstand gestoßen ist, dass er zumindest aufgeschoben, vielleicht sogar aufgehoben wurde. Natürlich hat nicht allein und nicht vorwiegend die Friedensbewegung diese Wirkung entfaltet, sondern der Widerstand war quer durch alle Lager groß, von einfachen BürgerInnen bis zur so genannten Elite, von Links bis Rechts.

Auch lagen dem Umdenken keine pazifistischen Motivationen zugrunde – es war kein grundsätzlicher »Vorrang für zivil«. Hinter der Entscheidung, einen Militärschlag aufzuschieben, steht die bereits geschilderte, höchst widersprüchliche innersyrische und internationale Situation und die Sorge, dass ein Eingreifen in den Bürgerkrieg auf Seiten der bewaffneten Opposition ein Eingreifen zugunsten derer sein könnte, die man im von den USA ausgerufenen »Krieg gegen den Terror« bekämpft und die auch Russland als bedrohlich empfindet.

Der Kampf um die Deutungshoheit dessen, was geschehen ist, hat schon begonnen. Es zeichnet sich ab, wie die gegenwärtigen Ereignisse – so sie zu einer zivilen Lösung des Konfliktes führen – einmal im Mainstream der Medien und Politikwissenschaft beschrieben werden: als ein neuer Sieg der Politik von »Zuckerbrot und Peitsche«, einer Politik, die durch die glaubhafte Drohung mit Gewalt einen unwilligen Diktator zum Einlenken bewegt hat.15 Dabei war es wohl kein durchdachter Plan, der zu dem Durchbruch in punkto Chemiewaffen geführt hat, sondern diplomatisches Lavieren und fehlende Zustimmung zu den Plänen der drei westlichen Alliierten in der Bevölkerung und in den Eliten der eigenen Länder.

Noch sind sich die meinungsbildenden Medien in der Bewertung der Politik Obamas nicht einig. Viele werfen ihm »Führungsschwäche« und Planungslosigkeit vor. Aber wieso ist es »Schwäche«, wenn ein Präsident auf seine BeraterInnen hört, wenn er das Parlament befragt? Sollte es nicht ein Kernelement einer Demokratie sein, dass die Politik auf ihr Volk hört? Daher gilt es, bei aller Kritik an dem Vorgehen der Supermacht, doch festzuhalten, dass sie in diesem Fall nicht der Logik des »Erst schießen, dann reden« gefolgt ist.

Ansätze zu einer politischen Lösung

Nach wie vor ist ein US-Militärschlag nicht auszuschließen, auch nicht, dass er dann doch mit Billigung des UN-Sicherheitsrates erfolgt. Die russische Initiative für die Vernichtung des Giftgases in Syrien hat jedoch ein »Fenster der Möglichkeit« geöffnet, das eine Chance für Verhandlungen über die Beendigung des Krieges bietet. Der UN-Sicherheitsrat hat mit seiner Resolution vom 27.9.201316 Fristen für die Vernichtung der Chemiewaffen festgelegt, die nicht leicht einzuhalten sein werden. Damit legen sich beide Großmächte darauf fest, eine politische Lösung zumindest zu versuchen. In diesem Sinne sind auch die Bemühungen um eine Konferenz der Konfliktparteien in Genf noch im Jahr 2013 zu verstehen. Allerdings: Der Iran steht bisher nicht auf der Liste der Einzuladenden.

Den Bemühungen um eine politische Lösung droht vor allem aus zwei Richtungen Gefahr: Erstens könnte der anhaltende Krieg in Syrien die Vernichtung der Chemiewaffen unmöglich machen. Zweitens zeichnet sich bereits ab, dass die Gegner der Assad-Diktatur sich nicht nur untereinander militärisch bekämpfen, sondern auch über die Teilnahme an der geplanten Genfer Konferenz völlig zerstritten sind.

Der Regierung Assad kann es in der Zwischenzeit nur Recht sein, dass die internationale Aufmerksamkeit sich allein auf die Frage der Chemiewaffen konzentriert. Der eigentliche Krieg wird inzwischen mit aller Brutalität fortgesetzt.

Die Friedensbewegung ist sich einig in ihrer Ablehnung einer Militärintervention und in der Forderung nach einem Waffenstillstand, einem Ende des Krieges, einer weit besseren Unterstützung der Flüchtlinge und Vertriebenen, der Gleichbehandlung von AsylbewerberInnen aus Syrien mit den in Deutschland aufgenommenen »Kontingentflüchtlingen«, nach einem kompletten Waffenembargo und der Verweigerung jeder auch indirekten Unterstützung des Krieges durch Deutschland.17

Doch sind in den Forderungen auch geostrategische Aspekte zu berücksichtigen, um tatsächlich eine friedliche Lösung zu erreichen. Bei Obamas geplantem Militäreinsatz ging es nicht um eine Strafaktion gegen den Gaseinsatz in Syrien, sondern um einen Regimewechsel in Syrien. Ein wichtiger Faktor ist des Weiteren der Anspruch des Iran, eine wichtige Regionalmacht mit schiitischer Einfärbung zu sein. Uns wird über die Medien stets vermittelt, es handele sich bei dem Streit zwischen »dem Westen« und Teheran um die Frage der atomaren Bewaffnung. Das ist eine vorgetäuschte Problematik, genauso wie die Behauptung, der westliche Raketenschirm müsse gegen die Bedrohung durch iranische Raketen errichtet werden. Den USA geht es auch im Falle Iran vorwiegend um einen Regimewechsel. Deshalb hält Washington alle Sanktionen aufrecht, die bereits nach dem Sturz des Schah-Regime verhängt worden sind und nichts mit der atomaren Frage zu tun haben. Die Blockade praktisch sämtlicher Lösungen in den Atomverhandlungen ist ebenfalls den USA geschuldet.18

Die Chance zur Verständigung, die sich nach dem Präsidentenwechsel in Teheran abzeichnet und sogar zu einem direkten Telefongespräch zwischen Obama und Rouhani führte, ist in Washington noch immer höchst umstritten. Kurz vor der Vereidigung des neuen – offensichtlich gesprächsbereiten – iranischen Präsidenten wurden in Washington neue weitreichende Sanktionen vorbereitet, und Kräfte aus dem Kongress versuchen, Obama direkte Gespräche mit Teheran zu untersagen.

Wenn die USA tatsächlich eine friedliche Lösung für den Syrien-Konflikt anstreben, müssen sie die Verständigung mit Teheran suchen: Direkte Kontakte, Vertrauen bildende Maßnahmen durch schrittweise Aufhebung von Sanktionen, das Angebot eines Nicht-Angriffspaktes, Kooperation auf vielen gemeinsamen Interessensgebieten, Unterstützung der von den Vereinten Nationen beschlossenen Konferenz für eine massenvernichtungswaffenfreie Zone in Mittel- und Nahost. . Alle diese Fragen haben direkte Relevanz für den Bürgerkrieg in Syrien. Sie sind also ebenso wie unsere Forderungen zu Syrien von allen Friedensbewegten in unserem Land zu thematisieren.

Anmerkungen

1) Die Zahlen sind unklar. So sprach Großbritannien von „mindestens 360 ZivilistInnen“ und nur die USA behaupten, jedes einzelne Opfer gezählt zu haben: Exakt 1.429 Tote, davon „mindestens 426 Kinder“ (White House, Office of the Press Secretary, August 30, 2013). Zur Zahl der Verletzten: Médecins Sans Frontière: Syria: Thousands suffering neurotoxic symptoms treated in hospitals supported by MSF. 24 August 2013. Das Weiße Haus nennt dieselbe Zahl.

2) Tagesschau, 25.8.2013.

3) International Crisis Group: – Syria Statement. 2.9.2013.

4) International Herald Tribune, 5.9.2013.

5) Deutsche Übersetzung laut tagesschau.de vom 7.9.13. Vollständiger englischer Text: The White House, Office of the Press Secretary: Joint Statement on Syria. September 06, 2013.

6) Rosenberg, Steven: Russia’s Nimble Footwork on Syria. BBC News 11.9.2013.

7) The White House, Office of the Press Secretary: Remarks by the President in Address to the Nation on Syria. September 10, 2013.. Deutsche Übersetzung durch Amerika Dienst vom 11.9.2013; blogs.usembassy.gov/amerikadienst/.

8) International Herald Tribune vom 5.9.13, a.a.O.

9) Bürgerkrieg in Syrien. Aktivisten werfen Assad Giftgaseinsatz mit Hunderten Toten vor. Spiegel Online vom 21. August 2013.

10) Michael Lüders: Reden wir mit Assad! taz.de vom 25.8.2013.

11) Zum Beispiel: Gavlak, Dale und Ababneh, Yahya (2013): Syrians in Ghouta Claim Saudi-Supplied Rebels Behind Chemical Attack. MintPress News vom 29. August 2013.

12) Der Text des Memorandums ist hier nachzulesen: Obama Warned on Syrian Intel. Consortiumnews.com vom 6. September 2013.

13) Diese Angaben können größtenteils auch in bürgerlichen Massenmedien nachgelesen werden, z.B.: Who is supplying weapons to the warring sides in Syria? bbc.co.uk, News – Middle East vom 14. Juni 2013.

14) Der irakische Diktator Saddam Hussein setzte im Angriffskrieg gegen Iran systematisch und über Jahre hinweg Giftgas ein. Zehntausende Iraner starben. Er vergiftete überdies am 16. März 1988 durch einen Angriff auf die Stadt Halabdscha (Irakisch-Kurdistan) mehr als 5.000 kurdische Bürger des Irak und verwundete mehr als 7.000. Damals lieferten Paris und London die Bomber, und aus Moskau erhielt er die geeigneten Scud-Raketen. Firmen aus der Bundesrepublik lieferten die Grundsubstanzen für die Giftgase, das Know-how und die Produktionsanlagen für ihre Herstellung. US-Präsident Reagan war im Detail über die irakischen Giftgaseinsätze informiert und lieferte 1988 Saddam Hussein sogar Aufklärungs- und Zieldaten für vier kriegsentscheidende Chemiewaffenangriffe. Gemeinsam verhinderten vier Vetomächte im UN-Sicherheitsrat, dass die Beschwerden des Iran über die irakischen Giftgasangriffe dort behandelt wurden. Die Sowjetunion hatte ebenfalls Giftgas in Afghanistan eingesetzt.

15) Als eines der letzten erfolgreichen Beispiele hierfür gilt die amerikanische Vermittlungsstrategie im Bosnienkonflikt 1994-95, als die NATO durch immer weitergehende Bombardierungen serbischer Stellungen Präsident Milosevic und seine Verbündeten in Bosnien militärisch unter Druck setzte, dem von Vermittler Holbrooke ausgearbeiteten Friedensplan zuzustimmen. Siehe Holbrooke, Richard (1998): To End a War. New York: Random House; Sloan, Elinor C. (1998): Bosnia and the New Collective Security. Westport: Praeger Publishers.

16) Die offizielle dt. Übersetzung der Resolution steht unter un.org/Depts/german.

17) Eine Zusammenstellung verschiedener Aufrufe findet sich auf friedenskooperative.de.

18) Buro, Andreas und Ronnefeldt, Clemens (2012): Iran-Verhandlungen. Legitimation für einen Angriffskrieg? Dossier Ib des Monitoring-Projekts. Bonn: Kooperation für den Frieden.

Dr. Christine Schweitzer ist Co-Geschäftsführerin beim Bund für Soziale Verteidigung, Mitarbeiterin des Instituts für Friedensarbeit und Gewaltfreie Konfliktaustragung und Redakteurin des »Friedensforums«. Prof. Dr. Andreas Buro ist u.a. friedenspolitischer Sprecher des Komitees für Grundrechte und Demokratie und Koordinator des »Monitoring-Projekts: Zivile Konfliktbearbeitung, Gewalt- und Kriegsprävention«. 2008 erhielt er den Aachener und 2013 den Göttinger Friedenspreis.