Rohe Bürgerlichkeit

Rohe Bürgerlichkeit

Bedrohungen des inneren Friedens

von Wilhelm Heitmeyer

Der Bielefelder Sozialwissenschaftler Prof. Dr. Wilhelm Heitmeyer hat in Anerkennung seiner jahrzehntelangen Arbeit auf dem Gebiet der ethnisch-kulturellen Gewaltforschung im März den Göttinger Friedenspreis 2012 erhalten (siehe Bericht zur Preisverleihung im Forum dieser Ausgabe). Wir dokumentieren im Folgenden Auszüge aus der Dankesrede des Preisträgers.

[…] 2010 ist ein Sammelband erschienen mit dem Titel »Bürgerlichkeit ohne Bürgertum. In welchem Land leben wir?«. Darin wird u.a. darüber nachgedacht, worin die Differenz zwischen Bürgerlichkeit und Bürgertum besteht. Der Titel signalisiert, dass man unterscheiden muss. Hier wird Bürgerlichkeit nicht als Stand oder Klasse verstanden, sondern als eine Attitüde und eine Haltung, die zivilisierte, tolerante und differenzierte Einstellungen vorgibt. Ich betone: vorgibt. Aber stimmt das, wenn man sich empirisch vergewissert?

Und damit bin ich bereits beim Kern meiner knappen, ungemütlichen Erörterungen, die ich empirisch belegen möchte, u. a. mit Daten der von der Volkswagen Stiftung geförderten und gerade abgeschlossenen Langzeitstudie zur Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit. […]

In dieser zehnjährigen Untersuchung mit jährlichen repräsentativen Bevölkerungsbefragungen von 2002 bis 2011 sind unterschiedliche soziale Gruppen bzw. Bevölkerungsteile auffällig im Zusammenhang mit Abwertungen und Diskriminierungsintentionen gegenüber schwachen Gruppen.

Gemeinhin werden solche Abwertungen und Diskriminierungen vor allem den unteren Soziallagen, also Menschen in prekären Lebenssituationen und mit niedrigem Bildungsniveau und Einkommen zugeschrieben. Indem Menschen aus unteren Soziallagen andere abwerten, werten sie sich selber auf und praktizieren das, was wir die Ideologie der Ungleichwertigkeit nennen.

Aber welche Rolle spielen solche Gruppen, die die Attitude der Bürgerlichkeit vorgeben und z.B. von elitären Stichwortgebern wie Herrn Sarrazin mit seiner Renaturalisierung von Ungleichheit angefeuert werden? Diese Blickrichtung auf die Einflussreichen ist eher selten.

Damit bin ich bei einer spezifischen Kennzeichnung, also dem, was ich »rohe Bürgerlichkeit« nenne, die den inneren sozialen Frieden bedroht. Rohe Bürgerlichkeit ergibt sich aus dem Zusammenspiel von glatter Stilfassade, vornehm rabiater Rhetorik sowie autoritären, aggressiven Einstellungen und Haltungen. Sie findet ihren Ausdruck in einem Jargon der Verachtung gegenüber schwachen Gruppen und der rigorosen Verteidigung bzw. Einforderung eigener Etabliertenvorrechte im Duktus der Überlegenheit. Sie artikuliert sich über eine Ideologie der Ungleichwertigkeit.

Rohheit gibt es zweifellos vielfach auch in anderen Sozialgruppen – und zwar offen, vielfach brutal. Der Unterschied besteht darin, dass die rohe Bürgerlichkeit verdeckt daherkommt und viel öffentlichen Einfluss hat in Institutionen, Clubs und Medien, also auf das öffentliche Klima.

Der rohen Bürgerlichkeit entgeht vielfach das Gefühl für verschiedene Formen von Gerechtigkeit, Solidarität und Fairness, die nicht an Effizienz, Nützlichkeit und Verwertbarkeit gekoppelt ist. Rohe Bürgerlichkeit setzt auf Konkurrenz und Eigenverantwortung in jeder Hinsicht. Wer dem nicht gewachsen ist, dem ist nicht zu helfen und dem soll auch nicht geholfen werden. Das ist eine zentrale Maxime zahlreicher Personen, die sich subjektiv oben auf der Statusleiter einordnen oder objektiv über Einkommen zu den Besserverdienenden zählen. Lässt sich das empirisch belegen?

Dazu ist ein Blick auf »Deutsche Zustände«, also auf diese Gesellschaft zu werfen. Sie ist in dieser krisengetriebenen Zeit besonders stark durch soziale Spaltung und Desintegration gekennzeichnet. Dieser Entwicklung ist lange Zeit wenig Aufmerksamkeit zugekommen. Sie ist nun aber nicht mehr zu ignorieren.

Als ich 2001, also zu Beginn des neuen Jahrhunderts, den Artikel »Autoritärer Kapitalismus, Demokratieentleerung und Rechtspopulismus« veröffentlicht hatte, wurde keine der drei Problemzonen ernst genommen. Wie wir heute sehen, sind sie aktueller denn je – insbesondere im Zusammenwirken.

Es wurde verdrängt oder gezielt übersehen, dass ein massiver Kontrollverlust der nationalstaatlichen Politik verbunden war mit einem ebenso großen Kontrollgewinn des Kapitals, d.h. dass ein autoritärer Kapitalismus schon damals – bei genauem Hinsehen – seine Interessen weitgehend ungehindert durchsetzen konnte. Das Ergebnis: Im vergangenen Jahrzehnt hat sich die soziale Ungleichheit und damit Desintegration immer weiter verschärft. Das zeigt sich an unterschiedlichen Methoden und Datenquellen. Ganz gleich ob man den Gini-Index, die OECD-Berichte oder die Auswertung der SOEP-Haushaltsbefragungen durch das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung verwertet: Alle weisen in diese Richtung. Dabei bleibt weitgehend unthematisiert, was die britischen Wissenschaftler Richard Wilkinson und Kate Pickett anhand zahlreicher Ländervergleiche bereits dokumentierten. Sie haben herausgefunden, dass eine Gesellschaft mit zunehmender Ungleichheit zersetzt wird. Das wiederum bringt nach ihrer Analyse steigende soziale wie gesundheitliche Probleme und Gewalt mit sich.

In sozial gleicheren Gesellschaften, so Wilkinson/Pickett weiter, gibt es ein Vielfaches weniger an Gewalt. Zur Herstellung gleicherer Verhältnisse bedarf es aber Voraussetzungen wie die Realisierung von Kernnormen der Gerechtigkeit, Solidarität und Fairness, die soziale Integration und sozialen Zusammenhalt sichern. Dabei ist auffällig, dass der Begriff »sozialer Zusammenhalt« in jüngster Zeit Gefahr läuft, zu einer der meistgebrauchten Floskeln im politischen Diskurs zu werden, obwohl schon in den 1990er Jahren Studien zu den Fragen »Was treibt eine Gesellschaft auseinander?« oder »Was hält eine Gesellschaft zusammen?« vorlagen.

Ein Blick auf die Wahrnehmungen in der Bevölkerung zeigt nun, dass 2010 in unserer Studie 58% der Auffassung sind, dass die Realisierung von Gerechtigkeit nicht mehr gegeben ist, und 76% sagen, dass die Bedrohung des Lebensstandards die Solidarität mit sozial Schwachen verringert. 61% sind der Ansicht, dass in Deutschland zu viele schwache Gruppen mit versorgt werden müssen. Und 33% vertreten die Auffassung, dass wir es uns in Zeiten der Wirtschaftskrise, damals 2009, nicht leisten können, allen Menschen die gleichen Rechte zu garantieren. Wer nun nicht der Behauptung anhängt, dass die soziale Spaltung das Ergebnis von natürlichen Prozessen sei, die nach alternativlosen Gesetzen von kapitalistischer Nützlichkeit, Verwertbarkeit und Effizienz abläuft und deshalb auch kein Widerspruch gegen eine Politik der Umverteilung von unten nach oben und ihre gesellschaftliche Zerstörungskraft erhoben zu werden brauche, muss sich fragen: Wer sind die Spaltungsakteure?

Direkte wie indirekte Spaltungsakteure sind politische und wirtschaftliche Entscheider ebenso wie intellektuelle Diskursagenten von wissenschaftlichen, insbesondere wirtschaftswissenschaftlichen, medialen und politischen Eliten. Man findet die Sprache der Verachtung etwa 2005 selbst in regierungsamtlichen Dokumenten des Wirtschaftsministeriums, etwa in der Broschüre »Vorrang für die Anständigen – Gegen Missbrauch, »Abzocke« und Selbstbedienung im Sozialstaat«. Dort heißt es in offen biologistischem Duktus: „Biologen verwenden für »Organismen, die zeitweise oder dauerhaft zur Befriedigung ihrer Nahrungsbedingungen auf Kosten anderer Lebewesen – ihren Wirten – leben«, übereinstimmend die Bezeichnung Parasiten“. Ich möchte nicht wissen, durch wie viel Hände hoch gebildeter und hoch bezahlter Beamter dieser Passus unbeanstandet gegangen ist.

Elitäre Akteure eines Jargons der Verachtung suchen einen Resonanzboden in der Bürgerlichkeit. Sie finden ihn und werden ihrerseits von ihm beeinflusst. Diese zirkulären Prozesse verschärfen sich durch immer stärkere Abweichung vom Ideal anzustrebender Gleichheit und vor allem Gleichwertigkeit. Die objektive soziale Ungleichheit wird in abwertende Ungleichwertigkeit umgeformt. Die Missachtung für die »da unten« wächst. Eine rohe Bürgerlichkeit bildet sich heraus, und so geraten wir auf den Weg zu einer eskalierenden Spaltung.

Rohe Bürgerlichkeit wird befeuert durch einen semantischen Klassenkampf von oben. Man muss dazu nur das Beispiel des Philosophen Peter Sloterdijk nehmen, der seinen Kampf gegen den angeblich kleptomanischen Staat inszeniert und stattdessen einen generösen feudalistischen Rückfall zur Gnade der gebenden Hand proklamiert. Damit wird den sozial Schwachen ihre Würde genommen. Trotzdem fanden Sloterdijks Thesen und Forderungen in zahlreichen prominenten Medien unterstützenden Widerhall. Doch selbst wenn solche Positionen nicht direkt umgesetzt werden, hinterlassen sie Verarbeitungsspuren beim informierten Publikum. Ergebnisse aus unterschiedlichen Datenquellen lassen diese »Spuren« aufscheinen. Bürgerlichkeit in Form von sozialer Verantwortung derer »da oben« muss ernsthaft in Frage gestellt werden.

Auf der Basis unterschiedlicher Untersuchungsmethoden soll dies betrachtet werden. Haushaltsbefragungen in den USA zeigten, dass Haushalte mit einem Jahreseinkommen von weniger als 25.000 Dollar ca. 4,2% ihrer Einnahmen spenden, also soziale Verantwortung zeigten. Haushalte mit mehr als 100.000 gaben nur 2,7% weiter. Gemäß Daten von Steuererklärungen von unter 35-jährigen mit einem Jahreseinkommen unter 200.000 Dollar waren es 1,9% Spenden. Wer mehr verdiente, gab nur noch ein halbes Prozent.

Der amerikanische Psychologe Dacher Keltner kommt zu dem Schluss: „Dass die Reichen etwas zurückgeben, ist psychologisch unwahrscheinlich. […] Was Reichtum und Bildung und Prestige und eine gute Position im Leben einem geben, ist die Freiheit, sich auf sich selbst zu konzentrieren.“ […]

Kehrt man nun zur deutschen Situation zurück mit einer weiteren Methode, also unserer Bevölkerungsbefragung zu Einstellungen, dann gibt es empirische Belege in unserer erwähnten Studie, die in eine vergleichbare Richtung weisen. Zunächst nehmen ausgerechnet diejenigen, die sich selbst zum oberen Teil der Gesellschaft zugehörig fühlen, die soziale Spaltung in der Gesellschaft signifikant weniger wahr, was als Subtext heißt: Es besteht kein Veränderungsbedarf der wachsenden Ungleichheit. Dabei lässt sich diese objektiv belegen, etwa über das Netto-Geldvermögen. Trotzdem beklagen die Besserverdienenden mittlerweile zunehmend, dass sie nicht in einem gerechten Maße vom allgemeinen Wachstum profitieren würden. Sie bekämen also nicht, was ihnen aus ihrer Sicht zustände.

Die geringere Wahrnehmung der sozialen Spaltung durch die oberen Einkommensgruppen hat viele Folgen. Empirisch zeigt sich beispielsweise, dass die Hilfe für Schwache und die Solidarität mit schwachen Gruppen eher aufgekündigt wird. Weniger Unterstützung wird vor allem in der höheren Einkommensgruppe gegenüber Langzeitarbeitslosen und Hartz-IV-Empfängern gefordert. Im Sinne des Kapitals werden durch ökonomistisches Denken in der Bevölkerung diese Menschen als nutzlos und nicht effizient etikettiert. Sie sollten entgegen dem Grundgedanken einer Solidargemeinschaft endlich Selbstverantwortung übernehmen, im Sinne eines allgegenwärtigen gesellschaftlichen Leitbildes, dem »unternehmerischen Selbst« – ein Kernstück neoliberaler politischer Ideologie zur Legitimation der Aufkündigung von Solidarität gegenüber den sozial Schwachen. Bei einigen Elite-Protagonisten kommen inzwischen Zweifel auf, ob das politische System vornehmlich für die Reichen funktioniert. Aber das Denken scheint in verschiedenen Bevölkerungsteilen angekommen und nicht mehr »rückholbar«.

Und so gibt es eindeutige Zusammenhänge zwischen der Forderung an die sozial Schwachen, ihre kritische Lebenssituation selbst zu bewältigen, und der Abwertung von Langzeitarbeitslosen, niedrig qualifizierten Zuwanderern, Obdachlosen und Behinderten. In Gruppen mit höheren Einkommen wird immer stärker abgewertet. Dabei muss ausdrücklich betont werden, dass selbstverständlich auch diese Gruppen nicht homogen sind. Es geht also nicht um die Gruppe, sondern um Analysen, was in diesen Gruppen an Einstellungen und Haltungen zu finden ist. Insgesamt ist eine ökonomistische Durchdringung sozialer Verhältnisse empirisch belegbar. Sie geht Hand in Hand mit einem Anstieg von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit in höheren Einkommensklassen – zumindest in Krisenzeiten. Wie immer der Blickwinkel in den herangezogenen amerikanischen Studien und unserer Untersuchung methodisch variiert wird: Sowohl in der »Higher Social Class« im Sprachgebrauch der amerikanischen Kollegen als auch bei hiesigen Besserverdienenden mit ihrer subjektiven Einordnung oben auf der Statusleiter wird rohe Bürgerlichkeit in den Einstellungen sichtbar.

Damit wird deutlich, dass der autoritäre Kapitalismus, dessen Zähmung in den ersten Jahrzehnten der alten Bundesrepublik noch gelungen schien, außer Kontrolle geraten ist. Mit seiner spezifischen Gewalt des Desinteresses an sozialer Integration aus den Sphären von Wirtschaft und Politik ist er tief in die sich aufspaltende Gesellschaft eingedrungen. Die rohe Bürgerlichkeit wird zum Mittel der gesellschaftlichen Spaltung, die initiierenden machtvollen Eliten bleiben zumeist unangreifbar oder agieren verdeckt.

Und ein weiterer gravierender Punkt darf nach unseren empirischen Ergebnissen im Zusammenhang mit dem, was wir »Demokratieentleerung« nennen, nicht übersehen werden. Das Gefühl der Desintegration und politischen Machtlosigkeit ist insbesondere in der unteren Statusgruppe sehr viel verbreiteter als in der oberen Statusgruppe. Sie gehen der demokratischen politischen Partizipation immer mehr verloren, sie verabschieden sich – gewissermaßen sprach- und wortlos – aus der demokratischen Willensbildung. Aber wer sich in der oberen Statusgruppe machtlos fühlt, legt erkennbare autoritäre Aggression an den Tag und neigt dann auch eher zu rechtspopulistischen Einstellungen.

Eine Perspektive für eine sozial gerechte Zukunft dieser Gesellschaft sieht anders aus, denn – zurück zum Ausgangspunkt – in der rohen Bürgerlichkeit zeigen sich unzivilisierte, intolerante und entdifferenzierende Züge. […]

Unzweifelhaft hat Wissenschaft viele Facetten. Erkenntnisgewinn gehört zu ihren vornehmsten Aufgaben. Niemand bezweifelt das. Dennoch muss man fragen: Erkenntnisgewinn für wen? Lediglich für die relativ geschlossenen Zirkel der eigenen Disziplin? Hat die Wissenschaft insgesamt, haben die Sozialwissenschaften nicht gerade in diesen Zeiten eine eminent wichtige soziale Verantwortung, damit Erkenntniswissen zu Handlungswissen wird? Und wenn ja: In welcher Form? Die Antworten auf diese Fragen gehen weit auseinander. In den 1970er Jahren wurde vielfach eine gesellschaftskritische Wissenschaft mit politischem Anspruch gefordert, eine Haltung, die später – auch unter dem Einfluss der Systemtheorie – zurückgewiesen und zugunsten der Konzentration auf den fachwissenschaftlichen Kreislauf in den Hintergrund geriet. Diese Verschiebung betraf auch die sozialwissenschaftliche Verwendungsforschung der 1980er Jahre, die ebenfalls in Bedrängnis und schließlich in Vergessenheit geriet.

In der letzten Zeit häufen sich nun die Indizien dafür, dass sich der Wind drehen könnte. So wies beispielsweise Altbundeskanzler Helmut Schmidt aus Anlass des 100-jährigen Jubiläums der Max-Planck-Gesellschaft am 11. Januar 2011 darauf hin, dass die Wissenschaft auch eine gesellschaftliche Bringschuld habe. Matthias Kleiner, der Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft, hielt am 7. Juli 2010 ebenfalls eine Rede zur gesellschaftlichen Verantwortung, und die DFG kündigte 2010 ein neues Programm zur Förderung des Erkenntnistransfers an. Die Volkswagen-Stiftung schließlich hat bereits vor einigen Jahren das Programm »Wissenschaft – Öffentlichkeit – Gesellschaft« aufgelegt, das untersuchen soll, auf welchen Wegen und in welchem Umfang wissenschaftliche Erkenntnisse in die allgemeine Öffentlichkeit gelangen.

Es geht also mehr denn je darum, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sich nicht der innerwissenschaftlichen Perpetuierungen bedienen, sondern sich den unkalkulierbaren, rabiaten und z.T. aggressiven öffentlichen Debatten aussetzen bzw. sie anzustoßen versuchen mit der Leitformel »In welcher Gesellschaft wollen wir leben?«. Die dargestellten Ausschnitte aus der Langzeituntersuchung machen es notwendiger denn je. Ich hoffe auf Veränderungen und sehe auch Anzeichen dafür. […]

Wilhelm Heitmeyer ist Professor an der Universität Bielefeld und Direktor des dort angesiedelten Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung.

Friedenslogik statt Sicherheitslogik

Friedenslogik statt Sicherheitslogik

Gegenentwürfe aus der Zivilgesellschaft

von Hanne-Margret Birckenbach

Drei Vorträge friedenswissenschaftlich ausgewiesener WissenschaftlerInnen bildeten den Auftakt zur Tagung »Friedenslogik statt Sicherheitslogik« Anfang März in der Ev. Akademie Loccum (siehe Tagungsbericht im Forum dieser Ausgabe). W&F dokumentiert den Beitrag von Hanne-Margret Birckenbach, die das Gedankenspiel wagt, die Handlungskonsequenzen einer friedenslogischen Ausrichtung konkret an einem Beispiel durchzudeklinieren. Am Fall Syrien erläutert die Referentin sechs Prinzipien, an denen sich Handeln im Sinne der zivilen Bearbeitung von Konflikten orientieren kann. Sie verweist dabei auch auf Voraussetzungen und Bedingungen, die dafür nicht nur staatlicherseits, sondern auch von zivilgesellschaftlichen Akteuren zu entwickeln sind.

Muss man und kann man Friedenslogik von Sicherheitslogik abgrenzen? Ungeachtet der Einwände, die Lothar Brock aus weltgesellschaftlicher Perspektive vorgetragen hat,1 möchte ich eine Abgrenzung aus sachlichen und methodischen Gründen versuchen. Ich verstehe Friedenslogik als eine Methode wissenschaftlichen und politischen Denkens und möchte erstens zeigen, dass sich ein friedenslogisches Vorgehen von einem sicherheitslogischen Vorgehen tatsächlich unterscheidet und dass man zu unterschiedlichen praktisch-politischen Schlussfolgerungen gelangt, wenn man Friedenslogik konkret anwendet. Der zweite Grund ist hermeneutisch. Wir leben in einer politischen Kultur, in der Menschen beiderlei Geschlechts in Politik, Wissenschaft und Bürgerschaft über Jahrhunderte geübt haben, sicherheitslogisch zu denken.2 Friedenslogisches Denken und Handeln sind wir dagegen kaum geübt. Folglich fällt es uns sehr schwer, aus den Verengungen sicherheitslogischer Denkweise auszubrechen und methodisch anders vorzugehen. Sicherheitslogisch orientierte Politik wird alle Versuche, Friedenspolitik zu betreiben, immer dominieren, sofern wir im friedenslogischen Denken nicht besser werden. Um formulieren zu lernen, worum es friedenspolitisch jeweils geht, müssen wir die Trennung zunächst aufrechterhalten und können erst danach überlegen, in welchem Verhältnis beide Methoden zu einander stehen – ausschließend wie Hund und Katz, dominierend wie Katz und Maus, einander ergänzend wie Tisch und Stuhl oder ablösend wie ein Jahrhundert das andere.

Was bedeutet Friedenslogik im Kontext von ziviler Konfliktbearbeitung? Was führt zur Konflikttransformation? Ungeachtet der Überlegung, dass Friedenslogik auch in anderen Politikbereichen wie Abrüstung oder Wirtschaftspolitik fruchtbar sein kann, geht es hier ausschließlich um die Logik ziviler Konfliktbearbeitung. Ich werde daher zunächst darauf eingehen, was ich unter friedenlogischer in Abgrenzung zu sicherheitslogischer Politik in diesem Feld verstehe. In einem zweiten Schritt zeige ich exemplarisch anhand der Entwicklungen in Syrien, was diese Differenz in einem konkreten Fall bedeutet. Alle, die etwas von Syrien verstehen, mögen mir die Grobheit verzeihen, den Fall nur mit den Kenntnissen einer informierten Zeitungsleserin zu behandeln. Es geht in meinem Vortrag nicht um Syrien, sondern um eine Methode, die es erlaubt, eine genauere Vorstellung von friedenslogischer Politik zu gewinnen.

Was die Akteure betrifft, gilt für zivile Konfliktbearbeitung, dass die Beteiligten zahlreich und so unterschiedlich sind wie ihre Adressaten und Aktionsformen. Obwohl es wichtig ist, zu bestimmen, wer was mit wem wann unter welchen Bedingungen tun sollte, werde ich diese Fragen hier vernachlässigen. Manche Akteure friedenslogischer Politik stehen schon in den Startlöchern, andere müssen noch gewonnen werden. In jedem Fall ist zivile Konfliktbearbeitung auf ein Akteursgeflecht angewiesen.

Friedenslogik im Kontext ziviler Konfliktbearbeitung

Sicherheitslogische und friedenslogische Politik haben etwas gemeinsam: Sie folgen nicht einer Kriegslogik, sie wollen Krieg und andere Formen physischer Gewalt vermeiden. Sie unterscheiden sich aber durch die Wahrnehmung dessen, was in der Welt geschieht, und die daraus gezogenen praktischen Schlussfolgerungen.

Eine sicherheitslogische Politik nimmt ein Geschehen als Bedrohung wahr, will diese abwehren und davor schützen – zunächst die Eigenen, vielleicht auch darüber hinaus (ein Bündnis, andere Staaten, Gesellschaften, Menschen in Not ). Sie will keine Militäreinsätze, schließt aber die Beteiligung daran – in Anhängigkeit von einer anders nicht mehr kontrollierbaren Entwicklung – aus Verzweiflung oder aus anderen hochrangigen Zielen (wie Bündnistreue) nicht aus. Sie bereitet sich daher darauf vor. Ob ihr Handeln militärlogisch entgleitet, hängt immer an einem seidenen Faden. Wenn dies geschieht, dann wird die kriegerische Intervention als notwendig gerechtfertigt.

Eine friedenslogische Politik nimmt das gleiche Geschehen als Konflikt wahr. Sie fragt nach Genese, Ursachen, Potentialen zur Eskalation und Deeskalation, ermittelt die Bedürfnisse, Interessen und Mittel der unmittelbar oder mittelbar Beteiligten, erkennt die eigenen Interessen, Rollen und Grenzen. Ihr Ziel ist es, die Beziehungen zwischen den direkt und indirekt Beteiligten so zu verändern, dass ein gewaltfreier Konfliktaustrag zwischen ihnen möglich wird und sie eine einigermaßen befriedigende Zwischenlösung oder Lösung finden. Im günstigen Fall bewirkt der dialogische Prozess einen Lerneffekt für alle Beteiligten und strahlt als gute Praxis auf andere aus. Eine friedenslogische Politik kann nicht ausschließen, dass es zu Gewalthandlungen und Militäreinsätzen kommt, aber wenn es dazu kommt, begreift sie dies als ihr Versagen und widersteht der Versuchung, dieses Scheitern als notwendig zu rechtfertigen. Die Beteiligten schämen sich und fragen, was sie besser machen müssen.

Sicherheitslogische Politik gilt also dem Schutz vor einer Bedrohung, meist dem Schutz vor direkter Gewalt, gelegentlich auch dem Schutz eigener Interessen und dem Schutz von Menschen, die nicht der eigenen Gruppe angehören. Diese Ziele sind legitim, teils auch geboten. Sie haben aber mit dem Ziel einer Konflikttransformation wenig zu tun. Sicherheitslogische Politik ist eine Form des Konfliktaustrags, aber nicht der zivilen Konfliktbearbeitung. Konflikttransformation findet nur statt, wenn es gelingt, die Beziehungen zwischen den Beteiligten so zu verändern, dass sie gewaltfrei zufriedenstellende Regelungen treffen können.

Diese Gegenüberstellung von sicherheitslogischer und friedenslogischer Politik klingt abstrakt. Ich will daher am Fallbeispiel Syrien versuchen, nachvollziehbar zu machen, was Friedenslogik als Methode in der Praxis bedeuten könnte. Bevor ich beschreibe, wie Friedenslogik sich auswirken kann, zeige ich, wie im konkreten Fall Sicherheitslogik eine zivile Konfliktbearbeitung behindert hat.

Wie hat sich der syrische Fall entwickelt?

Die innenpolitischen Verhältnisse in Syrien wurden nicht als Konflikt, sondern als Bedrohung wahrgenommen. Als PRO ASYL 2009 das Bundesinnenministerium aufforderte, einen sofortigen Abschiebungsstopp nach Syrien zu verhängen und das erst kurz zuvor geschlossene deutsch-syrische Rückübernahmeabkommen zu kündigen, stritt man über die Berechtigung der Forderungen. Asylfälle wurden vor Gericht ausgetragen, wir beobachteten einen Konflikt zwischen Asylsuchenden, den deutschen Behörden und Gerichten, aber niemand sprach von einem Konflikt in Syrien. Als der Verfassungsschutz 2010 Bürger syrischer Abstammung vor den Aktivitäten syrischer Geheimdienste in Deutschland warnte, war keine Rede von einem Konflikt in Syrien. Im April 2011 begann das Auswärtige Amt, die eigenen Bürger in Syrien zu schützen. Es empfahl den deutschen Staatsbürgern dringend, das Land zu verlassen und zwar „wegen anhaltender Unruhen und der brutalen Vorgehensweise gegen die eigene Bevölkerung“. Deutschen Bürgern, die sich dennoch in Syrien aufhalten mussten, wurde empfohlen, „Menschenansammlungen und Demonstrationen zu meiden, diese keinesfalls zu fotografieren, sowie besondere Vorsicht walten zu lassen“ – anders ausgedrückt, sich von der Bedrohung durch ein repressives Regime fernzuhalten.

Als die Regierung Assad immer brutaler zuschlug und es mutigen JournalistInnen gelang, die Gewalt in Syrien – nicht den innersyrischen Konflikt – weltweit öffentlich zu machen, gerieten die westlichen Akteure unter moralischen Druck, etwas gegen die Gewalt – nicht etwas zur Konflikttransformation – zu tun. Damit gerieten sie in das Dilemma, etwas gegen die Gewalt tun zu wollen und zu sollen, ohne eigene Interessen zu verletzen und ohne eine Vorstellung darüber zu haben, was denn sinnvoll zu tun sei. Diesem inneren Konflikt gilt von nun an die politische Aufmerksamkeit.

Die Medien berichten nun täglich über die vom Regime Assad ausgeübte direkte Gewalt in Syrien, man sieht sie auch täglich im Fernsehen und kann sich der syrischen Frage nicht mehr entziehen. Aber der Konflikt in Syrien, der der Gewalt zugrunde liegt, seine Genese und die Zusammenhänge der Gewalt sind noch immer kein Thema.

In Übereinstimmung mit der Öffentlichkeit ergriff die Politik nun Maßnahmen, die sich gegen Assad und die von ihm ausgehende Gewalt, also gegen die Bedrohlichkeit des Regimes richten. Man verurteilte Assad, man übernahm die Forderungen der Opposition, er müsse zurücktreten, man verhängte und verschärfte Sanktionen – ohne eine Vorstellung davon zu entwickeln, wie es denn weitergehen kann, wenn Assad sich dem Druck beugen oder wenn er sich dem nicht beugen wird.

Das Regime beugte sich nicht. Da die gegen Assad ergriffenen Maßnahmen nichts oder nur zu wenig bewegten und er dann auch noch gegen eigene Zugeständnisse verstieß, sah man sich genötigt, die Dosis an Verurteilung mit einer Resolution des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen zu erhöhen. Diese scheiterte am Veto Russlands und Chinas. Damit war der Westen zunächst im eigenen inneren Konflikt moralisch entlastet. Denn man hatte Schuldige: China, Russland und auch die Vereinten Nationen, deren Unfähigkeit man erneut unter Beweis gestellt hatte. Das Muster wiederholte sich im Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen, in dem der Westen auf die Zustimmung Russlands und Chinas nicht angewiesen ist. Der Menschenrechtsrat verurteilte also die „anhaltende, umfassende und systematische Verletzungen der Menschen- und Freiheitsrechte durch die syrischen Behörden“ und forderte die syrische Regierung auf, Hilfskräften einen ungehinderten Zugang zu gewähren. Die von Russland geforderte Verurteilung der Gewalt auf Seiten der Rebellen unterblieb erneut. So stimmten Russland, China und Kuba gegen die Entschließung, und man konnte mit dem Finger auf ihre Unwilligkeit zum Menschenrechtsschutz zeigen.

Anders als denjenigen Oppositionsgruppen, die weiterhin gewaltfrei agieren, ist es der oppositionellen »Freien Syrischen Armee« nach und nach gelungen, durch ihren militärischen Kampf sympathisierende Aufmerksamkeit und auch materielle Unterstützung zu erringen, darunter auch Waffen aus Saudi-Arabien, Katar und über befreundete Gruppen aus der Türkei.

Das Modell Libyen liegt als Drohung über der politischen Debatte. Die westlichen Staaten wollen keine Wiederholung, aber wie lange sie ihre Zurückhaltung durchhalten, wissen wir nicht. Einstweilen wurde es dem Sonderbeauftragten der Vereinten Nationen und der Arabischen Liga, Kofi Annan, überlassen, einen Ausweg aus dem Bürgerkrieg zu finden. Er hatte dafür von Anfang an die politische Unterstützung Russlands und Chinas, die einen Waffenstillstand sowie Gespräche zwischen Regierung und Opposition unter Vermittlung der Vereinten Nationen und der Arabischen Liga vorgeschlagen haben, aber einen von außen erzwungenen Regierungswechsel und Sanktionen weiterhin ablehnen. Einstweilen kämpfen die Parteien weiter. Human Rights Watch berichtet nun nicht nur über die Gewalt Assads, sondern auch über Folter, Mord und die Rekrutierung von Kindersoldaten im Namen der Befreiung. Auch einzelne Nahost-Experten kommen zu Wort, die darauf hinweisen, dass die syrische Opposition keinesfalls die Mehrheit der Gesellschaft repräsentiert, dass viele Syrier eine Zukunft nach dem Sturz des Assad-Regimes fürchten. Aber politisch werden diese Informationen nicht aufgegriffen. Von Zielen und Wegen einer Konflikttransformation ist noch immer nicht die Rede. Während der Sonderbeauftragte der Vereinten Nationen versucht, zu deeskalieren, äußern sich westlichen Kommentatoren skeptisch und bekräftigen Vermutungen aus der syrischen Opposition, Annan werde von Assad getäuscht.

In Deutschland steigt der moralische Druck, sich auf den militärischen Interventionspfad zu begeben, auch deshalb, weil die Öffentlichkeit keine Informationen über konkrete Bemühungen der eigenen Regierung hat, auf eine Konflikttransformation hinzuwirken und eine Militärintervention abzuwenden. Die deutsche Öffentlichkeit macht sich daher einen eigenen Reim: Konflikttransformation sei mit dem Assad-Regime nicht möglich. Und da Militärinterventionen nicht mehr unvorstellbar sind, beginnt man sich in Deutschland darauf einzustellen, dass die Regierung – anders als im Fall Libyen – den Vorgaben der NATO-Verbündeten folgt. Pazifisten sind wieder einmal in die Verlegenheit gebracht worden, keine Alternativen anbieten zu können. Ihnen wird vorgeworfen, die Gewalt des Assad-Regimes geschehn zu lassen.

Wäre eine andere Entwicklung denkbar?

Wie hätte die Entwicklung unter Bedingungen von Friedenslogik verlaufen können? Was hätten unterschiedliche Akteure im Sinne der zivilen Konfliktbearbeitung und Konflikttransformation tun können? Worauf wäre bei einer friedenslogischen Politik zu achten?

Friedenslogische Politik ist vorausschauend

Wenn Flüchtlinge Schutz beantragen, der syrische Geheimdienst Menschen in Deutschland jagt, würde – zumindest in der Zivilgesellschaft – die Frage nach den Ursachen gestellt. PRO ASYL als Spezialist für den Schutz von Flüchtlingen, Amnesty International als Spezialist für Menschenrechte würden den Verfolgten helfen und zugleich als Mitglieder eines Netzwerkes ziviler Konfliktbearbeitung sich unter anderem mit dem Bund für Soziale Verteidigung und dem Netzwerk Friedenskooperative über die Lage in Syrien beraten. Und sie würden – vermittelt über die Arbeitsgemeinschaft Entwicklung und Frieden – im Auswärtigen Amt offene Ohren finden. Aufgerüttelt würde man über Möglichkeiten beraten, im Sinne der Zivilen Konfliktbearbeitung tätig zu werden. Denn alle hätten verstanden: Menschen sind in Not geraten aufgrund eines Konfliktes.

Spätestens durch die Entwicklungen in Tunesien, Marokko und vor allem Ägypten hellhörig geworden, würde eine friedenslogische Politik vorausschauend fragen, ob sich vergleichbare, ebenfalls unerwartete Entwicklungen auch in Syrien andeuten und was in diesem Fall anders ist. Es wäre zum Beispiel bemerkt worden, dass Syrien seine außenpolitische Unterstützung nicht aus dem Westen zieht, sondern einen Verbündeten in Russland hat. Auch hätte eine friedenslogische Politik das Unbehagen in der syrischen Gesellschaft schon wahrgenommen, als seine öffentliche Artikulation noch fast unmöglich war, und sie hätte den ersten Anzeichen einer Protestbewegung in den syrischen Kommunen sehr hohe Aufmerksamkeit geschenkt. Man hätte sich also nicht mit dem Wissen zufrieden gegeben, dass in Syrien ein repressives System herrscht, sondern einen Konflikt oder mehrere sich überlagernde Konflikte vermutet und wäre dieser Vermutung nachgegangen. Botschaften und landeskundliche Experten, aber auch die zivilgesellschaftlichen Kräfte vor Ort, vom Deutschen Akademischen Auslandsdienst bis zur Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit und der Handelskammer, hätten ein Gespür für die Lage entwickelt. Denn unter den Bedingungen einer friedenslogischen Politik wäre »Konfliktsensibilität« längst eine Schlüsselqualifikation für politische und gesellschaftliche Akteure geworden, die in einem Land tätig werden, das als repressiv eingestuft wird.

Friedenslogische Politik handelt auf der Basis einer Konfliktanalyse

Eine friedenslogische Politik hätte den Konflikt vor dem ersten Schuss auf Demonstranten erkannt, für anhaltende, arbeitsteilige Aufmerksamkeit gesorgt, selbstreflexiv das Potential zur Einflussnahme geprüft und es durch Intensivierung sowie Qualifizierung der Beziehungen erhöht.

Sie hätte sowohl die Protestbewegung wie die regierende Seite konsultiert und herausgefunden, worum es ihnen jeweils geht, was legitime und illegitime Interessen sind und auf welche Mittel die Parteien setzen. Sie hätte auch andere, nicht unmittelbar involvierte Kräfte konsultiert und Zwischentöne vernommen.

Sie hätte glaubwürdig die Bereitschaft erklärt, sich an der Bearbeitung des Konfliktes zu beteiligen und zwar im Rahmen geltenden Rechts, orientiert an internationalen politischen und sozialen Normen, unter Wahrung der syrischen Eigenverantwortung und prinzipieller Transparenz (d.h. ohne Geheimdienste), bei Achtung von Grundbedürfnissen und legitimen Interessen aller Parteien, erfahrungs- und beratungsoffen und mit reversiblen dialogisch erarbeiteten Schritten.

Nicht alles hätte ganz anders sein müssen, als es gewesen ist. Oft handeln Diplomaten auch heute friedenslogisch, ohne dass es bemerkt wird. Möglicherweise haben Diplomaten auch im syrischen Fall im Rahmen von stiller Diplomatie vernünftig gehandelt, ohne dass es die Öffentlichkeit weiß. Wesentlich ist: Im Rahmen friedenslogischer Politik hätte man sich um eine Steigerung von Einfluss durch Anteilnahme bemüht und hätte alles Handeln darauf hin geprüft, was es für die weitere Entwicklung des Konfliktes, des Konfliktverhaltens, die Dialogfähigkeit der Parteien sowie ihre Hoffnungen und Befürchtungen bedeuten könnte.

Friedenslogische Politik bietet vielfältige gute Dienste an

Sie hätte die Gewaltfreiheit der Protestbewegung belohnt und auch Belohnung für eine überprüfbare Reduzierung der Gewalt auf Regierungsseite in Aussicht gestellt.

Sie hätte sich um verlässliche Beziehungen zu allen Seiten bemüht und um ihr Vertrauen geworben.

Sie hätte angeboten, die Konfrontation zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten zu begleiten, sei es durch Ausbildung einer sanften Polizei, sei es durch Kräfte des Menschenschutzes, wie sie Peace Brigades International für Lateinamerika ausbildet und einsetzt.

Sie hätte angeboten, Brücken oder Kanäle zu bauen, auf denen beide Seiten ihre Sicht der Dinge hätten austauschen können. Sie hätte sich selbst dafür anbieten können und sehr viele Menschen gebeten, sich als Mediatoren mit ihren jeweiligen Methoden auf den Weg zu machen.

Sie hätte Vorstellungen entwickelt, wie die Beteiligten ihre Ziele modifizieren können, welche Kompromisse denkbar wären, und sie hätte diese Vorstellungen als Ideen »eingeworfen«. Zumindest im Internet wären substantielle Überlegungen über eine Konfliktlösung nachlesbar.

Sie hätte angeboten, über die von Assad gemachten Konzessionen, ihre Überprüfbarkeit und Durchsetzung zu beraten. Sie hätte gewarnt, die Mission der Arabischen Liga zurückzuziehen, und Angebote gemacht, wie diese verändert, erweitert, gestärkt werden kann, sei es durch Bürger-Diplomaten oder Mullah-Beobachter. Auf keinen Fall hätte sie das Mittel der Beobachtung zurückgezogen – sie hätte es verstärkt.

Sie hätte Stipendien an Syrier aus Syrien vergeben, aber auch an Menschen, die aus Syrien fliehen und sich der Repression entziehen konnten. Und da im Rahmen einer friedenslogischen Politik Grundkurse in Konfliktanalyse und ziviler Konfliktbearbeitung an jeder Universität zum Studium Generale gehören würden, hätten auch die syrischen Studierenden des Fachs Maschinenbau in Deutschland etwas von Ziviler Konfliktbearbeitung verstehen können. Friedenslogische Politik hätte auch Wege und Formen gefunden, Menschen mit Repressions- und Fluchterfahrung in Deutschland und in Europa in interaktiven Problemlösungsworkshops zusammen zu bringen.

Friedenslogische Politik ist lagerüberschreitend

Sie hätte nicht nur die eigenen Verbündeten, sondern auch die Verbündeten aller Konfliktparteien konsultiert. Auf keinen Fall hätte sie es zu einem Machtspiel im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen kommen lassen oder etwas unternommen, was die Vereinten Nationen diskreditiert und als friedenspolitischen Akteur schwächt.

Sie hätte im Sicherheitsrat und später im Menschenrechtsrat eine Resolution entworfen, die Russland hätte annehmen können, in der die Gewalt auf allen Seiten kritisiert worden wäre und in der russische geostrategische Interessen beachtet worden wären. Nun sind russische Waffenlieferungen an repressive Regime und die Unterhaltung russischer Militärstützpunkte außerhalb Russlands nicht legitim und sollten daher auch vom Sicherheitsrat nicht unterstützt werden. Man hätte folglich prüfen müssen, was es Russland erleichtert hätte, eine indirekte oder direkte Unterstützung des Assad-Regimes aufzugeben. Vielleicht hätte es genügt, Russland die Furcht zu nehmen, dass die NATO wie im Fall Libyen eine Resolution der Vereinten Nationen zum Schutz der Zivilbevölkerung in ein militärisches Mandat zum Sturz des Regimes verwandelt. Vielleicht hätte die NATO Russland in Aussicht gestellt, über die Stationierung des geplanten Raketenabwehrschirms in Europa neu zu verhandeln. Oder man hätte eine Vereinbarung darüber getroffen, wer wo bis wann und wie welche Militärstützpunkte zu räumen und Waffenlieferungen zu unterlassen hat. Auch gegenüber dem Iran hätte man einen anderen Ton angeschlagen. Die westlichen Verbündeten, auch Deutschland, hätten den USA als ihrer Führungsmacht Zugeständnisse abringen müssen. Friedenslogische Politik hat also weitreichende und über den konkreten Konfliktfall hinausgehende Folgen.

Friedenslogik ist konkret human, anhaltend und ausdauernd

Kann man im Fall Syrien auf der inzwischen erreichten Eskalationsstufe noch etwas im Sinne der zivilen Konfliktbearbeitung tun oder sind wir der Dynamik nur noch ausgeliefert? Friedenslogisches Handeln ist schwieriger geworden, weil die Polarisierung zwischen den Kontrahenten, aber auch zwischen den Verbündeten der einen und der anderen Seite, verstärkt wurde, weil die Gewalt ihre Spuren auf Dauer eingebrannt hat und auch, weil die Öffentlichkeit von der Politik nicht mehr viel im Sinne der Friedenslogik erwartet. Aber friedenslogische Politik gibt nicht auf, sie sucht in jeder Konfliktphase auch deshalb nach Möglichkeiten zur Deeskalation, weil sie davon am ehesten die Rettung von Menschenleben erwartet.

Die Beachtung russischer Interessen in Syrien wie auch die Korrektur der Haltung des Westens gegenüber dem Iran, vor allem eine Beendigung der Sanktionen und Drohungen, würde auch im syrischen Fall die Handlungschancen erweitern. In diesem geostrategischen Feld kann Friedenslogik immer Weichen neu stellen und rasch wirken. Dazu muss der Westen vor allem die politischen Konflikte im eigenen Lager über eine friedensverträgliche Nahostpolitik lösen.

Die Aufgabe, Verbindungen zwischen den beteiligten Gruppen, den Kämpfern, den lokalen gewaltfreien Komitees und der Regierung herzustellen, bleibt. Mehrere Verfahren sind in der Vergangenheit für dieses Ziel erprobt worden. Man braucht dafür qualifizierte Mittelsmänner. Ein Kofi Annan reicht nicht. Vielleicht gelingt es ihm, einen Vorschlag zu machen, den alle Seiten unterstützen und an den Diplomaten und Fachkräfte anknüpfen können. Sie alle brauchen Ideen, wie eine Konfliktlösung aussehen kann. Man kann auch den über das Internet gut vernetzten protestierenden Komitees in den syrischen Gemeinden Onlinekurse in Mediation in arabischer Sprache zur Verfügung stellen, die in Deutschland lebenden Exilsyrier in solche Tätigkeiten einbeziehen und sich von ihnen beraten lassen. Vielleicht gelingt es auch den ExpertInnen des gewaltfreien Aufstandes, das Mittel der Gewaltfreiheit aus den Umarmungen der Anhänger des »regime change« zu befreien und stärker an Prinzipien, Methoden und Inhalten ziviler Konfliktbearbeitung zu orientieren.

Friedenslogische Politik schafft immer auch zukunftsträchtige Verbindungen durch humanitäre Hilfe, indem sie Flüchtlingen beisteht, Patenschaften übernimmt, Kinderpatenschaften fördert, »Ferien vom Krieg« organisiert, Menschen rettet und ihre Zukunft erleichtert. Die Unterstützung von Menschen in Not muss zu jedem Zeitpunkt hohe Priorität haben.

Friedenslogische Politik ist nachvollziehbar

Friedenslogische Politik bemüht sich darum, die Entfremdung der BürgerInnen von dem, was in der Außenpolitik in ihrem Namen geschieht, zu verringern. Dies impliziert auch Transparenz und kontinuierliche und inhaltsreiche Informationen für Journalisten, Bürger und alle an Ziviler Konfliktbearbeitung interessierten Kräfte. Schon eine Stellungnahme des Auswärtigen Amtes zur Nicht-Beteiligung an einer immer möglichen Militärintervention zusammen mit Information darüber, was das Auswärtige Amt täglich unternimmt, um die Arbeit des UN-Sonderbeauftragten zu stützen und den Konfliktverlauf deeskalierend zu beeinflussen, würde die Bereitschaft, eine friedenslogische Politik trotz aller Skepsis zu unterstützen, deutlich fördern.

Friedenslogische Politik ist zukunfts- und prozessorientiert

Friedenslogische Politik hat nicht nur den akuten, sondern auch den nächsten Fall im Blick. Auch wenn sie im konkreten Fall unterliegt, fragt sie: Wie ist in Zukunft eine erfolgreichere friedenslogische Politik möglich? Niemand kann erwarten, dass nach den nächsten Wahlen friedenslogisches Denken sicherheitspolitisches Denken ablöst. Aber wir könnten doch aus den friedenspolitischen Netzwerken heraus Vorschläge machen, wie die politische Kultur sich für die Wahrnehmung von konfliktreichen Beziehungen öffnen und wie friedenslogisches Denken sich in der Konzeptionierung von Politik überprüfbar niederschlagen und ausdehnen könnte.

Die Vielzahl der Krisengebiete ist bekannt.3 Die Bundesrepublik unterhält zu vielen Konflikt- und Krisenländern mehr oder weniger intensive Beziehungen. Sie hat damit Chancen, die Entwicklung innerhalb dieser Staaten und mit deren Nachbarn zu beeinflussen. Niemand kann wissen, welche Dynamik sich in einem konkreten Konflikt entwickelt, aber man kann friedenslogisches Handeln vorausschauend und grundsätzlich planen.

Eine friedenslogische Politik für die nächste Legislaturperiode würde heute damit beginnen, für Partnerstaaten Konfliktanalysen zu erstellen. Sie würde die Partnerschaftsverträge im Hinblick auf ihre Konfliktsensitivität durchleuchten und friedenslogisch ausloten, welche »guten Dienste« hilfreich sind, welche tatsächlich angeboten werden können und welche entwickelt werden müssen.

Sie könnte beim Abschluss neuer Verträge zivilgesellschaftliche Gruppen aus den diversen Bereichen der Zivilen Konfliktbearbeitung beteiligen und auf friedenslogische Konsistenz achten. Ich denke zum Beispiel an die Energiepartnerschaft mit Nigeria, die doch nicht zwischen Geschäftsleuten und den Regierungen ausgehandelt werden darf, sondern die einer Begleitung durch Kräfte bedarf, die etwas von interreligiösem Dialog, von Umweltschutz, vom Umgang mit Fehlern in der Vergangenheit und von der Notwendigkeit von Transparenz verstehen.

Eine solche nicht fallbezogene, sondern grundsätzliche und umfassende friedenslogische Politik braucht viel stärkere direkte und indirekte Partizipation, sie braucht sehr viele Fachkräfte, sehr viele Menschen mit »geschulten Blick«, sehr viele externe BeraterInnen. Sie ist auch auf eine Öffentlichkeit angewiesen, die sich unter ziviler Konfliktbearbeitung und Konflikttransformation etwas Interessantes und Fesselndes vorstellen kann. Sie braucht ein Verständnis für und Vertrauen auf die Prinzipien von Langsamkeit und Korrektur und eine Offenheit für Informationen über das Leben von Menschen in Konfliktregionen.

Ein Stichwort noch zur Popularisierung: Der fachliche Diskurs zum Thema »Zivile Konfliktbearbeitung« wird in englischer Sprache geführt. Die Friedensforschung hätte für die Entspannung des Ost-West-Konfliktes niemals leisten können, was sie geleistet hat, wenn sie ihre Bücher in englischer Sprache verfasst und ihre Einsichten nicht rückgebunden hätte an die innergesellschaftliche Debattenkultur.

Friedenslogische Politik hat nicht nur eine qualitative, sondern auch eine quantitative Dimension. Bei allem Erstaunen und aller Bewunderung, was geschafft wurde, bin ich doch skeptisch, ob die zivile Konfliktbearbeitung allein über die kurzfristige Projektförderung weiterentwickelt werden kann. Nach einer anfänglichen Experimentierphase wird Institutionalisierung notwendig, um Zivile Konfliktbearbeitung qualitativ zu vertiefen und quantitativ auszuweiten, ähnlich wie es bei der Arbeit an der Überwindung von patriarchalen Geschlechterverhältnissen geschieht, die ja ebenfalls auf mehrschichtige Vorgehensweisen setzt.

Friedenslogische Politik und das Netzwerk zivile Konfliktbearbeitung

Diese Skizze einer friedenslogischen Politik mag unrealistisch klingen, aber keiner der hier vorgeschlagenen Schritte wäre unmöglich, wenn sehr viele Menschen wagen würden, friedenslogisch zu denken. Eine bewusst von außen unterstützte Konflikttransformation gibt es allerdings nicht ohne eine Vorstellung vom Konflikt, von den Haltungen, Verhaltensweisen, Zielen und legitimen Interessen der Beteiligten sowie der Genese ihrer konflikthaften Beziehungen und der friedensfördernden Potentiale. Alle Aktivitäten müssen auf diese Faktoren abgestimmt und miteinander vereinbar sein. Für das Netzwerk kommt es darauf an, einen Austausch über die Wahrnehmung und Einschätzung von Fällen zu organisieren, in denen die Mitgliedsorganisationen tätig sind. Es scheint mir weder notwendig noch möglich noch wünschenswert, dass alle Initiativen auf der Basis einer gleichen – vielleicht auch noch vom Auswärtigen Amt überprüften – Konfliktanalyse arbeiten. Das Netzwerk lebt von unterschiedlichen Ansätzen, Kompetenzen, Schwerpunkten, aber auch von der Fähigkeit, sie zu reflektieren und zu kombinieren.

Das Netzwerk würde damit eine Vorbildfunktion erfüllen, Gedankenexperimente in Friedenslogik durchführen und Kreativität entwickeln, die in unserer politischen Kultur nach Jahrhunderten sicherheitslogischen Denkens unterentwickelt aber notwendig ist, wenn die Fallstricke der modernisierten Sicherheitslogik im Gewand der »humanitären Intervention« und der »menschlichen Sicherheit« vermieden werden sollen. Dann kann auch der Mut wachsen, Friedenschancen nicht von der akuten Wirklichkeit ausgehend einzuengen, sondern Verantwortung für Frieden von dem aus zu denken, was heute utopisch klingt, aber wirklich werden kann.

Anmerkungen

1) Vgl. Lothar Brock: Von der liberalen Universalpoesie zur reflexiven Friedenspolitik! Die Demokratie als Medium einer brisanten Vermittlung zwischen Frieden und Gerechtigkeit. In: Claudia Baumgart-Ochse, Niklas Schörnig, Simone Wisotzki, Jonas Wolff (Hrsg.) (2011): Auf dem Weg zu Just Peace Governance. Beiträge zum Auftakt des neuen Forschungsprogramms der HSFK. Baden-Baden: Nomos, S.47-70.

2) Vgl. dazu: Sabine Jaberg: Tücken der Sicherheitspolitik – einige kategoriale Reflexionen. Sicherheit und Frieden 2/2012 (i.E.).

3) Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung: Konfliktbarometer 2011.

Prof. Dr. Hanne Margret Birckenbach ist Sozialwissenschaftlerin und vor allem Friedensforscherin am Institut für Politikwissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen. Ihr Schwerpunkt ist zivile Konfliktbearbeitung/Gewaltprävention. Sie leitet regelmäßig Lehrforschungsprojekte zum internationalen Konfliktmonitoring nach dem von Andreas Buro und der Friedenskooperative entwickelten Modell.

Zivile Krisenprävention

Zivile Krisenprävention

Parlamentarische Aufgabe und Verantwortung – eine Stellungnahme

von Plattform Zivile Konfliktbearbeitung

Knapp zwei Jahre nach seiner Einsetzung legte der neue Bundestags-Unterausschuss »Zivile Krisenprävention und vernetzte Sicherheit« eine erste Zwischenbilanz seiner Arbeit vor. Die Plattform Zivile Konfliktbearbeitung erarbeitete eine Stellungnahme dazu und stellte sie Anfang März 2011 den Mitgliedern des Gremiums vor. W&F dokumentiert die Kurzfassung der Stellungnahme.

Am 16. März 2010 nahm im Deutschen Bundestag der Unterausschuss »Zivile Krisenprävention und vernetzte Sicherheit« seine Arbeit auf. Angesichts des nach wie vor fehlenden politischen Willen zu einem eindeutigen und kohärenten »Vorrang für zivil« stellte die Einsetzung des neuen Gremiums für viele Akteure in Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Parlament einen Hoffnungsschimmer dar. Immerhin gibt es nun erstmals in der Geschichte des Deutschen Bundestages einen Ort, an dem sich Abgeordnete regelmäßig und systematisch mit Ziviler Krisenprävention befassen. Die Schaffung einer parlamentarischen Arbeitsstruktur birgt die Chance, friedenspolitische Debatten transparenter und offener zu führen.

Zwei Jahre nach seiner Einsetzung hat der Unterausschuss eine erste Zwischenbilanz seiner Arbeit verabschiedet. Die Plattform Zivile Konfliktbearbeitung als Zusammenschluss von Organisationen und Einzelpersonen, die in den unterschiedlichen Feldern der zivilen Konfliktbearbeitung tätig sind, möchte diese Zwischenbilanz der Abgeordneten durch die vorliegende Stellungnahme – eine Art reflexiver Blick von außen, d.h. aus zivilgesellschaftlicher Sicht – ergänzen.

Zur politischen Bedeutung des neuen Unterausschusses

Die Einschätzungen der Autoren/innen orientieren sich in erster Linie an Fragestellungen, die aus Sicht der Plattform besonders relevant erscheinen:

1.Führt die Einrichtung des Unterausschusses zu einer Qualifizierung der politischen Debatte in den Fraktionen des Bundestages und im Parlament insgesamt?

2. Hat der Unterausschuss einen positiven Einfluss auf die öffentliche Wahrnehmung des Politikfeldes Zivile Krisenprävention?

3. Wird durch den Unterausschuss die in diesem Politikfeld besonders hervorzuhebende Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure gestärkt?

4. Und letztlich: Gibt der Unterausschuss Impulse für politische Entscheidungen und beeinflusst damit auch das Handeln der Exekutiven?

Arbeit und Wirken des Unterausschusses zeigen diesbezüglich eindeutig positive Ansätze, die es weiter auszubauen gilt:

In der laufenden Legislaturperiode wurden mehrere Anträge zu Ziviler Krisenprävention ins Plenum eingebracht und debattiert. Auch die Haushaltsmittel für Zivile Krisenprävention wurden diskutiert bzw. Anträge dazu im Haushaltsausschuss gestellt. Damit stand das Thema Zivile Krisenprävention häufiger als bisher auf der Tagesordnung.

Im Unterausschuss wird erfreulich konstruktiv und fraktionsübergreifend kooperativ miteinander gearbeitet. Ein Arbeitsklima, das vermutlich auch zu der Offenheit gegenüber den zivilgesellschaftlichen Akteuren beigetragen hat.

Aber es gibt auch Kritisches anzumerken:

Als »Türöffner« sowohl in Richtung Fraktionen als auch in Richtung Exekutive hat der Unterausschuss für die Zivilgesellschaft Positives bewirkt; in seiner parlamentarischen Kontrollfunktion ist er bisher aber wenig hervorgetreten und zur Transparenz von politischen Entscheidungsprozessen in den Fraktionen und im Parlament könnte er ebenfalls noch mehr beigetragen.

Es geht nicht nur darum, zivilgesellschaftliche Expertise zu Wort kommen zu lassen, sondern zusammen mit zivilgesellschaftlichen Akteuren auch politische Entscheidungen zu forcieren und dadurch die scheinbare Ohnmacht des Parlaments aufzubrechen.

In der breiteren Öffentlichkeit ist der Unterausschuss kaum wahrgenommen worden. Zivile Krisenprävention und Konfliktbearbeitung können sich gegenüber anderen Handlungsoptionen aber nur durchsetzen, wenn sie auch öffentlich als politisch realistisch diskutiert werden. Insofern sollte der Unterausschuss ein größeres Augenmerk auf Presse- und Öffentlichkeitsarbeit legen.

Empfehlungen der Plattform

Arbeitsstrukturen

Mittelfristig die Aufwertung zu einem eigenständigen Ausschuss anstreben.

Bei Besetzung und Arbeitsformaten ressortübergreifende Anbindung sicherstellen.

Einrichtung einer/eines Beauftragten für Zivile Krisenprävention aus den Reihen des Bundestages als Bindeglied zwischen Zivilgesellschaft und Parlament.

Möglichkeit öffentlicher Ausschussberatungen und Anhörungen noch intensiver nutzen, da sie ein hohes Maß an Transparenz und zivilgesellschaftlicher Einbindung gewährleisten.

Beratungskonzept für Unterausschussarbeit entwickeln, so dass Expertise zielgerichteter genutzt und die Außendarstellung der parlamentarischen Arbeit verbessert wird.

Verständnis der Ziele von Ziviler Krisenprävention und des Aktionsplans aus Sicht des Unterausschusses konkreter definieren und Kriterien zur Urteilsbildung bestimmen.

Nachbereitung der Ausschussarbeit systematisieren und transparenter gestalten (zeitnahe Veröffentlichung von Protokollen, Berichten, Schlussfolgerungen und »follow up«-Vereinbarungen).

Inhaltliche Aspekte

Kontroverse Themen angehen, wie die analytische Abgrenzung von Sicherheits- und Friedenspolitik sowie das eklatante Ungleichgewicht zwischen militärischen und zivilen Fähigkeiten.

Vergleichende Evaluierung und Wirkungsanalyse von Auslandsmissionen vornehmen – sowohl ziviler wie auch militärischer Einsätze.

Zum Zwecke einer Wirkungs- und Fortschrittsanalyse die vordefinierten Ziele (Wirkung und Fortschritt woraufhin?) benennen sowie gesellschaftliche Konflikt- und Krisenbedingungen berücksichtigen.

Auf Personalentwicklung im Bereich der Zivilen Krisenprävention fokussieren, damit zivile Alternativen zu militärischen Einsatzoptionen tatsächlich verfügbar werden.

Den Blick stärker als bisher der multilateralen Ebene zuwenden (sich wandelnde politische Friedensmissionen der Internationalen Gemeinschaft sowie Trend zu stärker präventiv ausgerichtetem Friedensverantwortungs-Paradigma aufgreifen).

Ausführlichere Erläuterungen und weitere Empfehlungen finden sich in der 16-seitigen Langfassung der Plattform-Stellungnahme auf konfliktbearbeitung.net. Wir hoffen, dass der Unterausschuss seine Arbeit in der bisher engagierten Form fortsetzt und Zivile Krisenprävention und Konfliktbearbeitung sich so auch durch sein Wirken weiterentwickeln.

Plattform Zivile Konfliktbearbeitung

Krisen, Konflikte und Erfolge

Rüstungskontrollregime:

Krisen, Konflikte und Erfolge

von Gregor Hofmann

Zieht man eine Bilanz der Rüstungskontrollregime, muss man unterscheiden zwischen Konflikten, die in den Regimen seit ihrem Bestehen existieren, und akuten Krisen, die zur Erosion eines Regimes führen könnten. Dieser Artikel beleuchtet kurz die Gründe der einflussreichsten Kernkonflikte und Krisen sowie Erfolge der wichtigsten Regime der multilateralen Rüstungskontrolle.1

In der Rüstungskontrolle wird zwischen so genannten Massenvernichtungswaffen (ABC- bzw. atomare, biologische und chemische Waffen) und konventionellen Waffen unterschieden.

Massenvernichtungswaffen

Der nukleare Nichtverbreitungsvertrag (NVV, 190 Mitgliedstaaten) gilt aufgrund seiner nahezu universellen Mitgliedschaft und der Tatsache, dass er bisher – mit Ausnahme von Nordkorea – die Herausbildung neuer Atommächte aus dem Kreis seiner Mitgliedstaaten verhindert hat, weitgehend als Erfolg. Dennoch leidet der NVV an seinem diskriminierenden Charakter: Er unterscheidet zwischen Nuklearwaffenstaaten (NWS), die der Vertrag allerdings gemeinsam mit allen Staaten zu Abrüstungsverhandlungen verpflichtet, und Nicht-Nuklearwaffenstaaten (NNWS), die auf diese Waffenart verzichten und im Gegenzug von den NWS bei der friedlichen Nutzung der Kernenergie unterstützt werden sollen.

Konflikte ergeben sich einerseits daraus, dass trotz Präsident Obamas Bekenntnis zum Global Zero-Ziel und der weiteren Reduktion der Arsenale Russlands und der USA durch den neuen START-Vertrag die nukleare Abrüstung nur langsam vorankommt. Dies liefert den NNWS ein Argument, Bemühungen des Westens für eine weitere Stärkung der Nichtverbreitung im Regime zu blockieren.2 Viele Entwicklungsländer sehen zudem ihren Status im NVV herabgestuft, da trotz der Nichtverbreitungsnorm einige Nichtmitglieder (Israel, Indien, Pakistan) zu Atommächten aufgestiegen sind und die USA sowie die Nuclear Suppliers Group (ein Zusammenschluss der Lieferländer von Nukleartechnologie und -materialien) dennoch das zivile Atomprogramm Indiens unterstützen.

Am Beispiel Iran wiederum zeigt sich ein weiterer Konflikt: der zwischen dem Recht auf friedliche Nutzung der Kernenergie und der Nichtverbreitung von Atomwaffen. Sollte Iran als zweiter Staat nach Nordkorea aus dem Regime austreten und Atomwaffen entwickeln, würde dies nicht nur die bisherige Nichtverbreitungspolitik und die Wirksamkeit des Sicherungs- und Verifikationssystems der Internationalen Atomenergieorganisation in Frage stellen, sondern dies könnte ein nukleares Wettrüsten im Nahen Osten und damit das Ende des NVV einläuten.

Das Biowaffenübereinkommen (BWÜ, 164 Mitgliedstaaten) und das Chemiewaffenübereinkommen (CWÜ, 188 Mitgliedstaaten) verbieten, anders als der NVV, die jeweiligen Waffengattungen vollständig.

Das CWÜ verfügt über ein erfolgreiches Verifikationssystem. Allerdings wurde die Frist zur Vernichtung der deklarierten Chemiewaffenbestände – zehn plus optional fünf Jahre nach Inkrafttreten des Vertrags im Jahr 1992 – nicht eingehalten: Albanien, Irak und Südkorea sowie Indien, Libyen, Russland und die USA hatten Arsenale deklariert, lediglich die drei erstgenannten haben bislang vollständig abgerüstet.3 Aufgrund der nicht eingehaltenen Abrüstungsversprechen sahen sich wiederum Entwicklungsländer benachteiligt und blockierten, auch unter Einforderung stärkerer internationaler Kooperation bei der friedlichen Nutzung der Chemietechnologie, bei der letzten Überprüfungskonferenz 2008 Versuche des Westens, die Nichtverbreitungskomponente des Verifikationssystems zu stärken.4

Ein weiterer Konflikt könnte ebenfalls destabilisierend wirken: Die vom Westen geforderte stärkere Kontrolle der wachsenden chemischen und biotechnischen Forschung und Produktion in Schwellen- und Entwicklungsländern akzeptieren letztere, unter Verweis auf eine mutmaßliche Begrenzung ihrer Entwicklungschancen, nur begrenzt.5

Im Gegensatz zum CWÜ fehlt dem BWÜ ein Verifikationsmechanismus, was als zentrale Schwäche des Regimes gilt. Die Einführung eines solchen scheiterte 2001 nach siebenjährigen Verhandlungen am Widerstand der USA. Die 2006 eingerichtete Implementation Support Unit beschränkt sich auf das Sammeln von Informationen und organisatorische Hilfestellung. Zwar scheint die Einsicht zuzunehmen, dass die Konflikte zwischen der Angst des Westens vor der Verbreitung waffenfähiger Materialien und einer von Entwicklungsländern wahrgenommenen ungerechten Begrenzung des Zugangs zum technologischen Fortschritt nur kooperativ gelöst werden können.6 Der Ausgang der im Dezember 2011 anstehenden Überprüfungskonferenz des BWÜ ist aber ungewiss.7

Konventionelle Waffen

Mit dem Streit um das US-Raketenabwehrprogramm und der russischen Suspendierung des angepassten Vertrags über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) im Jahr 2007 wurde eine Krise der konventionellen Rüstungskontrolle in Europa eingeleitet. Vorausgegangen war die Weigerung der NATO-Staaten, den 1999 geänderten KSE-Vertrag, der die Stationierung konventioneller Streitkräfte in Europa reguliert, zu ratifizieren, da Russland keinen Zeitplan für den Abzug seiner Truppen aus Georgien und Moldawien vorgelegt hatte. Der kürzlich angekündigte Ausstieg vieler NATO-Staaten aus der Anwendung des KSE-Vertrags deutet auf eine Erosion des Kernstücks der konventionellen Rüstungskontrolle in Europa.

Konflikte und Schwächen im Kleinwaffenaktionsprogramm der Vereinten Nationen wirken sich auf die Vorbereitungen der für Juli 2012 angesetzten Konferenz über ein Waffenhandelsabkommen (Arms Trade Treaty) aus. Viele südliche Staaten sehen in einem möglichen Verbot des Handels mit Staaten, die bestimmte Standards bei Menschenrechten oder Exportkontrollen nicht einhalten, die Gefahr der Beschränkung ihrer souveränen Rechte.8 Die USA und einige andere Staaten wollen andererseits den legalen Handel mit nichtstaatlichen Akteuren dem Ermessen des Einzelstaates unterwerfen, was Entwicklungsländer als Einfalltor für die Bewaffnung von Rebellengruppen betrachten. Auch die Einbeziehung von Munition und Technologietransfers in ein Waffenhandelsabkommen ist umstritten.9 Sollte das Waffenhandelsabkommen im Jahr 2012 scheitern, würden die Richtlinien des Aktionsprogramms weiterhin nicht in rechtlich bindende Standards übersetzt.

Bei der 1999 in Kraft getretenen Antipersonenminen-Konvention kann dagegen von einem Erfolg und einer Wirksamkeit über die bisher 157 beigetretenen Staaten hinaus gesprochen werden. Die Produktion und der Einsatzes von Antipersonenminen (APM) sind weltweit geächtet und es halten sich auch viele Staaten, die der Konvention bislang nicht beigetreten sind (wie bspw. die USA), an das APM-Verbot.10 Allerdings lassen sich auch Rückschläge erkennen: Im Jahr 2011 verlegten Israel, Libyen und Burma APM, 2010 war dies nur von Burma bekannt.11 Von den zwölf noch als Landminen-Produzenten gelisteten Staaten stellen aber nur noch drei – Indien, Pakistan und Burma – aktiv APM her. Die Produktion ist damit heute auf dem niedrigsten Niveau seit Verabschiedung der Konvention angelangt.12 Auch die Vernichtung der Lagerbestände sowie die Beseitigung verlegter Minen schreiten voran, auch wenn, ähnlich wie im CWÜ, die vereinbarten Zerstörungsziele und Räumpflichten nicht immer eingehalten werden und bislang weniger als 40% der Staaten die Konvention in nationales Recht umgesetzt haben.13

Die Streumunitions-Konvention, mit aktuell 111 Vertragsparteien, leidet wie die APM-Konvention unter einem Konflikt zwischen Effektivität und universeller Mitgliedschaft. Auch wenn seit Inkrafttreten zweimal Streumunition (cluster munition) in militärischen Konflikten eingesetzt wurde – durch Thailand im Grenzkonflikt mit Kambodscha und in Libyen bei Regierungsangriffen auf die Stadt Misrata –, zeigt das Verbot von Streumunition bereits Wirkung:14 16 ehemals Streumunition produzierende Staaten sind der Konvention beigetreten und haben die Produktion eingestellt. Argentinien hat zudem als Nicht-Mitgliedstaat unilateral die Einstellung der Produktion verkündet. Allerdings behalten sich nach wie vor 17 Staaten das Produktionsrecht vor.15 Die Tatsache, dass Singapur und die USA, die der Konvention nicht beigetreten sind, ein Moratorium für den Export von Streumunition erlassen haben16, deutet darauf hin, dass die Konvention zunehmend auch über die Vertragsparteien hinaus Wirkung zeigt.

Fazit

Konflikte um Abrüstung, friedliche Nutzung und Nichtweiterverbreitung prägen die Konventionen zu Massenvernichtungswaffen. Die Ursachen dieser Konflikte liegen oftmals in einer von einigen Staaten wahrgenommenen (CWÜ, BWÜ) oder im Regime kodifizierten (NVV) Ungleichbehandlung der Vertragsstaaten.17 Diese könnten aber durch die Erfüllung der Abrüstungsversprechen und den Dialog über Sicherungsmaßnahmen und Technologietransfers gelöst werden. Auch im Kleinwaffenaktionsprogramm und in den Verhandlungen zu einem Waffenhandelsabkommen liegen die Konfliktursachen nicht nur in Souveränitätsansprüchen, sondern auch in von einigen Staaten wahrgenommenen Ungerechtigkeiten bei der Regulierung des Waffenhandels.18 Ein Scheitern des Abkommens würde für die anstehende Überprüfungskonferenz des Kleinwaffenaktionsprogramms nichts Gutes verheißen. Der langfristige Erfolg der APM- und Streumunitions-Konventionen hängt entscheidend von einer Auflösung des Widerspruchs zwischen Effektivität und Universalität ab sowie von einer Einbeziehung der Großmächte China, Russland und USA.

Die Bilanz der wichtigsten Rüstungskontrollregime fällt folglich gemischt aus, trotz aller Konflikte haben sie sich aber als relativ krisenfest erwiesen. Nur die Zukunft des KSE-Vertrags ist, angesichts unvereinbarer geostrategischer Interessen Russlands und der NATO, ungewiss.

Anmerkungen

1) Für Anregungen und Kritik danke ich Simone Wisotzki.

2) Vgl. zu A-, B- und C-Waffen: Harald Müller, Una Becker-Jakob, Tabea Seidler-Diekmann (im Erscheinen): Regime Conflicts and Norm Dynamics: Nuclear, Biological and Chemical Weapons. In: Harald Müller/Carmen Wunderlich (Hrsg.): Norm Dynamics in Multilateral Arms Control: Interest, Conflicts, and Justice Claims. Athens/GA: University of Georgia Press.

3) opcw.org/our-work/demilitarisation. Siehe außerdem: Una Becker, Harald Müller, Tabea Seidler-Diekmann (2008): Die Regime zur Kontrolle nuklearer, biologischer und chemischer Waffen. In: Una Becker/Harald Müller (Gast-Hrsg.): Rüstungskontrolle im 21. Jahrhundert. Die Friedens-Warte, Jg. 83, Nr. 2-3, S.61.

4) Oliver Meier (2008): CWC Review Conference Avoids Difficult Issues. In: Arms Control Today, Nr. 38, May 2008.

5) Müller u.a. im Erscheinen.

6) Müller u.a. im Erscheinen.

7) Dieser Artikel wurde vor Ende der Überprüfungskonferenz geschrieben. Dossier 70, das der Frühjahrsausgabe 2012 von W&F beiliegen wird, beschäftigt sich mit den Ergebnissen der BWÜ-Konferenz vom Dezember 2011. [die Redaktion]

8) Vgl. zu Kleinwaffen, APM und Streumunition: Simone Wisotzki (im Erscheinen): The Anti-Personnel Mine Ban Treaty, the Program of Action on Small Arms and Light Weapons and the Convention on Cluster Munition. In: Harald Müller/Carmen Wunderlich (Hrsg.), op.cit.

9) armscontrol.org/factsheets/arms_trade_treaty.

10) Richard Price (1998): Reversing the Gun Sights: Transnational Civil Society Targets Land Mines. In: International Organization, Jg. 52, Nr. 3, S.613-644.

11) Landmine Monitor 2011, S.1; the-monitor. org/lm/2011

12) ebd.

13) Landmine Monitor 2010, S.2; the-monitor. org.

14) Cluster Munitions Monitor 2011, S.1; the-monitor.org.

15) ebd.

16) ebd.

17) Müller u.a., op.cit. (im Erscheinen).

18) Wisotzki, op.cit. (im Erscheinen).

Gregor Hofmann (M.A.) ist wissenschaftliche Hilfskraft bei der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung mit einem Bachelor in Politikwissenschaft und Volkswirtschaftslehre sowie einem Master in Politikwissenschaft. Sein Arbeitsschwerpunkt liegt, neben der deutschen Rüstungskontrollpolitik, auf der »Responsibility to Protect«, zu der er derzeit seine Promotion vorbereitet.

»Wenn du Frieden willst, pflege die Gerechtigkeit«

»Wenn du Frieden willst, pflege die Gerechtigkeit«

Frieden und Gerechtigkeit nach gewaltsamen Konflikten und Diktaturen

von Susanne Buckley-Zistel

„Si vis pacem, cole iustitiam“ (wenn du Frieden willst, pflege die Gerechtigkeit). Frieden und Gerechtigkeit wurden schon vor geraumer Zeit auf das Engste miteinander verknüpft, so in dieser Inschrift des Haager Friedenspalastes. Auch Benjamin B. Ferencz, einer der Ankläger der Nürnberger Prozesse, wies auf den Zusammenhang hin: „There can be no peace without justice, no justice without law and no meaningful law without a Court to decide what is just and lawful under any given circumstance.“1 Doch wie passen Frieden und Gerechtigkeit nach gewaltsamen Konflikten oder Diktaturen zusammen? Welche Möglichkeiten und Grenzen sind diesem Zusammenspiel gesetzt? Dies soll im vorliegenden Artikel anhand der Diskussion des Konzepts »Transitional Justice« erörtert werden.

Transitional Justice beruht auf der Prämisse, dass das Vermächtnis eines gewaltsamen Konflikts oder einer repressiven Diktatur, in denen massiv Menschrechte missachtet wurden, aufgearbeitet werden muss, da nur der Blick zurück auf Unrecht und Vergehen ein friedvolles Zusammenleben in der Zukunft ermögliche. Dies drückt sich bereits im Begriff selbst aus: Analog zum einführenden Zitat verknüpft Ferencz die »transition« von Gewalt zu friedlicher Koexistenz mit »justice«, dem Streben nach Recht und Gerechtigkeit im Anschluss an eine gewaltvolle Vergangenheit. Doch welche »justice« ist erforderlich? Und wohin soll die »transition« führen?

Generell gilt festzuhalten, dass Transitional Justice eine Reihe eng miteinander verknüpfter Ziele verfolgt. Neben dem Streben nach Gerechtigkeit durch das Aufdecken der Wahrheit über Verbrechen sowie der Identifizierung und dem zur Rechenschaft ziehen der Verantwortlichen sollen die Würde der Opfer wiederhergestellt und Aussöhnung sowie friedliche Koexistenz ermutigt werden. Diese Schwerpunkte finden in unterschiedlichen Maßnahmen Entsprechung: Strafgerichtsprozesse, Wahrheits- und Versöhnungskommissionen, symbolische und materielle Reparationen sowie institutionelle Reformen. Durch die Kombination von Maßnahmen oder durch einzelne Instrumente versuchen unterschiedliche Akteure wie Regierungen, Vertreter der Zivilgesellschaft oder die internationale Gemeinschaft Prozesse anzustoßen, die zur Aufarbeitung einer gewaltvollen Vergangenheit beitragen können. In Deutschland mag dies aufgrund unserer Geschichte keine neue Errungenschaft sein – und in der Tat werden die Nürnberger Prozesse (1945-49) oft als Grundstein für dieses Begehren bezeichnet. Auf dem internationalen Parkett hat der politische Freiraum nach Ende des Kalten Kriegs die Verbreitung eines liberalen Gedankenguts und somit auch von normativen Konzepten wie Transitional Justice gefördert.

Welche »justice«?

Doch von welcher Form von »justice« sprechen wir? Der englische Begriff findet im Deutschen zwei Entsprechungen: Recht und Gerechtigkeit. Im Konzept der Transitional Justice kommen beide Dimensionen zum Tragen. Zum einen verfolgt es aufgrund seines Ursprungs aus dem Bereich der Menschenrechte einen stark legalistisch geprägten Ansatz, der sich in der Einrichtung zahlreicher Tribunale wie den Ad-hoc-Gerichtshöfen für Ruanda und das ehemalige Jugoslawien, dem Sondergerichtshof für Sierra Leone sowie dem Internationalen Strafgerichtshof niederschlägt.2 Zum anderen wird Gerechtigkeit breiter verstanden und bezieht Prozesse der Wiederherstellung sozialer Beziehungen mit ein. Stellvertretend hierfür stehen u.a. Wahrheits- und Versöhnungskommissionen, in denen Zeugen durch individuelle Aussagen zur Enthüllung vergangenen Unrechts beitragen. Beide Ansätze sollen im Folgenden auf ihre friedensfördernde Wirkung untersucht werden.

Ausgleichende Gerechtigkeit

Das Ziel der justiziellen Aufarbeitung von Menschenrechtsvergehen ist der Ausgleich einer Tat durch eine Strafe, weswegen sie auch als ausgleichende Gerechtigkeit bezeichnet wird. Neben der Bestrafung der Täter und Täterinnen verfolgt sie das Ziel, den Wunsch nach Vergeltung zu reduzieren, vor zukünftigen Gewalttaten abzuschrecken und erlittenes Leid anzuerkennen. Die Gerichte befassen sich mit Einzelpersonen, d.h. sie folgen einer individualisierten Vorstellung von Schuld und ziehen somit eine formal klare Linie zwischen Opfern und Tätern, selbst wenn dies manchmal kaum möglich ist. Sind erst einmal »Altlasten« aus dem Weg geräumt, so die Annahme, steht einem friedlichen Zusammenleben nichts mehr entgegen.

In Nachkriegsgesellschaften, die entlang politischer, ethnischer oder religiöser Linien gespalten sind, haben Tribunale jedoch nicht immer einen positiven Effekt auf das friedliche Miteinander. Die Anklage eines Kriegsherren oder Gewaltanstifters wird von der betroffenen Konfliktpartei häufig als Provokation wahrgenommen, und Verurteilte werden als Märtyrer gefeiert. Anschuldigungen von Siegerjustiz, Rechtsbeugung und Parteilichkeit sind nicht selten und wirken in den offenen Wunden einer Gesellschaft wie Salz.

Als Beispiel mag hier der Internationale Strafgerichtshof für Ruanda dienen, der seit 1994 von Tansania aus die Haupttäter und -täterinnen des ruandischen Völkermords an den Tutsi strafrechtlich verfolgt. Der Genozid wurde von der zweiten Bevölkerungsgruppe des Landes, den Hutu, ausgeführt, und so stehen nur Täter der Hutu-Gruppe vor Gericht. Doch selbst wenn der Völkermord von einer klaren, einseitigen Richtung der Gewalt gezeichnet war, fanden in den Jahren des Bürgerkriegs zuvor und in der Zeit kurz danach Gräueltaten statt, durch die auch eine große Zahl Hutu ihr Leben verloren.3 Zwar waren die Verluste bei weitem geringer und entsprachen nicht der eindimensionalen Gewaltform eines Völkermords, doch argumentieren viele Hutu, dass zur Schaffung von Gerechtigkeit – von Transitional Justice – alle Vergehen geahndet werden müssen. Dass ein internationales Tribunal der Vereinten Nationen dem nicht nachkommt, stößt sowohl bei vielen Hutu als auch bei zahlreichen internationalen Menschenrechtsaktivisten auf Missmut und verstetigt die Konfliktlinien.4

Allerdings sind die Auswirkungen eines in weiter Ferne agierenden internationalen Tribunals auf ein friedliches Miteinander gering im Vergleich zu Prozessen im Land selbst, die im alltäglichen Leben stärker wahrgenommen werden und so die Beziehungen zwischen den Konfliktparteien unmittelbar beeinflussen. Im Kontext Ruandas sind vor allem die Gacaca-Tribunale zu nennen, die auf lokaler Ebene für die Ahndung von Gewaltverbrechen während des Völkermords zuständig sind.5 Dennoch werden auch hier nur die Genozidvergehen an den Tutsi verfolgt, und die Tötung von Hutu vor und nach dem Völkermord wird ausgeblendet. Implizit wird durch dieses einseitige Schaffen von Gerechtigkeit suggeriert, dass nicht der Akt des Tötens als solcher ausschlaggebend für ein Verfahren ist, sondern die ethnische Zugehörigkeit des Opfers, d.h. der Tutsi, und dass das Auslöschen von Hutu-Leben nicht strafbar – und folglich weniger bedeutend – ist. Die dadurch entstehende einseitige Betrachtung von Schuld und Leid erzeugt Ressentiments unter denen, die ebenfalls nahestehende Personen verloren haben, deren Tod aber durch die Tribunale weder anerkannt noch vergolten wird, und steht so einem nationalen Aussöhnungsprozess im Wege.

Weitere Beispiele für den »unfriedlichen« Charakter von ausgleichender Gerechtigkeit nach gewaltsamen Konflikten oder Diktaturen ließen sich an dieser Stelle unschwer aufführen. So drängt sich die Frage auf, ob die im Rahmen von Transitional Justice den Gerichtshöfen zugeschriebene Aufgabe diese nicht überfrachtet. Denn obgleich das Ahnden von Unrecht ein Schritt hin zu einem vertrauensvollen Miteinander sein mag, da es mit der Vergangenheit aufräumt, sind doch die Prozesse konfliktiv und geprägt vom Misstrauen der Konfliktparteien, die die Vorgänge aus ihrer jeweiligen Perspektive interpretieren. Auch sind die Verfahren selbst oft parteiisch und nicht neutral. In diesem Fall spiegeln sie einen zutiefst politischen Prozess wieder, der gesellschaftliche Verhältnisse neu justiert und somit von Machtbestreben und Eigeninteressen durchsetzt ist. Des Weiteren ist die konfrontative Situation von Prozessen – klare Zuweisung von Schuld und Unschuld, keine Erklärungsmöglichkeiten außerhalb der im Verfahren abgerufenen Aussagen und wenig Raum für die Geschädigten – den komplexen Gegebenheiten von Konflikten nicht gewachsen.

Wiederherstellende Gerechtigkeit

Doch gibt es Alterativen zur ausgleichenden Gerechtigkeit, wie sie in Gerichtsverfahren praktiziert wird? Auf internationaler Ebene muss dies klar verneint werden. Hier hat sich seit den Nürnberger Prozessen und einer generell zunehmenden Verrechtlichung der internationalen Beziehungen die Ansicht verfestigt, dass Menschenrechtsverletzungen strafrechtlich geahndet werden müssen.

National oder lokal hingegen gibt es durchaus alternative Möglichkeiten, die auch genutzt werden. Diese beruhen nicht auf der Annahme, dass das Ziel von Gerechtigkeit der Ausgleich zwischen Schuld und Strafe sei, sondern dass Gerechtigkeit dazu diene, gesellschaftliche Beziehungen wieder herzustellen. Sie werden daher grob unter dem Begriff der wiederherstellenden Gerechtigkeit zusammengefasst und können die Form von Wahrheits- und Versöhnungskommissionen oder anderen Disputlösungsmechanismen annehmen. In gespaltenen Gesellschaften haben sie den Vorteil, dass sie ein vielfältigeres Bild von Schuld und Verantwortung zeichnen, als es den Gerichtshöfen möglich ist. Durch kommunikative Prozesse werden die Vergehen der Vergangenheit in einen sozialen und politischen Kontext eingebettet und Empfehlungen für ein friedliches Miteinander in der Zukunft erarbeitet. Auch diesem Ansatz sind jedoch Grenzen gesetzt: Wiederherstellende Gerechtigkeit ist sicher kein Allheilmittel, doch kann es immerhin als Alternative betrachtet werden.

Wahrheitskommissionen sind offizielle, zeitlich begrenzte Einrichtungen, die durch biographische Narrative die Verbrechen während eines gewaltsamen Konflikts oder Regimes enthüllen und dokumentieren. Durch die Vielzahl von individuellen Zeugenaussagen offenbaren sie Repressionsmuster wie die Verfolgung von politisch, ethnisch oder rassisch abgegrenzten Gruppen und belegen somit, dass Verbrechen stattgefunden haben und welcher Art diese waren. Mit Blick auf den Frieden ist es wichtig, die ersten, bedeutenderen Wahrheitskommissionen in Lateinamerika in den 1980er Jahren von jüngeren Einrichtungen abzugrenzen. Während erstere das Anliegen verfolgten, in einem Kontext von Amnestiegesetzen und einer Kultur der Straflosigkeit öffentlich anzuprangern, hegen letztere den Anspruch, zur nationalen Aussöhnung und somit zum Frieden beizutragen. Prominentestes Beispiel hierfür ist die südafrikanische Wahrheits- und Versöhnungskommission, die dem Leitsatz „revealing is healing“ (enthüllen heißt heilen) folgte und den Tätern bei vollständigem Bekenntnis Straffreiheit gewähren konnte.

Wahrheitskommissionen bestehen aus zwei distinktiven Elementen: dem Prozess und dem Produkt.6 Während der Prozess die Untersuchung durch umfangreiche Einbeziehung der Betroffenen und durch öffentliche Darbietungen legitimiert, gleicht das Produkt in Form eines Abschlussberichts mit Empfehlungen dem Versuch eines Schlusspunktes. In diesem Sinne sind Wahrheits- und Versöhnungskommissionen deshalb sowohl ein Instrument des Erinnerns als auch des Vergessens.7 Wird die Wahrheit durch die Kommission zu Tage gebracht, wird sie archiviert, so dass sie zunächst einmal vergessen werden kann. Sie ist ja aufgehoben und daher immer wieder zugänglich. Dadurch muss eine gespaltene Nation sich nicht fortwährend mit der Vergangenheit auseinandersetzten; sie kann sie zur Ruhe legen, das hässliche Kapitel schließen und zu einer neuen Einheit zusammenwachsen. In diesem Sinne können Wahrheitskommissionen Frieden fördern. Die Umsetzung der Empfehlungen hängt jedoch stark von dem politischen Klima – und den materiellen Bedingungen – der Nachkriegsgesellschaft oder auch vom Handlungswillen der neuen Regierung ab, der nicht immer gegeben ist.

Transition wohin?

Der Blick auf Gerechtigkeit wirft auch die Frage auf, welche Art von Vergehen in Transitional-Justice-Prozessen geahndet werden sollen und wie sich dies auf das zukünftige Zusammenleben auswirkt. So beziehen sich Gerichtsverfahren, aber auch die meisten Wahrheits- und Versöhnungskommissionen, auf die Missachtung von politischen und bürgerlichen Rechten. Doch was ist mit Vergehen wie Diskriminierung, Marginalisierung und Exklusion – in anderen Worten: mit struktureller Gewalt? War denn die Apartheid in Südafrika nicht auch für die Menschen schädigend, die nicht direkt Opfer von Folter und Morden, sondern von mangelnder Gesundheitsversorgung, Arbeitslosigkeit oder Zwangsumsiedlung wurden? In der Menschenrechtsdebatte wird dies unter dem Begriff der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zusammengefasst und beeinflusst inzwischen auch Diskussionen im Feld der Transitional Justice.8

Dies wirft die Frage auf, wohin die Reise denn gehen soll. Wenn es das Ziel von Transitional Justice ist, einen Übergang zu einem friedlichen, gewaltfreien Zusammenleben zu fördern, müssen dann nicht auch die strukturellen Konfliktursachen bearbeitet und möglichst transformiert werden?9 Hier stoßen Formen der ausgleichenden Gerechtigkeit durch strafrechtliche Verfahren schnell an ihre Grenze, da sie durch die ihnen inhärente Individualisierung von Schuld soziale und politische Zusammenhänge aussparen und so nicht zu einer breiteren Transformation einer Gesellschaft beitragen können. Verfahren der wiederherstellenden Gerechtigkeit hingegen sind durchaus geeignet, strukturelle Konfliktursachen offenzulegen und durch ihre Empfehlungen, z. B. im Rahmen des abschließenden Berichts einer Wahrheits- und Versöhnungskommission, Transformationsprozesse anzustoßen.

Nichtdestotrotz bleibt die Wechselwirkung von Gerechtigkeit und Friede – von Transitional Justice und Frieden – fraglich. Es ist daher wichtig, das Konzept trotz seiner aktuellen Popularität nicht mit zu vielen Erwartungen zu überfrachten. Denn alle Bemühungen und Maßnahmen bleiben in die politischen Strukturen einer Nachkriegsgesellschaft eingebettet, die die Interpretation der Maßnahmen bestimmen und ihre Durchführbarkeit und Empfehlungen auf positive sowie negative Weise bedingen. Gerechtigkeit um des »lieben Friedens willen« zu pflegen, mag zunächst wie ein einfaches Gebot erscheinen, bei näherer Betrachtung ist es jedoch höchst ambivalent und prekär.

Anmerkungen

1) „Es kann keinen Frieden geben ohne Gerechtigkeit, keine Gerechtigkeit ohne Gesetz und kein wirksames Gesetz ohne ein Gericht, das entscheidet, was unter den gegebenen Umständen gerecht und rechtmäßig ist.“ untreaty.un.org/cod/icc/general/overview.htm.

2) Zu Letzterem siehe den Beitrag von Michael Haid in diesem Heft. [die Redaktion]

3) Es fehlt an Raum, um die Dynamiken des ruandischen Völkermords, des ihm vorhergehenden Bürgerkriegs und der unmittelbaren Nachwehen zu erklären. Für eine genauere Beschreibung siehe Rene Lemarchand (2006): Genocide, Memory and Ethnic Reconciliation in Rwanda. In: Stefaan Marysse, Filip Reyntjens, Stef Vandeginste (Hrsg.) (2007): L’Afrique des Grands Lacs. Annuaire 2006-2007. Paris: L’Harmattan, S.21-30.

4) Luc Reydams (2005): The ICTR Ten Years On: Back to the Nuremberg Paradigm? In: Journal of International Criminal Justice 3 (4), S.977-988.

5) Gerd Hankel (2011): Die Gacaca-Justiz in Ruanda – ein kritischer Rückblick. In: Susanne Buckley-Zistel, Thomas Kater (Hrsg.) (2011): Nach Krieg, Gewalt und Repression. Vom schwierigen Umgang mit der Vergangenheit. Baden-Baden: Nomos, S.167-183.

6) Michael Humphrey (2003): From Victim to Victimhood: Truth Commissions and Trials as Rituals of Political Transition and Individual Healing In: Australian Journal of Anthropology 14 (2), S.171-187.

7) Jacques Derrida (2001): On Cosmopolitism and Forgiveness. London: Routledge.

8) Siehe Pablo de Greiff, Roger Duthie (2009): Transitional Justice and Development: Making Connections. New York: Social Science Research Council.

9) Siehe Wendy Lambourne (2009): Transitional Justice and Peacebuilding after Mass Violence. In: International Journal of Transitional Justice 3 (1), S.28-48.

Susanne Buckley-Zistel ist Professorin für Friedens- und Konfliktforschung am Zentrum für Konfliktforschung, Philipps Universität Marburg, wo sie ein DFG-Forschungsprojekt zum Thema Vergangenheitsarbeit leitet.

Frieden durch Gesundheit

Frieden durch Gesundheit

Ein moderner Ansatz des konstruktiven Pazifismus

von Angelika Claußen

Hunger, Krankheiten, Obdachlosigkeit, Vergewaltigungen – diese anhaltenden schweren Menschenrechtsverletzungen werden in Wissenschaft und Medien nicht selten völlig unabhängig von der ihnen zugrunde liegenden Ursache – dem Krieg – untersucht. Das erschwert einen ganzheitlichen Blick. Dabei stellen schwere Menschenrechtsverletzungen oft nur die Kehrseite des Krieges dar. Bei der Transformation einer Kriegsgesellschaft in eine Friedensgesellschaft ebenso wie bei der Verhütung und der Ächtung von Kriegen spielt die Medizin eine tragende Rolle.

Dreimal wurde der Friedensnobelpreis nach dem zweiten Weltkrieg an Ärzte bzw. Ärzteorganisationen verliehen: 1952 an den Arzt Albert Schweitzer für sein jahrelanges humanitäres Wirken als Mediziner in Lambaréné und seinen weltweiten Einsatz für Völkerverständigung und gegen koloniale Ausbeutung, 1985 an die »Internationalen Ärzte zur Verhütung des Atomkrieges« (IPPNW) für ihren blockübergreifenden Einsatz für die weltweite atomare Abrüstung und die medizinische Aufklärung über die Folgen eines Atomkriegs sowie 1999 an »Ärzte ohne Grenzen« für ihre weltweite unabhängige humanitäre Pionierarbeit und ihre klaren Worte über Verstöße gegen das Völkerrecht und über Menschenrechtsverletzungen.

Das Nobelpreiskomitee hat durch die Verleihung des Friedensnobelpreises an einen Arzt und zwei Ärzteorganisationen deutlich gemacht, dass Ärzte durch ihren medizinisch begründeten Widerstand gegen den Atomkrieg und ihre ethische Verpflichtung auf die Prinzipien der Humanität einen substantiellen Beitrag zum Frieden leisten.

In welche friedenswissenschaftlichen und in welche medizinischen und ethischen Konzepte lässt sich der Beitrag der Medizin zum Frieden einordnen? Hier ist aus friedenswissenschaftlicher Perspektive die Friedenstheorie des norwegischen Sozial- und Friedenswissenschaftlers Johan Galtung1 zu nennen sowie der »konstruktive Pazifismus« des deutschen Entwicklungs- und Friedensforschers Dieter Senghaas.2 Aus der Gesundheitsperspektive von besonderer Bedeutung sind das Denken des Sozialmediziners Rudolf Virchow und die Multidisziplin »Public Health« sowie die Medizinethik.

Ärzte fühlen sich seit über 2.000 Jahren an den hippokratischen Eid gebunden, der die ethische Maxime für ärztliches Handeln darstellt. Die Medizinethiker Tom L. Beauchamp und James F. Childress3 sprechen von vier Grundsatzprinzipien des ärztlichen Handelns, die aufzeigen, welche ethischen Erfordernisse der Arztberuf heute mit sich bringt: Respekt vor dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten, Prinzip der Schadensvermeidung, ärztliche Fürsorge im Sinne des Patientenwohls und soziale Gerechtigkeit in der Gesundheitsversorgung.

Zwei Prinzipien aus der ärztlichen Ethik finden sich ebenso in den Prinzipien der Friedensethik wieder: Es ist das Prinzip der Schadensvermeidung (do no harm) und das Prinzip der Fürsorge samt sozialer Gerechtigkeit. Im »Do no harm«-Prinzip erkannte Mary B. Anderson,4 dass Hilfsorganisationen sich intensiv mit den Kontextbedingungen des Einsatzgebietes und den eigenen Kontextbedingungen in ihrer Hilfsorganisation auseinander setzen müssen, um die Folgen ihres Handelns implizit und explizit abschätzen zu können. Fürsorge sowie das Streben nach sozialer Gerechtigkeit hat einer der Gründerväter der IPPNW, der Sozialphilosoph Horst-Eberhard Richter, unabdingbar mit Humanität in Verbindung gebracht, aus der alles ärztliche Handeln und ebenso Friedenshandeln erwachsen muss. „Humanität hängt von intakter Empfindsamkeit ab, durch die soziale Verantwortung erst klar erkannt wird. Wo sich kein Mitgefühl mehr rührt, wächst auch kein Kampfgeist zur Durchsetzung und Stärkung von Humanität.“5

Methoden von Public Health können zur Kriegsverhütung und als Teil von konstruktiver Konfliktbearbeitung eingesetzt werden. Die Medizin kann somit sowohl kriegspräventiv als auch im Rahmen von Friedenskonsolidierung wirksam werden. Ihre kriegspräventive Wirkung entfaltet sie zum Beispiel durch eine »Epidemiologie der Kriegsfolgen« und durch die Beschreibung von Gesundheitsfolgen der eingesetzten Waffensysteme. Indem Ärzte auf die Folgen eines Krieges für die Gesundheit fokussieren, definieren sie ein ursprüngliches Machtproblem bzw. Herrschaftsproblem und dessen militärische Lösung in ein Gesundheitsproblem um. Dieser bewusste Perspektivenwechsel lässt sich in die Tradition des Antimilitarismus einordnen.6

Medizin, verstanden als öffentliche Gesundheitsversorgung, leistet zudem einen grundlegenden Beitrag zur Erfüllung von menschlichen Grundbedürfnissen. Dadurch werden mögliche Interessensgegensätze gemindert und das potentiell vorhandene Konfliktpotential auf beträchtliche Weise reduziert. Damit kann medizinische Versorgung einen substantiellen Beitrag zu einem positiv verstandenen Frieden im Sinne von Johan Galtung beitragen.

Gesundheit ist, wie die wichtigen anderen Grundbedürfnisse auch, als ein Menschenrecht anerkannt nach Art. 25(1) der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Die Weltgesundheitsorganisation WHO definierte schon 1948 Gesundheit als „Zustand des völligen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Freisein von Krankheit und Gebrechen“.7

Doch die Medizin ist nicht nur durch die Erfüllung eines menschlichen Grundbedürfnisses, nämlich Gesundheit, friedenswirksam. Durch die unbedingte Zuwendung gegenüber dem Kranken sowie durch den Schutz seiner Menschenwürde in einer Großgruppe oder in einer Gesellschaft verringert Medizin das bestehende Konfliktpotential. Hier kommen Humanität und soziale Verantwortung zum Tragen. Die Stärkung der sozio-politischen Bindekräfte trägt zur Erhöhung von Friedensfähigkeit und zum Abbau von Feindbildern und Feindbilddenken bei. Damit bereitet die Medizin den Boden für einen möglichen friedlichen Interessensausgleich bei Konflikten, sie stärkt eine Kultur konstruktiver Konfliktbearbeitung, die nach Dieter Senghaas mit konstituierend für den Frieden wirkt.

Public Health und die »Epidemiologie des Krieges«

Public Health benutzt die Epidemiologie als wichtigste Forschungsmethode, mittels derer sie Gesundheits- bzw. Krankheits- und Sterbedaten bezogen auf eine bestimmte Population untersucht und Korrelationen zu spezifischen Risikofaktoren prüft. Als Datenquellen für eine Epidemiologie des Krieges können Mortalitäts- und Morbiditätsabschätzungen für die Friedens- und Konfliktforschung genutzt werden. Da zivile Opfer in Kriegen die hauptsächlichen Leidtragenden darstellen, zählt die neuere Forschung zu Kriegsfolgen nicht nur die unmittelbaren Toten der kämpfenden Truppen, sondern bezieht insbesondere auch die zivilen Opfer des Krieges infolge der Zerstörung von Infrastruktur mit ein.

Die »Epidemiologie des Krieges«, die gesundheitliche Kriegsfolgen in ihren Dimensionen relativ präzise beschreiben kann, hat schon häufig die Ebene der Weltpolitik erreicht und beeinflussen können. Als aktuelle Beispiele seien hier die epidemiologischen Untersuchungen zur kriegsbezogenen Mortalität in der Demokratischen Republik Kongo von Ben Coghlan8 und die Studie über die Abschätzung der Kriegstoten infolge des Irakkriegs9 genannt. George W. Bush bescheinigte der Studie postwendend „Unglaubwürdigkeit“,10 obwohl sie mit den gleichen epidemiologischen Methoden erhoben worden war wie die Studien zur Abschätzung der kriegsbedingten Toten im Kongokrieg.

Mittels wissenschaftlicher Studien zu den Auswirkungen bestimmter Waffensysteme (Atomwaffen, Uranmunition, Streumunition, Phosphorbomben) gelang es den Medizinern immer wieder, in der Weltpolitik und in friedenswissenschaftlichen Diskursen Beachtung zu erlangen. Die Ergebnisse dieser medizinischen Forschungen fanden auch Eingang in den Menschenrechtsdiskurs, denn dadurch ließ sich die Verletzung des humanitären Völkerrechts beweisen.

Gesundheitsdaten als Konfliktbarometer

Allgemein gesagt, lassen sich Gesundheitsdaten als Konfliktbarometer nutzen. Das gilt für die Faktoren Anstieg der Krankheitshäufigkeit und Sterblichkeitsrate, besonders bei Kindern unter fünf Jahren, infolge von leicht behandelbaren Krankheiten sowie Anstieg der Rate an Unterernährung, an psychischen Störungen wie insbesondere Depressionen und Ängsten und der Flucht des Gesundheitspersonals aus der Region bzw. aus dem Land. Gesundheitsdaten lassen sich somit im Rahmen eines Frühwarnsystems für den Umschlag von Konflikten in bewaffnete Auseinandersetzungen und Kriege nutzen.

Häufig wird die Medizin und ihr Beitrag zur Gesundheit im Kontext der Diskussion um die Grundbedürfnisse »übersehen«. So stellen die Faktoren ausreichende Nahrung, Zugang zu sauberem Wasser und Behausung zwar wesentliche Voraussetzungen für die Erhaltung von Gesundheit dar, gleichzeitig gehört der freie Zugang zu medizinischer Behandlung aber ebenfalls zu den menschlichen Grundbedürfnissen.

Werden die Grundbedürfnisse der Menschen dauerhaft frustriert, so erleiden sie schwere körperliche und/oder seelische Schäden bis hin zum Tod. Für die jeweiligen betroffenen Individuen bedeutet dies die Wahl, entweder dauerhaft zu leiden bis zum Tod oder sich zu wehren. Deshalb gilt die dauerhafte Frustration von Grundbedürfnissen als eine wesentliche Erklärungsfolie für gewaltsame Konflikte. Obwohl sich empirisch ein enger Zusammenhang zwischen Armut und Krieg herstellen lässt, wäre es falsch, von einem direkten Automatismus in dieser Frage auszugehen. Häufig kommt es zu einer Kombination von Armut, wirtschaftlicher Unterentwicklung, politischen Unterdrückungsmechanismen und weiteren destabilisierenden Faktoren, z.B. die Abhängigkeit vom Rohstoffexport sowie ansteigende Waffenexporte, die dann in einer Ursachen-Wirkungskette zum Ausbruch von bewaffneter Gewalt führen.

Eine Untersuchung der Weltbank ergab, dass die Wahrscheinlichkeit, dass in einem Land mit einem jährlichen Pro-Kopf-Einkommen von 250 US$ in den nächsten fünf Jahren ein Bürgerkrieg ausbricht, bei 15% liegt. Bei einem Land mit einem jährlichen Pro-Kopf-Einkommen von 5.000 US$ beträgt die Wahrscheinlichkeit weniger als 1%.11

Gerade anhand dieser Forschungsdaten wird deutlich, wie wichtig die Überwindung von Hunger und Armut sowie die Anerkennung und Verwirklichung der Grundbedürfnisse auf Leben, Gesundheit und Wohlbefinden sind. So steht die Beseitigung von extremer Armut und des Hungers an erster Stelle der Millenium-Entwicklungsziele.

Die Entstehung von »Peace through Health«

Die Idee, dass die Arbeit für eine verbesserte Gesundheit der Bevölkerung mit dem Ziel der Friedensbildung verknüpft werden kann und dass die Medizin sogar einen direkten Beitrag zum Frieden leisten kann, entstand in den 1990er Jahren in unterschiedlichen organisatorischen Zusammenhängen: Hierzu trugen Mediziner aus verschiedenen politischen Organisationen bei, von den IPPNW-Sektionen aus USA, Kanada und Europa bis hin zu »Les Medecins contre la Guerre«, vom Roten Kreuz bis hin zur WHO.

Die Ärzte der berufsspezifischen Friedensorganisation IPPNW zeichneten sich durch eine besonders kriegskritische Einstellung aus. Sie sahen im Angesicht des drohenden Atomkriegs die unbedingte Notwendigkeit, sich aus ihrer Instrumentalisierung durch das Militär zu lösen. Es gelang ihnen in mehreren Ländern, Verweigerungskampagnen von medizinischem Personal zu initiieren, in denen diese die Teilnahme an jeglicher kriegmedizinischen Weiterbildung für die Vorbereitung eines Atomkriegs ablehnten.

Durch diesen Erfolg entstand bei den IPPNW-Ärzten die Überzeugung, dass es mittels »Ärztediplomatie« gelingen könne, in Zukunft erfolgreich weitere Kriege zu verhindern, also primäre Prävention zu leisten. Die McMaster-Universität in Kanada nahm mit dem Friedensforscher Graham McQueen und der IPPNWlerin Joanna St. Barbara die Präventionsidee auf. Beide gingen daran, Fallbeispiele der praktischen medizinischen Arbeit während und nach Kriegen, also die so genannte sekundäre und tertiäre Prävention, auszuwerten, theoretisch zu begründen und zu vertiefen.

Mitte der 1990er Jahre nahm auch die Weltgesundheitsorganisation die Idee auf, dass die Medizin einen konstruktiven Beitrag bei Prozessen von komplexen humanitären Katastrophen und in der Friedenskonsolidierung leisten kann. Es entstand das WHO-Programm »Health as a Bridge to Peace«. 1997 fand dazu in Annecy, Frankreich die erste WHO-Konferenz statt,12 auf der die Teilnehmer darin übereinstimmten, dass die Arbeit im Gesundheitssektor über ein Potential verfügt, Friedensbildungsprozesse in Nachkriegsgesellschaften zu fördern und zu stärken. Diese Überzeugung wurde durch die Konferenz der Weltgesundheitsversammlung 1998 bestätigt. Das Programm wurde als Strategie anerkannt, das Ziel „Gesundheit für alle“ der Ottawa-Charta der WHO besonders in Nachkriegsgesellschaften zu implementieren. Als Ziel definierte die WHO, „einen praktischen Wegweiser für Fähigkeiten im Bereich Friedenskonsolidierung für Gesundheitspersonal zu entwickeln“.

Public Health: konstruktive Konfliktbearbeitung und Friedenskonsolidierung

Verschiedene medizinische Organisationen arbeiteten Mitte der 1990er Jahre an der Idee, eine bessere öffentliche Gesundheitsversorgung mit Prozessen der Friedenskonsolidierung in Nachkriegsgesellschaften zu verbinden. Das »Nein zum Krieg« sollte mit dem »Ja« zu konstruktiver Konfliktbearbeitung und einer Arbeit für Friedenskonsolidierung verbunden werden.

Bei der Transformation einer Kriegsgesellschaft in eine Friedensgesellschaft hat sich aus medizinisch-psychologischer Sicht ein Ansatz bewährt, der die Arbeit am Wiederaufbau des öffentlichen Gesundheitswesens in Postkonflikt-Ländern mit den Methoden des Konfliktmanagements integriert. Organisationen aus dem Bereich ziviler Konfliktbearbeitung bzw. des Friedensaufbaus knüpfen dabei ein stabiles und enges Netzwerk mit lokalen Akteuren der Bürgerkriegsregion aus der Gesundheitsversorgung und der Gesundheitsplanung. Sie entwickeln spezifische, gemeinsam zu definierende Ziele im Rahmen der Gesundheitsversorgung des Postkonflikt-Landes, so geschehen im »Medizinischen Netzwerk für die soziale Rekonstruktion in den Republiken des früheren Jugoslawien«.13

In medizinischen Fachzeitschriften und auf Fachkongressen spielt diese Verbindung von medizinischer Friedensarbeit und Konfliktbearbeitung schon länger eine Rolle. Zwei Handbücher zum Thema sind zu nennen: »War and Public Health«14 sowie »Peace through Health«.15. Darüber hinaus entwickelten 19 europäische Organisationen den Online-Fortbildungskurs »Medical Peacework«,16 um besonders Medizinstudenten, Ärzte und weitere Gesundheitsberufler für medizinische Friedensarbeit zu gewinnen.

Damit sich die Maßstäbe von friedlicher Transformation von Gesellschaften tatsächlich durchsetzen, müssen die internationalen Akteure aus der Entwicklungshilfe- und der Umweltbewegung, aus der Friedens- und der Menschenrechtsbewegung lernen, koordiniert und eng aufeinander bezogen zu arbeiten. Ärzte mit einem holistischen Denken, die Kriegsprävention und Friedenskonsolidierung als sich gegenseitig bedingende Teile ihrer Arbeit für den Frieden begreifen, können hier schon jetzt und zukünftig einen wichtigen Platz einnehmen.

Anmerkungen

1) Johan Galtung (2007): Frieden mit friedlichen Mitteln. Friede und Konflikt – Entwicklung und Kultur. Münster: Agenda-Verlag.

2) Dieter Senghaas (2006): Konstruktiver Pazifismus im 21. Jahrhundert. Münster: Lit-Verlag.

3) Tom L. Beauchamp, James F. Childess (2001): Principles of Biomedical Ethics. Oxford: Oxford University Press.

4) Mary B. Anderson (1999): Do no harm: How aid can support peace – or war. Boulder, CO: Lynne Rienner Publishers.

5) Horst-Eberhard Richter: Folter und Humanität. Einführungsvortrag zur gleichnamigen IPPNW-Tagung am 6.11.2004 in Berlin; psychanalyse.lu/articles/RichterFolter.htm.

6) Vgl. auch Richard Garfield: The Epidemiology of War. In: Barry S. Levy, Victor W. Sidel (1997; letzte neue Auflage 2008): War and Public Health. Oxford: Oxford University Press. Rob Chase, Neil Arya: Epidemiology as a Tool for Interdisciplinary Peace and Health Studies. In: Joanna Santa Barbara, Neil Arya (2008): Peace through Health. How Health Professionals Can Work for a Less Violent World. Sterling, VA: Kumarian Press.

7) World Health Organization (1976): Constitution. Genf.

8) Ben Coghlan et.al.: Mortality in the Democratic Republic of Congo: a nationwide survey. Lancet 2006, 367, S.44-51.

9) Gilbert Burnham, Riyadh Lafta, Shannon Doocy, Les Roberts, (2006): Mortality after the 2003 invasion of Iraq: a cross-sectional cluster sample survey. Lancet 2006; 368, S.1421–28.

10) Kathrin Zinkant: Irakkrieg – 655.000 Tote. ZEIT online, 3.11.2006.

11) Paul Collier (2003): Breaking the conflict trap. World Bank Policy Research Report.

12) World Health Organzation: Health as a Bridge for Peace: Report on the First World Health Organization Consultative Meeting, Les Pensières, Annecy, 30-31 October 1997.

13) Paula Gutlove (2000): Health as a Bridge to Peace: The Role of Health Professionals in Conflict Management and Community Reconciliation, S.6; irss-usa.org/pages/documents/HBPViolencinHealth.pdf.

14) Barry S. Levy, Victor W. Sidel, V. (1997), op.cit.

15) Joanna Santa Barbara, Neil Arya (2008), op.cit.

16) medicalpeacework.org.

Angelika Claußen ist niedergelassene Ärztin für Psychiatrie und Psychotherapie in Bielefeld. Sie war von 2005 bis 2011 Vorsitzende der deutschen Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs (IPPNW). Ihre Masterarbeit »Peace through health als moderner Ansatz des konstruktiven Pazifismus« kann ab Mitte Februar in der IPPNW-Geschäftsstelle bestellt werden.

Frieden durch Recht?

Frieden durch Recht?

von Jürgen Nieth

Die Bilder, die diese Ausgabe illustrieren, zeigen Kriegsszenen: den Kampf Mann gegen Mann, das Gemetzel, Folter und Verbrechen an der Zivilbevölkerung vor über 200 Jahren. Seitdem hat sich mit der Weiterentwicklung der Waffen das Bild des Krieges ständig verändert, und das Verhältnis der Menschen zum Krieg unterliegt ebenfalls einem stetigen Wandel.

Vor dem Ersten und Zweiten Weltkrieg konnte (nicht nur) in Deutschland eine erschreckende Kriegsbegeisterung erzeugt werden. Seit Vietnam und dem russischen Afghanistankrieg aber sind hohe Verluste in den Reihen des eigenen Militärs kaum noch zu vermitteln. Von Irak über Afghanistan bis Libyen – die Angreifenden nutzen heute ihre technologische Überlegenheit, um die eigenen Verluste zu minimieren, und sie versuchen alles, um dem Krieg den Mantel eines chirurgischen Eingriffs überzustülpen. Dazu gehört, dass die Toten der anderen Seite selten erwähnt und die eigenen Gräueltaten als Kollateralschäden verniedlicht werden.

Etwa zur gleichen Zeit als Goya das Bild zur Argumentation gegen den Krieg nutzte, schärfte Immanuel Kant in seinen Schriften die Argumente für den Frieden. Lothar Brock (S.9) verweist in dieser W&F-Ausgabe darauf, dass Kant dabei die Vertreter des klassischen Völkerrechts als „leidige Tröster“ verspottete, deren Lehren zur Rechtfertigung eines Kriegsangriffs herangezogen würden, aber nie zur Unterlassung eines Krieges führten.

Wie in der Kriegsführung hat sich auch im Völkerrecht vieles geändert. Bis 1945 reichte dem Völkerrecht die »Kriegserklärung«. Die Frage, ob es ein gerechter oder ungerechter Krieg war, beantworteten die Sieger dann im Nachhinein. Die UN-Charta von 1945 leitete eine neue Epoche ein: Sie verbietet den Krieg. Das Gewaltverbot in Artikel 2(4) lässt nur zwei Ausnahmen zu: Erstens nach Ermächtigung des Sicherheitsrates, wenn dieser eine Angriffshandlung oder eine Bedrohung des Friedens feststellt, zweitens zur Selbstverteidigung, bis der Sicherheitsrat die erforderlichen Maßnahmen ergreift.

Die Deklaration der internationalen Menschenrechte, die Einrichtung eines Internationalen Gerichtshofes und eines Internationalen Strafgerichtshofes waren weitere wichtige Schritte in Richtung einer Friedensordnung. Aber heißt das schon, dass das Recht heute den Frieden sichert? Der Praxistest zeigt leider ein anderes Bild.

Die UN-Charta wird missachtet, UN-Beschlüsse werden zwecks Kriegsführung uminterpretiert (Peter Becker, S.13). Dafür drei Beispiele:

Für den Jugoslawienkrieg gab es kein UN-Mandat, Deutschland beteiligte sich trotzdem daran.

Der UN-Beschluss zu Afghanistan mandatierte nur den Kampf gegen die Taliban. Diese waren schnell besiegt, der Krieg dauert aber bereits über zehn Jahre.

Für Libyen wurde vom UN-Sicherheitsrat eine Flugverbotszone beschlossen. Nach drei Tagen hatte Gaddafi nichts mehr, was fliegen konnte. NATO-Mitglieder aber bombten weiter, über 20.000 Einsätze bis zum nicht-mandatierten »regime change«.

Beschlüsse des Internationalen Gerichtshofes (IGH) werden ignoriert:

In einem Rechtsgutachten hat der IGH 1986 festgestellt, dass „die Bedrohung durch oder Anwendung von Atomwaffen generell im Widerspruch“ zum internationalen Recht stehe. Aber immer noch sind tausende Atombomben einsatzbereit.

Gleichfalls 1986 verurteilte der IGH die USA, an Nicaragua Schadenersatz zu zahlen wegen der vorausgegangenen Finanzierung der Contras und der Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates. Bis heute haben die USA nichts bezahlt.

Der Bau der israelischen Sperrmauer auf palästinensischem Boden ist laut IGH illegal, dennoch gehen die Arbeiten daran weiter.

Auch die Anti-Folter-Konvention der UN wird in vielen Ländern missachtet. Unsere Titelseite zeigt die berüchtigte Folterhölle des US-Militärs, Camp X-Ray der Guantanamo Bay Naval Base.

Fast zwei Drittel der UN-Mitglieder haben das Statut des Internationalen Strafgerichtshofes (IStG) ratifiziert, 32 weitere haben immerhin ihre Unterschrift hinterlegt. Die übrigen Länder entziehen sich dem Geltungsbereich des IStG (Michael Haid, S.15).

Der Weg vom Kriegs- zum von Allen geachteten Friedensrecht ist lang und steinig. Sicher, der klassische Eroberungskrieg lässt sich heute nicht mehr propagieren. Zur Rechtfertigung von Kriegen muss gelogen, müssen Beweise gefälscht werden (siehe Jugoslawien und Irak), fürs Massenbewusstsein braucht man die »humanitäre Intervention« als trojanisches Pferd.

Damit Völkerrecht zum Friedensrecht wird, muss es für alle bindend sein, auch für die Großmächte, ihre Politiker und Militärs. Friedensrecht heißt ebenso, Recht darf nicht zur Rechtfertigung eines Krieges missbraucht werden. Auch die so genannte humanitäre Intervention führt mit großer Sicherheit in eine humanitäre Katastrophe.

Es bleibt dabei: Kriege müssen verhindert werden.

Ihr Jürgen Nieth

Peacebuilding is not a puzzle

Peacebuilding is not a puzzle

von Natascha Zupan

Frieden und Entwicklung: Diese beiden Bereiche sind vielfältig miteinander verknüpft. Bei den zunehmenden Landkonflikten springt dies besonders in Auge, die konstruktive Rolle von Bildung bei der Prävention und Transformation von Gewaltkonflikten ist ein anderes Beispiel. Viele Organisationen sind sich der Überschneidung bewusst, manche arbeiten deshalb auch in beiden Bereichen. So liegt es nahe, sich besser zu vernetzen, sich über die praktische Arbeit auszutauschen und miteinander zu kooperieren. Zu diesem Zweck hat sich die »Arbeitsgemeinschaft Frieden und Entwicklung« zusammengeschlossen, die kürzlich den zehnten Geburtstag feiern konnte.

Die britischen Wissenschaftler, die seit einigen Jahren am Overseas Development Institute (ODI) zu Komplexitätstheorien in der Entwicklungspolitik arbeiten – zum berühmten Flügelschlag des Schmetterlings also und seinen unvorhersehbaren Folgen für die Umwelt – , würden wohl so urteilen: „Peacebuilding is not a puzzle, it’s a mess“.1 An diese »Chaostheorien« haben die staatlichen und zivilgesellschaftlichen Gründungsmitglieder der Arbeitsgemeinschaft Frieden und Entwicklung (FriEnt) vor zehn Jahren sicherlich nicht gedacht, als die Idee entstand, zu Fragestellungen der entwicklungspolitischen Friedensarbeit zusammenzuarbeiten.2 Aber ihnen war bewusst, wie komplex die Herausforderungen in diesem Bereich sind, dass sich einzelne Problemstellungen in (Post-) Konfliktgesellschaften nicht wie Puzzleteile klar voneinander abgrenzen lassen, sondern in dynamischen und manchmal schwer durchschaubaren Wechselbeziehungen zueinander stehen.

Folgt man den Kategorien der Komplexitätstheorien, hat man es hier mit einem klassischen »Durcheinander« zu tun. Das ODI empfiehlt in Antwort darauf u.a. dezentrale Entscheidungsstrukturen, Kooperation und Netzwerkbildung sowie den kontinuierlichen Austausch zwischen Wissenschaft und Praxis. Die Initiatoren von FriEnt haben diese Empfehlungen gewissermaßen vorweg genommen: In gemeinsamen Vernetzungs- und Lernprozessen sollen die unterschiedlichen – und vielfältigen – Perspektiven, Erfahrungen, Arbeitsansätze und Partnerzugänge der FriEnt-Mitglieder zusammengeführt werden.3 Informations- und Wissensvermittlung, die Gestaltung eines offenen Dialogs zwischen den Organisationen, Beratung sowie Impulse für Kooperation gehören zum Kernmandat des FriEnt-Teams.4

Seit den Anfängen der Arbeitsgemeinschaft hat sich vieles im Bereich der entwicklungspolitischen Friedensarbeit getan: Das Handlungsfeld hat sich ausdifferenziert und professionalisiert, auf nationaler wie multilateraler Ebene sind neue Strukturen geschaffen worden, Strategien, Arbeitsansätze und Analysemethoden wurden weiterentwickelt. Mit den Kriegen in Kosovo, Afghanistan und Irak haben sich aber auch die Rahmenbedingungen für zivile Krisenprävention und Friedensförderung verändert. Nicht »Frieden und Entwicklung«, »do no harm« oder Präventionsmechanismen prägen die heutigen Debatten, sondern »Sicherheit und Entwicklung«, das Zusammenwirken ziviler und militärischer Akteure im Rahmen von »whole of government approaches« sowie »Statebuilding« und der Umgang mit »fragilen Staaten«.

Diese Entwicklungen hatten und haben Auswirkungen auf die Arbeitsgemeinschaft und ihre Mitglieder. Zum einen gibt es aufgrund der Ausdifferenzierung eine große Vielzahl von Themen und Sektoren, was sich auch im Arbeitsprogramm widerspiegelt. So beschäftigt sich FriEnt u.a. mit Prävention im Kontext gesellschaftlichen und politischen Wandels, Friedensentwicklung und Sicherheit, Paradigmen der Friedensförderung, Transitional Justice sowie Prozessen auf EU- und UN-Ebene. Zum anderen hat der Diskurs um Sicherheit und Entwicklung in den letzen Jahren sehr viel Zeit und Ressourcen absorbiert. Weniger Raum blieb hingegen für das Nachdenken über eine Konkretisierung der in der Entwicklungspolitik eher vage formulierten »strukturellen Prävention« und das sektorspezifische Mainstreaming. Beiden Aspekten möchte FriEnt in Zukunft verstärkt Aufmerksamkeit widmen. Bildung und Friedensförderung sowie Land- und Ressourcenkonflikte sind auch vor diesem Hintergrund Themenschwerpunkte. Im Sinne eines Agenda-Keeping bleibt die praktische und konzeptionelle Weiterentwicklung von Entwicklungszusammenarbeit und Friedensförderung somit Priorität der Arbeitsgemeinschaft.

Was haben wir aus zehn Jahren interinstitutionelle Zusammenarbeit gelernt? Die Erfahrungen lassen sich auf einen kurzen Nenner bringen: In der Arbeitsgemeinschaft, und insbesondere in der Arbeit des FriEnt-Teams, spiegeln sich zentrale Herausforderungen entwicklungspolitischer Friedensarbeit in (Post-) Konfliktgesellschaften im »Kleinen« wider: Offenheit und Vertrauensbildung benötigen Zeit und Geduld, sichtbare »Produkte« entstehen dabei zunächst nicht. Wahrnehmungen gegenüber »dem anderen« müssen durchbrochen, unterschiedliche Positionen und Arbeitsweisen verständlich gemacht werden. Alte Konfliktlinien, nicht nur zwischen »dem Staat« und »der Zivilgesellschaft«, sondern auch zwischen zivilgesellschaftlichen Organisationen können Kooperation und Synergiebildung ebenso erschweren wie unterschiedliche Arbeitsabläufe, Zeitdruck oder Konkurrenz. Und obwohl es nicht an fundierten Kenntnissen, Konzepten und gut aufgearbeiteten Erfahrungen fehlt, lässt der Arbeitsalltag eine entsprechende Umsetzung in die Praxis nur bedingt zu.

Vor diesem Hintergrund versteht sich das FriEnt-Team als Übersetzer, Faszilitator und Impulsgeber. Die interinstitutionelle Zusammensetzung ist kein Koordinationsmechanismus, sondern ermöglicht vor allen Dingen Freiraum für kritische Reflektion, Dialog-, Vernetzungs- und Lernprozesse.

Anmerkungen

1) Ben Ramalingan and Harry Jones (2006): Exploring the science of complexity: Ideas and implication for development and humanitarian efforts. Overseas Development Institute. Harry Jones (2011): Taking responsibility for complexity. How implementation can achieve results in the face of complex problems. Overseas Development Institute.

2) Zu den Anfängen der Arbeitsgemeinschaft siehe das Interview mit Adolf Kloke-Lesch und Jürgen Nicolai in: FriEnt: Entwicklung für Frieden. Berichte 2009-2010. Juli 2011.

3) Die Arbeitsgemeinschaft setzt sich seit 2011 aus neun Mitgliedern zusammen: Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), Evang. Entwicklungsdienst (EED), Friedrich Ebert Stiftung (FES), Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ), Heinrich Böll Stiftung (hbs), Katholische Zentralstelle für Entwicklungshilfe (KZE)/Misereor, Konsortium Ziviler Friedensdienst, Plattform zivile Konfliktbearbeitung/Institut für Entwicklung und Frieden (INEF), Zentrum für internationale Friedenseinsätze (ZIF).

4) Das FriEnt-Team setzt sich überwiegend aus Mitarbeitenden der Mitgliedsorganisationen zusammen. Weitere Informationen zu den Aufgaben und Schwerpunkten von FriEnt findet sich unter frient.de.

Natascha Zupan ist Leiterin der Arbeitsgemeinschaft Frieden und Entwicklung (FriEnt).

Macht in Konflikten – Macht von Konflikten

Macht in Konflikten – Macht von Konflikten

AFK-Jahreskolloquium 2011, 7.-9. April 2011, in Kooperation mit der Ev. Akademie Villigst

von Christine Schnellhammer und Friedrich Plank

Das Jahreskolloquium der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung 2011 wurde in Kooperation mit der Ev. Akademie Villigst organisiert und fand vom 7.-9. April 2011 an der Akademie statt. Gefördert wurde die Tagung durch die Deutsche Stiftung Friedensforschung (DSF) und die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb).Auf dem Kolloquium wurde dem komplexen Verhältnis von Macht und Konflikten nachgegangen, u.a. anhand der Frage, welche Rolle Macht bzw. mächtige Akteure für die Entstehung, die Eskalation, aber auch die Prävention und Bearbeitung von Konflikten spielen. Zudem gehen von Konflikten und ihren Austragungsformen (z.B. Sanktionsdrohungen, militärischer Abschreckung etc.) Machtwirkungen aus, etwa auf die Veränderung von Institutionen, die Handlungsmöglichkeiten von Konfliktparteien außerhalb des Konfliktaustrags oder die Wahrnehmung von Konfliktlinien, womit Themen benannt sind, die auf verschiedenen Panels des AFK-Kolloquiums behandelt wurden.

Eröffnung

Das AFK-Kolloqium wurde inhaltlich mit dem Vortrag von Vivienne Jabri (London) zum Thema »Cosmopolitan Wars and the Transformation of Global Politics« eröffnet. Für Vivienne Jabri ist die Ursache der Entstehung neuer Kriege im Wandel vom Politischen zum Gesellschaftlichen zu sehen. Die Definition des Internationalen, welche über die Wichtigkeit des Staates hinaus auch nicht-staatliche Akteure und den Schutz des Menschlichen beinhaltet, führte die Rednerin zu einem Paradox in Kants Kosmopolitismus. Dieses bestehe in der engen Beziehung zwischen dem kosmopolitischen Ethos und dem Bekenntnis zu modernen Institutionen. Im Gegensatz zu Kant bzw. Habermas sei die internationale Neugestaltung von Bevölkerungen, deren Konsequenzen das Führen von Kriegen im Namen der Humanität und Interventionen seien, nicht Bestandteil der Lehre von Foucault. Die gefährliche Vermischung von Krieg und Frieden bei Habermas müsse stärker thematisiert werden, und letztlich müsse man eine Entscheidung treffen zwischen Foucault und Habermas.

In der darauf folgenden Diskussion sorgte diese Dichotomie zwischen Habermas und Foucault für rege Beteiligung. Während sich Foucaults Kritik an strukturellen Machtbeziehungen auf die weltpolitische Realität konzentriert, möchte Habermas einen Ideal-Zustand aufzeigen.

Breit gefächerte Panels

In den sich anschließenden Panels waren die Faktoren »Macht« und »Machtverteilung« ebenso Gegenstand der präsentierten Papiere wie etwa Piraterieforschung in Deutschland. Mit nichtstaatlichen Gewaltakteuren beschäftigten sich auch weitere Papiere, welche den Fokus z.B. auf Rebellen im Kosovo, die Hisbollah oder Nichtregierungsorganisationen legten. Weitere Panels hatten die Analyse von (Be-) Deutungsmacht und »Interventionen im Rahmen des Konzeptes der Transitional Justice« zum Thema. Die Auslandseinsätze der Bundeswehr – unter anderem anhand des Soldatenbildes und der Wirkungen von Soldatenverwundung oder -tod – wurden ebenso thematisiert wie »Macht in Interventionsprozessen« und »Macht (und Akteure) im Konflikt«. In anderen Panels beschäftigten sich die TeilnehmerInnen mit diskursiven Konstruktionen von Macht und Konflikt oder auch mit dem Faktor Macht in der Hochschullehre.

Neue Publikationsstrategie der AFK und Christiane Rajewsky-Preis

Mit der veränderten Konzeption der AFK-Kolloquien durch einen offenen »Call for Panels and Papers« geht auch eine neue Publikationsstrategie der AFK einher, die beim Kolloquium vorgestellt wurde: Die Sammelbände der AFK-Schriftenreihe werden ab 2012 durch die»Zeitschrift für Friedens- und Konfliktforschung« (ZeFKo) abgelöst, die als reviewed journal zweimal pro Jahr erscheint. Die ZeFKo veröffentlicht methodisch reflektierte Studien aus unterschiedlichsten Disziplinen zu allen Fragestellungen der Friedens- und Konfliktforschung. Die neue Zeitschrift soll ein wichtiges Kommunikationsforum für die Auseinandersetzung um begriffliche, theoretische, methodische und konzeptionelle Fragen der Forschung zu Gewalt, Konflikt und Frieden sein und dabei insbesondere auch die interdisziplinären Debatten in der Friedens- und Konfliktforschung anregen.

Den Christiane Rajewsky-Preis 2011 erhielt Claudia Brunner für ihre Dissertation: »Sinnformel Selbstmordattentat. Epistemische Gewalt und okzidentalistische Selbstvergewisserung in der Terrorismusforschung«.1 Die Arbeit untersucht, in welcher Weise die englischsprachige Terrorismusforschung sich mit Selbstmordattentaten befasst. Mehrheitlich, so das Ergebnis der Studie, wird ein Bild vom Selbstmordattentat gezeichnet, das von vornherein die Bekämpfungsperspektive der Politik übernimmt. Vielfältige Ungleichheiten und Herrschaftsverhältnisse werden ausgeblendet und zugleich politische Maßnahmen gerechtfertigt, die nur schwer vereinbar mit dem eigenen Wertesystemen sind. Die Arbeit führt unterschiedliche Wissenstraditionen zusammen und bietet eine überzeugende methodische Umsetzung theoretischer Debatten. Zugleich trägt sie mit ihrer kritischen Reflektion zu der Art von sozialwissenschaftlicher Grundlagenforschung bei, die dringend nötig ist, um neue Denkräume öffnen und friedlichere Handlungsweisen finden zu können.

Keynote und abschließender Roundtable

Als Einstieg zum abschließenden Roundtable hielt Anja Weiß (Duisburg) einen Impulsvortrag, der sich mit symbolischer Herrschaft auseinandersetzte. Der Begriff der symbolischen Herrschaft gehe auf Pierre Bourdieu zurück und meine die selbstverständliche Akzeptanz von hegemonialen Strukturen in der Gesellschaft. Der Kulturbegriff sei hingegen recht vage definiert. Kultur werde aber dort sichtbar, wo sich Gesellschaften sehr schnell wandeln, Kompromisse durch Machtgefälle zwischen Gruppen behindert werden und ein Teil der Bevölkerung schließlich von der Kompromissbildung ausgeschlossen wird. Die Austragung interkultureller Konflikte führt in einer symmetrischen Konstellation zumeist zur Verfestigung von Stereotypen. In einer asymmetrischen Konstellation existieren indessen immer eine dominante und eine dominierte Gruppe. Aus der Asymmetrie folgt, dass sich die Austragung kultureller Konflikte äußerst schwierig gestaltet. Wie kann man aber agieren unter der Prämisse, dass der Konflikt weiter besteht? Hegemonieverhältnisse müssen deutlich gemacht und differenzierte Strategien für Dominierte entwickelt werden. Macht, Asymmetrie, Konflikt und symbolische Herrschaft seien eng miteinander verklammert.

Die Anregungen der Keynote von Anja Weiß wurden auf dem Abschlusspanel von Julika Bake, Werner Distler, Hartwig Hummel und Christoph Weller aufgegriffen. So wurde in einer engagierten Diskussion herausgearbeitet, dass Machtgefälle und Asymmetrien häufig nicht auf den ersten Blick erkennbar seien. Die Gleichzeitigkeit von Machttypen finde ihren Ausdruck darin, dass die dominante Gruppe in einer Arena möglicherweise zugleich Dominierte innerhalb einer anderen Arena ist. Im weiteren Verlauf der Diskussion ergänzte Anja Weiß, dass es ihr in der vorgestellten Analyse vor allem um die Darstellung des ständigen Anpassungsdrucks gehe, welcher auf stabil institutionalisierten Machtverhältnissen und mangelnder Artikulationsfähigkeit einer dominierten Gruppe beruhe.

Resümee

Insgesamt hatten die über hundert TeilnehmerInnen des AFK-Kolloquiums 2011, unter denen der wissenschaftliche Nachwuchs stark vertreten war, viele Möglichkeiten, Einblicke in aktuelle Forschungsfragen und -projekte der Friedens- und Konfliktforschung zu erhalten und sich aktiv in anregende fachliche Diskussionen einzubringen. Zudem wurde auf dem Jahreskolloquium der neue AFK-Arbeitskreis »Kultur und Religion« gegründet, der sich mit der inter- bzw. transdisziplinären Erforschung kultureller und religiöser Aspekte von Frieden und Konflikt beschäftigt.

Einen ausführlichen Tagungsbericht mit Beschreibungen aller Panels und Papiere, die außerdem im virtuellen Paper-Room des Kolloquiums abrufbar sind, finden Sie auf der AFK-Webseite
www.afk-web.de/afk-home/aktivitaeten/tagungsberichte.html.

Anmerkungen

1) Eine Rezension des aus dieser Dissertation hervorgegangenen Buches findet sich in dieser Ausgabe von W&F. [die Red.]

Christine Schnellhammer und Friedrich Plank unter Mitarbeit von Lisa Bunselmeyer, Yvonne Eifert, Jana Groth und Pia Popal

Zurück auf Los

Zurück auf Los

Philippinische Friedensverhandlungen in Oslo

von Rainer Werning

Manila signalisiert nach Jahren der Funkstille seine Bereitschaft, mit der Nationalen Demokratischen Front der Philippinen in Norwegens Hauptstadt erneut über Frieden zu verhandeln. Rainer Werning berichtet von der Vorgeschichte und zieht eine Zwischenbilanz.

Vor einem Vierteljahrhundert, als im Februar 1986 die Marcos-Diktatur stürzte, war die Neue Volksarmee (NPA), die Guerillaorganisation der Kommunistischen Partei der Philippinen (CPP), nach Einschätzung US-amerikanischer Militärexperten „die weltweit am schnellsten wachsende Guerillabewegung“. Mit Ausnahme von Vietnam, Laos und Kambodscha sind in den anderen Ländern Südostasiens– wie beispielsweise in Indonesien, Malaysia und Thailand – einst starke kommunistische Parteien von der politischen Bühne verschwunden oder durch langwierige »Counterinsurgengy« (Aufstandsbekämpfung) in die Knie gezwungen worden. Nicht so die CPP beziehungsweise die politische Dachorganisation der Nationalen Demokratischen Front (NDFP, siehe nebenstehender Text). Wenngleich es innerhalb der Partei in der ersten Hälfte der 1990er Jahre zu erbitterten, teils blutig ausgetragenen, Debatten über die künftige Strategie und Taktik kam, ist es den Armed Forces of the Philippines (AFP) und der Philippine National Police nicht gelungen, ihr das Rückgrat zu brechen.

Noch zum Jahresbeginn konstatierte der AFP-Sprecher Brigadegeneral Jose Mabanta jr., die NPA stelle nach wie vor die „größte Herausforderung für die innere Sicherheit“ des Inselstaates dar. Deshalb erscheine sie zusammen mit der CPP in den USA und einigen europäischen Ländern auch noch immer auf der Liste »terroristischer Organisationen«. Mabantas Offizierskollege, Generalmajor Jorge Segovia, Divisionskommandeur in der Davao-Region auf der Südinsel Mindanao, traut den Rebellen indes nicht zu, den Kampf militärisch für sich zu entscheiden. Doch werde, so der Zwei-Sterne-General, der »kommunistische Aufstand« anhalten, solange grundlegende soziale Probleme nicht angegangen und gelöst würden. Eine bemerkenswerte Abkehr von jenen martialischen Tönen, mit denen AFP-Offiziere seit der Marcos-Ära (1966-86) jeweils im Tandem mit ihrem Oberkommandierenden, dem im Malacanang-Palast zu Manila residierenden Präsidenten, tremoloartig die alsbald bevorstehende „totale Niederlage“ der NDFP-CPP-NPA prognostiziert hatten.

Dialogbereitschaft in Oslo

Um eben diese virulenten sozialen (wesentlich aus Land- und Bodenbesitz resultierenden) Probleme anzugehen und den zwischenzeitlich gerissenen Gesprächsfaden wieder aufzunehmen, trafen sich unter der Schirmherrschaft des norwegischen Außenministeriums Mitte Januar 2011 die Chefunterhändler beider Seiten. Als Vertreter der seit Ende Juni 2010 amtierenden Aquino-Regierung war Alexander Padilla1 nach Oslo gereist, wo er vom 14. bis zum 18. Januar erste Sondierungsgespräche mit dem Emissär der NDFP-Führungsspitze, Luis G. Jalandoni,2 führte. In einem am 18. Januar gemeinsam veröffentlichten Kommuniqué kündigten Padilla und Jalandoni an, vom 15. bis zum 21. Februar in der norwegischen Hauptstadt die seit über sechs Jahren ins Stocken geratenen Friedensverhandlungen offiziell zu reaktivieren.3 Offensichtlich zeigt man sich im – gemäß chinesischem Kalender – Jahr des Hasen nach Jahren erbitterter Konfrontation wieder in Friedenslaune. Entsprechend optimistisch fielen denn auch die Statements beider Verhandlungsführer aus, die per Handschlag Freundlichkeiten austauschten.

Nach dem Sturz der Marcos-Diktatur Ende Februar 1986 war es unter der neuen Präsidentin und Mutter des jetzigen Präsidenten, Corazon C. Aquino, zur ersten Verhandlungsrunde zwischen Manila und der NDFP-Führung gekommen. Nach einem ständigen Auf und Ab und kurzzeitigen Unterbrechungen der Gespräche, für die sich beide Seiten gegenseitig die Schuld gaben, kam es bis 1998 (nach zahlreichen, vorwiegend in den Niederlanden stattgefundenen Treffen) immerhin zur Unterzeichnung zweier wegweisender Vereinbarungen: dem Gemeinsamen Abkommen über Sicherheits- und Immunitätsgarantien (JASIG) und dem Umfassenden Abkommen zur Wahrung der Menschenrechte und des Internationalen Humanitären Rechts (CARHRIHL).4 Letzteres sah die Schaffung eines Gemeinsamen Monitoring-Komitees (JMC) vor, das entsprechenden Beschwerden nachgehen und Rechtsverstöße gemeinsam prüfen sollte. Das JMC nahm seine Arbeit im Frühjahr 2004 auf, als – nunmehr unter der Ägide des norwegischen Außenministeriums – in Oslo zwischen dem Februar und Juni desselben Jahres weitergehende Verhandlungen stattfanden.

Aus den Fugen gerieten die beidseitigen Verhandlungen, nachdem die USA, die Europäische Union und andere Länder in wohlwollender Übereinstimmung mit der damaligen Regierung unter Präsidentin Gloria Macapagal-Arroyo (2001-2010) die CPP und NPA sowie José Maria Sison, den Gründungsvorsitzenden der CPP und heutigen politischen Chefberater der NDFP, als »terroristisch« brandmarkten. Übrigens sehr zum Verdruss der norwegischen Regierung, die ihre Rolle als Konfliktmediatorin konterkariert sah und deren Unterhändler sich düpiert fühlten. Manila beharrte sodann auf dem Standpunkt, JMC-Treffen seien nicht vonnöten, solange die formellen Friedensgespräche stockten, bis die Unterhändler der Regierung die Verhandlungen schließlich im August 2005 einseitig und offiziell suspendierten.

Die Folge: Die nächsten sechseinhalb Jahre herrschte Funkstille, und die bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Regierungstruppen und NPA-Einheiten eskalierten in einem Klima staatlich sanktionierter »Aufstandsbekämpfung«, in deren Verlauf bis zum Ende der Amtszeit Arroyos Ende Juni 2010 annähernd 1.200 Personen – vorwiegend linke Aktivisten, engagierte Bauern- und Arbeiterführer, Gewerkschafter, Medienleute und sogar medizinisches Personal – Opfer »außergerichtlicher Hinrichtungen« wurden. Nunmehr erklärten sich beide Parteien bereit, ohne Vorbedingungen an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Im Rahmen einer Goodwill-Geste und als vertrauensbildende Maßnahme signalisierte die Regierungsseite überdies ihre Bereitschaft, zwischenzeitlich gefangen genommene Verhandlungsführer der NDFP auf freien Fuß zu setzen. Laut deren Angaben befinden sich gegenwärtig landesweit noch über 300 politische Gefangene hinter Gittern.5

Ambitionierte Agenda

In Oslo beherrschten folgende Punkte die Agenda:

1. Einvernehmlich sollen die bis dato gemeinsam unterzeichneten Abkommen (JASIG und CARHRIHL) gewürdigt und deren Gültigkeit bekräftigt werden.

2. Das JMC soll reaktiviert werden und dessen Mitglieder sollen regelmäßig Treffen abhalten.

3. Nachdem bereits im April und Juni 2001 eine erste Verhandlungsrunde stattgefunden hatte, ist jetzt die Ausarbeitung eines Umfassenden Abkommens über sozioökonomische Reformen (CASER) avisiert.

4. Eine neu zu bildende gemeinsame Arbeitsgruppe soll sich dem Themenkomplex Politische und Verfassungsmäßige Reformen (PCR) widmen.

5. Sollte darüber eine Übereinkunft erzielt und ein entsprechendes Vertragswerk unterschriftsreif sein, könnten abschließend die Modalitäten einer Beendigung der Feindseligkeiten sowie eine Demobilisierung der bewaffneten Guerillaeinheiten festgelegt werden.

Dieses Prozedere kam den Überlegungen und Erwartungen der NDFP weitgehend entgegen. In früheren Stellungnahmen hatte deren Führung auf eben diese Sequenz neuerlicher Gesprächs- und Verhandlungsrunden gedrängt. Angesprochen auf einen konkreten Zeitplan, gab Manilas Emissär Padilla zu verstehen, dass er davon ausgehe, innerhalb von drei Jahren ein »Gesamtpaket« schnüren zu können, so dass sich noch während der Amtszeit von Präsident Aquino (sie läuft im Sommer 2016 aus) die ersten Reformen implementieren ließen. Doch die ursprünglich für Juni 2011 angesetzte nächste Verhandlungsrunde wurde verschoben, da die NDFP der Regierung vorwirft, fortgesetzt Counterinsurgency-Maßnahmen im Hinterland durchzuführen und gegen den Geist des JASIG zu verstoßen.

Geteiltes Echo

Die Reaktionen auf diese Entwicklung waren überwiegend positiv, wenngleich auch kritische Töne zu vernehmen sind. Zunächst einmal ist es bedeutsam, dass wenigstens wieder miteinander geredet wird und somit unter der Zivilbevölkerung die Hoffnung keimen kann, nicht regelmäßig in die Schusslinien bewaffneter Auseinandersetzungen zu geraten. Zu würdigen ist auch die Zusammensetzung der Regierungsdelegation. Endlich ist diese nicht durchsetzt mit Kommissköpfen, abgehalfterten Generälen und ausrangierten Politikern, deren vorrangiges Ansinnen darin bestand, martialische Drohgebärden mit ständigen Kapitulationsforderungen zu verbinden. Die Diplomaten im Osloer Außenministerium genießen vollumfänglich das Vertrauen aller Beteiligten. In der Vergangenheit hatten sie gegen den Stachel gelöckt und sich dagegen verwahrt, im Sog der manisch-repressiven Politik der Bush-Administration Organisationen und Personen vorschnell als »terroristisch« zu etikettieren.

Unter den philippinischen Linken, von denen seit den 1960er Jahren der Löwenanteil im Spektrum der NDFP-CPP-NPA sozialisiert und politisiert wurde, herrscht nach hitzigen internen Debatten in den 1990er Jahren Uneinigkeit in der Beurteilung neuer Friedensverhandlungen. Dr. Carol Pagaduan-Araullo, seit Jahren eine engagierte Aktivistin, gegenwärtig Vorsitzende des Linksbündnisses BAYAN (Neue Patriotische Allianz) und Kolumnistin der führenden philippinischen Wirtschaftszeitung Business World, bewertet sie positiv und als einen Durchbruch. Dennoch ist ihr Fazit mit einer Portion Skepsis untermalt: „Gewiss werden altbekannte Spielverderber wie Militaristen, das Big Business, ausländische Interessensvertreter, die unter dem bestehenden System immens profitieren, auch weiterhin alles daran setzen, die Gespräche zu stören und Verhandlungsresultate zu vereiteln. Umso mehr gilt es deshalb, die Wachsamkeit und politische Teilnahme der Öffentlichkeit in einer Weise zu erhöhen, dass es solchen Kräften nicht gelingt, wie in den vergangenen Jahren zu schalten und zu walten.“ 6

Anmerkungen

1) Padilla ist Staatssekretär im Gesundheitsministerium und ein angesehener Menschenrechtsanwalt. Seinem Verhandlungsteam gehört mit Pablito Sanidad ein weiterer renommierter Menschenrechtsanwalt an, der bereits während der Ära Marcos zahlreichen politischen Gefangenen und politisch Verfolgten Rechtsbeistand leistete

2) Jalandoni und seine Frau, Coni Ledesma, leben seit Langem im niederländischen Utrecht im Exil.

3) Siehe: Manila wants quick end to communist rebellion. In: Philippine Daily Inquirer (Manila), January 19, 2011.

4) Näheres in: NDFP Declaration of Undertaking to Apply the Geneva Conventions of 1949 and Protocol I of 1977. Published by the NDFP Nominated Section to the Joint Secretariat of the GRP (Government of the Republic of the Philippines)-NDFP Joint Monitoring Committee with assistance from The Royal Norwegian Government. A Publication of the NDFP Human Rights Monitoring Committee, Booklet No. 6, Quezon City, 2005.

5) Peace talks set; gov’t to free 12 Reds, in: Philippine Daily Inquirer, January 20, 2011.

6) Carol Pagaduan-Araullo in ihrer Kolumne »Streetwise« in: Business World (Manila), January 21-22, 2011.

Die Nationale Demokratische Front der Philippinen (NDFP)

Die NDFP ist ein Bündnis von gegenwärtig 17 Mitgliedorganisationen, das am 24. April 1973 im politischen Untergrund entstand. Dabei handelt es sich wesentlich um sektorale Organisationen wie Gruppierungen von Jugendlichen, Frauen, Arbeitern, Bauern, Fischerleuten, Kunst- und Kulturschaffenden, medizinischem Personal etc. Politisch und ideologisch tonangebend ist bis heute die bereits Ende Dezember 1968 gegründete Kommunistische Partei (CPP) und deren Ende März 1969 formierte Guerilla der Neuen Volksarmee (NPA). Zu den frühen Mitgliedern zählten außerdem die Patriotische Jugend (KM), die Christen für Nationale Befreiung (CNL) und die revolutionäre Frauenorganisation MAKIBAKA. Die NDFP war landesweit die führende Kraft im (bewaffneten) Widerstand gegen das Regime von Ferdinand E. Marcos (1966-86), der im September 1972 das Kriegsrecht über den Archipel verhängt hatte und vor 25 Jahren stürzte und ins Exil auf Hawaii flüchtete.

Im November 1977 veröffentlichte die NDFP ihr Zehn-Punkte-Programm, das später zu einem Zwölf-Punkte-Programm erweitet wurde. Oberstes Ziel ist die Schaffung einer Volksdemokratischen Republik der Philippinen. Der Weg dorthin soll – im Sinne Mao Tse-tungs – über einen langwierigen Krieg führen, in dessen Verlauf die Städte schrittweise vom Hinterland her eingekreist und schließlich in einer Serie militärischer Endoffensiven eingenommen werden sollen. Zu den Minimalzielen, die bereits vielerorts im Hinterland verfolgt und umgesetzt werden, zählen: Verringerung der Ernteabgaben an (Groß-)Grundbesitzer, Abschaffung beziehungsweise Senkung von Wucherzinsen, Basisgesundheitsdienste für die ländliche Bevölkerung und Organisierung kollektiver Gegenwehr gegen Privatarmeen, die im Auftrag mächtiger Regionalpolitiker und/oder ausländischer Firmen (vor allem in der Holzindustrie und im Bergbau) operieren.

Bis zum Sturz der Marcos-Diktatur galt die NPA mit ihren damals annähernd 30.000 Kombattanten aus der Sicht des US-amerikanischen Verteidigungsministeriums als weltweit am schnellsten wachsende Guerilla. Trotz oder gerade wegen dieser Erfolge verfestigte sich innerhalb der damaligen CPP-Führung ein Militarismus, was dazu führte, dass zeitweilige Rückschläge »eingeschleusten Agenten« angekreidet wurden. »Parteiinterne Säuberungsaktionen« kosteten über 1.000 Genossen/innen das Leben – das zweifellos dunkelste Kapitel in der Geschichte der CPP. Eine seit 1992/93 durchgeführte »Berichtigungsbewegung« innerhalb der Partei spaltete die revolutionäre Bewegung in zumindest zwei sich fortan unerbittlich befehdende Lager. Während die »Reaffirmists« am langwierigen Volkskrieg festhalten, verwarfen die »Rejectionists« dieses Konzept als unzeitgemäß, verließen scharenweise die NDFP (sofern sie nicht von deren Führungsorganen ausgeschlossen wurden) und konzentrieren sich fortan vorrangig auf den parlamentarischen Kampf.

Nach eigenem Bekunden unterhält die NDFP heute landesweit annähernd 120 Guerillafronten in 69 der insgesamt 80 Provinzen. Innerhalb von fünf Jahren soll ein »strategisches Patt« hergestellt sein, womit die NPA-Guerilla kräftemäßig mit den staatlichen Streitkräften gleichzöge. Im niederländischen Utrecht unterhält die NDFP ein internationales Verbindungsbüro. Dessen Chef und gleichzeitiger Verhandlungsführer bei den laufenden Friedensgesprächen in Oslo ist Luis G. Jalandoni, während José Maria Sison als politischer Chefberater der NDFP fungiert.

Dr. Rainer Werning, Politikwissenschaftler und Publizist mit dem Schwerpunkt Südost- und Ostasien, ist u.a. Philippinen-Dozent bei der Deutschen Stiftung für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) und Lehrbeauftragter am Institut für Orient- und Asienwissenschaften der Universität Bonn.