Gewaltprävention in Schulen

Gewaltprävention in Schulen

von Dieter Lünse

Wenn spektakuläre Ereignisse wie der Amoklauf in Winnenden Schlagzeilen machen, ist Gewalt an Schulen kurzfristig in aller Munde. Der Alltag an Schulen jedoch ist eher von vielen kleinen Vorfällen geprägt. Dabei ist entscheidend, wie die Kultur der Schule im Umgang mit Konflikten und Gewalt aussieht, denn dies kann innerschulischen Frieden fördern oder behindern. Mittels Programmen zur Gewaltprävention können Methoden, Kompetenzen und ein konstruktiver Umgang mit Konflikten erarbeitet werden. In Hamburg werden wie in allen anderen Bundesländern seit 15 Jahren entsprechende Programme entwickelt, die die Qualität dieser Arbeit zeigen.

Der Hamburger »Fachkreis Gewaltprävention« definierte in seiner Entstehungszeit »Prävention« wie folgt: „Gewaltprävention verstehen wir als die Summe aller Maßnahmen, die Kinder und Jugendliche befähigen, ihre Probleme, Unsicherheiten und Proteste so auszudrücken, dass anderen und ihnen selbst kein Schaden zugefügt wird.“ (Fachkreis Gewaltprävention 2000, S.71 f.) Auf der Basis dieser Definition wurden die ersten Konzepte für Gewaltprävention an Schulen und in anderen Bereichen entwickelt. Der Fachkreis ist ein übergeordnetes Gremium, dem Behördenvertreterinnen und -vertreter aus Schule, Jugend und Polizei sowie viele freie Träger angehören. Die Publikationsreihe »Konflikte und Gewalt«, die seit dem Jahr 2000 in bisher fünf Ausgaben erschienen ist, gibt einen ausführlichen Überblick über die Entwicklung der Gewaltprävention. Deutlich wird in allen Ausgaben, dass Präventionsprojekte vor allem in Schulen stattfinden und dort breiten Raum einnehmen.

Kinder und Jugendliche sind in Schulen gut erreichbar. Mit der Entwicklung hin zu Ganztagsschulen hat sich der Schulalltag in den letzten 15 Jahren stark verändert. Nahm der Schultag früher nur die Zeit bis 13 Uhr ein, verbringen in Hamburg inzwischen nahezu alle Schülerinnen und Schüler täglich die Zeit von 8 bis 16 Uhr in der Schule. Es ist nicht nur der Druck gestiegen, eine friedliche Gemeinschaft zu bilden, um eine das Lernen fördernde Umgebung zu ermöglichen, sondern– bei so viel Lebenszeit in der Institution Schule – auch der Druck zur Bildung einer tragfähigen sozialen Gemeinschaft. Keine Schule kommt mehr ohne Projekte zur Gewaltprävention aus.

Gleichzeitig sind die Qualitätsanforderungen an die Projekte deutlich gestiegen: Die systemische Implementierung ist von ebenso großer Bedeutung wie die Entscheidung, in welcher Altersstufe welches Projekt sinnvoll ist. Andernfalls werden unnötige Ressourcen verbraucht und die Akteure vor Ort entmutigt. Die Anforderungen bei vielen anderen Belangen des Lernens – beispielsweise der Umorganisation hin zur Ganztagsschule und in jüngerer Zeit auch der Inklusion – sind sehr hoch, so dass die Belastungsgrenze an vielen Stellen schon erreicht ist.

Eine Schule funktioniert diesbezüglich wie ein großer Tanker. Jede Schule hat ihren eigenen Kurs – ihre eigene Kultur im Umgang mit Konflikten und Gewalt –, und der lässt sich nur langsam ändern. Nachhaltige Projekte sowie Menschen, die mit Visionen arbeiten, können auf diesem Feld viel bewegen. Fehlt es allerdings an Hartnäckigkeit und Ausdauer, bewegt sich der Tanker nur wenig und kehrt bald wieder auf seinen alten Kurs zurück. Dann besteht die Gefahr, dass sich Konflikte verselbständigen, nicht wirklich gelöst werden und das System destabilisieren. Statt Förderung und Entwicklung wird dann Angst ein größerer Faktor im schulischen Leben.

Ein Blick in das System

Die Grund- und Stadtteilschule »Erich Kästner« ist ein gelungenes Beispiel für Projekte zur Gewaltprävention, die an dieser Schule gut aufeinander abgestimmt sind und ein kohärentes System bilden. Jörg Kowalczyk, einer der Sozialarbeiter an der Schule und Leiter des Beratungsteams, berichtet, „dass Soziales Lernen an der Schule in allen Klassenstufen fester Bestandteil des Jahresplans und in aufeinander aufbauende Bausteine gegliedert ist“. Dazu zählt, dass der Klassenrat bereits in der Grundschule eingeführt wird und während der weiteren Schulzeit regelmäßig stattfindet. Er wechselt in den verschiedenen Alterstufen nur sein Gesicht, weil die Kinder selbstständiger werden, den Klassenrat mehr und mehr als ihr eigenes Gremium wahrnehmen und ihn damit in ihre eigene Verantwortung übernehmen. Der Klassenrat ist nicht nur Mitbestimmungsorgan der Lernenden, sondern auch ein wichtiges demokratisches Werkzeug für die Tagungen des Schülerparlaments. Hier treffen sich die einzelnen Vertreterinnen und Vertreter der Grundschule in regelmäßigen Abständen, um aktuelle Anliegen zu besprechen.

Punktuell werden Projekte durchgeführt, die zur Sensibilisierung für das Thema »Gewalt« beitragen. Auf dem Pausenhof der Grundschule können Konflikte unter Einbeziehung der Pausentröster (FairMittler), die als vermittelnde Instanz fungieren, gelöst werden. Durch die frühe Einführung von Partizipationsmöglichkeiten bekommen die Kinder nicht nur das notwendige Handwerkszeug zur Mitbestimmung beigebracht, sondern lernen auch, dass Verantwortungsübernahme zu einem demokratischen Schulalltag gehört.

In den älteren Jahrgängen führen altersgemäße Gremien mit erweiterten Kompetenzen diese Ansätze fort: Statt der FairMittler werden die Streitschlichterinnen und Streitschlichter tätig. Der Schülerrat nimmt den Platz des Schülerparlaments aus der Grundschule ein. Er setzt sich aus den Klassensprecherinnen und Klassensprechern zusammen.

Die Mittelstufen-Projekte an der Erich-Kästner-Schule haben unterschiedliche Schwerpunkte, wie Mobbing, Cybermobbing oder Zivilcourage. Aber auch Probleme wie Essstörungen und Drogenmissbrauch werden bearbeitet. Mit zunehmendem Alter wachsen sich Gewaltauffälligkeiten meist aus, wenn Hilfe aktiv ansetzt und Selbstständigkeit mit Verantwortungsübernahme einhergeht. Die älteren Schülerinnen und Schüler beschäftigen sich dann mit Berufs- und Lebensorientierung, Zeitmanagement, interkulturellen Kompetenztrainings und weiterführenden Inhalten zu den einzelnen vorausgegangenen Projekten. Damit wird auf die Verknüpfung von individuellen Problemen und gesellschaftlichen Hintergründen, die Gewalthandlungen zugrunde liegen, Bezug genommen:„Der Fachkreis Gewaltprävention sieht Gewalt sowohl als individuelles Problem von auffälligen Kindern und Jugendlichen und deren oftmals problematischem Umfeld als auch durch gesellschaftliche Hintergründe bedingt. Bedeutend ist demnach, dass gewaltpräventive Bemühungen sich sowohl an den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen von Gewalt als auch an der individuellen Verantwortlichkeit gewalttätiger Jugendlicher, deren Bezugspersonen und den Erfahrungen von Opfern orientieren müssen: Gewalttätigkeit ist eine Form menschlicher Kommunikation, die den Aspekt gegenseitiger, auf Kooperation und Vertrauen beruhender Akzeptanz nicht berücksichtigt.“ (Fachkreis Gewaltprävention 2000, S.71 f)

Gewaltprävention, Partizipation und Verantwortungsübernahme

Die Verzahnung der einzelnen Projekte und Bausteine mit den Mitbestimmungsorganen wird an der Erich-Kästner-Schule immer mitgedacht. Die Streitschlichterinnen und Streitschlichter bzw. die FairMittler berichten zum Beispiel im Schülerparlament und im Schülerrat, der auch Träger des Streitschlichterprogramms ist, regelmäßig über ihre Arbeit. Die Ausbildung wird von erfahrenen Streitschlichterinnen und Streitschlichtern begleitet und unterstützt.

Während viele Schulen einzelne Projekte zur Gewaltprävention auf die Beine bringen, fehlt oft die Verzahnung mit den gewählten Vertretern und Gremien der Schülerinnen und Schüler. Manchmal bleiben sie sogar Inselprojekte, weil ein Lehrer alleine dafür zuständig ist und niemand anderes sich aktiv um Fragen des sozialen Miteinanders kümmern möchte. Doch eine Schulkultur der Ignoranz, der mangelnden Wertschätzung und Konkurrenz liegt leider auch in der Natur des staatlichen Systems Schule mit seinen geringen Freiräumen. Daher braucht es Menschen, die mit Visionen arbeiten und die Schule zu einem insgesamt sozialen System ausbauen.

Wege zum Aufbau einer konstruktiven Konfliktkultur

Durch die Vielzahl der Projekte und ihre altersgerechte Anwendung entwickelt sich mit der Verzahnung zur demokratischen Struktur ein hohes Maß an Selbstwirksamkeit für alle Beteiligten. Zusätzlich verändert sich die öffentliche Meinung, weil sich die Wirkung im konstruktiven Umgang mit Konflikten und Gewalt an sehr vielen Stellen zeigt. Diese Öffentlichkeit wiederum verändert die Kultur und setzt neue Standards. Eindrucksvoll zeigen die Schüler-Mediatoren, dass sie über einen langen Zeitraum Einfluss innerhalb, aber auch außerhalb der Schule haben. Schüler-Mediatoren sind in allen Bundesländern und in allen Schulformen unter unterschiedlichen Namen zu finden: Streitschlichtungsteams, Konfliktlotsen, Peer-Mediatoren, Pausenhelfer sind nur einige der Bezeichnungen. Alle haben gemeinsam, dass sie nach dem klassischen Fünf-Phasen-Modell der Harvard-Mediation (Fisher et. al. 2013) ausgebildet werden und aktiv an ihren Schulen mediieren.

Die Streitschlichter in Hamburg sind fast immer über die Grenzen ihrer Schule hinaus bekannt. Stadtteilmagazine berichten über ihre Arbeit. Sie führen ihr Können an anderen Schulen und bei Stadtteilfesten vor. Ihre Anerkennung wird für den guten Ruf der Schule genutzt, beeinflusst zusätzlich die öffentliche Anerkennung der Methode und verstärkt die Veränderung der Kultur im Umgang mit Konflikten und Gewalt.

2006 erschien erstmals eine bundesdeutsche Evaluation zur Mediation an Schulen (Behn 2006). Sie konnte damals schon knapp 1.500 Schulen in Deutschland mit Schülermediation lokalisieren, die sich seit den 1990er Jahren etabliert hatten. Seitdem ist in Hamburg die Zahl der »Streitschlichtungsschulen« von 65 im Jahr 2006 auf 110 im Jahre 2013 gestiegen, und es gibt inzwischen allein in Hamburg ca. 2.000 ausgebildete Schülermediatorinnen und -mediatoren. Die Mediationsfachgruppe Erziehung und Bildung des Bundesverbands für Mediation bestätigt, dass die bundesweite Zahl der Schülermediatoren bei über 10.000 liegt. Vor allem in Grundschulen weitet sich die Schülermediation aus.

Mediation und sozialer Friede

Für eine gelungene Gewaltprävention braucht es allerdings auch den Blick über den Tellerrand der Schule hinaus. Es reicht nicht aus, nur zu fragen „Was machen andere Schulen gut, die in Konkurrenz stehen?“, sondern es muss weitergehend gefragt werden „Was machen wir im Stadtteil zusammen gut, um allen Kindern und Jugendlichen eine Chance zu geben, friedlich und ohne Angst einen Lern- und Lebensmittelpunkt zu haben?“

Der Erfolg der Gewaltprävention nach innen (Erich-Kästner-Schule) wie auch über die Grenzen hinaus (Schüler-Mediatoren) zeigt sich an dem Projekt »Gemeinsam stark sein«, welches für einen Jahrgang gemeinsam mit allen Schulen im Stadtteil durchgeführt wird. In Form einer Projektwoche legt das Projekt »Gemeinsam stark sein« (Fachkreis Gewaltprävention 2006, S.23 f.) die Grundsätze im Umgang mit Konflikten und Gewalt fest und übt die praktische Umsetzung. Das Projekt wurde entwickelt als eine Art »Erste-Hilfe-Koffer« für alle sozialen Fragen, wenn es bei Auseinandersetzungen nicht mehr allein weitergeht. Es wurde 2006 von einem Arbeitskreis aus Hamburg-Harburg angestoßen, nicht von einer Schule. Inzwischen werden alle Jugendlichen im Alter von 13 bis 15 Jahren in dem Stadtteil im konstruktiven Umgang mit Konflikten und Gewalt geschult.

Mit bestimmten Verhaltensnormen und Regeln sowie Mitbestimmung von Schülerinnen und Schülern lässt sich die Gewalt an den Schulen und im gesamten Stadtgebiet Schritt für Schritt abbauen. Die Schulen äußerten sich positiv: „Ohne dass uns die Gewalt auf den Nägeln brennt, haben wir die Auseinandersetzung mit dem Thema geprobt, weil jetzt unsere Wahrnehmung für Konflikte, Spannungen und unterschwellige Auseinandersetzungen geschärft ist. Und ein Handlungskatalog ist entstanden, so dass wir vielen Eskalationen vorbeugen können.“ (Fachkreis Gewaltprävention 2006, S.25) Die Schulen erfahren, dass sie Vorfälle, in denen Schülerinnen oder Schüler Gewalt in unterschiedlichster Form ausüben, mit Unterstützung kompetent bearbeiten können. Die Projektwoche wird jeweils zu Beginn eines Schuljahres durchgeführt; anschließend berichten Schülerdelegierte dem Stadtteilgremium über die Wirkung und den Veränderungsbedarf aus ihrer Sicht. Öffentlichkeit wird aktiviert, um Probleme zu lösen; zusätzlich etabliert sich flächendeckend eine neue Praxis und Erfahrung, die auch die Kultur nachhaltig beeinflusst und einen friedlichen Umgang miteinander stabilisiert.

Lernen ohne Angst

Die Einführung von Schüler-Mediatoren, Gewaltprävention im System einer Schule oder auch »Gemeinsam stark sein« im Verbund eines ganzen Stadtteils sind fast ausschließlich Projekte von Erwachsenen. Das Projekt »Lernen ohne Angst« (Plan 2009) bindet die Sicht der Kinder und Jugendlichen selber ein und nimmt sie zum Ausgangspunkt der Planung. »Lernen ohne Angst« setzt auf Beteiligung und ist ein Projekt für die ganze Schule. Ziel ist es, die Erfahrungen und Veränderungsideen der Jugendlichen in den Mittelpunkt zu stellen und sie zu ermutigen, sich aktiv für eine spürbare Verringerung der Gewalt an ihrer Schule einzusetzen. Zudem sollen die Schulgremien eingebunden werden, um die demokratische Struktur zu nutzen und Ergebnisse abzusichern.

Der Ablauf ist dem Projekt »Gemeinsam stark sein« zunächst sehr ähnlich. Die Erkenntnisse werden jedoch über einen Fragebogen abgefragt, um von allen Beteiligten in der Schule zu erfahren, wo aus ihrer Sicht Angst das Lernen und Zusammenleben einschränkt und was sich verändern müsste. Die Schüler analysieren auf diesem Weg die Bedingungen an ihrer Schule und entwickeln einen Aktionsplan zur Verbesserung der Situation. Der Plan wird den Schulgremien vorgelegt und in einem Aushandlungsprozess zur Umsetzung gebracht. Das Projekt besteht aus mehreren Phasen und ist auf zwei Jahre angelegt, verändert die Schulgemeinschaft und das Selbstverständnis der Schülerinnen und Schüler aber noch weit darüber hinaus. Nachhaltigkeit steht im Vordergrund. Sensibilisierung, soziales Miteinander, Zusammenhalt, Gewaltprävention, Perspektivwechsel, Demokratisierung, politisches Lernen, Aktiv-Werden und Ernst-genommen-Sein machen »Lernen ohne Angst« aus.

Ob ein Jahrgang, eine Klasse, eine Profiloberstufe, der Schülerrat oder eine Streitschlichtungsgruppe: Wo auch immer Jugendliche Interesse haben, ihre eigene Schule aus Schülersicht zu analysieren, können sie das Projekt »Lernen ohne Angst« durchführen. Mit diesem Projekt schließt sich der Kreis für Gewaltprävention an Schulen. Die Untersuchung bringt nicht nur neue Dinge hervor. Es wird auch die Qualität der bisherigen Projekte zur Gewaltprävention überprüft, und es werden Verbesserungsvorschläge gemacht. Sobald von einer neuen Schülergeneration wieder ein entsprechendes Projekt aufgebaut wird, überprüfen sie die Ideen und die Praxis ihrer Vorgänger. Und gleichzeitig ist immer die Öffentlichkeit an der Schule oder, wenn es Projekte im Verbund sind, die des Stadtteils eingebunden, so dass die Standards für die stetige Entwicklung von Frieden hoch gehalten werden können.

Literatur

Sabine Behn et. al. (2006): Evaluation von Mediationsprogrammen an Schulen. Empfehlungen und Ideen für die Praxis. Hamburg/Berlin/Mainz.

Fachkreis Gewaltprävention (Hrsg.) (2000-2013): Reader »Konflikte und Gewalt – präventive Konzepte, praktische Hilfen und Adressen«. Ausgaben 1 bis 5, Hamburg.

Roger Fisher, William Ury und Bruce Patton (2013): Das Harvard-Konzept: Der Klassiker der Verhandlungstechnik. Frankfurt am Main: Campus, 24. Auflage.

Plan (2009): Lernen ohne Angst – Aktiv gegen Gewalt an Schulen. Eigenverlag.

Dieter Lünse ist Dipl. Sozial-Ökonom und Leiter des Instituts für konstruktive Konfliktaustragung und Mediation e.V. in Hamburg.

Wende im türkisch-kurdischen Konflikt?

Wende im türkisch-kurdischen Konflikt?

Zu den Gesprächen zwischen der Türkei und Öcalan

von Gülistan Gürbey

Knapp 30 Jahre nach Beginn des Krieges zwischen der Türkei und der PKK (Arbeiterpartei Kurdistans), dem seit 1984 mehr als 40.000 Menschen zum Opfer fielen, hat sich auf beiden Seiten die Erkenntnis durchgesetzt, dass dieser Kampf militärisch nicht zu gewinnen ist. Die AKP-Regierung1 führt daher Gespräche mit dem Führer der PKK, Abdullah Öcalan, der im Februar 1999 zu lebenslanger Haft verurteilt wurde und auf der Gefängnisinsel Imrali inhaftiert ist. Ziel der AKP-Regierung ist es, die Entwaffnung der PKK und eine Beendigung des Gewaltkonfliktes zu erreichen.

Die Gespräche zwischen der AKP-Regierung und der PKK, die in der türkischen Öffentlichkeit als „Lösungsprozess“, „Imrali-Prozess“ oder „Friedensprozess“ bezeichnet werden, haben große Erwartungen an einen neuen Friedensprozess geweckt. Die inoffiziellen Gespräche laufen seit Herbst 2012 unter Leitung des türkischen Geheimdienstes MIT und sind die Fortsetzung der zuvor geheim geführten »Oslo-Gespräche«, die einen Rückschlag erlitten hatten und abgebrochen worden waren.

Tabubruch und Öcalans Aufruf

Bereits im Rahmen der »Oslo-Gespräche« hatte Öcalan 2007 und 2009 eine »Road Map« für eine politische Lösung erarbeitet und auf die Akzeptanz des türkischen Staates gehofft. Nun forderte Öcalan in seinem Aufruf zum Newrozfest am 21.3.2013, der in Diyarbakir in kurdischer und türkischer Sprache vor über einer Million Menschen verlesen wurde, die PKK-Führung im Kandilgebirge in Irakisch-Kurdistan zur Beendigung des bewaffneten Kampfes und zum Waffenstillstand auf. Die PKK-Führung reagierte tatsächlich mit einem Waffenstillstand und begann – wie von Öcalan gefordert – am 8. Mai 2013 mit dem Rückzug der etwa 2.000 PKK-Kämpfer aus der Türkei in die Lager im benachbarten Irakisch-Kurdistan.

Bereits in der Vergangenheit hatte die PKK acht Mal einseitig und auf eigene Initiative einen Waffenstillstand ausgerufen. Nach der Festnahme von Öcalan im Februar 1999 hatte sie ihre Kämpfer ebenfalls aus der Türkei abgezogen und den bewaffneten Kampf bis 2004 ruhen lassen. Überdies hat sie ihre Maximalforderung (Gründung eines kurdischen Staates) zugunsten einer politischen Lösung im Rahmen des türkischen Staates modifiziert.

Die Bedeutung des aktuellen Waffenstillstandes und des Rückzuges liegen darin, dass sie Bestandteil und Ergebnis des Gesprächsprozesses zwischen dem türkischen Staat und Öcalan sind. Die AKP-Regierung akzeptiert nunmehr inoffiziell Öcalan und Vertreter der kurdischen Nationalbewegung sowie die im türkischen Parlament vertretene kurdische BDP (Partei für Frieden und Demokratie, der politische Arm der PKK) als Gesprächspartner. Damit bricht sie ein Tabu und weicht von ihrer bisherigen Grundposition ab, keine Gespräche mit »den Terroristen« zu führen. Diese Grundposition galt bislang als »rote Linie« der Kurdenpolitik.

Auf staatlicher Seite führt der türkische Geheimdienst direkte Gespräche mit Öcalan, den PKK-Vertretern in Europa und der PKK-Führung im Kandilgebirge. Den Auftrag dazu erteilte die AKP-Regierung bzw. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan. Auf kurdischer Seite ist außer Öcalan die BDP als Vermittler direkt in den Prozess involviert. Erstmals seit der Inhaftierung Öcalans 1999 konnte Anfang Januar 2013 eine politische Delegation der BDP selbst mit Öcalan sprechen, nachdem dieser zuvor mehrere Monate lang sogar von Anwaltskontakten abgeschirmt worden war. Anschließend übermittelte die BDP Briefe zwischen Öcalan und der PKK-Führung im Kandilgebirge und in Europa. Erst nach diesem »Briefverkehr« kamen der Aufruf Öcalans zum Newrozfest und der Rückzug der PKK zustande.

Inhalt und Verlauf der Gespräche

Die Gespräche werden jetzt zwar öffentlich gemacht und nicht wie zuvor geheim geführt, haben jedoch nicht den Status offizieller Gespräche. Es gibt keinen formalisierten und strukturierten »Friedensplan«, der den gesamten Prozessverlauf inhaltlich und zeitlich unterlegt. Nimmt man die öffentlichen Verlautbarungen zur Grundlage, so besteht der Prozess aus drei Etappen:

1. Waffenstillstand und Rückzug,

2. Demokratisierung und Verfassungs- und Gesetzesreformen und

3. Normalisierung und Niederlegung der Waffen.

Sowohl die AKP-Regierung als auch die PKK (einschließlich Öcalan und BDP) haben hinsichtlich des Verlaufs, der Inhalte und der Ziele dieser Etappen unterschiedliche Vorstellungen. Zwar ist klar, dass die Regierung nach dem Abzug der PKK die Entwaffnung der PKK-Kämpfer bis Ende 2013 anstrebt. Es besteht aber Unklarheit darüber, ob die Regierung einen Gesamtplan hat und welche Schritte sie im Gegenzug unternehmen wird. Bislang hält sich die AKP-Regierung mit konkreten Angaben zum Prozess und den Etappen zurück und erklärt, dass im Rahmen der Gespräche keinerlei Zugeständnisse an Öcalan gemacht wurden. Ministerpräsident Erdogan spricht nach wie vor von einem »Terrorismusproblem«. Dies verstärkt auf kurdischer Seite das ohnehin bestehende Misstrauen im Hinblick auf die Ernsthaftigkeit des Friedenswillens der türkischen Regierung. Auf der anderen Seite artikulieren Teile der türkischen Bevölkerung und Medien die Angst vor einer Teilung des Nationalstaates.

Die PKK und die BDP hingegen haben ihre Vorstellungen hinsichtlich der Prozessetappen konkretisiert. Aus ihrer Sicht steht die Waffenniederlegung erst am Ende einer »Normalisierungsphase«. In dieser Phase sollen die verfassungsmäßigen Garantien für die politischen Forderungen abgegeben und im zivilen politischen Prozess umgesetzt werden. Die zweite Phase soll parallel zum Rückzug beginnen und von der Regierung mit Maßnahmen unterfüttert werden, die die politischen Forderungen in der neuen Verfassung und auf Gesetzesebene verankern. Im Wesentlichen geht es um die folgenden Forderungen: die Anerkennung der Kurden im Rahmen einer Neudefinition des Staatsbürgerbegriffes, das Recht auf Erziehung in kurdischer Sprache, die Ausweitung kommunaler Selbstverwaltungsrechte, die Einschränkung der Terrorismusdefinition im Antiterrorgesetz und im Strafgesetzbuch, die Freilassung politischer Häftlinge, die Aufhebung der Dorfschutzmilizen und die Senkung der Zehn-Prozent-Wahlhürde. Die AKP-Regierung hat bisher keine Stellung zu diesen Erwartungen bezogen. Eine parlamentarische Formalisierung des Prozesses und des Rückzuges hat sie abgelehnt und stattdessen eine parlamentarische Kommission eingerichtet, in der nur die AKP und die BDP vertreten sind. Außerdem hat die Regierung die Idee eines »Rates der Weisen« in die Praxis umgesetzt und mehr als 60 ganz unterschiedliche Personen berufen mit dem Ziel, die Unterstützung der Bevölkerung zu gewinnen. Diese Personen haben inzwischen ihre Arbeit aufgenommen. Sie reisen in verschiedene Regionen der Türkei und diskutieren mit der Bevölkerung vor Ort deren Vorstellungen zum Friedensprozess.

Interessendivergenzen trotz Annäherung

Öcalans Aufruf zum Newrozfest beinhaltet in Umrissen eine Vision für die Türkei und den Nahen Osten, die sich mit den außenpolitischen Visionen der AKP-Regierung bzw. des Außenministers Ahmet Davutoglu überlappen. Öcalan plädiert für eine strategische »türkisch-kurdische Allianz« im Nahen Osten auf der Grundlage des »Nationalpakts«.

Der Verweis auf den »Nationalpakt« ist historisch von Bedeutung und bezieht sich auf das politische Manifest der türkischen Unabhängigkeitsbewegung nach dem Ersten Weltkrieg, das damals gemeinsam von Türken und Kurden des Osmanischen Reiches ausgearbeitet worden war. Der »Nationalpakt« zeichnete die Grenzen des neuen türkischen Staates vor, der u.a. die Provinz Mosul und Irakisch Kurdistan einschließen sollte. Diese Position, auf die sich unterschiedliche politische Kräfte immer wieder berufen, ist in der Türkei seit der Republikgründung etabliert. Im Mittelpunkt der gemeinsamen Vision steht eine politisch vollkommen neu strukturierte föderale Türkei, die die kurdischen Gebiete des Irak und Syriens umfasst und Führungsmacht im Nahen Osten ist. Sowohl Öcalan als auch Davutoglu2 beziehen sich auf die gemeinsame tausendjährige Geschichte der Türken und Kurden unter dem Banner des Islam. Sie verweisen auf die Notwendigkeit, die künstlichen Grenzen aufzuheben, die durch die fremdbestimmte Periode in der Geschichte der Türkei und des Nahen Ostens entstanden sind und Völker einer gemeinsamen Zivilisation voneinander trennten.

Trotz der Annäherung der Visionen gibt es Unterschiede hinsichtlich der Beweggründe und Interessen auf beiden Seiten. Die Regierung beteiligt sich am Gesprächsprozess mit Öcalan nicht alleine aus innenpolitischen Beweggründen. Der Prozess ist vielmehr in einen größeren regionalpolitischen Rahmen eingebettet und steht in einem direkten Zusammenhang mit dem Bürgerkrieg in Syrien. Im Verlauf des Bürgerkriegs hat sich der interne Gewaltkonflikt zunehmend regionalisiert, und die Manövrierfähigkeit der PKK hat sich deutlich erweitert. Der syrische Bürgerkrieg tangiert die türkische Innen-, Außen- und Sicherheitspolitik sowie die Ambition, eine führende Regionalmacht zu werden. Die Türkei befürchtet, dass ähnlich wie im kurdischen Nordirak im Norden und Nordosten Syriens entlang der türkisch-syrischen Grenze, wo die aus der PKK hervorgegangene Partei der Demokratischen Einheit (PYD) dominiert, eine zweite autonome Kurdenregion entstehen könnte. Dies würde aus türkischer Sicht die Autonomiebestrebungen der Kurden in der Türkei und die Entstehung eines gesamtkurdischen Staates befördern. Daher ist der Druck auf die AKP-Regierung, in der Kurdenfrage sowohl intern als auch regional zu handeln, signifikant gestiegen.

Wesentliches Ziel ist es, nach dem erhofften Sturz des Assad-Regimes die regionale Einflussnahme der Türkei zu sichern und auszuweiten und der »kurdischen Bedrohung« im Norden Syriens entgegenzutreten. In diesem Kontext nimmt aus Sicht der AKP-Regierung die Entwaffnung der PKK und die Beendigung des Gewaltkonfliktes eine prominente Stellung ein. Dabei geht es darum, eine »osmanische« Lösung der Kurdenfrage herbeizuführen, d. h. der Türkei die Rolle als »Schutzpatron« der Kurden und die Vormachtstellung als regionalem »Hegemon« im Nahen Osten zu sichern. Die ambitionierte »Schutzpatron«-Rolle schlägt sich vor allem in den Beziehungen zur föderalen Region Irakisch-Kurdistan nieder, die strategisch neu ausgerichtet und auf allen Ebenen intensiviert wurden. Irakisch-Kurdistan spielt eine Schlüsselrolle für die wirtschaftliche Entwicklung und energiepolitischen Interessen der Türkei. Die Präsenz der PKK in Irakisch-Kurdistan wird aber als Störfaktor für die türkisch-irakisch-kurdische Kooperation angesehen, da sie hier ihre Rückzugsgebiete hat. Daher gewinnen die Entwaffnung der PKK und die Beendigung des Gewaltkonfliktes zusätzlich an Bedeutung.

Auch innenpolitische Faktoren spielen eine Rolle bei den Bemühungen, die Entwaffnung der PKK zu erreichen. Derzeit wächst der Druck auf die AKP-Regierung, der mit den 2014 anstehenden Kommunalwahlen, der Wahl eines neuen Staatspräsidenten und der Verabschiedung einer neuen Verfassung zu tun hat. Ministerpräsident Erdogan und die AKP sind bestrebt, in der neuen Verfassung, die sich derzeit noch in Erarbeitung befindet, ein Präsidialsystem zu verankern. Ziel ist es, die Machtposition Erdogans als neuem Staatspräsidenten zu konsolidieren. Ohne Unterstützung aus der Opposition kann aber ein neuer Verfassungsentwurf nicht verabschiedet werden. Aufgrund der strikten Ablehnung der Oppositionsparteien MHP (Nationalistische Aktionspartei) und CHP (Republikanische Volkspartei)ist die AKP zunehmend auf die BDP angewiesen, sodass im Zuge der Gespräche ein gemeinsames Agieren der beiden Partreien nicht auszuschließen wäre.

Auch wenn die AKP-Regierung bislang die weitreichendsten Reformen in der Kurdenfrage verabschiedet und Gespräche mit der PKK aufgenommen hat, sind die wesentlichen Ziele der türkischen Kurdenpolitik durch Kontinuität gekennzeichnet: die Verhinderung der Entstehung eines kurdischen Staates, die Schwächung und Kontrolle der kurdischen Nationalbewegungen und die Bekämpfung der PKK. Angesichts des Bürgerkrieges in Syrien geht es nun darum, den Gewaltkonflikt nicht länger mit militärischen Mitteln, sondern mittels Gesprächen mit Abdullah Öcalan zu beenden, ohne dabei weitreichende Zugeständnisse machen zu müssen. Die Kontinuität der Ziele ergibt sich insbesondere aus den ideologischen Grundlagen der kurdenpolitischen Strategie der AKP-Regierung, die vom Primat des türkischen Nationalismus, Islam und Neo-Osmanismus geleitet ist und den kurdischen Faktor als Gefahr für die territoriale und nationale Einheit betrachtet.3 Die islamisch-religiöse und die historisch-osmanische Komponente dienen dazu, die nationale Einheit über »religiöse und historische Brüderlichkeit« herzustellen und den außenpolitischen Radius zu erweitern. Die Rückbesinnung auf die osmanisch-muslimische Vergangenheit impliziert eine »osmanische Lösung« der Kurdenfrage, die intern eine begrenzte Liberalisierung im Bereich der kulturellen Rechte zulässt und extern den eigenen Einflussbereich als »Schutzpatron und Hegemon« in der Kurdenfrage explizit erweitert. Die Gespräche mit Öcalan sind auch vor diesem ideologischen Hintergrund zu sehen, obgleich sie aufgrund des regionalpolitischen Anpassungsdrucks besonders dringlich geworden sind.

Brüchiger Prozess und unzureichende interne Unterstützung

Der Prozess der Friedensgespräche zwischen der Türkei und Öcalan bzw. der PKK ist insgesamt fragil. Dies resultiert zum einen aus den unterschiedlichen Interessen und Beweggründen der beiden Seiten. Zum anderen hängt dies mit internen Faktoren zusammen. Dazu zählen vor allem die unzureichende gesellschaftliche Unterstützung und die heftige Gegenreaktion der Oppositionsparteien MHP (Nationalistische Aktionspartei) und CHP (Republikanische Volkspartei) sowie von Teilen der Medienwelt. Die ultranationalistische MHP betrachtet die Gespräche als Schritte zur Auflösung des Staates und zur Legalisierung der PKK und bezichtigt Ministerpräsident Erdogan des Vaterlandsverrats. Auch die CHP lehnt die Gespräche mit Öcalan ab und fordert eine bessere Informationspolitik der Regierung. Beide Oppositionsparteien wenden sich strikt gegen eine Änderung der Verfassungsartikel, die die unteilbare Einheit von Staat und Nation auf der Grundlage des Nationalismus Atatürks betreffen und als unantastbar gelten. Beide Parteien lehnen auch eine Änderung des ethnisch definierten Staatsbürgerschaftsbegriffs und die Einführung des Kurdischen als Unterrichtssprache ab. Hingegen sind für die Regierung und kurdische Organisationen sowie die PKK eine neue Definition von »Staatsvolk« und die Anerkennung kultureller Rechte im Rahmen der neuen Verfassung ein zentrales Element für die Lösung des Konflikts.

Historische Chance

Die Gespräche bieten zweifelsohne eine historische Chance, den tief verwurzelten und grenzüberschreitenden Kurdenkonflikt friedlich zu lösen. Die vielen Stolpersteine auf dem langen und schwierigen »Friedensweg« sind aber ohne einen festen politischen Willen auf beiden Seiten, ohne gesellschaftliche Unterstützung und ohne gezieltes Regierungshandeln wohl kaum zu überwinden. Die AKP-Regierung ist herausgefordert, den Prozess inhaltlich zu unterfüttern. Dazu ist die Erarbeitung einer neuen zivilen Verfassung, die den Weg für eine substantielle Demokratisierung und für eine nachhaltige politische Lösung ebnet, von wesentlicher Bedeutung. Eine neue Verfassung bietet aber nur dann eine Chance, wenn sie nicht ideologisch geleitet ist, sondern auf einem demokratischen und pluralistischen Wertekanon basiert und unter Berücksichtigung der politisch-nationalen wie der regionalen Konfliktdimension die internen (kurdischen) Anforderungen einbezieht und an die Schnittmengen auf beiden Seiten anknüpft. Davon ist der Prozess jedoch noch weit entfernt.

Anmerkungen

1) AKP = Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung.

2) Vgl. Interview von Ahmet Davutoglu in der regierungsnahen Zeitung »Yeni Safak«, 5.3.2013.

3) Näheres dazu vgl. Gülistan Gürbey: Die türkische Kurdenpolitik unter der AKP-Regierung: alter Wein in neuen Schläuchen? German Institute of Global and Area Studies. GIGA-Focus Nahost, Hamburg, Nr. 11/2012.

PD Dr. habil. Gülistan Gürbey ist Privatdozentin am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft, Freie Universität Berlin.

Jugend in Bagdad

Jugend in Bagdad

Handlungsmöglichkeiten in virtuellen und städtischen Räumen

von Annika Henrizi

Am 21. März 2013 jährte sich der Beginn des dritten Golfkriegs zum zehnten Mal. Für internationale Medien war das Anlass, etwas ausführlicher über die Situation in einem Land zu berichteten, dessen Wirtschaft sich bis heute nicht von Kriegen und Sanktionen erholt hat und in dem Frieden eine vage Hoffnung bleibt. Jenseits solcher Ereignisse oder der kurzen Meldungen über folgenreiche Anschläge allerdings ist das Interesse der Medien am Irak ebenso wie das der Friedensforschung in den letzten Jahren zurückgegangen. Dies mag zum Teil an der Arabellion liegen, die andere Länder in den Mittelpunkt rückte; es kann aber auch als Ausdruck einer Ratlosigkeit gegenüber der andauernden Gewalt im Irak gesehen werden. So wird insbesondere in den westlichen Medien ein Bild des Landes gezeichnet, in dem nichts als Gewalt und Angst existiert. Doch welche Rolle spielen Jugendliche in einer Gesellschaft, die seit mehr als 30 Jahren unter Diktatur, Krieg und Besatzung sowie deren Folgen leidet? Während mehrerer Aufenthalte im Irak 2012 und 2013 ging die Autorin der Frage nach, wie Jugendliche im Irak ihre Gesellschaft wahrnehmen, ob und wie sie sich zivilgesellschaftlich engagieren. Ohne die gravierenden Probleme zu beschönigen, wagt der Artikel einen Blick auf das Land, der einen wenig bekannten Ausschnitt der Realität eröffnet.

Forschung und Praxis befassten sich lange Zeit kaum mit Jugend in Nachkriegs- und Übergangsgesellschaften; die Annahme, dass sich mit der Transformation Jugendprobleme automatisch lösen würden, ist weit verbreitet. Dabei sind Jugendliche nicht nur als Problem oder als Opfer zu betrachten, sondern auch als resiliente Akteure in einer gewaltvollen Umwelt (vgl. etwa Fuller 2004, S.5ff; Kurtenbach 2010, S.175ff, S.180). Der vorliegende Artikel nimmt Jugend in Bagdad aus einer akteurszentrierten Perspektive in den Blick und geht anhand von drei Projekten exemplarisch der Frage nach, welche Handlungsräume Jugendliche nutzen, um sich zu vernetzen, und wie sie in ihrer Gesellschaft partizipieren. Raumsoziologische Ansätze,1 die in jüngerer Zeit auch in der Jugendforschung Beachtung finden, ermöglichen es, Handeln im virtuellen und im städtischen Raum zusammen zu denken und kommen so der Lebensrealität vieler Jugendlicher in Bagdad nah.

Jugend im Irak bedeutet, konfrontiert zu sein mit hoher Arbeitslosigkeit, Mängeln des Bildungssystems, beschränkten Wahlmöglichkeiten, einer schwierigen Sicherheitslage, fehlender Infrastruktur und alltäglicher Gewalt. Trotzdem gibt es im Irak Jugendliche, die sich auf zivilgesellschaftlicher Ebene engagieren, die sich für Wandel und Gewaltfreiheit einsetzen und sich gegen gesellschaftliche Trends der Politisierung ethnischer und religiöser Identitäten und von Machtkämpfen stellen. In Bagdad sind diese Jugendlichen eine Minderheit, aber doch eine stetig wachsende Gruppe, die sich auch durch die Umbrüche in anderen Ländern der Region ermutigt fühlt und seit 2006/2007 – verbunden mit der sich insgesamt leicht verbessernden Sicherheitslage – Zulauf erfährt.

Eine Betrachtung von Jugendlichen als Akteure kann aber nur einen Ausschnitt irakischer Realität abbilden, und umfasst in diesem Fall überdies vorwiegend Jugendliche im Alter von 19-24 Jahren aus höheren sozialen Schichten und Studierende. Viele von ihnen haben an Programmen lokaler Nichtregierungsorganisationen teilgenommen und konnten so sich selbst, ihre Fähigkeiten und eigene Perspektiven weiterentwickeln. Das darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass im Irak – in und außerhalb von Bagdad – eine Mehrheit der Jugendlichen über solche Chancen nicht verfügt.

»We don't want old people to lead our country«

Die Motivation der Jugendlichen ist in erster Linie in der Idee des Wandels und des »anders Machens« begründet. Abgrenzung gegenüber der Erwachsenenkultur spielt im Jugendalter eine wichtige Rolle; die Entwicklung politischer Werte und persönlicher Meinungsbildung zu gemeinschaftlichen Themen sind wesentliche Entwicklungsaufgaben der Jugend (vgl. etwa Fend 1991, S.114 f.; Hurrelmann und Quenzel 2012, S.202). Die Abgrenzung gegenüber der herrschenden Erwachsenenkultur ist bei den irakischen Jugendlichen auch deshalb so stark, weil Altershierachien hier kulturell besonders virulent sind. Die Jugendlichen stehen oft vor dem Problem, nicht ernst genommen zu werden; Alter ist bedeutsamer als die Arbeit, die man macht. Gerade deshalb betonen sie in ihren Aktionen ihre Selbstständigkeit und fordern in den zivilgesellschaftlichen Organisationen die ältere Generation dazu auf, der Jugend einen eigenen Raum zu geben und sich aus der Planung von Aktionen herauszuhalten.

»You are next«

Das Projekt »You are next« (Du bist der Nächste) startete im Frühjahr 2013 in Bagdad, als sich fünf Jugendliche überlegten, was sie gegen die weit verbreitete Gleichgültigkeit innerhalb der irakischen Gesellschaft gegenüber alltäglicher Gewalt unternehmen könnten. „Solange Anschläge keine Opfer in der eigenen Familie oder der näheren Umgebung fordern, sind die Menschen gleichgültig geworden; Todesopfer sind für sie nur noch Zahlen ohne Gesicht“, erklärt eine der Initiatorinnen. Dafür sei ein Wandel in der Mentalität der Menschen verantwortlich, der in den letzten Jahren stattgefunden habe, viele seien still geworden, scheinen die Situation zu akzeptieren. Aufmerksamkeit erregten die Jugendlichen, indem sie mit selbst bedruckten Shirts in verschiedenen Stadtteilen Bagdads Mahnwachen inszenierten und Menschen auf der Straße ansprachen. Was ursprünglich als Aktion einiger Weniger begonnen hatte, fand durch Facebook bald größeren Zulauf. Mittlerweile wurden ähnliche Aktionen an verschiedenen Universitäten des Landes durchgeführt.

In Bagdad bedeutet »Wir sind anders« aus der Perspektive der Jugendlichen überdies, sich gegen einen gesellschaftlichen und politischen Trend zu stellen, in dem sich jeder nur für sein eigenes Wohl bzw. den eigenen Machterhalt einsetzt. Mit dem Projekt »You are next« (siehe Kasten) machen Jugendliche deutlich, dass sie Gewalt nicht einfach hinnehmen, sondern sich für das Gemeinwohl interessieren und engagieren. So sagt eine Jugendliche: „Ein Macher zu sein heißt für mich, ich kann etwas für die Gemeinschaft tun und nicht nur für meinen eigenen Profit leben.“ (Interview 2013, eigene Übersetzung) Die Verkörperung dieses alternativen Lebensstils stößt in ihrer Umgebung auf viel Kritik, denn das freiwillige Engagement wird oft als sinnlose Zeitverschwendung angesehen. Vor allem für Mädchen mangelt es damit – anders als bei geregelter Erwerbsarbeit und Bildung – an einer guten Begründung, das Haus zu verlassen.

Mit ihrem Engagement grenzen sich Jugendliche auch gegenüber der Erwachsenengeneration ab, die aus Sicht der Jugendlichen für viele Missstände und das Andauern von Problemen im Land verantwortlich ist. Jugend hat gegenüber den älteren Menschen mehr Willen zur Veränderung, mehr Potential, eine bessere Gesellschaft aufzubauen „Als Iraker, die unter Kriegen und Traditionen und [fehlender] Rechtsprechung gelitten und kein echtes Leben bekommen haben, wollen wir als Jugendliche ein echtes Leben bekommen, […] wir wollen die Fehler in der Gesellschaft korrigieren […] Und das ist, denke ich, die Rolle der Jugend, diese Ideen, zu verändern.“ (Interview 2012, eigene Übersetzung)

Wie aber gelingt es Jugendlichen, Motivationen umzusetzen und eigene Räume von bestehenden abzugrenzen, wenn Handlungsmöglichkeiten und direkte Kommunikationswege durch die Realität in einem Konfliktgebiet eingeschränkt sind? Soziale Netzwerke sowie Aktionen im städtischen Raum bilden zwei – miteinander verschränkte – Wege, die Jugendliche aus Bagdad für sich nutzen.

Das Internet als Möglichkeitsraum

»Peace Day«

Der »Tag des Friedens« ist ein jährlich am Internationalen Tag des Friedens (21. September) stattfindendes Kulturevent, welches seit 2011 von Jugendlichen in Bagdad organisiert wird. Neben kulturellen Darbietungen und Spielen für Kinder ist es auch für viele Familien und Erwachsene eine Möglichkeit, Bagdad einmal anders zu erleben. Dem Alltag für einen Moment zu entkommen und das kulturelle Leben zu genießen, beschreiben die Jugendlichen als einen wesentlichen Aspekt vom »Peace Day«. 2012 wurde das Event live im Internet übertragen und auch von internationalen Zuschauern verfolgt.

Gerade für Jugendliche hat das Internet – insbesondere durch die sozialen Netzwerke – als Kommunikationsraum an Bedeutung gewonnen. Es bietet Möglichkeiten des Austauschs und der Identitätsbildung, die bisherige Formen sozialen Miteinanders ergänzen (vgl. Tully 2009, S.10 f.). Für Jugendliche in Bagdad ist dieser Raum aus mehreren Gründen besonders bedeutsam: Hier gelingt es, soziale Nähe herzustellen und Kontakte zu knüpfen, ohne sich im städtischen Raum treffen zu müssen; das Internet ermöglicht, was die prekäre Sicherheitslage oft verhindert. So werden soziale Netzwerke wie Facebook und Twitter von den Jugendlichen auch genutzt, um in einem geschützten Raum erste Ideen für neue Aktionen zu diskutieren und andere Jugendliche für ihre Arbeit zu begeistern. Einladungen für die Vortreffen zur Durchführung eines »Peace Day« (siehe Kasten) wurden hauptsächlich über Facebook verschickt, ebenso wurde dort über die vergangenen Treffen berichtet. Die Zahl derer, die an den wöchentlichen Vortreffen in den Räumen einer Nichtregierungsorganisation teilnahmen, wuchs dadurch stetig. Soziale Netzwerke bieten aber auch eine Möglichkeit, kritische Ansichten und Gedanken zu äußern, ohne dafür angegriffen und schlimmstenfalls auch körperlich verletzt zu werden: „Es ist eine Plattform, auf der ich alles ausdrücken kann, ohne dass sich jemand beschwert. Es ist Freiheit, wir können unsere Meinung sagen, ohne dafür geschlagen zu werden, wir können unsere Ideen so verbreiten.“ (Interview 2013, eigene Übersetzung)

Gleichzeitig bietet insbesondere Facebook eine Plattform, über die die Jugendlichen ihr Engagement auch nach außen, d.h. für internationale Nutzer, sichtbar machen. Durch das Internet und internationale Medien erfahren Jugendliche, wie über ihr Land berichtet wird; sie haben es sich deshalb zur Aufgabe gemacht, auch das andere Bild der Stadt zu zeigen, indem sie etwa mittels kultureller Events und Fotografie eine Realität darstellen, die oft unbeachtet bleibt.

Die Tatsache, dass soziale Netzwerke einen primär jugenddominierten Raum darstellen, in dem Altershierachien weniger virulent sind als innerhalb der irakischen Gesellschaft, macht sie für Jugendliche zusätzlich attraktiv.

Handeln in interdependenten Realitäten

Die vormals verbreitete Annahme, der virtuelle Raum würde losgelöst vom »realen« Raum existieren, wird mittlerweile von vielen Jugendforschern relativiert; die Grenzen zwischen realen und technisch gestalteten Räumen gelten als fließend (vgl. Tully 2009, S.12). Neue Potentiale werden u.a. darin gesehen, raumsoziologische Theorien in die Jugendforschung zu integrieren (vgl. Ahrens 2009, S.10). Nach Löws (2001) relationistischem Raumkonzept ist Raum nur dann existent, wenn Menschen handeln und sich selbst und Objekte darin positionieren. Raum entsteht demnach durch Prozesse des Positionierens und Anordnens und ist wandelbar. Dieser Prozess kann aber nun sowohl im städtischen als auch im virtuellen Raum stattfinden. »Virtuell« meint somit nicht nicht-real, es ist kein rein fiktionaler Raum, sondern ein alternativer Zusatzraum, der die bisher relevante Wirklichkeit ergänzt. Das Internet treibt nicht nur Enträumlichung voran, sondern schafft gleichzeitig Kommunikationsräume, die neue Prozesse des Anordnens ermöglichen. Wie aber werden Räume gestaltet, „wenn physische Anwesenheit, räumliche Nähe und Ortsbezug immer weniger als notwendige Voraussetzung für das Zustandekommen von Kommunikation fungieren?“ (Ahrens 2009, S.28).

Betrachtet man das Handeln von Jugendlichen in Bagdad aus dieser Perspektive, so wird erklärbar, wie eng virtueller und städtischer Raum – als zwei Formen realer Räume – miteinander verbunden sind. Jugendliche positionieren sich sowohl im virtuellen als auch im städtischen Raum und gestalten dadurch miteinander verbundene Räume. Handlungen in einem Raum werden im anderen fortgeführt und wieder zurück getragen; so ist es möglich, Räume entstehen zu lassen, die über die physische Anwesenheit hinaus existieren. Denn parallel zu den oben beschriebenen Nutzungsmustern sozialer Netzwerke sind die NutzerInnen emotional stark mit ihrer Stadt – Bagdad – verbunden. Der virtuelle Raum bietet Möglichkeiten der Vernetzung, des sich Ausprobierens, die im städtischen Raum verwehrt bleiben; gleichzeitig dient er als Mittel zur Vorbereitung von Aktionen: „Facebook ist ein Mittel, es ist oft der erste Schritt, aber das ist nicht genug, wir müssen auf die Straße gehen.“ (Interview 2013, eigene Übersetzung) So haben nicht nur Absprachen und erste Treffen für den »Peace Day« zunächst im virtuellen Raum stattgefunden, um dann auf städtische Orte überzugehen, auch das Projekt »You are next« hat seine Ausbreitung hauptsächlich über Facebook erfahren. Für die Initiatoren wäre es aufgrund der Sicherheitslage und fehlender Infrastruktur kaum möglich gewesen, Universitäten in anderen Landesteilen zu erreichen; über das Internet gelang es Ihnen, das Interesse anderer Studierender zu wecken und die Durchführung ähnlicher Mahnwachen in anderen Teilen des Landes zu begleiten.

»Shoot as you walk – Baghdad «

Die Idee zum diesem Projekt kam ursprünglich von Jugendlichen aus dem Libanon. Mittlerweile gibt es ähnliche Projekte in fünf Ländern des Nahen und Mittleren Ostens, u.a. in Bagdad. Ziel des Projektes ist es, ein anderes Bild der Stadt nach außen zu transportieren und zu zeigen, was Jugendliche an ihrer Stadt schätzen. Gleichzeitig ist es für die Jugendlichen eine Möglichkeit, sich selbst ihre Stadt weiter zu erschließen und sich auf positive Aspekte zu konzentrieren. (Siehe auch Bebilderung in W&F 2-2013.)

Der starke Bezug zu Bagdad zeigt sich insbesondere beim Projekt »Shoot as you walk« (siehe Kasten). Bis heute sind viele Stadtteile von Bagdad nicht frei zugänglich, die Zahl der Straßensperren hat aber in den letzten Jahren abgenommen. Mit Spaziergängen durch die Stadt, bei denen sich an die Fersen der jugendlichen FotografInnen auch weitere Interessierte heften, wollen sie städtische Räume für sich erschließen, die bisher abgeriegelt waren. Zwei Plätze in Bagdad werden von den Jugendlichen besonders als Treffpunkte hervorgehoben: ein Coffee-Shop in Karrada sowie die Mutanabbi-Straße. Karrada gilt bei den BewohnerInnen Bagdads als gemischtes Stadtviertel mit Kultur, Leben, Ungezwungenheit. Es ist ein Ort, an dem sich einige lokale Nichtregierungsorganisationen angesiedelt haben und in dem man sich relativ frei bewegen und eben auch ein Stück Normalität in einem Café leben kann. Die Mutanabbi-Straße als historisches Zentrum des Büchermarkts in Bagdad füllen bis heute Bücherstände. Sie wird von irakischen Intellektuellen und Literaten häufig als das Herz und die Seele von Bagdad beschrieben. Für die Jugendlichen ist der Bezug zur Geschichte eine Möglichkeit, eine positive Beziehung zu ihrem Land bzw. ihrer Stadt aufzubauen. „Die Plätze der Altstadt erinnern mich an die Erzählungen meiner Mutter vom Bagdad der 1930er Jahre, als Bagdad ein wunderbarer Ort war, sie geben mir das Gefühl, dass Bagdad immer noch schön ist.“ (Interview 2013, eigene Übersetzung) Indem sie sich an diesen Orten fotografieren, schaffen die Jugendlichen zeitweise neue Räume, die über die Dauer ihrer Anwesenheit hinaus existieren, sowohl als Teil ihrer Identität als auch in Form von Bildern und Kommentaren, die in sozialen Netzwerken veröffentlicht werden und neue Anreize zur Kommunikation schaffen.

Fazit

Sich abzugrenzen gegenüber der herrschenden politischen Praxis und der Erwachsenenkultur und Anstöße zu geben zum gesellschaftlichen Wandel, das sind wesentliche Motivationen für das Engagement dieser Jugendlichen in Bagdad. In ihrem Handeln bewegen sie sich zwischen virtuellen und realen Räumen und verknüpfen diese so zu neuen, eigenen Handlungsräumen. Diese Form des Positionierens macht ihr Engagement sowohl innerhalb der eigenen Gesellschaft als auch nach außen sichtbar. Entgegen aller Kritik an den neuen Medien als isolierend und realitätsfern – für Jugendliche in Bagdad stellen diese eine wesentliche Basis für Kommunikation dar, die nicht abgegrenzt von anderen Teilen ihrer Lebensrealität existiert.

Ein akteurszentrierter Blick auf Jugendliche lohnt sich, nicht nur weil man ihnen dadurch eher gerecht wird, sondern auch weil die Analyse jugendspezifischen Agierens zu einem tieferen Verständnis von Konfliktgesellschaften beiträgt. Inwiefern das Handeln von Bagdads Jugend auf die Gesellschaft Wirkung zeigt, bleibt abzuwarten, es stellt aber neben Gewalt und Konflikt bereits heute einen Teilaspekt irakischer Realität dar, der mehr Beachtung verdient.

Literatur:

Ahrens, Daniela (2009): Jenseits medialer Ortslosigkeit. Das Verhältnis von Medien, Jugend, Raum. In: Tully, Claus (Hrsg.): Multilokalität und Vernetzung. Beiträge zur technikbasierten Gestaltung jugendlicher Sozialräume. Weinheim und München: Juventa, S.27-40.

Fend, Helmut (1991): Identitätsentwicklung in der Adoleszenz. Lebensentwürfe, Selbstfindung und Weltaneignung in beruflichen, familiären und politisch-weltanschaulichen Bereichen. Bern: Verlag Hans Huber.

Fuller, Graham E. (2004): The Youth Crisis in Middle Eastern Society. Institute for Social Policy and Understanding (ISPU).

Hurrelmann, Klaus und Quenzel, Gudrun (2012): Lebensphase Jugend. Eine Einführung in die sozialwissenschaftliche Jugendforschung. Weinheim, München: Juventa.

Kurtenbach, Sabine (2009): Jugendliche in Nachkriegsgesellschaften – Kontinuität und Wandel von Gewalt. In: Imbusch, Peter (Hrsg.): Jugendliche als Täter und Opfer von Gewalt. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S.175-212.

Löw, Martina (2001): Raumsoziologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Massey, Doreen (1994): Space, Place and Gender. Oxford: Blackwell Publishers.

Schroer, Markus (2006): Räume, Orte Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raumes. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Tully, Claus (2009): Die Gestaltung von Raumbezügen im modernen Jugendalltag. Eine Einführung. In: ders.: Multilokalität und Vernetzung. Beiträge zur technikbasierten Gestaltung jugendlicher Sozialräume. Weinheim und München: Juventa, S.9-26.

Anmerkung

1) Raumsoziologische Ansätze beschäftigen sich mit der Raumbezogenheit von Gesellschaft; relationistische Raumkonzepte betrachten Raum nicht nur als Schauplatz des Sozialen, sondern als durch soziale Beziehungen konstruiert und prinzipiell veränderbar. Raum ist demnach nicht nur ein Gefäß, in welchem Handeln stattfindet, vielmehr bedingen sich Handeln und Raum wechselseitig. Mit der Entwicklung von Raum als theoretisches Konzept gehen sie über einen rein territorialen Raumbegriff, wie er lange in der soziologischen Stadtforschung benutzt wurde, hinaus (vgl. etwa Löw 2001, Massey 1994, Schroer 2006).

Annika Henrizi promoviert am Zentrum für Konfliktforschung der Philipps-Universität Marburg zu zivilgesellschaftlichen Organisationen in Bagdad im Kontext von Peacebuilding. Ihre Forschungsinteressen umfassen Gender in Konflikten und Friedensprozessen, Ansätze der Raum- und Akteurssoziologie sowie gesellschaftliche Entwicklungen im Nahen und Mittleren Osten.

Frieden ist kein Zufall

Frieden ist kein Zufall

Wie Bürgerkriege in Ägypten und Bolivien verhindert wurden

Witold Mucha

Nicht erst seit den im Fokus stehenden Bürgerkriegen in Libyen und Syrien werden Eskalationen, die von weitaus weniger Gewaltintensität gezeichnet sind, in Politik und Wissenschaft vernachlässigt. Die Frage danach, warum es in manchen konfliktträchtigen Gesellschaften trotz substantieller Missstände nicht zu einem intensiven Gewaltkonflikt kommt, wird nur selten gestellt. Der vorliegende Artikel widmet sich dieser Frage. Zwei strukturell unterschiedliche Fälle, Ägypten und Bolivien, die in jüngerer Vergangenheit an der Schwelle zum Bürgerkrieg standen, diese jedoch nicht überschritten, werden hinsichtlich ihrer »Friedensursachen« analysiert.

Die Umbrüche in der arabischen Welt haben das Interesse in der Politik, den Medien und der Wissenschaft in den letzten beiden Jahren dominiert. Während es anfänglich darum ging, den überraschend starken Impetus von Massenprotesten auf den Zusammenhalt bzw. Zusammenbruch von autoritär regierten Systemen zu erklären, richtete sich die jüngste Debatte insbesondere auf den sich ausweitenden Bürgerkrieg in Syrien. Der Fokus der Berichterstattung liegt dabei auf den Kriegsursachen, dem Verlauf und den Folgen für den Wiederaufbau des Landes bzw. der Region. Dieser Blick auf den syrischen Bürgerkrieg ist auch exemplarisch für die gängige Praxis der Friedens- und Konfliktforschung, die sich vornehmlich mit dem Phänomen »Krieg«, »Staatszerfall« oder generell »Unordnung« befasst. Ganz im Gegensatz zu dem »Nicht-Krieg«, der medial weniger Aufmerksamkeit erzeugt.

Dieses Missverhältnis spiegelt sich nicht nur in den politischen und Wissenschaftsdebatten, sondern auch in der mangelnden Finanzierung von Forschungsprojekten, die sich mit so genannten »Friedensursachen« beschäftigen. Dies ist insofern paradox, als die Friedensursachenforschung per se beansprucht, Empfehlungen auszusprechen, die elementare Fragen der Krisenprävention berühren: Wenn bspw. eine tiefgreifende Agrarreform in einem Land soziale Ungleichheiten schmälern kann, würde eine solche Initiative bzw. »Friedensursache« in einem anderen Land nicht auch eine ähnlich deeskalative Wirkung erzeugen?

Kurzum, die Friedensursachenforschung ist nicht das Gegenstück zur dominierenden Kriegsursachenforschung, sondern Teil desselben Erkenntnisinteresses: Warum eskalieren manche Konflikte und andere nicht? Entsprechend wird der akademische und politische Blick auf »Friedensursachen« in Zukunft weiterhin von einer zentralen Grundfrage bestimmt werden: Kann diese Perspektive ein komplementärer Mehrwert zu der von Kriegsphänomenen geprägten Forschungslandschaft sein? Ohne dies in dem vorliegenden Rahmen erschöpfend beantworten zu können, unterstreicht der Vergleich von »Friedensursachen« in Ägypten (2010-2011) und Bolivien (2000-2008) den Mehrwert der Perspektive für die Friedens- und Konfliktforschung.

Gewalteskalation in Ägypten und Bolivien

Der Vergleich zwischen Eskalationsprozessen in Ägypten und Bolivien bietet sich aus zweierlei Gründen an: Zum einen unterscheiden sich beide Länder hinsichtlich ihrer strukturellen Konfliktivität recht stark (z.B. Kokainanbau in Bolivien, autoritäres System in Ägypten). Zum anderen ist es Protestbewegungen in beiden Fällen gelungen, Regierungen zu stürzen, die zunächst mit erheblicher Repression gegen sie vorgegangen waren. Trotz der gewaltsamen Zusammenstöße konnte in beiden Fällen ein Bürgerkrieg vermieden werden. Dies ist umso bemerkenswerter, als nicht wenige Beobachter den Pfad Richtung Bürgerkrieg bereits beschritten sahen. Entsprechend groß ist das Interesse der Friedensursachenforschung, zu erfahren, ob diese Fälle bestimmte »Friedensursachen« teilen, die über den lokalen Kontext hinaus identifizierbar oder gar reproduzierbar wären.

Im Zuge der oben genannten medialen Dominanz des »Arabischen Frühlings« stellt der ägyptische dabei den präsenteren Fall dar. Inspiriert durch den Sturz von Ben Ali in Tunesien führten Großdemonstrationen um den Tahrir-Platz in Kairo zum Rücktritt des 30 Jahre amtierenden Präsidenten Hosni Mubarak im Februar 2011. Im Kern ging es der Protestbewegung neben den Auswüchsen von Amtsmissbrauch und Korruption insbesondere um die Person Mubaraks, der in prominenter Form für die Illegitimität des Regimes stand. (Wardany, 2012, S.37-46) Obwohl die Zahl der Todesopfer – mindestens 846 Menschen innerhalb von wenigen Wochen – hoch erscheint, wurde der ägyptische Fall als moderate »Revolution« identifiziert. (Bush, 2011, S.303) In der Tat weisen die Umbrüche in Libyen (ca. 30.000) und aktuell in Syrien (ca. 20.000) weitaus höhere Todeszahlen auf.

Im Vergleich zu der kurzen und intensiven Eskalationsphase in Ägypten erstreckt sich der Fall Boliviens über ein knappes Jahrzehnt zwischen 1999 und 2008, in dessen Verlauf weniger als 200 Menschen durch Gewaltzusammenstöße ums Leben kamen. Die so genannte »Paktierte Demokratie«, basierend auf einer Wahlallianz von drei an der Macht beteiligten Parteien, gewährleistete zwischen 1985 und 2000 die politische Stabilität des Landes. Dieser von den Gegnern verschriene »Elitenpakt« erodierte spätestens mit der Jahrtausendwende, als es zu einer zyklischen Eskalation von sozialen Konflikten kam, in dessen Folge zwei Präsidenten abdanken mussten. Im Kern ging es bei den Gewaltepisoden um das neoliberale markt- und außenorientierte Entwicklungsmodell, das von der »Paktierten Demokratie« verfolgt wurde. (Wolff, 2004, S.4)

Friedensursachen in Ägypten und Bolivien

Sowohl in Ägypten als auch in Bolivien waren Faktoren wirksam, die eine weitere Eskalation hin zu einem Bürgerkriegsausbruch verhinderten. Im Folgenden werden insgesamt vier dieser »Friedensursachen« kursorisch dargestellt, wobei Überlappungen in der dynamischen Natur der Deeskalation begründet sind:

Politisierung statt Militarisierung

Die Protestwellen in Bolivien zwischen 2000 und 2005 sowie die Großdemonstrationen um den Tahrir-Platz in Kairo im Frühjahr 2011 wurden von einer jeweils heterogen zusammengesetzten Bewegung getragen. Im ägyptischen Fall organisierten vornehmlich junge, urbane und kosmopolitisch eingestellte Aktivisten die Proteste in den größten Städten des Landes, denen sich im Zuge der tunesischen »Erfolgsstory« große Teile der Gesellschaft anschlossen. (Anderson, 2011, S.2) Ein ähnlich breites Bild gab die Oppositionsbewegung in Bolivien ab, die lokale Nachbarschaftsvereinigungen, Kokabauern aus Chaparé, die urbane Mittelschicht, Studierende, Gewerkschaften, indigene Organisationen, Jugendbanden und in manchen Fällen sogar Polizeivertreter oder Mitglieder der katholischen Kirche miteinschloss. (Crabtree, 2005, S.28) Das gemeinsame Merkmal in beiden Fällen war, dass die wahrgenommenen Missstände – in Bolivien die Privatisierung der Wasserversorgung, in Agypten der Amtsmissbrauch des Regimes – faktisch alle gesellschaftlichen Gruppen betrafen. Aus Sicht der Friedensursachenforschung war in beiden Kontexten entscheidend, dass zu keinem Zeitpunkt der Proteste die Möglichkeit eines bewaffneten Widerstandes die Agenda der Opposition bestimmte. In Anbetracht der wahrnehmbaren »Erfolge« der Demonstrationen (z.B. Rückzug von Gesetzesvorhaben, Rücktritt von Präsidenten) waren Anreize für eine Militarisierung nicht vorhanden. Entsprechend wenig Zulauf erfuhren radikale Gruppierungen innerhalb der Protestbewegung, die eine Strategie der Militarisierung bevorzugten.

Institutionelle Konfliktlösung

Der Erfolg der Politisierungsstrategie in Bolivien und Ägypten war eng verknüpft mit der Tatsache, dass die Gewaltepisoden mithilfe von Konfliktlösungsmechanismen deeskaliert wurden, die in den jeweiligen Staatsverfassungen bereits vorgesehen waren. Eine höhere Gewaltintensität in Bolivien wurde sowohl während des »Wasserkrieges« im Jahre 2000 als auch im Zusammenhang mit der vom IWF geforderten Einkommenssteuererhöhung im Frühjahr 2003 verhindert, indem die Regierung die Gesetzesinitiativen wieder zurücknahm. Der »Gaskrieg« im September 2003 und seine Wiederauflage im Juni 2005 wurden deeskaliert, indem die jeweiligen Präsidenten De Lozada und Mesa zurücktraten – bzw. im erstgenannten Fall faktisch gestürzt wurden. (Breuer, 2008, S.1-23) Ähnliches widerfuhr dem ägyptischen Präsidenten Mubarak am 11. Februar 2011, nachdem ihm sowohl die breite Mehrheit der Bevölkerung als auch das Militär die weitere Unterstützung versagte. Die Post-Mubarak-Phase blieb formal auf dem institutionell vorgesehenen Kurs, indem zunächst eine verfassungsgebende Versammlung eingerichtet und anschließend Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausgerichtet wurden. (Elgindy, 2012, S.89-104) Die gleiche deeskalative Wirkung hatte Mesas Ankündigung von Neuwahlen im Jahre 2005 sowie das Referendum über Morales‘ Amtsführung im Kontext der bolivianischen Autonomiekontroverse im August 2008. (Breuer, 2008, S.1-23) Ähnlich wie im Falle der Politisierung der Agenda durch die Opposition schränkte die institutionelle Konfliktlösung in Bolivien und Ägypten die Genese radikaler und militarisierter Gruppen deutlich ein. Der Erfolg der Proteste und der gleichzeitig moderat repressive Staat boten in beiden Fällen zu wenig Anreiz, über die Option eines bewaffneten Widerstandes ernsthaft nachzudenken.

Lernprozess der Regierungen

Der Übergang von De Lozada zu Mesa nach dem Ende des »Gaskriegs« im Herbst 2003 markierte den Beginn eines Lernprozesses auf Seiten der politischen Klasse in Bolivien. Nach den besonders gewaltsamen Episoden im Streit um die IWF-Einkommenssteuer und die Gasfrage im Jahre 2003, die insbesondere durch De Lozadas kompromisslose Repressionsstrategie befeuert worden war, fand auf Seiten der Mesa-Administration ein Umdenken statt. Ganz offensichtlich hatten der Einsatz der Polizei und der Armee gegen die Demonstrierenden eine Welle von Gegengewalt provoziert, die nicht nur in der hohen Zahl der Todesopfer und Verletzten deutlich wurde, sondern auch in dem zunehmenden Sicherheitsvakuum in Teilen urbaner Zentren um La Paz. Um einen ähnlichen Legitimitätsverlust wie sein Vorgänger sowie eine erneute Gewalteskalation zu vermeiden, verzichtete Mesa während seiner knapp zweijährigen Amtszeit auf repressive Mittel gegen die weiter lodernden Protestwellen. In der Tat gab es bei der Wiederauflage des Gasstreits im Juni 2005 lediglich ein Todesopfer zu beklagen. (Mosley, 2007, S.8) Bezeichnenderweise hatte auch der amtierende Präsident Morales aus den Erfahrungen seiner Vorgänger »gelernt«, indem auch er sowohl militärische Repression gänzlich vermied als auch kontroverse Gesetzesinitiativen zurücknahm und die dafür verantwortlichen Kabinettsmitglieder austauschen ließ. Die Zurücknahme von Benzinpreiserhöhungen im Januar 2011, die zu massiven Protesten geführt hatten, ist ein Beispiel für den erstaunlich nachhaltigen Lernprozess der Regierungen in Bolivien nach dem »Gaskrieg« von 2003.

Es ist momentan nur bedingt absehbar, inwiefern die ägyptische Gewaltepisode vom Frühjahr 2011 einen ähnlichen Lernprozess in Gang gesetzt hat. Auch wenn Präsident Mubarak seine anfängliche Repressionsstrategie zunehmend mit politischen Reformvorschlägen flankierte, lag es v.a. an dem zurückhaltenden Verhalten des Militärs, dass eine weitere Eskalationsstufe verhindert wurde. Ebenfalls unklar bleibt, ob in der Post-Mubarak-Phase, während der bis zur Wahl Mursis im Juni 2012 der Oberste Rat der Streitkräfte (SCAF) als Interimsregierung fungierte, ein Lernprozess stattgefunden hatte. Die relativ friedlich verlaufene Transitionsphase und die hohe Legitimität des Militärs zeugen auf der einen Seite davon, dass Repression nicht systematisch angewandt wurde. Auf der anderen Seite wurde der SCAF für den gewaltsamen Zusammenstoß von koptischen Christen und Armeeangehörigen im Oktober 2011, bei dem über 20 Protestierende getötet wurden, kritisiert. (BBC News, 26. Oktober 2011)

Internationaler Druck

Neben den drei genannten Friedensursachen, die ihre Wirkung innerhalb des Systems entfalteten, gab es sowohl in Bolivien als auch in Ägypten externe Einflüsse, die den Gewaltaustrag minderten. Im Falle Boliviens waren die Protestwellen bis 2005 zunächst weitgehend ohne äußeren Druck beendet worden. Dies änderte sich jedoch nach dem Amtsantritt des ersten indigenen Präsidenten, Evo Morales, im Januar 2006. Als Folge der Autonomiebestrebungen der im Tiefland lebenden politischen und Wirtschaftseliten sowie der Gewaltzusammenstöße zwischen den jeweiligen Unterstützergruppen im Jahre 2008 positionierte sich die internationale Gemeinschaft eindeutig gegen eine mögliche Abspaltung jener Departements. Sowohl die Union der Südamerikanischen Nationen (UNASUR), die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) als auch die Europäische Union (EU) hatten sich gegen die Sezessionsbemühungen ausgesprochen.

Zu Beginn der ersten Proteste in Ägypten hingegen wurden die westlichen Regierungen für ihre wenig eindeutige Stellung kritisiert. (Lynch, 2011, S.31-42.) Sie erkannten die Zeichen der Zeit jedoch spätestens nach den ersten gewaltsamen Zusammenstößen, und selbst die US-Regierung nahm den Sturz Mubaraks in Kauf. Auch hierbei spielte das ägyptische Militär die entscheidende Rolle: Es garantierte den USA die Wahrung ihrer Sicherheitsinteressen im Gegenzug für die Fortsetzung der Militärhilfe. (Springborg, 2011, S.9.)

Bürgerkriege können verhindert werden

Der Vergleich zwischen Eskalationsprozessen in Bolivien und Ägypten macht deutlich, dass Friedensursachen über den »Tellerrand« des lokalen Kontextes hinaus identifiziert werden können. In beiden Fällen führten die gewaltsamen Zusammenstöße zwischen den Protestbewegungen und dem Staatsapparat nicht zu Bürgerkriegen, obwohl die Bedingungen dafür gegeben waren. Insbesondere vier Faktoren zeichneten sich dafür verantwortlich: Erstens setzte die heterogene Oppositionsbewegung auf eine erfolgreiche Politisierungs- anstatt einer Militarisierungsstrategie. Zweitens wurden die jeweiligen Gewaltepisoden im Rahmen der institutionellen Konfliktlösungsmechanismen deeskaliert (z.B. Neuwahlen, Rücktritt). Drittens »lernten« die nachfolgenden Regierungen, die Protestwellen zu antizipieren und stärker auf Verhandlungen und weniger Repression zu setzen, die bis dato massive Gegengewalt provoziert hatte. Viertens wurde von Seiten relevanter externer Akteure (z.B. OAS, EU, USA) Druck auf die potentiellen Konfliktakteure ausgeübt, von weiteren eskalativen Schritten Abstand zu nehmen.

Auch wenn die vier genannten Friedensursachen in Ägypten und Bolivien erstaunliche Parallelen aufweisen, sieht sich die Friedensursachenforschung dennoch mit der Frage der Generalisierbarkeit konfrontiert. Insbesondere der Bürgerkrieg in Syrien verdeutlicht die kurze Halbwertszeit von »Friedensursachen«. Hier scheiterte die von den tunesischen und ägyptischen Bewegungen kopierte Politisierungsstrategie der Opposition an der Repression des Assad-Regimes, das sich auf einen loyalen Sicherheitsapparat stützt. Auch der internationale Kontext ist aus Sicht der Protestierenden, die vergeblich auf die Einrichtung einer Flugverbotszone warten, weitaus weniger günstig (siehe Patt im UN-Sicherheitsrat, Kurdenfrage, iranisches Atomprogramm). Im Übrigen sind diese beiden Faktoren – Repression und internationaler Kontext – nicht nur auf diese Region beschränkt. Externe Beobachter werden Ähnliches aus Kuba, Tibet oder Simbabwe berichten können.

Daher liegt es an zukünftigen Studien, den Anspruch auf Universalität jener Friedensursachen zu diskutieren und zu untersuchen, inwiefern es sich bei den Fällen Ägypten und Bolivien um Ausnahmen der Regel handelt oder eben nicht. Konkret böten sich wenig beachtete Gewaltkonflikte wie bspw. Honduras (2009), Mazedonien (1990-2001) oder Tansania (1992-2001) an, da auch dort auf unterschiedliche Art und Weise eine Bürgerkriegseskalation vermieden wurde.

Literatur

Anderson, Lisa (2011): Demystifying the Arab Spring. Parsing the Differences Between Tunisia, Egypt, and Libya. Foreign Affairs May/June 2011, S.2-7.

BBC News (2011): Viewpoint: Egypt’s Copts must not submit to grief. BBC News, 26. October 2011.

Breuer, Anita (2008): The Problematic Relation between Direct Democracy and Accountability in Latin America: Evidence from the Bolivian Case. Bulletin of Latin American Research 27:1, S.1-23.

Bush, Ray (2011): Briefing: Egypt: a permanent revolution? Review of African Political Economy 38:128, S.303-307.

Crabtree, John (2005): Patterns of Protest. Politics and Social Movements in Bolivia. London: Latin America Bureau.

Elgindy, Khaled (2012): Egypt’s Troubled Transition: Elections Without Democracy. The Washington Quarterly 35:2, S.89-104.

Mosley, Paul (2007): The »Political Poverty Trap«: Bolivia 1999-2007. London: World Economy & Finance Research Programme.

Lynch, Marc (2011): America and Egypt After the Uprisings. Survival – Global Politics and Strategy 53:2, S.31-42.

Springborg, Robert (2011): Whither the Arab Spring? 1989 or 1848. The International Spectator – Italian Journal of International Affairs 46:3, S.5-12.

Wardany, Youssef (2012): The Mubarak Regime’s Failed Youth Policies and the January Uprising. IDS Bulletin 43:1, S.37-46.

Wolff, Jonas (2004): Demokratisierung als Risiko der Demokratie? Die Krise der Politik in Bolivien und Ecuador und die Rolle der indigenen Bewegungen. HFSK-Report 6/2004. Frankfurt am Main: Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung.

Witold Mucha M.A. ist Politikwissenschaftler mit entwicklungspolitischer Expertise in der Andenregion und Zentralafrika. Zurzeit ist er Promotionsstipendiat der Heinrich-Böll-Stiftung und Freelancer beim Institut für Entwicklung und Frieden der Universität Duisburg-Essen.

»Konflikte in Gegenwart und Zukunft«

»Konflikte in Gegenwart und Zukunft«

Ringvorlesung des Zentrums für Konfliktforschung (ZfK) der Philipps-Universität Marburg im Wintersemester 2012/13

von Zentrum für Konfliktforschung

22.10. Prof. Dr. Ingrid Kurz-Scherf (Marburg): Die große Transformation? Feministische Perspektiven auf aktuelle Krisen- und Konfliktdynamiken
29.10. Ph. D. Henri Myrttinen (Berlin): Guerrillas, Gangster, Gouverneure – Nicht-staatliche Akteure in Aceh und Kosovo
05.11. Prof. Dr. Lisette Gebhardt (Frankfurt): Konfliktpotential nach »Fukushima«: Kritik am »System Japan«
12.11. Stefan Hebenstreit (Marburg): Fußballsport als Spiegel von Antisemitismus und Islamophobie
19.11. Prof. Dr. Franz Segbers (Marburg): Ungleichheit als gesellschaftliches Projekt. Armut in einem reichen Land
26.11. Prof. Dr. Klaus Vajen (Kassel): Energieeffizienz an Hochschulen – technisch machbar, aber…
03.12. Prof. Dr. Jürgen Scheffran (Hamburg): Klimawandel zwischen Konflikt und Kooperation
10.12. Prof. Dr. Hans Ackermann (Marburg): Wie nachhaltig ist Hessen?
17.12. Dr. Sabine Schiffer (Erlangen): Medien und die Enthüllungen um den NSU-Terror in Deutschland
14.01. Prof. Dr. Mario Gollwitzer (Marburg): Virtuell gemein? Der Einfluss aggressiver Erfahrungen in gewalthaltigen Computerspielen
21.01. Dr. Robert Lorenz (Göttingen): Die Göttinger 18 – Experten zwischen Verantwortung und Interesse
28.01. Prof. Dr. Niko Paech (Oldenburg): Wie wir leben wollen – Grenzen des Wachstums
04.02. Prof. Dr. Simone Strambach (Marburg): Mobilitätsdynamiken im Spannungsfeld von Wissensarbeit und Nachhaltigkeit – Herausforderungen für Marburg
11.02. PD Dr. Claudia Wiesner (Jyväskylä/Marburg): Finanzkrise, Regierungskrise, Identitätskrise? Was bleibt übrig vom EU-Bürger?

Jeweils Montags, 18:30 Uhr, Hörsaalgebäude Biegenstraße, Raum +1/0010 (EH. 116).

Die Ringvorlesung wird in Kooperation mit dem Interdisziplinären Seminar zu Ökologie und Zukunftssicherung (ISEM) durchgeführt.

Weitere Informationen unter www.uni-marburg.de/konfliktforschung und bei PD Dr. Johannes M. Becker, becker1@staff.uni-marburg.de.

»Internationale Schutzverantwortung«

»Internationale Schutzverantwortung«

Zivilisatorischer Fortschritt oder gefährliche Chimäre?

von Alexander S. Neu

Die überwunden geglaubte Legitimationsfigur des »gerechten Krieges« (iustum bellum) erfreut sich in Form der »Internationalen Schutzverantwortung« einer Renaissance. Sollte sie den Status einer Rechtsnorm erlangen, würde die Schutzverantwortung das bislang geltende Völkerrecht substantiell verändern. Befürworter sehen in ihr eine zivilisatorische Weiterentwicklung des Völkerrechts. Skeptiker wenden ein, die Schutzverantwortung öffne militärischen Interventionen des Westens völkerrechtlich die Tür. Ist nun das Konstrukt der »Schutzverantwortung« tatsächlich etwas Neues, das die internationale Rechtsstaatlichkeit fortentwickelt, oder ist es lediglich alter Wein in neuen Schläuchen, der die Interessen- und Machtpolitik der Großmächte ethisch kaschiert?

Der UN-Sicherheitsrat ermächtigte am 17. März 2011 hinsichtlich des nicht-internationalen bewaffneten Konflikts in Libyen „die Mitgliedstaaten, […] alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, […] um von Angriffen bedrohte Zivilpersonen und von der Zivilbevölkerung bewohnte Gebiete […] zu schützen“.1 Westliche Politiker behaupteten und westliche Medien »berichteten«, Gaddafi bombardiere sein Volk, und schufen so ein Meinungsklima für einen »Regime Change«.

Ähnlich funktionieren die gegenwärtigen Stellungnahmen westlicher Politiker und Medien im Falle des nicht-internationalen bewaffneten Konflikts in Syrien.2 So erklärte am 7. Juni 2012 die Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Catherine Ashton: „Ich verurteile die brutale Gewalt und Tötung Dutzender Zivilisten vom gestrigen Tage auf’s Schärfste […]. Die syrische Regierung hat die Verantwortung, ihre Bevölkerung zu schützen.“ 3

Die UN-Sicherheitsratsresolution zu Libyen wird wohl als die erste in die Geschichte eingehen, die die nach dem NATO-Angriffskrieg gegen Jugoslawien vom Westen federführend konzipierte »Internationale Schutzverantwortung« (Responsibility to Protect, RtP) in die Praxis umsetzte.

»Internationale Schutzverantwortung«

Angesichts des rechtswidrigen Angriffskrieges der NATO gegenüber Jugoslawien 1999 zum Schutz der angeblich dem Völkermord ausgesetzten Kosovo-Albaner (Scharping/Fischer)4 wurde auf Betreiben des damaligen UN-Generalsekretärs Kofi Annan im Jahre 2000 eine internationale Kommission (ICISS5) zu Fragen von Intervention und staatlicher Souveränität einberufen. Ihre Aufgabe war, die Grundlagen und Voraussetzungen für »Humanitäre Interventionen« konzeptionell so zu entwickeln, dass der Eindruck machtpolitischer Willkür vermieden wird. Folglich wird seitens ihrer Befürworter zwischen der missbrauchsensiblen »klassischen« Humanitären Intervention und der »Responsibility to Protect« unterschieden. Wäre das Vorhaben erfolgreich, die RtP zur Rechtsnorm aufzuwerten, so würde das umfassende Gewaltverbot (Art. 2 Abs. 4 UN-Charta) neben den beiden bisher kodifizierten Ausnahmen (Art. 42 und 51 UN-Charta)6 durch eine weitere Ausnahme eingeengt.

RtP: Wandel des Souveränitätsbegriffs

Die Souveränität ist zu unterscheiden in eine äußere und innere. Unter äußerer Souveränität wird die Unabhängigkeit eines Staates gegenüber Drittstaaten verstanden. Die äußere Souveränität ist also ein Abwehr- und Selbstbestimmungsrecht gegen Einmischung in die inneren Angelegenheiten, was insbesondere für kleine und ehemalige Kolonialstaaten von zentraler Bedeutung ist. Unter innerer Souveränität ist die Staatsgewalt, also das Rechtsetzungs-, Rechtumsetzungs- und Gewaltmonopol des Staates zu verstehen.

Kernelement der von der ICISS konzipierten RtP ist, die beiden Ebenen in ein konditioniertes Verhältnis zueinander zu setzen und daraus resultierend einen Verständniswandel des Begriffs »Souveränität« zu begründen. Die RtP bindet die äußere Souveränität an die Art und Weise, wie die innere Souveränität umgesetzt wird. Äußere Souveränität soll demgemäß nicht mehr klar als Abwehrrecht gegen äußere Einmischung verstanden, sondern massiv eingeschränkt werden, indem eine spezifische Verantwortung des Staates, seine Bevölkerung vor gravierenden Menschenrechtsverletzungen zu schützen, postuliert wird.7 Unter gravierenden Menschenrechtsverletzungen werden Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnische Säuberung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verstanden.8

Sei ein Staat nicht fähig oder nicht willens, diese Schutzverantwortung wahrzunehmen, müsse die so genannte internationale Gemeinschaft die Verantwortung übernehmen. Hierbei werden drei Interventionsstufen benannt:9

Responsibility to prevent, d.h. die Verpflichtung, die Bedrohung einer großen Zahl von Menschenleben durch gravierende Menschenrechtsverletzungen im Vorfeld zu verhindern. Genannt werden politische, rechtliche, diplomatische, ökonomische, aber auch bereits militärische Mittel.

Responsibility to react, d.h. die Verpflichtung, gravierende Menschenrechtsverletzungen durch Intervention zu beenden. Genannt werden auch hier vorgelagerte Mittel wie Sanktionen, ggf. aber auch eine direkte militärische Intervention.

Responsibility to rebuild, d.h. Wiederaufbau nach einem militärischen Eingreifen. Hierzu zählen »state building«, Entwaffnung, Versöhnungsmaßnahmen.

Die Dreigliedrigkeit des Konstrukts RtP suggeriert, eine militärische Intervention sei nur eine von drei Optionen und nicht die bedeutsamste, was sich bei genauerer Betrachtung als Trugbild entpuppt. Ebenso täuscht der Eindruck, es gehe bei dem Wiederaufbau um klassische infrastrukturelle Aufbauhilfe.

Fehlt bei den Präventions- und Reaktionsstufen die klare Trennschärfe bezüglich der genannten (einschließlich militärischen) Maßnahmen, so wird mit Blick auf die Wiederaufbaustufe u.a. eine Revitalisierung des UN-Treuhandsystems gefordert. Das Treuhandsystem der Vereinten Nationen diente ursprünglich der Entkolonialisierung. Hingegen liefe die Zielsetzung, Staaten, die als »failing states« kategorisiert werden, nun diesem Treuhandsystem zu unterstellen, auf eine Entmündigung der entsprechenden Gesellschaften und auf die zumindest temporäre Souveränitätszerschlagung – kurzum: auf ein Re-Kolonisierungsprojekt – hinaus. Hinsichtlich der militärischen Intervention wird auf Kriterien rekurriert, die einen objektiven Entscheidungsprozess suggerieren sollen:10

iusta causa: massenhafter Verlust von Menschenleben oder ethnische Säuberungen seien ein gerechter Grund;

recta intentio: die militärische Intervention müsse getragen werden von einer redlichen Absicht, d.h. einer interessenfreien Politik;

ultima ratio: die Gewaltanwendung könne nur das letzte Mittel in einer Reihe von Maßnahmen sein;

iustus finis: die Gewaltanwendung müsse verhältnismäßig (proportionalitas) und Erfolg versprechend sein;

legitima auctoritas: die Genehmigung einer militärischen Intervention müsse (zunächst) dem UN-Sicherheitsrat vorbehalten sein.

Die genannten Entscheidungskriterien sind nicht neu. Sie entstammen der seit der Antike immer wieder aufkeimenden Diskussion um die Legitimationsfigur des »gerechten Krieges« (bellum iustum). Sie erwiesen sich in der Praxis als wenig tauglich, da eine Gewichtung der Kriterien ebensowenig geklärt ist wie die Frage, ob sämtliche Kriterien erfüllt sein müssen. Auch ist es nicht möglich, die tatsächliche Absicht jenseits von Lippenbekenntnissen zweifelsfrei zu prüfen oder den Erfolg eines Einsatzes zu prognostizieren.

Es verdichtet sich der Eindruck, dass das RtP-Konstrukt der ICISS im Wesentlichen dazu dient, die tatsächlich intendierten militärischen Interventionen als Ultima-ratio-Handlungen mit einem zivilen Deckmäntelchen zu verkaufen.

Resolutionen der UN-Generalversammlung

Einen ersten relevanten Niederschlag fand die RtP im September 2005 in der Resolution der UN-Generalversammlung über das Ergebnis des Weltgipfel, in der die Generalversammlung das RtP-Konstrukt, wonach die Staaten die Verantwortung für den Schutz ihrer Bürger hätten, in seiner Grundsubstanz beschloss.11 Ebenso wurde eine (nicht weiter detaillierte) substituierende internationale Verantwortung festgestellt. Darüber hinausgehende Ausführungen oder ein Verweis auf Übernahme des ICISS-Berichts seitens der Generalversammlung unterblieben. Mit dem Hinweis, die Generalversammlung unterstreiche die Notwendigkeit zur weiteren Debatte, wurde dem Interesse an der Fortsetzung des Klärungsprozesses Ausdruck verliehen.

Diese Diskussion nutzte der UN-Generalsekretär, erarbeitete seinen eigenen »Bericht des Generalsekretärs«12 und stellte diesen im Juli 2009 in einer eigens zu diesem Thema einberufenen außerordentlichen UN-Generalversammlung vor. Aus den unterschiedlichen Positionen in der Debatte wurde deutlich, dass es weder zum ICISS-Bericht noch zum Berichts des Generalsekretärs eine einheitliche Position gab – und damit auch nicht zum RtP-Konstrukt als eine neu zu schaffende Norm. Auch wenn pro RtP-Lobbyisten ein eindeutiges Ergebnis herbeiinterpretierten,13 ist eine Mehrheitsmeinung aus zwei Gründen nicht eindeutig erkennbar: Erstens wurde nicht abgestimmt und zweitens nahmen weniger als die Hälfte der 192 Mitgliedsstaaten an der Versammlung teil. Der damals amtierende Präsident der UN-Generalversammlung, Miguel d‘Escoto Brockmann, bilanzierte die Debatte wie folgt: „Nach der Diskussion heute Morgen bleibt die Frage offen, ob die Zeit für eine eigenständige RtP-Norm schon gekommen ist oder ob wir, wie die meisten der Diskussionsteilnehmer heute Morgen empfanden, zuerst eine gerechtere und gleichberechtigtere Weltordnung brauchen, auch in ökonomischer und sozialer Hinsicht, und einen Sicherheitsrat, der nicht ein unterschiedliches Völkerrechssystem schafft, in dem sie nach Gusto entscheiden, wer starken Schutz erhält und wer nicht.“14

Auf der ordentlichen Generalversammlung im September 2009 wurde eine Resolution zu dem »Bericht des Generalsekretärs« diskutiert. Hier setzten sich die Kritiker der RtP durch. Es wurde zunächst die Unantastbarkeit der Prinzipien der UN-Charta unterstrichen, um anschließend lediglich zu erklären, man nehme den Bericht sowie die vorangegangene Debatte zur Kenntnis und beschließe, das Thema RtP weiter zu diskutieren.15

Die Idee der Schutzverantwortung selbst stieß nicht auf Ablehnung. Es wurde jedoch kritisiert, es gebe zahlreiche offene Fragen zu den Kompetenzen und zur Umsetzung, insbesondere, wenn es um militärische Zwangsmaßnahmen gehe, bei denen ein erhebliches Missbrauchspotential – auch durch den UN-Sicherheitsrat – bestünde. Aufgrund von Missbrauchsfällen in der Vergangenheit müsse zunächst das UNO-System reformiert und demokratisiert werden, bevor den Vereinten Nationen eine so weitreichende Befugnis zugewiesen werden könne.16

Der Rückschlag für die RtP-Befürworter ist mit den begründeten Ängsten vor allem der nicht-westlichen Länder verbunden, das Konstrukt könnte in seiner unausgereiften Form die Qualität einer Völkerrechtsnorm erhalten und sodann von den Großmächten als Interventionslegitimation missbraucht werden.

Die Formulierungen in den Resolutionen der UN-Generalversammlung sowohl 2005 als auch 2009, wonach die Generalversammlung mit dem Thema befasst bleibe, bergen zwei relevante Entscheidungen: erstens, dass die Diskussion zur RtP noch nicht abgeschlossen ist und somit weder eine generelle noch eine inhaltlich-konzeptionelle Entscheidung gefallen ist, und zweitens, dass die Generalversammlung sich das Thema weiterhin vorbehält, was als Warnung an andere Gremien – auch an den UN-Sicherheitsrat – zu verstehen ist, sich des Themas eigenmächtig anzunehmen. Ort der Diskussion soll die Generalversammlung bleiben, um eine höchstmögliche Transparenz der Diskussion zu sichern und eine breite Entscheidungsbasis zu garantieren, was angesichts der weitreichenden Bedeutung der RtP-Idee nachvollziehbar ist.

Der UN-Sicherheitsrat allerdings sah dies anders und schaffte Fakten, als er in mehreren Resolutionen die Feststellungen zur RtP in der Resolution der UN-Generalversammlung aus dem Jahre 2005 „bekräftigte“, um so die RtP »aufzuwerten«.17 Auf diese Weise wurde der UN-Generalversammlung faktisch die Federführung für das Thema entzogen und ihr letztlich die Position des UN-Sicherheitsrates diktiert.

RtP – Praxistest

Was der UN-Sicherheitsrat unter RtP in der Praxis versteht, verdeutlichte sich im Jahre 2011: Der Sicherheitsrat verabschiedete unter Bezugnahme auf die RtP zwei Resolutionen,18 die eindeutig Partei nahmen und die Komplexität des Konflikts im libyschen Bürgerkrieg auf Opfer und Täter reduzierte. Die Resolutionen richteten sich gegen die Regierung und präjudizierten den Regime Change. Die NATO-Staaten, die auf die Resolutionen gedrängt hatten, stellten sich bereitwillig zur Verfügung, um die Resolution und den von ihnen intendierten Regime Change umzusetzen.

Ähnliches ist derzeit mit Blick auf Syrien zu beobachten. Der Westen spricht von dem Erfordernis eines Regime Change und unterstützt auf vielfältige Weise die bewaffneten Aufständischen, auch unter Verweis auf die RtP. Diese Praxis hat nichts mit der Verhinderung von massiven Menschenrechtsverletzungen zu tun, sondern ist eine Parteinahme in einem Bürgerkrieg mit dem Ziel, ein für den Westen angenehmes Regime zu etablieren.

Fazit

Ungeachtet gegenteiliger Behauptungen der RtP-Lobbyisten bleibt festzustellen, dass die RtP bis dato nicht zu einer Rechtsnorm entwickelt werden konnte oder auch nur eine sich entwickelnde Rechtsnorm ist.

Weder bieten die Diskussionen und Deklarationen der UN-Generalversammlung eine hinreichende Grundlage für diese Behauptungen, da das Ziel der Normwerdung des RtP-Konstruktes angesichts ungeklärter Fragen nicht auf der Tagesordnung der Generalversammlung steht. Noch begründet die Politik der vollendeten Tatsachen westlicher UN-Sicherheitsratsmitglieder eine tatsächliche Normwerdung der RtP. Die Politik der vollendeten Tatsachen und damit der Versuch, die RtP über die Rechtsquelle des Völkergewohnheitsrechtes zu etablieren, scheitert bereits an der mangelnden einheitlichen Rechtsüberzeugung. In den Augen vieler nicht-westlicher Staaten sind eine Reihe von Fragen ungelöst und gemeinsame abschließende Entscheidungen auf demokratischem Wege via UN-Generalversammlung bisher nicht getroffen.

Hinzu kommt: Der Praxistest Libyen oder auch der RtP-Versuch gegenüber Syrien offenbaren, dass einige Großmächte unter dem Deckmantel der RtP ihre eigene Interessen und nicht eine interessenunabhängige Menschenrechtspolitik verfolgen. Auf diese Weise wird der rechtsethische und zivilisatorische Gedanke, der Schutz vor Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischer Säuberung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit müsse immer und überall gleichermaßen gültig sein und eine Verpflichtung für alle Staaten darstellen, von seinen westlichen Befürwortern massiv und nachhaltig desavouiert.

Man mag einwerfen, es sei zynisch, auf eine Reform und Demokratisierung der Vereinten Nationen zu warten, während Menschen massakriert werden. Oft wird mit dem Genozid in Ruanda 1994 argumentiert. Aber Ruanda wäre auch mit RtP geschehen. Ein Eingreifen ist nicht an der fehlenden »Rechtsnorm« RtP gescheitert, sondern am Unwillen der UN-Sicherheitsratsmitglieder, wirklich aktiv zu werden. Die Verfolgung französischer Interessen in Ruanda war wichtiger – das Resultat ist bekannt. Umgekehrt wird deutlich, dass trotz oder zutreffender gesagt aufgrund der westlichen RtP-Praxis nicht Menschenleben geschützt, sondern Einzelinteressen verfolgt werden und die dabei verursachten Opferzahlen von geringerem Interesse sind, was einen doppelten Zynismus darstellt.

Die Forderungen aus den Reihen der UN-Generalversammlung nach einer Reform und Demokratisierung des UN-Systems, einschließlich des Sicherheitsrates, als Voraussetzung eines zu verändernden Souveränitätsverständnisses im Sinne der RtP sind geradezu essentiell, um die Missbrauchsmöglichkeiten der RtP – oder wie immer man ähnlich gelagerte ethische Konzepte auch bezeichnen mag – einzudämmen. Bis dahin muss gelten: Es darf nicht eine zweifelhafte RtP befördert und praktiziert werden, sondern das Interventions- und Gewaltverbot ist von allen Staaten zu respektieren. Der größte Schutz vor Menschenrechtsverletzungen ist die Achtung der zwischenstaatlichen Friedenspflicht.

Anmerkungen

1) UN-Sicherheitsrat: Die Situation in Libyen. Resolution 1973 (2011) vom 17. März 2011. Deutsche Übersetzungen zahlreicher UN-Dokumente finden sich unter un.org/depts/german.

2) Hier stellvertretend: Handelsblatt vom 07.02.2012: Russland lässt sich für Tyrannen-Hilfe bejubeln.

3) European Union: Statement by the EU High Representative Catherine Ashton on violence in Syria. Presseerklärung vom 7. Juni 2012, A 255/12.

4) Bundeministerium der Verteidigung: Weißbuch zur Sicherheit Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr. 2006, S.57 f.

5) International Commission on Intervention and State Sovereignty. Der Bericht der ICISS, »The Responsibility to Protect« wurde im Dezember 2001 vom International Development Research Centre in Ottawa/Kanada veröffentlicht. Unter den zwölf Kommissionsmitgliedern kommen sechs aus dem Westen, davon vier aus NATO-Staaten, allen voran der ehemalige Generalinspekteur Klaus Naumann als Vorsitzender des NATO-Militärausschusses.

6) Artikel 41 besagt, dass der Sicherheitsrat bei einer Bedrohung oder einem Bruch des Friedens ein militärisches Eingreifen beschließen kann. Artikel 51 spricht einem Staat das Recht auf Selbstverteidigung im Falle eines bewaffneten Angriffes.

7) ICISS, op.cit., S.12 ff.

8) UN-Generalversammlung: Ergebnisse des Weltgipfels. Resolution A/RES/60/1 (2005) vom 16. September 2005, Punkte 138/139.

9) ICISS, op.cit., S.23 ff, 29, 39.

10) ICISS, op.cit., S. XII / 32 ff.

11) UN-Generalversammlung: Ergebnisse des Weltgipfels, op.cit.; Kapitel »Verantwortung für den Schutz der Bevölkerung vor Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischer Säuberung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit«. Ziffer 138: „Jeder einzelne Staat hat die Verantwortung für den Schutz seiner Bevölkerung vor Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischer Säuberung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. […] Ziffer 193: „Die internationale Gemeinschaft hat durch die Vereinten Nationen auch die Pflicht, geeignete diplomatische, humanitäre und andere friedliche Mittel nach den Kapiteln VI und VIII der Charta einzusetzen, um beim Schutz der Bevölkerung vor Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischer Säuberung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit behilflich zu sein. In diesem Zusammenhang sind wir bereit, im Einzelfall und in Zusammenarbeit mit den zuständigen Regionalorganisationen rechtzeitig und entschieden kollektive Maßnahmen über den Sicherheitsrat im Einklang mit der Charta, namentlich Kapitel VII, zu ergreifen, falls friedliche Mittel sich als unzureichend erweisen und die nationalen Behörden offenkundig dabei versagen, ihre Bevölkerung vor Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischer Säuberung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu schützen. […]“

12) UN-Generalversammlung: Umsetzung der Schutzverantwortung – Bericht des Generalsekretärs. Dokument A/63/677 vom 12. Januar 2009;

13) International Coalition for the Responsibility to Protect: General Assembly Debate on the Responsibility to Protect concludes with calls for implementation of the norm. Media Release, 29 July 2009.

14) Statement by H. E. Miguel d‘Escoto Brockmann, President of the United Nations General Assembly, at the Opening of the 97th Session of the General Assembly on Agenda Items 44 and 107: Integrated and coordinated implementation of and follow up to the outcomes of the major United Nations conferences and summits in the economic, social and related fields. New York, 23 July 2009.

15) UN-Generalvollversammlung: Die Schutzverantwortung. Resolution A/RES/63/308 vom 12. September 2009.

16) Redebeiträge der Mitgliedsstaaten auf der UN-Generalversammlung, 105th plenary meeting, 14. Sept. 2009, A/63/PV.105, sowie Resolution A/RES/63/308, op.cit.

17) UN-Sicherheitsrat: Resolutionen 1674 (2006) 28. April 2006, 1738 (2006) vom 23. Dezember 2006 und 1894 (2009) vom 11. November 2009, Titel jeweils »Schutz von Zivilpersonen in bewaffneten Konflikten«.

18) UN-Sicherheitsrat: Resolutionen 1970 (2011) vom 26. Februar 2011 und 1973 (2011) vom 17. März 2011, jeweils mit dem Titel »Die Situation in Libyen«.

Dr. Alexander S. Neu ist Politikwissenschaftler und Co-Sprecher der Bundesarbeitsgemeinschaft Frieden und Internationale Politik der Partei DIE LINKE.

Stabile Verhältnisse

Stabile Verhältnisse

Friedenspolitische Perspektiven von Anpassungspolitiken

von Dennis Tänzler und Alexander Carius

Angesichts nicht mehr zu vermeidender Klimaveränderungen ist Anpassung auch ein friedenspolitisches Gebot. Konfliktgeprägte Staaten verfügen in der Regel über nur geringe Anpassungsfähigkeiten, werden jedoch erheblich von zukünftigen Veränderungen wie einer verstärkten Knappheit bei der Wasser- und Nahrungsmittelverfügbarkeit betroffen sein. Um der Zunahme sozialer Spannungen und Konfliktpotentiale entgegenzuwirken, muss das politische Potential von Anpassungsmaßnahmen erkannt und ihre konfliktsensitive Ausgestaltung gewährleistet werden.

Der Klimawandel wird Staaten mit geringer Anpassungsfähigkeit in den kommenden Jahrzehnten voraussichtlich am stärksten betreffen. Gerade Nahrungs- und Wasserknappheit, extreme Wetterereignisse und Massenmigration können zur Destabilisierung sozialer Systeme und Institutionen beitragen, was wiederum Gewalt auslösen und Prozesse der Friedensentwicklung unterminieren dürfte.1 Die Herausforderungen des Klimawandels als Sicherheitsrisiko sind mittlerweile auch Gegenstand von Beratungen im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Unter deutschem Vorsitz wurde als Ergebnis der Sicherheitsratssitzung vom 20. Juli 2011 einstimmig eine Erklärung der Präsidentschaft angenommen, die vor den möglichen Folgen für Frieden und Sicherheit warnt.2

Die politische wie die wissenschaftliche Diskussion verdeutlicht aber auch: In der Debatte um Sicherheitsrisiken, die durch den Klimawandel erzeugt oder verstärkt werden, sind monokausale Erklärungsansätze zu vermeiden. Zukünftige Verteilungskonflikte um knapper werdende Ressourcen und Migrationsbewegungen werden kaum allein auf den Klimawandel zurückzuführen sein. Wahrscheinlicher ist, dass der Klimawandel als »Bedrohungsmultiplikator« bereits vorhandene Problemlagen, wie eine schwache Rechtsstaatlichkeit oder soziale und ökonomische Ungerechtigkeit, verstärken wird.

Gleichzeitig können vom Klimawandel betroffene Bevölkerungsgruppen Umweltkooperation als Sprungbrett nutzen, um Vertrauen aufzubauen und gemeinsam die Folgen des Klimawandels zu bewältigen. Dies ist gerade dann wichtig, wenn die sich verknappenden Ressourcen wie Wasser und Nahrungsmittel von traditionell rivalisierenden Bevölkerungsgruppen genutzt werden müssen. Gelingt hier kein kooperatives Vorgehen, drohen Bemühungen zur Friedenskonsolidierung geschwächt zu werden. Der Generalsekretär der Vereinten Nationen hat 2009 in einem Bericht zu Klimawandel und Sicherheit auf die bedrohungsmindernden Potentiale von Klimapolitik und internationaler Zusammenarbeit hingewiesen. Als möglicher Ansatz in dieser Hinsicht wird die frühzeitige Anpassung an den Klimawandel bewertet. Der vorliegende Beitrag hat zum Ziel, die möglichen Chancen und Grenzen solcher Politiken zu bewerten und notwendige Voraussetzungen herauszuarbeiten, die dazu beitragen können, dass Klimapolitik Krisen und Konflikte eindämmt.3

Internationale Anpassungsperspektiven

Der Weltklimarat (IPCC) definiert Anpassung als „die Fähigkeit eines Systems, sich an den Klimawandel anzupassen, um potentielle Schäden abzumildern, Chancen zu nutzen oder die Folgen zu bewältigen“.4 Nach vielen Verzögerungen bei der Einrichtung eines Handlungsrahmens für Anpassungsmaßnahmen konnte auf der Klimakonferenz von Kopenhagen 2009 mit dem Adaptation Fund Board ein internationales Gremium etabliert werden, das die Umsetzung von Anpassungsprojekten in Entwicklungs- und Schwellenländer flankieren soll. Ziel dieser institutionellen Verankerung ist eine verbesserte Politikberatung sowie die Initiierung eines Prozesses zur Formulierung von nationalen Anpassungsplänen mit einer mittel- und langfristigen Ausrichtung. Auch die Verdopplung der Anpassungsfinanzierung zwischen 2010 und 2011 kann als Beleg dafür dienen, dass diesem klimapolitischen Handlungsfeld mittlerweile sehr viel größere Bedeutung beigemessen wird.

Anpassungsbemühungen in konfliktanfälligen Regionen

In konfliktgeprägten Gebieten sind erste Aktivitäten zur Klimaanpassung zu verzeichnen: Bis 2011 wurden 45 »National Action Plans for Adaptation» (NAPAs) für am wenigsten entwickelte Länder beim UN-Klimasekretariat eingereicht. 21 dieser Pläne wurden in Ländern entwickelt, welchen ein hohes Destabilisierungsrisiko zugeschrieben wird.5

Der sektorale Fokus der nationalen Aktionspläne kann zu Risikoanalysen hinsichtlich besonders stark vom Klimawandel betroffener Bereiche beitragen. In Bezug auf Wasserressourcen ermöglichen die Aktionspläne zum Beispiel, die wichtigsten Prioritäten zur Verbesserung urbaner und ländlicher Wasserversorgung zu identifizieren, Wasserspeicherung zu verbessern und Wasserverschmutzung einzudämmen. Ähnliche Analysen sind für die Verbesserung von Nahrungssicherheit verfügbar, beispielsweise durch die Änderung traditioneller Bestellungsmuster oder die Diversifizierung landwirtschaftlicher Produkte. Folglich können auch so genannte fragile Staaten von internationaler Unterstützung zur Initiierung von Anpassungsprozessen profitieren. Allerdings existieren zum einen längst nicht für alle fragilen Staaten solche Initiativen. Zum anderen stellen nationale Anpassungspläne lediglich einen ersten Schritt zu einer möglichen politischen Sensibilisierung dar. Die immer noch nur langsam voranschreitende Umsetzung von Anpassungsprojekten zeigt, dass weitere Herausforderungen zu lösen sind, etwa die einer ungenügenden Finanzierung oder des Fehlens geeigneter Governance-Strukturen.

Anpassungsprozesse als Stabilisatoren?

Wie können Anpassungsmaßnahmen dazu beitragen, trotz zu erwartender widriger Ausgangsbedingungen bedrohungsmindernd zu wirken? Zunächst ist nicht zuletzt aus Politikkohärenzgründen die Integration von Anpassungsprogrammen in laufende Entwicklungsinitiativen und Armutsbekämpfungsmaßnahmen zu gewährleisten. In Ländern wie Bhutan, Ruanda und Sudan wird versucht, Anpassungsmaßnahmen in Armutsminderungsstrategien einzubetten.6 Um tatsächlich sicherzustellen, dass Anpassungsmaßnahmen kompatibel zu weiteren Politikprozessen sind, dürfte jedoch eine weitere Stärkung unterstützender Governance-Strukturen notwendig sein.

Eine strikte Abgrenzung der Anpassungsplanung in sektorale Aufgaben kann zudem zu kurz greifen, gerade in Konfliktsituationen. Notwendig ist ein integrativer Prozess, um bestehende Konfliktdynamiken sowie übergreifende soziopolitische und ökonomische Gegebenheiten zu erfassen und bei der Gestaltung von Anpassungsmaßnahmen zu berücksichtigen. Die Wasserverfügbarkeit eines Landes oder einer Region betrifft zum Beispiel eine Vielzahl von Nutzergruppen (innerstaatliche, industrielle, landwirtschaftliche), die in den Anpassungsprozess integriert werden sollten, um sicherzustellen, dass die Bedürfnisse und Perspektiven dieser Gruppen berücksichtigt werden. Ist dies nicht der Fall, können Konflikte zwischen verschiedenen Nutzergruppen die direkte Folge sein.7

Selbst in Industrienationen mit adäquaten administrativen Kapazitäten kann die Koordination verschiedener politischer Prozesse eine wesentliche Herausforderung darstellen – in konfliktgeprägten Gesellschaften ist dieses Unterfangen umso schwerer. In dieser Hinsicht kann die Institutionalisierung der Verantwortung für eine kohärente Umsetzung von Anpassungspolitiken hilfreich sein. Die »National Implementing Entities«, die gegenwärtig in verschiedenen Ländern etabliert werden, um den direkten Zugriff eines Landes auf die Gelder des Adaption Fund zu erleichtern (wie jüngst in Ruanda), könnten sich als geeignet erweisen, diese Funktion wahrzunehmen. Damit müsste jedoch eine Erweiterung der derzeitigen Kompetenzen einhergehen, um die notwendige Steuerungsleistung tatsächlich erbringen zu können.

Schließlich fehlt es Anpassungsprogrammen häufig an einer regionalen, grenzüberschreitenden Perspektive. Der auf die Staaten-Ebene ausgerichtete Fokus des UN-Klimasekretariat bietet kaum Unterstützung für die Entwicklung regionaler Anpassungsstrategien. Auf diese Weise wird die häufig grenzüberschreitende Natur von Ressourcenknappheit, vor allem der Wasserversorgung, ausgeblendet. Dies ist problematisch, da im schlimmsten Falle ein isolierter nationaler Anpassungsansatz neue Konflikte in Nachbarstaaten auslösen kann. Überdies lässt ein Anpassungsprogramm, welches die Nachbarstaaten nicht berücksichtigt, potentiell wertvolle Chancen für grenzübergreifenden Vertrauensaufbau und Kooperation ungenutzt. Ein Schritt in die richtige Richtung wäre der Aufbau von Integrationsprozessen auf regionaler Ebene, wie dies beispielsweise auf dem afrikanischen Kontinent zu beobachten ist.

Die Herausforderung der Konfliktsensitivität

Vielfach gelten Anpassungsmaßnahmen noch als eine vornehmlich technische Herausforderung und werden auf Ansätze des Technologietransfers und des Kapazitätsaufbaus reduziert. Eine solche Perspektive droht auszublenden, dass entsprechende Maßnahmen in einem sozialen Umfeld umgesetzt werden und soziale und politische Folgen nach sich ziehen. Als soziopolitische Transformation können mit der Umsetzung von Anpassungsmaßnahmen Prozesse der Um-, respektive Neuverteilung von Ressourcen innerhalb einer Gesellschaft einhergehen. Hierbei können – gerade in konfliktgeprägten Kontexten – Widerstände und Spannungen ausgelöst werden. Profiteure des Status quo werden sich gegen anpassungsorientierte Veränderungen stellen, während andere Gruppen geneigt sein könnten, die neu zur Verfügung stehenden Anpassungsmittel für andere Zwecke nutzen zu wollen.

Aber selbst auf den ersten Blick sinnvolle Maßnahmen zur Anpassung an Klimaveränderungen können nicht-intendierte Folgen haben und zum Konfliktgegenstand werden: In Kasese (Uganda) wurden zusätzliche Wasserzugangsstellen zunächst nur im Rukoki-Gebiet installiert und lösten dadurch Proteste in der Mahango-Gemeinde aus. Dieses Beispiel illustriert, dass auch für Anpassungspolitiken die Anwendung des Prinzips »do no harm«8 sinnvoll ist, um negative Folgewirkungen der eigenen Politik zu vermeiden. In dem genannten Beispiel wurden im weiteren Prozess Distriktbeamte sowie Mitglieder beider Gemeinden in die Planung, Gestaltung und Umsetzung des Projektes eingebunden.9 Überträgt man dieses Beispiel auf das Feld der Anpassung, so wird deutlich, dass sich nicht nur technische und finanzielle, sondern auch politische Fragen der Umsetzung stellen, vor allem wenn es um Maßnahmen in fragilen Staaten geht.

Um den genannten Risiken entgegenzuwirken, bedarf es der Gestaltung konfliktsensitiver Anpassungsmaßnahmen. Dazu zählt auch die systematische Erschließung von Kooperationsmöglichkeiten zwischen von Klimawandel betroffenen Gruppen bis hin zu Staaten. Mechanismen zur Konsensfindung und ein transparenter öffentlicher Dialog sind hierbei ebenso notwendig wie die Koordination verschiedener Regierungsstellen und weiterer relevanter Akteure. Durch die Berücksichtigung von Ansätzen des Krisen- und Konfliktmanagements können Anpassungsprozesse zugleich Ansätze für gute Regierungsführung befördern. Grundsätzlich lassen sich drei Anforderungen für eine konfliktsensitive Gestaltung ableiten: erstens die Berücksichtigung des Kontexts, in dem ein Projekt durchgeführt wird, zweitens die Beachtung möglicher Interaktionen zwischen den Aktivitäten und diesem spezifischen Kontext und schließlich drittens der Entwurf von Anpassungsaktivitäten in einer Art und Weise, die negative Auswirkungen zu vermeiden und positive zu maximieren sucht.

Gestaltung krisen- und konfliktsensitiver Anpassungsstrategien

Fragile Staaten sind in besonderer Weise den Risiken des Klimawandels ausgesetzt. Aber auch politisch als stabil geltende Staaten werden zukünftig mit massiven Herausforderungen konfrontiert sein, vor allem in kritischen Bereichen wie Wasser- und Nahrungsversorgung. Um der Destabilisierung von Staaten entgegenzuwirken, müssen Anpassungsmaßnahmen so umgesetzt werden, dass sie die soziale, politische und wirtschaftliche Resilienz der Bevölkerung stärken. Wie aber können die Chancen auf stabilisierende Anpassungsprozesse über die bereits genannten Elemente hinaus gesteigert werden? Die folgend aufgeführten Maßnahmen können sowohl in instabilen wie auch stabilen Staaten hilfreich sein. Allerdings sind sie besonders in konfliktträchtigen Umfeldern relevant, da der Klimawandel mit großer Wahrscheinlichkeit die zugrunde liegenden Ursachen des Konfliktes verschärfen wird.

1. Die vom Klimawandel besonders betroffenen Gesellschaftsbereiche müssen identifiziert und hinsichtlich ihrer Rolle in nationalen und auch regionalen Anpassungsstrategien abgeklärt werden. Wenn nötig, sind zusätzliche Friedens- und Konfliktbewertungen vorzunehmen, um das Risiko negativer Auswirkungen der geplanten Anpassungsmaßnahmen zu verringern.

2. Die Öffentlichkeit ist über die möglichen Auswirkungen des Klimawandels besser aufzuklären. Um die öffentliche Unterstützung für die notwendigen Maßnahmen im Bereich der Nahrungs- und Wasserversorgung sowie der Katastrophenvorsorge zu gewinnen, bedarf es einer verstärkten Zusammenarbeit zwischen Regierung und Zivilgesellschaft.

3. Anpassungsprogramme sind in bestehende Entwicklungsinitiativen und Armutsreduzierungsprogramme zu integrieren. Dies stellt zusätzliche Anforderungen an Politikkohärenz und an eine verstärkte Koordination.

4. Methoden der Konfliktsensitivität sind weiterzuentwickeln, um es der Zivilgesellschaft und Entscheidungsträgern in fragilen Staaten zu ermöglichen, konfliktsensitive Anpassungsstrategien umzusetzen. Diese Anforderung kann durch die Formulierung von Richtlinien für Geber und Umsetzungsbehörden in den Partnerländern eingeleitet werden.

5. Nationale Steuerungseinheiten können dazu beitragen, die Entwicklung der Anpassungsprogramme zu überwachen, öffentliche Behörden und externe Akteure (wie Geberorganisationen) zu koordinieren und Schlichtungsorgane einzurichten. Die gegenwärtige Ausbildung von »National Implementing Entities« ist ein wichtiger Schritt in Richtung größerer institutioneller Unterstützung von Anpassungsmaßnahmen.

6. Regionale Kooperationsansätze sind zu stärken, um den Herausforderungen der Anpassung an den Globalen Klimawandel adäquat begegnen zu können. Vorausgesetzt, dass finanzielle Mittel auf transparente und verantwortliche Art und Weise ausgegeben werden, können diese Mittel friedenskonsolidierend und stabilisierend wirken.

Anmerkungen

1) Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) (2007): Welt im Wandel: Sicherheitsrisiko Klimawandel. Berlin: Springer. Alexander Carius, DennisTänzler, Achim Maas (2008): Klimawandel und Sicherheit: Herausforderungen für die deutsche Entwicklungszusammenarbeit. Eschborn: Deutsche Gesellschaft für Technishce Zusammenarbeit (GTZ).

2) United Nations Security Council (2011): Statement by the President of the Security Council. S/PRST/2011/15, 20 July 2011. New York: United Nations.

3) Siehe auch DennisTänzler, AchimMaas, Alexander Carius (2010): Climate Change Adaptation and Peace. Wiley Interdisciplinary Reviews – Climate Change Jg. 1, Nr. 5, S.741-750.

4) Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC): Climate Change 2007: Impacts, Adaptation and Vulnerability. Contribution of Working Group II to the Fourth Assessment Report. Cambridge: Cambridge University Press, S.21.

5) Fund for Peace (2011): The Failed State Index; fundforpeace.org. Vgl. für eine ausführliche Darstellung Tänzler et al. (2010) (Fußnote 3).

6) Vgl. United Nations Development Fund Water Governance Facility (UNDP WGF) (2009): Water Adaptation in NAPAs: Freshwater in Climate Adaptation Planning and Climate Adaptation in Freshwater Planning. Stockholm: UNDP WGF.

7) Lukas Ruettinger, Antoine Morin, Annabelle Houdret, Dennis Tänzler, Clementine Burnley (2011): Water, Crisis and Climate Change Assessment Framework (WACCAF). Brussels: Initiative for Peacebuilding.

8) Mary B. Anderson (1999): Do No Harm: How Aid Can Support Peace – or War. London: Lynne Rienner.

9) Center for Conflict Resolution (CECORE, Kampala), Rwenzori Development and Research Centre (REDROC, Kasese), Saferworld (London and Kampala) and the Youth Development Organisation (YODEO, Arua) (2008): Water and Conflict. Making water delivery conflict-sensitive in Uganda.

Dennis Tänzler ist Leiter Klima- & Energiepolitik bei adelphi. Seit 2009 ist er Mitglied im Beirat Zivile Krisenprävention der Bundesregierung. Alexander Carius ist Mitbegründer und Geschäftsführer von adelphi. Er berät nationale und internationale Institutionen zu Fragen der Umwelt-, Entwicklungs- und Außenpolitik.

Sicherheitsbedenken

Klimaschutz und Klimaanpassung:

Sicherheitsbedenken

von Christian Webersik

Der menschliche Anteil am Klimawandel ist unumstritten, und erste Anzeichen des Klimawandels lassen sich bereits beobachten. Dazu gehören der Anstieg des Meeresspiegels, der Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur und die Zunahme von extremen Wetterereignissen wie Hitzewellen, Überflutungen oder Wirbelstürmen. Solche klimabedingten Katastrophen erhöhen die ohnehin schon vorhandenen Stressfaktoren wie Armut und schlechte Gesundheitsversorgung. Gerade in den Entwicklungsländern drohen durch den Klimawandel verstärkt Lebensmittel- und Wasserknappheit, große Umsiedlungen und extreme Armut. Selbst bewaffnete Konflikte in Folge des Klimawandels sind nicht mehr auszuschließen.

Während Politiker und Experten weiter darum ringen, wie man CO2-Emissionen senken und letztendlich stabilisieren und sich an Klimaveränderungen anpassen kann, gibt es eine neue Debatte, die weniger Aufmerksamkeit von Politik und Wissenschaft bekommt: Es geht hierbei um negative Rückkopplungen von Klimaschutz und Klimaanpassung.

Negative Rückkopplungen von Klimaschutz

In der Klimadebatte nimmt der Klimaschutz einen großen Stellenwert ein. Biotreibstoffe und die friedliche Nutzung von Kernenergie sind zwei Strategien, um fossile Brennstoffe zu ersetzen und die ehrgeizigen Klimaziele, die sich die Industrieländer gesetzt haben, zu erreichen.

Biotreibstoffe

Fossile Brennstoffe, allen voran Mineralöle, ermöglichen uns Mobilität in unserer hoch technisierten Gesellschaft. Braun- und Steinkohle, der zweitwichtigste Energieträger weltweit, kann man möglicherweise durch regenerative Energien wie Windkraftanlagen oder Solarkraftwerke ersetzen. Jedoch machte 2011 der weltweite Anteil von regenerativen Energien nur knapp vier Prozent der gesamten Energieherstellung aus (BP 2012).

Mit Mineralöl ist es schwieriger. Flugzeuge, eine große Anzahl von Personenkraftwagen und der Lastwagenkraftverkehr sind auf das Verbrennen von Kerosin, Benzin und Diesel angewiesen. Nach Angaben der der International Energy Agency (IEA) besteht bis zum Jahr 2050 die Möglichkeit, bis zu einem Viertel der Weltnachfrage nach Mineralöl mit Biotreibstoffen zu stillen. Bereits heute sind Biotreibstoffe der ersten Generation weit verbreitet, vor allem Bioethanol, aber auch Biodiesel. Die Produktion wächst stetig, auch wenn das Jahr 2011 nur einen geringen Anstieg von 0,7% verzeichnete (BP 2012). Biotreibstoffe werden aus Palmöl, Mais, Zuckerrohr oder Raps gewonnen (Webersik 2010, S.88). Die Elektromobilität bietet bei langen Strecken, für Flugreisen oder beim Lastkraftwagenverkehr noch keine Alternative zu fossilen Brennstoffen. Lösungen gibt es jedoch bereits für die Kurzstrecke, beispielsweise durch die Reduzierung von Kurzstreckenflügen durch ein attraktiveres Angebot der Bahn, die Verlagerung von Fracht auf die Schiene oder die Elektrifizierung eines Teils des LKW-Verkehrs durch Oberleitungen auf den Autobahnen.

Die große Nachfrage in Europa hat bis 2010 zu einem exponentiellen Wachstum bei Biotreibstoffen geführt. Ob Biotreibstoffe jedoch dazu beitragen, den Ausstoß von CO2-Emissionen signifikant zu verringern, steht in Frage. Gerade in den Schwellen- und Entwicklungsländern trägt der Anbau von Zuckerrohr oder die Errichtung neuer Palmölplantagen zur Vernichtung tropischen Regenwaldes bei. Tropischer Regenwald zeichnet sich durch eine besonders hohe biologische Vielfalt aus und beheimatet viele geschützte Arten. Dazu kommt, dass durch die Entwaldung große Mengen an CO2 frei gesetzt werden. Tatsache ist, dass die Vernichtung und die Degradierung von Waldgebieten für ein Fünftel der globalen Emissionen verantwortlich ist (Webersik 2010, S.92).

Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass der Anbau von Nutzpflanzen, die sich für Biotreibstoffe eignen, immer größere landwirtschaftliche Flächen in Anspruch nimmt. Damit steigt die Nachfrage nach landwirtschaftlichen Flächen, was einen Anstieg der Lebensmittelpreise zur Folge hat. Fest steht, dass der Lebensmittelpreisindex der Food and Agriculture Organization (FAO) der Vereinten Nationen in den letzten Jahren immer weiter gestiegen ist und 2008 einen Höhepunkt erreichte. Natürlich gibt es noch weitere Faktoren, die zu dem Preisanstieg führten, beispielsweise der steigende Ölpreis und das Bevölkerungswachstum. Jedoch hat solch ein Anstieg für arme Haushalte dramatische Folgen. In Afrika südlich der Sahara geben Haushalte mehr als 60 Prozent ihres Einkommens für Lebensmittel aus (Webersik and Wilson 2009, S.401). Dennoch sind Preisanstiege in der Landwirtschaft nicht nur negativ zu bewerten. Höhere Preise können sich auch positiv für Landwirte auswirken, die einen Überschuss an Getreide, Weizen oder Reis produzieren (FAO 2010, S.7). Um einen wirtschaftlichen Erfolg von kleinen Landwirten gerade in den Entwicklungsländern zu garantieren, muss jedoch die jeweilige Regierung sicher stellen, dass Dünger, Kraftstoff und Saatgut zu erschwinglichen Preisen zur Verfügung stehen (Webersik 2010, S.90). Beispielsweise gab es in Malawi im südlichen Afrika in den letzten Jahren immer wieder Benzinengpässe, die die Produktion in der Landwirtschaft, allem voran den Kaffee- und Tabakanbau, gefährden.

Da die Nachfrage nach Biotreibstoffen weltweit stetig steigt, steigt auch die Nachfrage nach Agrarflächen. Daher gibt es immer mehr Unternehmen, die im Ausland Land erwerben. Dies geschieht nicht nur zur Herstellung von Biotreibstoffen, sondern auch zur Versorgung des eigenen Landes mit Lebensmitteln (Matondi et al. 2011). Ein Großteil dieser Agrarflächen wird in Afrika erworben, zum Beispiel in Äthiopien, einem Land, das selbst Schwierigkeiten hat, seine eigene Bevölkerung mit genügend Nahrung zu versorgen. Die Ländereien werden von Firmen gekauft oder geleast, die im Geheimen agieren und dadurch nur schwer zu kontrollieren sind. Gestützt werden solche Landdeals vom wirtschaftlichen Wachstum in Schwellenländern wie China, Brasilien und Indien, den weltweit schwindenden Ölvorkommen (peak oil) und der steigenden Nachfrage nach Biotreibstoffen (Matondi et al. 2011, S.9). Die Gefahr besteht, dass Kleinbauern in Afrika ihr Land an groß angelegte Plantagen verlieren, da sie meist keine schriftlichen und juristisch nachvollziehbaren Landrechte besitzen. Länder wie Äthiopien und Madagaskar sind bereits davon betroffen, und es ist nicht klar, wie sich solche Landdeals gesamtwirtschaftlich auswirken und wie stark sie die Lebensgrundlagen sowohl von Kleinbauern als auch von Nomadenstämmen einschränken.

Lebensmittel lassen sich nur schwer oder gar nicht ersetzen, daher ist es wichtig, nach Alternativen zu herkömmlichen Biotreibstoffen zu suchen. Eine Lösung bieten die so genannten Biotreibstoffe der zweiten Generation, die aus Pflanzen gewonnen werden, die nicht mit Lebensmittelnutzpflanzen in Konkurrenz stehen. Dazu gehören beispielsweise Holzabfälle, die in der Forstwirtschaft entstehen, oder Algen.

Die Algenproduktion bietet mehrere Vorteile. Zum einen benötigen Algen relativ geringe Mengen an Dünger. Auch wachsen Algen im Salz- oder Brackwasser und stehen damit nicht in direkter Konkurrenz mit Lebensmittelnutzpflanzen. Ein weiteres Argument für die Produktion von Algen ist die Möglichkeit, CO2 und andere Abfallprodukte zu recyceln, da Algen diese zum Wachstum benötigen. Der Nachteil ist, dass die Gewinnung von Öl aus Algen derzeit noch relativ hohe Kosten verursacht (IEA 2011b, S.14). Auch müssen große Flächen nährstoffreichen Wassers mit genügend Sonneneinstrahlung gefunden werden. Wird der Algenwuchs nicht gesteuert und begrenzt, kann dies zu unkontrolliertem Algenwuchs führen, der Fischbestände und andere Meeresbewohner gefährden kann. Aus ökologischen wie auch technischen Gründen werden Algen daher in getrennten Becken in sonnenreichen Gegenden kultiviert. Bis heute gibt es nur Pilotprojekte, ausgereifte Großprojekte existieren nicht.

Kernenergie

Wir stehen vor einem Dilemma. Die Herstellung von Biotreibstoffen der ersten Generation verringert die Flächen, auf denen Lebensmittel angebaut werden können, oder trägt zur Entwaldung bei. Von der kommerziellen Nutzung von Biotreibstoffen der zweiten Generation sind wir noch weit entfernt. Dennoch wächst international der politische Druck, saubere Energie zu produzieren, um damit den Ausstoß von Treibhausgasen zu begrenzen. Zudem wächst weltweit die Nachfrage nach Energie. Die Weltbevölkerung nimmt zu, und sie wird im Durchschnitt immer wohlhabender.

Viele betrachten daher die friedliche Nutzung der Kernenergie als Lösung, um den Ausstoß von CO2-Emissionen zu mindern. Sogar Umweltaktivisten wie Patrick Moore, Mitgründer von Greenpeace, unterstützen diese Alternative, da Kernenergie große Mengen an Energie produzieren kann und relativ kostengünstig in der Herstellung ist – solange man Forschung, Inbetriebnahme und Stilllegung nicht mit einbezieht. Tatsächlich lag der Anteil der Kernenergie in den OECD-Ländern im Jahr 2010 bei elf Prozent. Weltweit gesehen ist der Anteil der Kernenergie weit geringer: Sie macht nur knapp sechs Prozent der gesamten Primärenergieleistung aus (für das Jahr 2009) (IEA 2011a).

Spätestens seit dem atomaren Unfall von Fukushima ist klar, dass die zivile Nutzung der Kernenergie erhebliche Sicherheitsbedenken hervorruft. Frühere schwere Vorfälle, wie Three Mile Island (USA, 1979) oder Tschernobyl (UDSSR, 1986), hatten bereits gezeigt, welche großen kurz- und auch langfristigen Schäden durch solche Unfälle entstehen. Der atomare GAU von Fukushima aber hat z.B. zur Entscheidung der deutschen Regierung geführt, alle Atomkraftwerke bis 2021 vom Netz zu nehmen.

Hinzu kommen die enormen Kosten, die bei der Planung, während des Betriebs und bei der Stilllegung anfallen. Obwohl es möglich ist, atomaren Abfall wieder aufzuarbeiten, muss der Großteil des abgebrannten Brennstoffs sicher und auf Dauer gelagert werden. Gemäß der International Atomic Energy Agency (IAEA) werden 35% des Uranbrennstoffs aus sekundären Quellen gewonnen, wie gelagertem Uran, militärischen Vorräten an hoch angereichertem (und damit nuklearwaffentauglichem) Uran und wieder aufgearbeitetem Material (IAEA 2010, S.14). Bis zum heutigen Zeitpunkt wurde weder in Deutschland noch in anderen Ländern eine dauerhaft sichere Endlagerstätte für Atommüll gefunden. In Finnland und Schweden gibt es zwar Endlager, aber nur für schwach radioaktive Abfälle, und in Deutschland existieren nur temporäre Lösungen in Zwischenlagern und unterirdischen Salzbergwerksstollen.

Abgesehen von den enormen Kosten und technischen Risiken ist es wichtig, die öffentliche Meinung zur zivilen Nutzung der Kernkraft zu berücksichtigen. In einer vernetzten Gesellschaft können sich Bürger mühelos und schnell informieren und sehr effizient organisieren. In einer Studie, die in England durchgeführt wurde, wurden die Befragten zu den Risiken der Atomkraft und des Klimawandels befragt. Die Antwort war klar: Die Mehrzahl der Befragten hielt die Atomenergie für gefährlicher, da atomare Unfälle wie Tschernobyl mit Angst, behördlichem Versagen und greifbarer Verseuchung in Verbindung gebracht werden (Bickerstaff et al. 2008).

Solche Ängste sind realistisch, wie der nukleare Unfall von Fukushima wieder gezeigt hat. Obwohl Japan eines der wohlhabendsten Länder ist, das langjährige Erfahrung mit der Kernenergie hat, konnte eine schwerwiegende Umweltverschmutzung nicht vermieden werden. Radioaktives Material wurde in Luft und Wasser freigesetzt und verseuchte die Böden in einem Umkreis von vielen Dutzend Kilometern. Kaum vorzustellen, wenn solch eine Katastrophe in Ländern wie Pakistan oder Indien passieren würde, wo Sicherheitsstandards und der Katastrophenschutz weniger gut entwickelt sind, oder auch in einem dicht besiedelten Land wie Frankreich oder Deutschland. In Fukushima erfolgten die größten radioaktiven Niederschläge über dem Meer und verschonten damit die Millionenmetropolen Tokio und Yokohama.

Politische Instabilität ist eine weitere Gefahrenquelle. Länder wie Pakistan, Iran, Nordkorea oder Weißrussland planen Atomkraftwerke, haben mit dem Bau begonnen oder besitzen funktionierende Anlagen. Beispielsweise ist die politische Zukunft Pakistans schwer vorhersagbar. Sollte die Regierung einen politischen Umsturz erleben, kann dies zu einem Machtvakuum führen, mit der Folge, dass Informationen über nukleare Anlagen oder sogar atomares Material in die Hände internationaler Terroristen fallen könnten.

Schließlich besteht die Gefahr, dass Regierungen, die sich der internationalen Beobachtung entziehen, wie Nordkorea und der Iran, die Atomkraft nicht nur kommerziell oder zu Forschungszwecken nutzen, sondern auch daran arbeiten, nukleare Sprengköpfe zu entwickeln.

Negative Rückkopplungen von Klimaanpassungsstrategien

Es sind aber nicht nur Strategien zur Milderung von Treibhausgasen, die negative Konsequenzen nach sich ziehen. So wird davon ausgegangen, dass zunehmend Menschen aufgrund von Klimaveränderungen umgesiedelt werden müssen, und zwar nicht nur aufgrund direkter klimabedingter Veränderungen wie dem Anstieg des Meeresspiegels oder Naturkatastrophen, sondern auch infolge groß angelegter Klimaanpassungsprojekte. Sollte die globale Durchschnittstemperatur in diesem Jahrhundert um zwei bis vier Grad Celsius ansteigen, wird dies sicher Umsiedlungen hervorrufen, bedingt durch Wasserknappheit, Änderungen in der landwirtschaftlichen Produktion, Naturgefahren und den Anstieg des Meeresspiegels. Bereits heute gibt es klimabedingte Umsiedlungen:

Das Mekong-Flussdelta ist jedes Jahr von Überflutungen betroffen, die traditionell für die Landwirtschaft wichtig sind. Jedoch führt das Bevölkerungswachstum dazu, dass immer mehr Menschen der Flut ausgesetzt und daher gezwungen sind, kurzfristig umzusiedeln. Dazu kommt der Meeresspiegelanstieg. Bei einem Anstieg von einem Meter müssten in Vietnam bis zu sieben Millionen Menschen umsiedeln.

Ähnlich wie im Mekong gibt es in Mosambik periodisch Überflutungen, die sich nun durch den Klimawandel häufen. Menschen, die an den Ufern wohnen, müssen umsiedeln (de Sherbinin et al. 2011).

An der kanadischen Küste müssen Einheimische umsiedeln, da durch das Schmelzen der Eisdecke und den Anstieg des Meeresspiegels stärkere Sturmfluten entstehen, die zur Erodierung von bewohnten Küstenabschnitten führen (Bronen 2008).

Hinzu kommt, dass groß angelegte Klimaanpassungsprojekte ebenfalls zu Umsiedlungen führen können, wie die Schaffung von Großstaudämmen zur Herstellung von Elektrizität oder zur Speicherung von Süßwasser, riesige Biotreibstoffplantagen, Meeresdeiche und -mauern (de Sherbinin et al. 2011). Während die Effektivität und der positive Einfluss solcher Großprojekte auf das Klima umstritten ist, sind die ökologischen und sozialen Folgen oft verheerend.

Ob jedoch klimabedingte Migration zu Konflikten in den Aufnahmegebieten führen wird, ist in der Forschung umstritten (Webersik 2012). Fest steht, dass Umsiedlungen soziale, wirtschaftliche und kulturelle Herausforderungen stellen, die bewältigt werden müssen.

Ausblick

Wie im Klimaschutz sind die Lösungsansätze von Klimaanpassung nicht immer frei von negativen Konsequenzen. Zwei Strategien des Klimaschutzes – die Herstellung von Biotreibstoffen und die friedliche Nutzung der Kernenergie – haben unbeabsichtigte soziale, ökologische und sicherheitsrelevante Folgen. Ähnlich verhält es sich mit manch anderer Klimaanpassungsstrategie. Die wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Kosten solcher Projekte sind nur schwer zu kalkulieren.

Welche Lösungsansätze stehen uns zur Verfügung? Am nächsten liegen das Energiesparen und der Ausbau der regenerativen Energieträger. In Bezug auf Biotreibstoffe scheinen Biotreibstoffe der zweiten Generation wie Algen und Agrarabfallprodukte (beispielsweise aus der Forstwirtschaft) eine wichtige Rolle zu spielen. Die Kernenergie ist langfristig sozial und wirtschaftlich nicht vertretbar und wird – wie in Deutschland geschehen – an Bedeutung verlieren. Die politischen und ökologischen Risiken sind einfach zu hoch.

Politik und Wirtschaft müssen den Nutzen und die Risiken von Klimaschutz und Klimaanpassung abwägen und sich für die Strategien entscheiden, die langfristig den Nutzen bringen, der nachhaltiges Wirtschaften ermöglicht.

Literatur

Bickerstaff, Karen, Irene Lorenzoni, Nick F. Pidgeon, Wouter Poortinga and Peter Simmons (2008): Reframing Nuclear Power in the UK Energy Debate: Nuclear Power, Climate Change Mitigation and Radioactive Waste. Public Understanding of Science 17(2):145-169.

BP (2012): BP Statistical Review of World Energy. London, June 2012.

Bronen, Robin (2008): Alaskan communities’ rights and resilience. Forced Migration Review 31(30).

de Sherbinin, A., M. Castro, F. Gemenne, M. M. Cernea, S. Adamo, P. M. Fearnside, G. Krieger, S. Lahmani, A. Oliver-Smith, A. Pankhurst, T. Scudder, B. Singer, Y. Tan, G. Wannier, P. Boncour, C. Ehrhart, G. Hugo, B. Pandey and G. Shi (2011): Preparing for Resettlement Associated with Climate Change. Science 334(6055): 456-457.

de Sherbinin, Alex, Koko Warner and Charles Ehrhart (2011): Casualties of Climate Change. Scientific American 304(1).

Food and Agriculture Organization (FAO) (2010): Bioenergy and Food Security. Rome: FAO.

International Atomic Energy Agency (IAEA) (2010): International Status and Prospects of Nuclear Power. Vienna: IAEA.

International Energy Agency (IEA) (2011a): Key World Energy Statistics. Paris: IEA.

International Energy Agency (IEA) (2011b): Technology Roadmap – Biofuels for Transport. Paris: IEA.

Matondi, Prosper Bvumiranayi, Kjell J. Havnevik and Beyene Atakilte (2011): Biofuels, land grabbing and food security in Africa. London/New York/Uppsala: Zed Books; published in association with Nordic Africa Institute; Palgrave Macmillan [distributor].

Scheffran, Jürgen (2008): Ein Klima der Gewalt? Das Konfliktpotenzial der globalen Erwärmung. Wissenschaft & Frieden (4).

Webersik, Christian (2012): Climate-Induced Migration and Conflict: What are the Links? In: Hastrup, Kirsten and Karen Fog Olwig: Climate Change and Human Mobility: Challenges to the Social Sciences. Cambridge: Cambridge University Press.

Webersik, Christian (2010): Climate change and security: a gathering storm of global challenges. Santa Barbara, Calif.: Praeger.

Webersik, Christian and Clarice Wilson (2009): Achieving environmental sustainability and growth in Africa: the role of science, technology and innovation. Sustainable Development 17(6):400-413.

Dr. Christian Webersik ist Associate Professor am Department for Development Studies, University of Agder, Norwegen.

Konfliktpotentiale von Climate Engineering

Konfliktpotentiale von Climate Engineering

von Achim Maas

Die Klimaverhandlungen haben bisher zu keinem bindenden Abkommen zur Reduktion von Treibhausgasen geführt. Trotz Fortschritten im Einzelnen steigen global gesehen die Treibhausgasemissionen weiter an, und eine globale Erwärmung von über zwei Grad Celsius im Vergleich zur vorindustriellen Zeit scheint wahrscheinlicher zu werden. Die Konsequenzen werden aller Voraussicht nach dramatisch sein. Vor diesem Hintergrund werden zunehmend direkte Eingriffe in das Weltklima – Geo- oder Climate Engineering genannt – diskutiert.1 Im Hinblick auf eine präventive Friedenspolitik werden in diesem Beitrag mögliche Konfliktpotentiale entsprechender Maßnahmen beleuchtet.

In den vergangenen Jahren hat sich in Europa und Nordamerika eine Forschungscommunity zu Climate Engineering (CE) herausgebildet. Unter anderem fördert die Europäische Kommission zwei Projekte,2 und die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat ein Schwerpunktprogramm zu CE aufgelegt. Parallel gibt es inzwischen eine Vielzahl von Berichten, die im Auftrag von Regierungsorganisationen insbesondere in Deutschland, Großbritannien und den USA erstellt worden sind (z.B. Rickels et al. 2011; Royal Society 2009; GAO 2011). Ende 2011 fand am KlimaCampus Hamburg eine erste internationale Konferenz zu den friedens- und sicherheitspolitischen Herausforderungen von CE statt (Maas et al. 2012).

Obwohl die CE-Forschung noch weitgehend theoretischer Natur ist, lassen sich bereits jetzt eine Vielzahl von Risiken, Unsicherheiten und möglicherweise gravierenden Nebenwirkungen absehen (Rickels et al. 2011). Diese werden sich voraussichtlich global ungleich verteilt auswirken, gleichzeitig sind grundsätzliche Fragen der Kontrolle und Regulierung von CE bis dato ungeklärt.

Climate Engineering – ein Überblick

Ziel von CE-Maßnahmen ist es, die Erwärmung der Erdatmosphäre auf maximal zwei Grad Celsius zu begrenzen. Je nach Autor und verwendeter Definition lassen sich etwa 10-20 verschiedene Maßnahmen und Technologien für gezielte Eingriffe in das Klima identifizieren, manche Autoren benennen sogar bis zu 66 Maßnahmen (Isomäki 2012). Zudem gibt es eine Grauzone, in welcher sich CE-Maßnahmen schwer von Maßnahmen zur Klimaanpassung oder Emissionsminderung unterscheiden lassen.

Generell wird CE in zwei Oberkategorien unterteilt (Edenhofer et al. 2012: S.2): Erstens, Maßnahmen zur Beeinflussung des Strahlungshaushalts (Solar Radiation Management, SRM). Hierzu werden insbesondere folgende Ansätze gezählt (basierend auf Rickels et al. 2011, S.44f.):

Ausbringung von reflektierendem Material, z.B. durch die Positionierung von Spiegeln im Weltraum,

Ausbringung von reflektierenden Aerosolen, wie Schwefeldioxid, in die obere Atmosphäre zur Erzeugung künstlicher Wolken,

Aufhellung natürlicher Wolken durch Eintrag von Seesalzkristallen,

Aufhellung der Erdoberfläche, z.B. durch weiß Anstreichen großer dunkler Oberflächen wie Städte oder Gebirge oder die genetische Modifizierung von Nutzpflanzen, so dass deren Blätter Sonnenlicht stärker reflektieren (vgl. Ridgwell et al. 2009).

Bei der zweiten Kategorie von Climate Engineering handelt es sich um die Abscheidung von Treibhausgasen aus der Atmosphäre, meist mit Schwerpunkt auf CO2 und daher »Carbon Dioxide Removal« (CDR) genannt. Hierunter fallen folgende Ansätze (basierend auf Rickels et al. 2011, S.50f.):

Erhöhung der Kohlenstoffaufnahme der Ozeane, z.B. durch eine künstlich erhöhte Ventilation der Ozeane oder die Düngung und damit Erhöhung der CO2-Aufnahme von Algen,

landbasierte Filtrierung von Treibhausgasen aus der Luft mittels »künstlicher Bäume« oder großräumiger Aufforstung (letztere wird teils in Größenordnungen wie der Begrünung der Sahara oder der australischen Wüsten diskutiert, z.B. Ornstein et al. 2009).

Zentrale Unterschiede zwischen der Reflektion des Sonnenlichts und der Abscheidung von Treibhausgasen sind deren Wirkungsweisen: SRM wirkt lediglich symptomatisch, indem es einen Aspekt – globale Erwärmung – bearbeitet, aber andere Folgen des Klimawandels, wie Versauerung der Meere, nicht. Dafür kann es jedoch innerhalb weniger Jahre große Wirkung entfalten. CDR hingegen entzieht der Atmosphäre Treibhausgase und bearbeitet damit die Ursachen der Klimaveränderung; die Wirkung, wie eine globale Abkühlung, tritt jedoch erst mit Jahrzehnten Verzögerung ein (Rickels et al. 2011).

Erste Experimente wurden zwar bereits durchgeführt, wie im Falle von Ozeandüngung (Fleming 2010), allerdings ist keines der Verfahren entfernt anwendungsreif. Die meiste Forschung konzentriert sich aktuell auf Laborforschung und theoretische Modelle. Dennoch sind in diesem Bereich bereits mehrere Unternehmen aktiv und entwickeln Geschäftsmodelle besonders zu CDR-Methoden.3

Bei den Klimaverhandlungen spielt CE bisher keine Rolle. Politisch hat sich auch noch kein Staat eindeutig für oder gegen CE positioniert. Zwar existieren im Rahmen der Konvention für biologische Diversität und der Londoner Konvention zum Meeresschutz erste Regulierungsansätze, speziell hinsichtlich der Ozeandüngung (Rickels et al. 2011, S.150). Diese sind jedoch weitgehend unverbindlicher Natur, zumal wichtige Staaten, wie die USA, nicht Teil der Konvention für biologische Diversität sind. Vor dem Hintergrund der bereits laufenden Forschung wie auch der Bearbeitung des Themas im 5. Sachstandsbericht des Weltklimarats (Edenhofer et al. 2012) ist allerdings davon auszugehen, dass CE zunehmend in die öffentliche und politische Aufmerksamkeit rücken wird.

Konfliktpotentiale von CE

Solange CE mehr Idee als Realität ist, lassen sich kaum empirisch belastbare Aussagen über Konfliktpotentiale treffen. Lediglich Plausibilitätsüberlegungen und Gedankenexperimente sind möglich. Solche Überlegungen sind jedoch notwendig, wenn die möglichen Risiken der Erforschung und des möglichen Einsatzes von CE abgeschätzt werden sollen.

Im Nachfolgenden wird daher eine Reihe denkbarer Konfliktpotentiale als Folge von Climate Engineering vorgestellt. Konflikt wird hierbei breit als Interessensgegensatz zwischen staatlichen oder nicht-staatlichen Akteuren begriffen. Unterschieden werden im Folgenden vier Typen von Konfliktpotentialen: 1. CE als Konfliktgegenstand, 2. Konflikte in Folge der Anwendung von CE, 3. CE als Instrument des Konfliktaustrags und 4. CE als Instrument der Konfliktprävention.

Der Rahmen dieses Beitrags ermöglicht es hierbei nicht, auf alle Ansätze und Maßnahmen im Detail einzugehen. Stattdessen werden die jeweiligen Konfliktpotentiale exemplarisch anhand einzelner CE-Methoden erläutert.

CE als Konfliktgegenstand

Die Auswirkungen des Klimawandels sind regional verschieden. So erwärmen sich Regionen wie die Arktis und der Nahe Osten schneller als der globale Durchschnitt (Parry et al. 2007). Ebenso fallen Niederschlagsveränderungen zwischen verschiedenen Weltregionen unterschiedlich aus. Dasselbe ist von CE-Maßnahmen zu erwarten: Maßnahmen zur Reflektion des Sonnenlichts hätten unterschiedliche regionale Auswirkungen (Schmidt et al. 2012). Unter anderem wird spekuliert, dass der indische Monsun durch Veränderung des Strahlungshaushalts beeinträchtigt werden könnte, mit Folgen für die gesamte Region (Irvine et al. 2011). Bei der Bewertung von CE-Maßnahmen muss daher betrachtet werden, wie sie sich auf lokaler/regionaler Ebene auswirken und inwiefern sie anderen Klimaauswirkungen begegnen. Bei gravierenden Auswirkungen ist in Antizipation der Risiken davon auszugehen, dass eine negativ betroffene Region eine Anwendung von CE prinzipiell eher ablehnen würde.

Abgesehen von den »Nebenwirkungen« von CE werfen solche Maßnahmen die Frage nach einem angemessenen Klima auf: Welche globalen oder regionalen Klimabedingungen sollen angestrebt werden, wenn Klimaveränderungen sich ungleich einstellen? Ein interessantes Beispiel ist in diesem Zusammenhang die Arktis: Einerseits fordert die »Arctic Methane Emergency Group« eine Anwendung von CE bis 2015, um ein Auftauen des Permafrosts und somit das Entweichen des starken Klimatreibers Methan in die Atmosphäre zu verhindern (AMEG 2009). Andererseits bietet das Auftauen der Arktis auch Chancen in Form von Ressourcenexploration, neuen Schifffahrtswegen und neuen landwirtschaftlichen Anbau- und Siedlungsgebieten (vgl. Emerson/Lahn 2012). Zu bedenken ist dabei, dass regionale Klimaveränderungen nicht auf die jeweilige Region beschränkt bleiben, sondern zwangsweise transregionale Konsequenzen haben, da es sich bei keiner Region um ein geschlossenes System handelt (Irvine et al. 2011).

Die Implementierung von CE-Maßnahmen ist ebenfalls konfliktbehaftet. Bspw. würde die Abscheidung von Kohlendioxid mit technischen Mitteln in großem Maßstab umfangreicher Infrastruktur und Lagerungsstätten bedürfen. Im Falle Deutschlands hat sich das Konfliktpotential von »Carbon Capture and Storage« (CCS, Sequestrierung bzw. Abscheidung und Speicherung von CO2) in der lokalen Bevölkerung bereits gezeigt. Ozeandüngung wiederum beeinträchtigt möglicherweise marine Ökosysteme und damit potentiell die Fischerei (vgl. Rickels et al. 2011).

Inwiefern und in welcher Form die Anwendung von CE zu Konflikten führen kann, ist vom jeweiligen Kontext abhängig, insbesondere von der angewandten Methode und deren Größenordnung. Es liegt auf der Hand, dass die Pflanzung von Bäumen auf einigen hundert oder tausend Hektar innerhalb der Grenzen eines Landes zwecks CO2-Abscheidung eine andere Qualität und räumliche Ausprägung hätte, als wenn ein Land oder eine Gruppe von Ländern globales Strahlungsmanagement betreiben würde. Auch die Zeitdimension spielt eine große Rolle: Konflikte über die Anwendung von CE können aufgrund der antizipierten negativen Auswirkungen schon aufkommen, bevor ein bestimmtes Verfahren anwendungsreif ist.

Konflikte als Folge der CE-Anwendung

Inzwischen existiert eine umfangreiche Debatte darüber, inwiefern Klimaveränderungen zum Ausbruch von Gewaltkonflikten beitragen (Brauch/Scheffran 2012). Sollte dies tatsächlich der Fall sein, so gilt das natürlich auch für gezielte Klimaeingriffe: CE »neutralisiert« Klimawandel nicht, sondern setzt einer nicht intendierten eine intendierte Klimaveränderung entgegen – es wird also Feuer mit Feuer bekämpft. Realistischerweise werden noch viele Jahre bis zu einer möglichen Umsetzung von CE vergehen. Bis dahin schreitet der Klimawandel unvermindert fort. Die Anwendung von CE schafft dann neben vom Klimawandel induzierten Konflikten weitere Konfliktpotentiale. Diese ließen sich allerdings nicht trennscharf voneinander unterscheiden.

Eine zusätzliche Problematik entsteht durch das Terminationsproblem von Maßnahmen zur Reflektion des Sonnenlichts: SRM-Maßnahmen verdecken den eigentlichen Temperaturanstieg aufgrund der erhöhten Treibhausgaskonzentration, bearbeiten diesen aber nicht. Werden SRM-Maßnahmen eingestellt, würde in kürzester Zeit wieder die »normale«, durch Treibhausgas erhöhte Temperatur hergestellt, was sich abermals stark regional auswirken würde (Rickels et al. 2011).

Neben diesen Folgen wären noch die unmittelbaren Konsequenzen der Anwendung zu bedenken, z.B. bei flächenintensiven CE-Methoden. Würden bspw. riesige Landflächen für Aufforstung genutzt, wären diese Böden der landwirtschaftlichen Produktion entzogen. Vor dem Hintergrund einer weiterhin stark steigenden Weltbevölkerung könnte sich dies negativ auf die Ressourcenpreise auswirken und Nutzungskonkurrenzen hervorrufen.

CE als Instrument des Konfliktaustrags

Aus der Zeit des Kalten Krieges, als die Supermächte Forschung für die militärisch motivierte Klimakontrolle betrieben (Fleming 2010), stammt die »Convention on the Prohibition of Military or Any Other Hostile Use of Environmental Modification Techniques« (ENMOD), welche Umweltmodifikationen mit feindlicher Absicht verbietet. Dennoch ist es sinnvoll, das Risiko eines militärischen Missbrauchs von CE zu bedenken (vgl. Robock 2008).

Eine starke Verdunkelung und regionale Abkühlung aufgrund künstlicher Wolkenbildung z.B. würde sich in der betroffenen Region negativ auf die Niederschlagsmuster, auf Ökosysteme und damit die landwirtschaftliche Produktion sowie auf das menschliche Wohlbefinden auswirken. Das könnte beim militärischen Gegner längerfristig eine zersetzende, wenngleich nicht unmittelbar tödliche Wirkung haben.

Andererseits stellt sich die Frage, ob andere Maßnahmen, z.B. Wirtschaftssanktionen, nicht ähnliche Effekte erzielen könnten, zumal die Folgen von CE-Maßnahmen vermutlich kaum auf eine bestimmte Region beschränkt blieben. So würde sich eine Verdunkelung von Nordafrika/Sahara womöglich stark negativ auf den indischen Monsun auswirken (Irvine et al. 2011), also mit hohen interregionalen »Kollateralschäden« behaftet sein. Ein mittels CE ausgetragener Konflikt hätte somit ein hohes Risiko einer horizontalen Eskalation, da viele Akteure in den Konflikt hineingezogen werden könnten.

Außerdem steht die Frage der Kontrollierbarkeit sowie der Konsequenzen für das eigene Land im Raum. So ließe sich die Ausbringung von Aerosolen zwar auf eine bestimmte Region konzentrieren; nach der Ausbringung würden die Aerosole bzw. die damit erzeugten Wolken mit dem Wind aber auch in andere Regionen verbracht. Zudem ist davon auszugehen, dass die betroffenen Staaten konventionelle und/oder unkonventionelle Gegenmaßnahmen ergreifen würden. Des weiteren könnte die umfangreiche Infrastruktur, die für CE-Maßnahmen Voraussetzung ist, zum möglichen Angriffspunkt werden und damit neue Vulnerabilitäten schaffen.

CE zur Konfliktprävention und -bearbeitung

Theoretisch kann CE auch konfliktvermeidend wirken. So kann eine Begrenzung der globalen Mitteltemperatur auf zwei Grad Celsius einem unkontrollierten Anstieg vorzuziehen sein. Zwar würden, wie oben beschrieben, eventuell weitere Konfliktpotentiale geschaffen, diese aber ggf. als weniger problematisch eingestuft als ein unkontrollierter Temperaturanstieg. Dies setzt jedoch voraus, dass mögliche Konflikte über die Anwendung von CE bereits im Vorfeld gelöst werden.

Wie oben bereits erwähnt, hat der Klimawandel auch das Potential für bestimmte positive Nebeneffekte. So kann eine erhöhte CO2-Konzentration die landwirtschaftliche Produktion steigern und damit einen Beitrag zur Deckung der globalen Nahrungsmittelproduktion leisten. Eine CE-Maßnahme wie Reflektion des Sonnenlichts würde diesen wachstumsfördernden Effekt erhalten, eine zu starke, der Landwirtschaft abträgliche Erwärmung jedoch gleichzeitig vermeiden (Pongratz et al. 2012). Aufforstung zur Abmilderung des Klimawandels kann sich positiv auf degradierte Böden auswirken und Bodenerosion entgegenwirken, sofern sie konfliktsensitiv gestaltet wird. Die oben erwähnten Unternehmen arbeiten zudem auch am »Recycling« abgetrennten Kohlendioxids als neue Rohstoffquelle, z.B. für Werkstoffe.

Schließlich kann die konsensuale Nutzung von CE auch eine vertrauensbildende Maßnahme darstellen und internationale Kooperation verstärken. Dieser Effekt ließe sich möglicherweise schon in der Vorbereitungsphase erzielen, also bevor CE-Maßnahmen tatsächlich eingesetzt werden.

Zusammenfassung und Reflektion

Aus dieser Betrachtung der vier Konfliktpotentiale von Climate Engineering lassen sich folgende Thesen ableiten:

Climate Engineering wird voraussichtlich Konfliktpotentiale schaffen, diese sind jedoch sehr heterogener Natur und müssen je nach Ansatz und Methode im Einzelnen untersucht werden.

Konflikte über antizipierte negative Auswirkungen von Climate Engineering stellen eine neue, zusätzliche Konfliktdimension dar, welche CE vom nicht intendierten Klimawandel und dessen Konfliktpotentialen unterscheidet.

Eine militärische Anwendung von CE scheint aufgrund mangelnder Steuerungsfähigkeit und möglicherweise hoher Kollateralschäden vor dem Hintergrund aktueller technologischer Möglichkeiten wenig plausibel. Ein Dual-use-Potential ist jedoch nicht auszuschließen, zumal Forschung zur besseren Kontrolle von CE bereits existiert (z.B. Keith 2010).

Zivile CE-Programme wären eventuell Bedrohungen durch feindliche Akte ausgesetzt und schaffen somit eine neue Vulnerabilität.

CE kann konfliktpräventive Wirkung entfalten, dies bedarf jedoch erst der Lösung von Konflikten über antizipierte Konsequenzen – und selbst dann sind Konfliktpotentiale nicht auszuschließen.

Bisher ist der Einsatz von CE rein hypothetischer Natur. Das Potential jedoch, Konflikte schon vor dem eigentlichen Einsatz hervorzurufen, spricht für eine frühe und angemessene Befassung mit Climate Engineering aus friedenspolitischer Sicht. Speziell gilt es, das gegenwärtige internationale Institutionengefüge auf seine Fähigkeit zur Bearbeitung von CE-Konflikten hin abzuprüfen und ggf. Ansätze zur Bereitstellung des notwendigen Rahmens für eine kooperative, auf Interessensausgleich ausgerichtet multilaterale Lösung zu entwickeln.

Literatur

Arctic Methane Emergency Group (AMEG): Auswahl »Taking Action« auf Website ameg.me.

Brauch, H. und J. Scheffran (2012): Introduction: Climate Change, Human Security, and Violent Conflict in the Anthropocene. In: J. Scheffran, M. Brzoska, H. Brauch, M. Link und J. Schilling (Hg.) 2012: Climate Change, Human Security and Violent Conflict. Challenges for Societal Stability. Berlin: Springer, S.3-40.

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Keith, D. (2010): Photophoretic levitation of engineered aerosols for geoengineering. Proceedins of the National Academy of Sciences 107, S.16428-16431.

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Parry, M., O. Canziani, J. Palutikof, P. van der Linden und C.E. Hanson (Hrsg.) (2007): Contributions of Working Group II tothe Fourth Assessment Report of the Intergovernmental Panel on Climate Change. New York: Columbia University Press.

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Rickels, W., G. Klepper, J. Dovern, G. Betz, N. Brachatzek, S. Cacean, K. Güssow, J. Heintzenberg, S. Hiller, C. Hoose, T. Leisner, A. Oschlies, U. Platt, A. Proelß, O. Renn, S. Schäfer, M. Zürn (2011): Gezielte Eingriffe in das Klima? Eine Bestandsaufnahme der Debatte zu Climate Engineering. Sondierungsstudie für das Bundesministerium für Bildung und Forschung. Kiel: Kiel Earth Institute.

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Royal Society (2009): Geoengineering the Climate: Science, Governance and Uncertainty. London: Royal Society.

Schmidt, H., K. Alterskjaer, D. Bou Karam, O. Boucher, A. Jones, J. Kristjansson, U. Niemeier, M. Schulz, A. Aaheim, F. Benduhn, M. Lawrence und C. Timmreck (2012): Solar irradiance reduction to counteract radiative forcing from a quadrupling of CO2: Climate responses simulated by four earth system models. Earth System Dynamics 3, S.63-78.

Anmerkungen

1) International gibt es keine verbindliche Definition für Climate Engineering, jedoch werden hierunter in der Regel großskalige technische Eingriffe in das Weltklima verstanden.

2) Dabei handelt es sich um die Projekte IMPLICC (implicc.zmaw.de) und EuTRACE (eutrace.org).

3) Beispiele hierfür sind Carbon Engineering (carbonengineering.com), Kilimanjaro Energy (kilimanjaroenergy.com) und Global Thermostat (globalthermostat.com).

Achim Maas ist Koordinator des Themenclusters »Sustainable Interactions with the Atmosphere« am Institute for Advanced Sustainability Studies in Potsdam (IASS Potsdam).

Friedenslogik statt Sicherheitslogik

Friedenslogik statt Sicherheitslogik

Jahrestagung der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung, 2.-4. März 2012 in Loccum

von Ute Finckh-Krämer

Anstatt zum wiederholten Male die Versicherheitlichung der deutschen und europäischen Politik zu beklagen, hat die Plattform Zivile Konfliktbearbeitung gemeinsam mit der Evangelischen Akademie Loccum ihre diesjährige Jahrestagung genutzt, um unter dem Stichwort »Friedenslogik« eine grundsätzlich andere Sichtweise zu entwickeln. Über 90 TeilnehmerInnen waren bereit, sich auf diesen Perspektivwechsel einzulassen und zu überlegen, welche Rolle Zivile Konfliktbearbeitung in einer der Friedenslogik verpflichteten Politik spielen könnte. Drei PolitikwissenschaftlerInnen (Lothar Brock, Sabine Jaberg, Hanne-Margret Birckenbach1) erläuterten einerseits die Grundstrukturen der herrschenden Sicherheitslogik, skizzierten andererseits, welche Ansatzpunkte für einen Paradigmenwechsel sie sehen und wie die Prämissen einer Friedenslogik allgemein bzw. konkretisiert am Konfliktfall Syrien aussehen könnten.

Wichtige Erkenntnisse auf der Tagung waren:

Die Prämissen und Strukturen der herrschenden Sicherheitslogik sind allesamt bereits im Leviathan von Hobbes, der 1651 erstmals erschienen ist, angelegt. Im Zentrum stehen der Schutz des eigenen Staates und seiner Bürger gegen äußere und innere Feinde, woraus einerseits der Ausschluss all derer, die außerhalb sind, folgt und andererseits ein permanenter »Feindverdacht« entsteht, der auch den eigenen Bürgern misstraut, wenn sie vermeintlich oder tatsächlich abweichende Meinungen vertreten.

Sicherheitslogik rechtfertigt die Verwendung aller Mittel einschließlich des Krieges. Eine Begrenzung erfolgt nur durch das Handeln anderer Staaten und durch Kosten-Nutzen-Kalküle. Die Sicherheitslogik ist blind gegen den eigenen Beitrag an gegenseitigen Bedrohungsszenarien und ignoriert ungerechte globale Strukturen. Sie führt über Dramatisierungen (Sicherheitsfragen werden zu existenziellen Gefährdungen) zu »antizipatorischer Selbstverteidigung« (die zum Teil des Problems wird) und geografischer Entgrenzung und damit zu einem permanenten Eskalationsrisiko.

Sicherheitslogik postuliert, dass es Kriege immer gegeben hat und immer geben wird, Gewaltanwendung bestenfalls eingehegt werden kann.

Mit der Verabschiedung der UN-Charta – formuliert auf Grund der Erfahrungen zweier Weltkriege – wurde das Völkerrecht vom Kriegsrecht zum Friedensrecht transformiert,2 blieb aber weiter der Sicherheitslogik verhaftet. Derzeit zeichnet sich eine weitere Transformation des Völkerrechts ab, in der nicht mehr Staaten, sondern Einzelne einerseits zum Schutzobjekt werden, andererseits als handelndes Subjekt ggf. für ihre Handlungen zur Verantwortung gezogen werden können. Das erhöht das Interventionsrisiko, solange die Regeln des Völkerrechts (noch) nicht an diese Transformation angepasst sind.

Friedenslogik betrachtet inner- und zwischengesellschaftliche Sicherheit im Rahmen einer Weltfriedensordnung. Sie ist selbstreflexiv, bezieht sowohl die Voraussetzungen als auch die möglichen Folgen des eigenen Handelns mit ein (»do no harm«-Prinzip), berücksichtigt, dass auch zivile Interventionen unbeabsichtigte Folgen haben können, die reflektiert werden müssen.

Globale Machtverschiebungen, wie sie sich derzeit abzeichnen, müssen in einem Paradigmenwechsel hin zu einer Friedenslogik analysiert und berücksichtigt werden.

Mögliche Prämissen einer Friedenslogik sind: das Vertrauen darauf, dass eine andere Welt möglich ist; Gewaltverzicht; Konfliktbearbeitung, die Gewalt abbaut, indem sie Gerechtigkeit, Solidarität und Nachhaltigkeit nicht als absolute Werte begreift, sondern sie in Beziehung zum Gewaltabbau setzt.

Handlungen innerhalb der Friedenslogik sind in ihrer Ausrichtung zu unterscheiden, ob sie sich unmittelbar gegen Gewaltausübung oder gegen die strukturellen Ursachen der Gewalt wenden.

Friedenslogik ist inklusiv. Sie bezieht alle Konfliktakteure mit ein, nimmt ihre Interessen und Bedürfnisse genauso wahr und ernst wie die eigenen, erkennt und analysiert sich ggf. überlagernde Konflikte, konzentriert sich nicht auf Sanktionen, sondern auf »Belohnungen«, unterscheidet auch zwischen berechtigten und unberechtigten Ansprüchen der am Konflikt direkt oder indirekt Beteiligten.

Die Kritik der Länder des Südens am Leitbild der »liberalen Demokratie« ist berechtigt und muss ernst genommen werden.

Auch in einer Friedenslogik hat das Bedürfnis nach »Sicherheit« einen Platz und kann mit Begriffen wie »menschliche Sicherheit« oder »gemeinsame Sicherheit« beschrieben werden. Dabei ist »Frieden« das übergeordnete und »Sicherheit« ein abgeleitetes Ziel, nicht etwa umgekehrt.

Solange in der offiziellen Politik der Begriff »Konflikt« reflexartig dazu führt, dass die Zuständigkeit den Sicherheitspolitikern zufällt, muss ggf. nach Wegen gesucht werden, wie sich abzeichnende Konflikte bearbeitet oder transformiert werden können, ohne dass sie als solche benannt werden.

An Thementischen und in Arbeitsgruppen wurden anschließend Sicherheitslogik und Friedenslogik in einzelnen Politik- bzw. Arbeitsbereichen diskutiert. Die Spannweite reichte von der Außen- und Sicherheitspolitik über die Entwicklungszusammenarbeit und Menschenrechtspolitik bis zur Auseinandersetzung mit gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit im Inland. Dabei wurde die Hypothese bestätigt, dass die Grundelemente eines Handelns, das der Friedenslogik entspricht, quer durch die Erfahrungsbereiche der TeilnehmerInnen starke Analogien aufweisen:

Betrachtung von Konflikt- bzw. Gewaltursachen statt Abarbeiten an den Symptomen,

langfristiges Denken und verlässliche Partnerschaften statt kurzfristiger »Projektitis«,

stetige Beschäftigung mit einem Thema statt abrupter Wechsel zwischen Dramatisierung/Skandalisierung und Verdrängung/Ignorieren,

flexibles Handeln bei gemeinsam definierten Zielen statt Festlegung auf bestimmte Instrumente (z.B. Bundeswehr, Verfassungsschutz) und Anpassung der Ziele an das, was mit diesen Mitteln erreichbar ist,

Bereitschaft zum Perspektivenwechsel (wie würde ich die Welt und den Konflikt aus Sicht der verschiedenen Konfliktbeteiligten sehen?).

Für die Weiterarbeit der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung wurde insbesondere gefolgert, dass eine engere Vernetzung bzw. ein intensiverer Erfahrungsaustausch zwischen Gruppen, die sich in der Inlandsarbeit engagieren, und denen, die in anderen Ländern aktiv sind, sinnvoll ist.

Innerhalb der Jahrestagung fand auch das Plenum der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung statt. Dazu gehörten die turnusmäßigen Gremienwahlen, aber auch die Entwicklung einer Arbeitsstruktur, um weiter an der Konkretisierung der Friedenslogik zu arbeiten und die Zivile Konfliktbearbeitung im Bundestagswahlkampf 2013 bzw. bei den sich daran anschließenden Koalitionsverhandlungen zum Thema zu machen.

Anmerkungen

1) Siehe den Abdruck ihres Vortrags in dieser Ausgabe von W&F.

2) Vgl. hierzu Lothar Brock: Vom Kriegs- zum Friedensrecht? W&F 1/2012.

Ute Finckh-Krämer