Friedensdienst als Menschenwerk

Friedensdienst als Menschenwerk

Der Zivile Friedensdienst in Nepal

von Carola Becker

Der Zivile Friedensdienst (ZFD) ist ein ungewöhnliches Instrument. Zumindest finden dies manche der bestehenden oder potentiellen Partnerorganisationen in Nepal. Eher bekannt und weiter verbreitet ist finanzielle Unterstützung verschiedener Geber zu bestimmten Themen mit spezifischen Anforderungen, wobei die Partner als Durchführer oder Dienstleister ausgesucht werden. Personelle Zusammenarbeit, außer vielleicht in Form von zeitlich begrenzten Consultant-Einsätzen, ist eher unbekannt. Die Vorstellung, »ausländische Fremdkörper« in die eigene Mitte aufzunehmen, scheint vielen – insbesondere staatlichen Partnern – nicht nur auf den ersten Blick seltsam, fast bedrohlich. Die Organisationen, die sich trotz aller anfänglichen Zweifel auf diese Zusammenarbeit eingelassen haben, sind später in der Mehrheit positiv überrascht. Lerneffekte gibt es viele – für alle Beteiligten.

Der Zivile Friedensdienst

Ins Leben gerufen vor allem als gewaltfreie Alternative zu Militäreinsätzen, besteht der Zivile Friedensdienst (ZFD) als Instrument offiziell seit 1999. Alle Projekte des ZFD werden vom Ministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) geprüft und nach Genehmigung finanziert. Projekte beantragen können acht anerkannte Trägerorganisationen:

Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden (AGDF)

Arbeitsgemeinschaft für Entwicklungshilfe (AGEH)

Christliche Fachkräfte International (CFI)

Deutscher Entwicklungsdienst (DED), seit dem 1. Januar 2011 aufgegangen in der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ)

Evangelischer Entwicklungsdienst (EED)

EIRENE – Internationaler Christlicher Friedensdienst

Forum Ziviler Friedensdienst (forumZFD)

Weltfriedensdienst (WFD)

Manche dieser Träger kooperieren wiederum mit anderen Organisationen, wodurch das Netz noch erweitert wird. Zusammengehalten und organisiert sind die verschiedenen Träger über das Konsortium Ziviler Friedensdienst.

Ziel des ZFD ist es dazu beizutragen, Konflikte gewaltfrei zu behandeln, Gewalt zu reduzieren oder ganz zu verhindern und positiven Frieden zu fördern. Kern des ZFD ist die Entsendung von Friedensfachkräften. Diese arbeiten im Land oft eng mit einheimischen Fachkräften zusammen, die auch über das jeweilige ZFD-Projekt finanziert werden.

Der ZFD arbeitet im Rahmen von sieben Handlungsfeldern:

Aufbau von Kooperations- und Dialogstrukturen über Konfliktlinien hinweg (einschließlich Stärkung traditioneller Schlichtungsinstanzen)

Schaffung von Anlaufstellen und gesicherten Räumen für Unterstützung und Begegnung von Konfliktparteien

Stärkung von Informations- und Kommunikationsstrukturen zum Thema »Ursachen und Auswirkungen gewaltsamer Konflikte« (u.a. Friedensjournalismus, Vernetzung, Monitoring von Konfliktverläufen)

Reintegration und Rehabilitation der von Gewalt besonders betroffenen Gruppen (einschließlich Maßnahmen der psychosozialen Unterstützung/Traumabearbeitung)

Beratung und Trainingsmaßnahmen zu Instrumenten und Konzepten ziviler Konfliktbearbeitung sowie beim Aufbau von Strukturen

Friedenspädagogik (einschließlich Bildungsmaßnahmen zum Abbau von Feindbildern)

Stärkung der lokalen Rechtssicherheit (Beobachtung der Menschenrechtssituation, Schutz vor Menschenrechtsverletzungen, Aufbau und Stärkung lokaler Institutionen)

Pro Land sind im Schnitt zehn Fachkräfte im Einsatz (plus zehn Einheimische Fachkräfte). Natürlich ist es schwierig, mit so einer kleinen Zahl an Personal und auch nur begrenzten Projektmitteln weit reichende Wirkungen zu erzielen und dazu auch noch schnell sichtbar und möglichst messbar. Dennoch hat sich der ZFD in den letzten elf Jahren bewährt und wird zunehmend von Partnern nachgefragt. Die Veröffentlichung einer umfassenden Evaluierung des Instruments steht in den nächsten Monaten an.

Ausführlichere Informationen finden Sie auf www.giz.de/zfd und www.ziviler-friedensdienst.org.

Carola Becker

In Nepal gibt es viele Gründe für einen Einsatz des ZFD: Ein Jahrhunderte altes diskriminierendes Kastensystem, das laut Gesetz nicht mehr bestehen soll, das aber weiterhin als Tradition überlebt; knapp hundert verschiedene ethnische Gruppen mit vielen eigenen Sprachen; extreme Benachteiligung großer Teile der Bevölkerung (Frauen, ethnische Gruppen, niederen Kasten angehörende oder kastenlose Personen); das Fortwirken von feudalistischen Strukturen und Privilegien, wirtschaftliche Rückständigkeit und Abhängigkeit; ein zehnjähriger maoistischer Aufstand, der 2006 mit einem Friedensabkommen beendet wurde, das allerdings bisher in vielen Punkten nicht umgesetzt wurde. Eine neue demokratische und föderale Republik ist im Aufbau. Gerade bei letzterem wirken alte (Kasten) und neue Antagonismen (ethnischer Föderalismus) als sich gegenseitig bestärkende Hemmnisse. Nach dem Bürgerkrieg konnte bislang keine stabile Regierung gebildet werden, die Verabschiedung der Verfassung bleibt ungewiss. Das Konsensgebot der provisorischen Verfassung verhindert bislang die Aushandlung tragfähiger politischer Kompromisse, jeder scheint jeden blockieren zu wollen. Die Ursachen des gewalttätigen Konfliktes werden in der Politik meist ausgeblendet. Dazu kommen Straflosigkeit und Patronage, verbunden mit sich in zivilem Ungehorsam übenden Gruppierungen polit-krimineller Natur, die das schon arme Land wirtschaftlich und sozial beschädigen. Insgesamt also schier unbegrenzte Ansatzmöglichkeiten für Maßnahmen der Zivilen Konfliktbearbeitung.

Der ZFD soll in jedem Land in nicht mehr als zwei Handlungsfeldern agieren. Keine leichte Entscheidung bei so viel Bedarf – wo ansetzen: an der Aufarbeitung der Vergangenheit, an der Vermeidung weiterer Konflikte, an den nach wie vor bestehenden Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten? Am besten scheint eine geschickte Kombination, um konzentriert zu agieren und umfassende Wirkungen zu erzielen. Die in Nepal festgelegten Handlungsfelder sind »Beratung und Trainingsmaßnahmen zu Instrumenten und Konzepten ziviler Konfliktbearbeitung sowie beim Aufbau von Strukturen« und »Stärkung der lokalen Rechtssicherheit (Beobachtung der Menschenrechtssituation, Schutz vor Menschenrechtsverletzungen, Aufbau und Stärkung lokaler Institutionen)«. Beide haben sich bisher gut bewährt.

Das ZFD Programm in Nepal mit dem Titel »Systematische Stärkung und Vernetzung lokaler und nationaler Friedenspotenziale in der Post-Kriegsphase« läuft seit 2008. Allgemein beabsichtigt der ZFD Veränderungen von Verhalten, Strukturen und Prozessen. Das ZFD-Programm der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) in Nepal will durch seine Maßnahmen zur Verringerung von struktureller Gewalt und Diskriminierungen beitragen: Individuelle, soziale und politische Konflikte sollen in Zukunft zunehmend auf konstruktive und transformative Weise bearbeitet werden. Der Zugang zu einem funktionierenden Rechtssystem soll sich verbessern. Zielgruppe ist die gesamte nepalische Bevölkerung, insbesondere diskriminierte und marginalisierte Gruppen.

Maßnahmen des ZFD in Nepal

Momentan arbeiten sieben internationale und drei nationale Fachkräfte beim ZFD der GIZ in Nepal. Eine weitere Fachkraft ist von der Arbeitsgemeinschaft für Entwicklungshilfe (AGEH) geschickt, zwei Stellen sind über die Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden (AGDF) in Kooperation mit der Kurve Wustrow und drei weitere mit Peace Brigades International (PBI) im Land. Die Stellen über die Kurve Wustrow sind im Bereich der Beratung in Ziviler Konfliktbearbeitung angelegt, während PBI sich auf die Begleitung von Menschenrechtsaktivisten/innen spezialisiert.

Die Fachkräfte der GIZ konzentrieren sich auf die Stärkung der Kapazitäten in Ziviler Konfliktbearbeitung und die Unterstützung beim Zugang zu Recht. Sie tragen damit im weitesten Sinne zur Stärkung der Menschenrechte und dem Wunsch der bislang Ausgeschlossenen nach einer gerechteren Gesellschaft bei.

Im ersten Bereich kooperieren ZFD-Fachkräfte mit nepalesischen Partnerorganisationen, die selbst im Bereich der Zivilen Konfliktbearbeitung aktiv sind. Es geht hier vor allem um das Training von bestimmten Methoden und Kapazitäten, wie zum Beispiel Mediation, Konfliktanalyse, Konflikttransformation oder Konfliktsensibilität, kombiniert mit einem gewissen (je nach Partner unterschiedlich starken) Anteil an Organisationsentwicklung. So wird sichergestellt, dass nicht nur die inhaltlichen Fähigkeiten unterstützt werden, sondern auch die administrativen und organisatorischen, die dringend notwendig sind, um Personal und andere Ressourcen effektiv und sinnvoll zu nutzen.

Seit 2008 unterstützen beispielsweise eine Friedensfachkraft und eine Einheimische Fachkraft das Forum for the Protection of People’s Rights Nepal (PPR). PPR ist eine Nichtregierungsorganisation mit Hauptsitz in Katmandu, die sich in den Bereichen Friedensförderung, Menschenrechte und Stärkung der Rechtsstaatlichkeit engagiert. Als erste Partnerorganisation im ZFD sah sich PPR zunächst als Ausführer des Programms. So waren sie es von verschiedensten ausländischen Institutionen gewöhnt, mit denen sie bis dahin zu tun hatten. Trotz ausführlicher Vorgespräche kam die Botschaft, in ihrer Mitte und gemeinsam mit ihnen werde eine Fachkraft arbeiten, nicht an. Und da war nun plötzlich der junge Mann Anfang 30 mit einer großen Portion Enthusiasmus, Hintergrund in der Friedensforschung und vorheriger Nepalerfahrung. Wohin mit ihm? Wie ihn vorstellen? Was mit ihm besprechen? Will er uns kontrollieren? Wollen wir ihn überhaupt? Was kann er denn anbieten? Mit diesen und ähnlichen Fragen überhäuften der Direktor der Partnerorganisation und sein Stellvertreter den damaligen ZFD-Koordinator. Der wiederum wunderte sich: „Das hatten wir doch alles im Detail besprochen.“ Es war klar, theoretische Vorgespräche sind eines, die Realität dann doch wieder ganz anders, die Erwartungen auf allen Seiten unterschiedlich, aber, wie sich nach ersten Monaten der vorsichtigen Annäherung herausstellte, keineswegs unvereinbar.

Unter anderem nutzte PPR die ZFD-Unterstützung für seinen Strategiebildungsprozess, gefolgt von einem einjährigen modularen Mediationstraining für PPR-Mitarbeiter/innen und eine Gruppe von 20 Mediator/innen aus ganz Nepal.

Traditionell war und ist in Nepal Schlichtung als Konfliktbearbeitungsmethode verbreitet. Wie in anderen Ländern auch, üben die Dorfältesten eine Art von Richterrolle aus. Oft funktioniert diese Methode gut und wird von allen Beteiligten akzeptiert. Dennoch wird in den letzten Jahren der Ansatz von Mediation zunehmend bekannt. Vor allem Frauen und Angehörige niedriger Kasten sehen ihre Interessen besser vertreten von Mediator/innen, die sie selbst auswählen können. Allerdings verwechseln viele Mediator/innen ihre Rolle mit der von Schlichtern. Die Idee, Konfliktparteien so anzuleiten, dass sie selbst zu annehmbaren Lösungen kommen, ist noch relativ neu. Hier liegt ein starker Fokus der angebotenen Trainings. Wichtig ist auch, über den eigenen Status als Mediator/in zu reflektieren. Aufgrund des überall präsenten Kastensystems ist es sehr schwierig, sich von Vorurteilen gegenüber niedrigeren (und auch höheren Kasten) freizumachen. Diese müssen von den Mediator/innen zuerst erkannt, dann akzeptiert und verändert werden. Dies ist ein langwieriger Prozess, der weit über den Mediationsansatz hinausgeht. Hier wird als Nebeneffekt an eingefahrenen Strukturen gearbeitet. Allein schon ein gemeinsames Training in einem Raum ist für viele neu und gewöhnungsbedürftig.

Ein relativ neuer Partner des ZFD-Programms ist die Organisation Forum for Protection of Public Interest (ProPublic). ProPublic ist eine renommierte Nichtregierungsorganisation mit Fokus auf »gute Regierungsführung«, Umweltthemen und Konfliktbearbeitung. Die Friedensfachkraft soll gemeinsam mit der einheimischen Fachkraft ab Mitte 2011 das Mediationsprogramm von ProPublic in verschiedenen Distrikten Nepals planen und durchführen. Ob die vielen Gespräche und die gemeinsame Prüfung der geplanten Zusammenarbeit (viele Vorbereitungstreffen, die in einem umfassenden Prüfbericht alle Aspekte der Kooperation festhalten) ausreichen, um Missverständnissen vorzubeugen, muss sich noch zeigen.

Eine weitere Maßnahme im ZFD-Programm ist die »Regionale Konfliktbearbeitung« für Multiplikator/innen im Konfliktbereich, zum Beispiel Mediator/innen, Menschenrechts- oder Frauenaktivist/innen und Mitglieder der lokalen Friedenskomitees. Die Trainings werden in Kooperation mit verschiedenen Partnerorganisationen im ganzen Land angeboten und durchgeführt. Hier ist die Situation anders – nicht eine feste Partnerorganisation, sondern viele, meist sehr kleine an abgelegenen Orten. Dennoch gibt es auch hier genug Raum für Missverständnisse und auseinander klaffende Erwartungen. Selbst an die von der Hauptstadt weit entfernten Orte (oft nur in zwei Reisetagen zu erreichen) ist die Erwartung der uneingeschränkten finanziellen Unterstützung vorgedrungen. Auch hier kommt immer wieder Verwunderung auf, wenn die Fachkräfte eine Zusammenarbeit vorschlagen.

Zwei Friedensfachkräfte und eine einheimische Fachkraft sind in dieser Maßnahme tätig. Nach der Auswahl von Organisationen zur Zusammenarbeit werden Reihen von unterschiedlichen Trainings gemeinsam geplant und durchgeführt. Die Trainings sind alle partizipativ ausgerichtet und integrieren die persönlichen und beruflichen Erfahrungen der jeweiligen Teilnehmer/innen. Ausgesucht werden letztere von den Partnerorganisationen, aber zuerst werden Auswahlkriterien gemeinsam mit den Fachkräften festgelegt. Inklusion ist hier ein wichtiges Schlagwort. Das bedeutet, Frauen sollen an den Trainings teilnehmen. Das ist an vielen Orten noch immer sehr ungewöhnlich. Auch die gemeinsame Teilnahme von Angehörigen unterschiedlicher Kasten ist oft sehr schwierig und für alle Beteiligten eine neue Erfahrung. Der Fokus der Trainings liegt auf der Stärkung von konstruktiven Rollen in lokalen und übergreifenden Konflikten und auf der Verbreitung gewaltfreier Konfliktbearbeitung, um so zu sozialem Wandel in den jeweiligen Heimatregionen der Teilnehmer/innen beizutragen.

Je nach den Interessen und Hintergründen der Zielgruppen werden Mediationstrainings oder andere, vielfältige und angepasste Methoden angeboten, um Raum zur kritischen Reflektion über Gewalt und Frieden zu geben. Unter anderem dient auch das Forumtheater als Werkzeug zum Anstoß von öffentlichem Dialog über Konfliktsituationen. Laienschauspieler/innen spielen auf einer Bühne im Ort Konflikte unterschiedlichster Art, von häuslicher Gewalt über problematische Landrechte bis zu politischen Interessenskonflikten. Kurz vor der Eskalation des Konflikts wird das Stück angehalten und das Publikum befragt, wie die Situation weitergehen sollte oder könnte. Verschiedene Vorschläge werden von den Zuschauer/innen eingebracht und dann auf der Bühne umgesetzt. Verschiedene Entwicklungen einer Konfliktsituation werden so ausprobiert und diskutiert. Angeleitet werden die Einbeziehung des Publikums und der weitere Verlauf des Stücks von einer oder einem der Schauspieler/innen, dem so genannten Joker. Vorbereitet wird das Stück in einem mehrtägigen Workshop, angeleitet von der Friedensfachkraft. Welche Konflikte gespielt werden sollen, entscheiden die Teilnehmer/innen, sie stellen auch den Joker.

Die meisten der Trainings sind als längere Prozesse angelegt. Es soll immer ausreichend Raum und Zeit gegeben sein zur Selbstreflexion sowie zur kritischen Betrachtung von existierenden sozialen Normen und Werten, von Vorurteilen und Diskriminierungsmechanismen im alltäglichen Leben. Die Selbstreflexion ist gleichzeitig einer der schwierigsten, jedoch auch wichtigsten Aspekte der Trainings. Nur wenn sich an den Denkstrukturen etwas ändert, kann das Verhalten beeinflusst werden, und nur so können sich langfristig eingefahrene Strukturen wandeln.

Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte

Ein anderer, nicht weniger wichtiger Bereich des ZFD ist die Förderung von Rechtstaatlichkeit und Menschenrechten. Straffreiheit ist ein ernstes Thema in Nepal. Verantwortliche für schwere Menschenrechtsvergehen während der Zeit des bewaffneten Konflikts haben bisher weitestgehend Straffreiheit genossen. Bis Anfang 2011 wurden keine Täter für Menschenrechtsverletzungen verurteilt. Gleichzeitig gibt es noch immer mehr als 1.300 Vermisste und Tausende seelisch und körperlich Verletzte. Alle haben das Recht auf Wissen, auf Wiedergutmachung und letztlich auf Versöhnung.

Noch steht die lange geplante Gründung einer »Truth and Reconciliation Commission« aus und geht in allgemeinen politischen Querelen unter. Eine ZFD-Maßnahme unterstützt aber die Untersuchungen massiver Menschenrechtsverletzungen. Ein Experte arbeitet im Rahmen des ZFD-Programms mit der National Human Rights Commission Nepal (NHRC) und fördert die Mitarbeiter/innen im Bereich der forensisch-anthropologischen Untersuchungen sowie bei der Aufklärung von außergerichtlichen Tötungen und den Schicksalen von Vermissten.

Hier war die Lage anders als bei den übrigen Maßnahmen. Es war für die Partner von Anfang an eindeutig, warum sie die Fachkraft brauchen, was sie erreichen möchten, welcher Bedarf ansteht. Dennoch fehlte es auch hier nicht an unterschiedlichen Erwartungen. Die Menschenrechtskommission erwartete zwar keine finanzielle Förderung, sah sich auch nicht als Durchführer des ZFD-Programms in Nepal, betrachtete aber die Mitarbeit der Fachkraft mit einer großen Portion Skepsis: Ist dies ein Spion? Will er unsere Bücher kontrollieren? Spricht er etwa für alle ausländischen Geldgeber? Hier half nur die außerordentliche Expertise der ZFD-Fachkraft. Er bringt langjährige Erfahrung aus anderen Ländern mit und kann Fachwissen anbieten, das es in Nepal nicht gibt, das aber dringend gebraucht wird. Plagen muss sich die Fachkraft jetzt »nur« mit politisch bedingten Verzögerungen in den Aufklärungsarbeiten.

Konkrete Wirkungen können alle ZFD-Maßnahmen vorweisen. Vor allem der partizipative Ansatz, auch das Bestehen auf inklusiver Zusammenarbeit und natürlich das Vermitteln kreativer Methoden und spezifischen Fachwissens stärken lokale Kapazitäten, verändern Denkansätze, Verhalten und, ganz langsam und ansatzweise, auch Strukturen.

Kooperation mit GIZ-Programmen

Seit einigen Monaten hat der ZFD Nepal eine Fachkraft für Konfliktsensibilität zur Beratung der Deutschen Entwicklungszusammenarbeit, ein sehr spannendes und wichtiges Feld, wenn auch nicht typisch für den ZFD und nicht wirklich Teil des Instruments. Der ZFD arbeitet an Konflikten (working on conflict), der Ansatz der Konfliktsensibilität bezieht sich auf Vorhaben in Konfliktgebieten (working in conflict). Ob Teil des Instruments oder nicht, der Ansatz der Konfliktsensibilität ist extrem wichtig und sinnvoll. Hier zeigt sich ganz klar, dass es anfängliche Unsicherheiten oder Bedenken auch zwischen deutschen Vorhaben geben kann. „Sollen wir nun kontrolliert werden, das haben wir doch schon alles im Blick, wir kennen unsere Wirkungen und Einflüsse.“ Solche und ähnliche Reaktionen gibt es manchmal anfangs, wenn es darum geht, die einzelnen Programme, Projekte, Maßnahmen oder Vorhaben konfliktsensibel (oder konfliktsensibler) auszurichten. Letztendlich geht es vor allem um Reflexion der Arbeit über die geplante und beabsichtigte Arbeit selbst hinaus. Da hilft es gelegentlich, anzuhalten und kritisch zu überprüfen, mit Hilfe eines Blicks von außen, ob nicht vielleicht ungewollte und unbeabsichtigte Wirkungen entstehen.

Bewährt hat sich in Nepal auch der enge Austausch und teils die direkte Kooperation mit anderen Programmen der Entwicklungszusammenarbeit. Ein Beispiel hierfür ist Support to the Peace Process (STPP), ein großes Programm der früheren GTZ in den so genannten »Cantonments« (Internierungslager oder groß angelegte Wartezentren für die ehemaligen maoistischen Kämpfer/innen). Mitarbeiter/innen in neu angelegten Bildungszentren werden in Konflikttransformation ausgebildet. Neu angewendet wird jetzt auch hier die Methode des Forumtheaters, das bisher extrem gut angenommen wird.

Ausblick

In Zukunft ist geplant, die Zusammenarbeit mit den anderen GIZ-Programmen zu verstärken, auch um mehr Friedensfachkräfte in abgelegenen Regionen anzusiedeln. Mehr Fokus auf Versöhnungsarbeit steht in den nächsten Jahren an und wird vom nepalesischen Ministerium für Frieden und Wiederaufbau angefragt. Unentschieden sind zwar die politische Situation und der weitere Konfliktverlauf, klar hingegen ist der starke Bedarf an Maßnahmen der Zivilen Konfliktbearbeitung, wie der ZFD sie anbietet. Mit einer größeren Anzahl Fachkräfte und einer vermehrten engen Zusammenarbeit aller Vorhaben, werden sich auch die angestrebten Wirkungen noch besser erzielen lassen.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass mit der richtigen Herangehensweise, einer intensiven Vorbereitung aller Beteiligten und genug gutem Willen von allen Seiten die Erfahrungen im ZFD außerordentlich positiv sind. Festgefahrene Strukturen können in Frage gestellt oder aufgeweicht werden. Sowohl Mitarbeiter/innen der lokalen Partnerorganisation als auch die Fachkräfte können von der Zusammenarbeit immens profitieren. Dies dauert manchmal etwas, es braucht eine gewisse Gewöhnungsphase, Geduld und Empathie. Für beide Seiten mag diese höchst intensive Art der personellen Zusammenarbeit neu und ungewohnt sein, aber wenn genug Offenheit und Neugier vorhanden ist, klappt das in den meisten Fällen. Natürlich werden alle Beteiligten »vorgewarnt«: die Partner in langwierigen, ausführlichen und detaillierten Prüfungen, die Fachkräfte in Auswahlverfahren und umfassenden Vorbereitungen. Dennoch ist die Realität letztendlich immer wieder ganz anders. So bleibt es spannend. So wird aus einem Instrument Menschenwerk.

Carola Becker ist Politologin und seit 2005 beim ZFD tätig. Von 2005 bis 2008 unterstützte sie als Friedensfachkraft eine palästinensische Organisation in Bethlehem. Von 2008 bis 2010 arbeitete sie als ZFD-Koordinatorin beim Deutschen Entwicklungsdienst (DED) in Ramallah. Seit April 2010 ist Carola Becker ZFD-Koordinatorin in Nepal. Vor ihrer Zeit beim ZFD arbeitete sie für eine US-amerikanische Organisation in Projekten der Friedensförderung im Nahen Osten.

Opferidentitätenfalle in Konflikten

Georgien/Abchasien

Opferidentitätenfalle in Konflikten

von Anna Lübbe

Am Beispiel des seit zwei Jahrzehnten sich hinziehenden Sezessionskonflikts wird gezeigt, wie Großgruppen kollusiv in einen existentiellen, kaum mehr lösbaren Widerstreit geraten können, wenn im Geschichtsbild der beteiligten Gruppen wurzelnde Empfindlichkeiten getriggert werden. Es werden Ansätze diskutiert, um Konfliktsysteme, die sich in einer solchen psychopolitischen Dynamik festgefahren haben, wieder zu mobilisieren.

Abchasien liegt im Nordwesten Georgiens an der Schwarzmeerküste. Es ist eine von mehreren Regionen Georgiens, die durch multiethnische Zusammensetzung gekennzeichnet sind. Mit dem Zerfall der Sowjetunion wurden Abchasiens Sezessionsbestrebungen wach, und Georgien entwickelte einen starken Ethnonationalismus (»Georgien den Georgiern«). Die Abchasen setzten in einem Krieg 1992-1994 ihre De-facto-Unabhängigkeit durch. Die Auseinandersetzungen waren mit Tausenden von Toten und Hunderttausenden von Flüchtlingen verbunden. Vor allem Russland und die Vereinten Nationen bemühten sich um Befriedung, vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen Interessenlage aber mit unterschiedlichen Zielvorstellungen (Gruska 2005).

Durch die unblutige »Rosenrevolution« im Jahr 2003 kam in Georgien eine junge, nationalistische und westorientierte Führungselite unter dem Präsidenten Saakashvili an die Macht. Im August 2008 begann Saakashvili einen Krieg mit dem Ziel, Abchasien und das ebenfalls abtrünnige Südossetien zurück zu erobern. Der Krieg dauerte fünf Tage, führte zum Kriegseintritt Russlands auf der abchasischen und südossetischen Seite und endete mit einer harschen Niederlage Georgiens. Westliche Politiker und Medien kritisierten Russlands harte Reaktion scharf, militärisch griff der Westen aber nicht ein. Russland erkannte nun Abchasien und Südossetien als eigenständige Staaten an. Offizielle Bemühungen, unter Beteiligung der Konfliktparteien einschließlich Russlands und unter der Leitung von Vereinten Nationen, OSZE und Europäischer Union die Situation zu klären – die so genannten »Genfer Gespräche«, mittlerweile in der 15. Runde –, taten sich bereits schwer festzulegen, wer als Verhandlungspartner auftreten darf. Bereits in den Jahren vor der militärischen Eskalation vom August 2008 hatte es wiederholte Vermittlungsbemühungen unterschiedlicher Akteure gegeben (Gruska 2005; Kaufmann 2007). Die Positionen in der Statusfrage blieben aber unbeweglich.

Die Mediationsresistenz des Konflikts hat viele Gründe. In der Konfliktforschung werden zunehmend auch psychologische Faktoren für die Verhärtung von Großgruppenkonflikten herausgearbeitet (Volkan 2007; Kelman 2009; Kaufman 2001; Simon 2004; Wallach 2006; Lübbe 2009; 2010). Ein für ethnopolitisierte Großgruppenkonflikte typischer Blockademechanismus sei am georgisch-abchasischen Beispiel aufgezeigt.

Mediationsresistenz des Konflikts

Bei dem Konflikt zwischen Georgien und Abchasien handelt es sich um einen ethnopolitisierten Konflikt in dem Sinne, dass die Freund/Feind-Unterscheidung entlang ethnischer Grenzen verläuft. Die Konfliktforschung hat einige Faktoren ausgemacht, die eine Eskalation von Großgruppenkonflikten entlang ethnischer Gruppengrenzen zu begünstigen scheinen (Kaufman 2001; Volkan 2007). Dazu gehört eine schwache gesamtstaatliche Integrationskraft, typischerweise bei Staatenbildung auf tribalistischer Grundlage. Im Kaukasus kommt die ethnisierende Wirkung der sowjetischen Nationalitätenpolitik hinzu (Gruska 2005). Ein weiterer Faktor ist die Destabilisierung durch eine politische Übergangssituation, im Kaukasus durch den Zerfall der Sowjetunion. Hinzu kommt eine ethnopolitisierende Propaganda durch Großgruppenführer, die in unsicheren und konfliktträchtigen Zeiten ihre Stunde finden. Durch die Ethnopolitisierung bekommt der Konflikt einen existenziellen, die Identität der Parteien betreffenden Charakter. Wie tragen solche Identitätsaspekte im georgisch-abchasischen Fall zur Mediationsresistenz des Konflikts bei?

Bestandteil gelingender Mediation ist ein Übergang von den unvereinbaren Positionen der Konfliktparteien zu den dahinter liegenden Bedürfnissen. Der Übergang ist blockiert, wenn er sich den beteiligten Kollektiven in der ihre Politiken dominierenden Wahrnehmung als Selbstaufgabe darstellt, weil die Positionen existentiell besetzt sind. Im georgisch-abchasischen Konflikt betrifft das die Statusfrage. Die Positionen lauten auf georgischer Seite: Abchasien ist und bleibt ein Teil Georgiens, und auf abchasischer Seite: Abchasien gehört nicht und wird nie wieder zu Georgien gehören. Eine größere Vielfalt an Optionen mit dann möglicherweise auch konsensfähigen Lösungen könnte sich allenfalls auf der Ebene der Bedürfnisse eröffnen (Sicherheit, Autonomie, gerechte Verteilung von Lasten und Ressourcen, usw.). Ist der Übergang von den Positionen zu den Bedürfnissen blockiert, weil die Positionen existenziell unverzichtbar erscheinen, bleibt die Welt, in der die Parteien leben, eine, in der es nur Sieg oder Niederlage geben kann.

Um die Fixierung der Parteien auf ihre Positionen in der Statusfrage zu verstehen, muss man die mediationstypische Zukunftsorientierung verlassen und die historische Dimension eröffnen. Vamik Volkan (2004; 2007) hat herausgearbeitet, dass als kollektive Traumata bewertete historische Erfahrungen einer ethnischen Schicksalsgemeinschaft in aktuellen Konflikten reaktiviert werden und dann unbewusst die Wahrnehmung der gegenwärtigen Lage prägen. Wie also konstruieren die Konfliktparteien vor dem Hintergrund ihrer identitätsprägenden Geschichtsbilder ihre Realität?

Selbsterfüllend wirkende Opferidentitäten

Mit Gründung der Sowjetunion erhielt Abchasien im März 1921 zunächst gleichen Status wie Georgien als Sozialistische Sowjetrepublik. Der weitere Verlauf stellt sich aus abchasischer Sicht als eine Geschichte zunehmender Dominierung dar. 1931 wurde Abchasien zur autonomen Republik innerhalb von Georgien degradiert. Durch die stalinistische Deportations- und Zwangsassimiliationspolitik waren die Abchasen nahe daran, als Volk mit eigener Identität ausgelöscht zu werden. Es wiederholten sich damit Erfahrungen aus dem Zarenreich, als nach brutal unterdrückten Aufständen Tausende Abchasen ins Exil fliehen mussten, ein kollektives Trauma, das den Abchasen noch gut erinnerlich ist (Kaufman 2001). Die postsowjetische Übergangsphase und die damit einhergehende Propaganda waren geeignet, diese Opferanteile der abchasischen Identität zu reaktivieren. Konnte sich Abchasien mit dem Ende der Sowjetunion befreien und für unabhängig erklären, entwickelt sich seither – so die Opfererwartung – eine erneute Gefahr der ethnischen Auslöschung. Das Aufgeben der Position »Unabhängigkeit von Georgien« fällt in der die abchasische Politik dominierenden Wahrnehmung zusammen mit dem Ende einer eigenständigen abchasischen Identität.

Die im Konflikt wirksamen Erwartungen Georgiens resultieren aus identitätsprägenden Elementen des georgischen Geschichtsbildes. Viele Male in seiner Geschichte hat Georgien seine Unabhängigkeit ganz oder teilweise an umgebende Großmächte verloren: Osmanen, Perser, Russen und andere haben im Lauf der Jahrhunderte Georgien besetzt; immer wieder fand es sich im Grenzbereich konkurrierender Einflusssphären übermächtiger Nachbarn (Kaufman 2001). Nach dem Ende des russischen Zarenreiches erlebte Georgien eine kurze Phase der Unabhängigkeit; schon 1921 verlor es seine Freiheit – und das abchasische Gebiet – wieder an die Sowjetunion. Die zentrale georgische Angst richtet sich darauf, nie ein unabhängiger Staat in stabilen Grenzen sein zu dürfen – entweder unfrei oder fragmentiert, das scheint die Alternative zu sein. Auch die georgische Existenzangst wird durch die postsowjetische Entwicklung aktiviert: Kaum hat Georgien seine Eigenstaatlichkeit wiedergewonnen und möchte seine Freiheit für eine Annäherung an den Westen nutzen, unterstützt Russland den Separatismus georgischer Gebiete. Aus dieser Perspektive sind Abchasien, Südossetien und andere ethnische Minderheiten in Georgien russische Marionetten, die Georgien fragmentieren sollen, sobald es sich von der russischen Unterdrückung zu befreien wagt (Kaufman 2001; Gruska 2005). Für Georgien ist das Aufgeben seiner Position in der Statusfrage gleichbedeutend mit dem Zerfall des georgischen Staates.

Das Beispiel zeigt, wie sich identitätsprägende kollektive Traumata in aktuellen Konflikten eskalierend und blockierend auswirken können: Im ethnopolitisierten Konflikt werden im Geschichtsbild der ethnischen Schicksalsgemeinschaft wurzelnde, existentielle Ängste salient. Geschichts»bild« deshalb, weil die Narrative, mit denen ethnische Schicksalsgemeinschaften ihre Identität konstruieren, mit Geschichte selektiv und mythifizierend umgehen. Geschichte wird immer wieder neu und anders erzählt, je nachdem, wer sie wann in welchem Kontext und zu welchen Zwecken erzählt. Insofern sind kollektive Identitäten nichts ahistorisch Feststehendes, sondern zeitbedingt und wandelbar. In ethnopolitisierten Zeiten kommt es zu einem unbewussten »time collapse« (Volkan 2004): In der Wahrnehmung kann zwischen vergangenen, im Narrativ der Gruppe als Traumakapitel verbuchten Erfahrungen und dem gegenwärtigen Konflikt nicht mehr angemessen unterschieden werden. Durch diese Verknüpfung erscheinen bestimmte Positionen als existentiell unverzichtbar und ihre Aufgabe als Selbstaufgabe. Wenn sich in einem Konflikt zwei Parteien mit erstens unvereinbaren und zweitens derart existenziell belegten Positionen treffen, ist der Konflikt blockiert. Der mediationstypische Übergang zur ergebnisoffeneren Ebene der Bedürfnisse und des kooperativen Suchens nach kreativen Lösungen findet nicht statt. Die Beteiligten stecken in der Opferidentitätenfalle.

Internationale Aspekte

Wenn sich die bisherige Analyse auf das Verhältnis zwischen Abchasien und Georgien konzentriert hat, so sollen damit nicht die internationalen Faktoren des Konflikts ignoriert werden, insbesondere die russische und amerikanische Konkurrenz im Südkaukasus vor dem Hintergrund von hegemonialen und Energieinteressen (Kaufmann 2007). Die konkurrierenden Großmächte haben zur Verfestigung der kompromisslosen Haltung der unmittelbar betroffenen Parteien beigetragen, indem ihre Unterstützung auf beiden Seiten Hoffnungen auf eine Durchsetzung der jeweiligen Maximalforderungen weckten. Und die zwischen Ost und West gespaltene Interessenlage torpediert auch die internationalen Vermittlungsbemühungen (Gruska 2005; Kaufmann 2007). Es erscheint aber nicht hilfreich, den Konflikt als Stellvertreterkrieg anzusehen. Die Wahrnehmung, Spielball konkurrierender Großmächte zu sein, ist selbst eine Opferperspektive, die eigene Verantwortungsanteile und Handlungsmöglichkeiten ausblendet. Die Anlehnung an Großmächte erspart die eigenverantwortliche Verständigung mit dem Konfliktpartner, macht erneut abhängig und lässt die Ermächtigungspotentiale regionaler Kooperationen, also auch mit Armenien und Aserbaidschan, ungenutzt.

Ansätze zur Mobilisierung der Blockade

Vor der Diskussion von Ansätzen für eine Mobilisierung der beschriebenen Blockade sei klargestellt, dass die Opferidentitätenfalle hier nicht als die alleinige Ursache für den Konflikt oder für seine Hartnäckigkeit angesehen wird. Solche verfestigten Konfliktsysteme sind durch zirkuläre Kausalitäten mit zahlreichen, sich gegenseitig stabilisierenden Faktoren und Subsystemen gekennzeichnet. Will man den komplexen Interdependenzen gerecht werden, muss auf mehreren Ebenen angesetzt und geduldig der Boden für stabile Veränderungen bereitet werden. Versuche, an dem zu arbeiten, was in konflikthaften Großgruppenbeziehungen unbewusst wirksam ist, finden in der Regel in Dialogprojekten statt (Ropers 2004).

grassroot-Dialogprojekte

Als ein Beispiel für ein Dialogprojekt, das explizit kollektiv-traumatische Vergangenheit bearbeitet, seien Dan Bar Ons »To Reflect and Trust«-Gruppen genannt. Bar On brachte Nachkommen von Holocaust-Opfern und Nachkommen von Holocaust-Tätern in »story telling«-Projekten zusammen. Er fand heraus, dass sie alle unter der unverarbeiteten Vergangenheit litten. Um die Verbindung zu heutigen politischen Folgen herzustellen, integrierte er später auch palästinensische Jugendliche mit in diese Dialogprojekte (Bar On 2008). Dialogprojekte werden häufig mit jungen Menschen veranstaltet, hauptsächlich wohl deshalb, weil sie dafür leichter erreichbar sind. Oft sind das dann, anders als in den Workshops von Bar On, einfach Begegnungsprojekte, in denen die Erfahrung gemacht werden soll, dass die »feindlichen Anderen« so anders und so feindlich nicht sind.

Vamik Volkan hat geltend gemacht, dass in solchen Begegnungsprojekten die konfliktrelevanten Aspekte der jeweiligen Gruppenidentitäten, an denen das einzelne Gruppenmitglied teil hat, nicht transformiert würden, und zwar auch nicht in der einzelnen Person. Die Gruppenidentität werde quasi an der Tür – des Ferienlagers zum Beispiel – abgelegt wie ein Mantel. Bei den gemeinsamen Aktivitäten lassen sich dann leicht Freundschaften schließen, und zuhause legt man den Mantel und damit den das andere Kollektiv betreffenden Hass rasch wieder an. In der Konsequenz hat Volkan mit Dialogprojekten gearbeitet, in denen die zuvor von einem multidisziplinären Team analysierten, konfliktrelevanten Aspekte der Gruppenidentitäten absichtlich getriggert wurden – etwa indem man sich am Schauplatz eines einschlägigen kollektiven Traumas traf – und dann bearbeitet werden konnten (Volkan 2004).

Diese Überlegungen sprechen bereits das Transferproblem an. Dabei geht es über die Frage hinaus, wie in den an Dialogprojekten beteiligten Personen stabile Einstellungsänderungen bewirkt werden können, um die Frage, wie man eine gesellschaftliche Breitenwirkung erreicht. Ein Transfer-Ansatz besteht darin, in den Dialogprojekten die Teilnehmer selbst gemeinsam ein Transferprojekt erarbeiten zu lassen (Ropers 2004). Das kann von einer an die Medien beider Kollektive gerichteten Presseerklärung über eine Vorstellung des im Projekt Erfahrenen zuhause in Bildungseinrichtungen bis hin zur Gründung einer Nichtregierungsorganisation gehen. Beim Transfer kommt es also auf die Handlungsmöglichkeiten der Dialogprojekt-Beteiligten in ihren jeweiligen Kollektiven an. Ein nahe liegender Ansatz für die Erzielung einer großgruppenkonfliktrelevanten Breitenwirkung ist deshalb die Arbeit mit möglichst einschlägig einflussreichen Teilnehmern.

Makropolitische Ansätze

Die direktesten Handlungsmöglichkeiten haben regelmäßig die politischen Führungseliten. Diese sind allerdings für jegliche Art von Arbeit, die nicht strategisch, sondern dialogisch orientiert ist, schwierig zu erreichen. „Strategisch“ meint auf die Durchsetzung von vornherein festliegender und auch fest bleibender Agenden ausgerichtet, während „dialogisch“ eine suchende Haltung bezeichnet, die offen ist für eine mit Einstellungsänderungen einhergehende Veränderung von Agenden im Lauf der Auseinandersetzung. Gerade die psychopolitische Neulanderoberung braucht Offenheit für die Begleiterscheinungen von Selbst-, Fremd- und Weltbildveränderungen. In den Berichten aus Dan Bar Ons Workshops (Bar On 2008) ist beeindruckend, wie die teilnehmende Jugendliche in Phasen von Verleugnung und Verwirrung gerieten, bevor sie nach und nach nur dieses akzeptieren konnten: dass auch die Gegenseite wirklich leidet.

Ein Ansatz auf der Makro-Ebene, der in Reaktion auf diese Probleme entwickelt und auch praktiziert wird, ist die informelle Diplomatie (Fisher 2005; Kelman 2009). Das sind Beratungs- oder Dialogprojekte mit Teilnehmern aus Nichtregierungsorganisationen oder Wissenschaft sowie Personen aus dem Umfeld politischer Entscheidungsträger. Diese Personen, oft selbst ehemalige Funktionsträger, werden darin unterstützt, gewonnene Einsichten an geeigneter Stelle in die Makropolitik einfließen zu lassen. Gegenüber offiziellen diplomatischen Begegnungen ist in informellen Workshops eine Beziehungsarbeit, die den grundlegenden Ängsten und Bedürfnissen der Konfliktparteien gerecht zu werden versucht, eher möglich. Ansätze dazu gibt es bereits, und gab es auch im Kaukasus, genannt sei für den abchasischen Fall der Stadtschlaining-Prozess (Wolleh 2006). Für dergleichen muss sich im Kaukasus nach der Eskalation vom August 2008 erst wieder ein Gelegenheitsfenster öffnen.

Gerade Krisenzeiten bringen in Kollektiven oft Persönlichkeiten an die Spitze, die für dialogisches Arbeiten besonders unzugänglich sind, während gleichzeitig große Teile der Bevölkerung in zunehmendem Bewusstsein der hohen Kosten einer fortdauernden Konfrontation durchaus verständigungsorientiert sein können. Ich habe Gespräche zur Kaukasuskrise begleitet, die von der INGO-Konferenz des Europarats – der zivilgesellschaftlichen Säule des Europarats – organisiert wurden. Die Teilnehmer stammten hauptsächlich aus Nichtregierungsorganisationen und Think Tanks der vom Konflikt betroffenen Regionen, einschließlich Russlands. Es war beeindruckend zu erleben, wie offen und konstruktiv die Gespräche verliefen. Die Teilnehmer, und besonders die Teilnehmerinnen, zeigten sich mit ihrer Betroffenheit und ihren Bedürfnissen, und der enorme Schmerz, den das Trauma des Krieges hinterlassen hat, stand bei zahlreichen Äußerungen aller Seiten deutlich im Raum. Dadurch wurde jenseits aller Freund/Feind-Dichotomien ein Boden des gemeinsamen Menschseins spürbar.

Im weiteren Verlauf der Gespräche wurde deutlich, dass auf dieser zivilgesellschaftlichen Ebene eine hohe Kooperationsbereitschaft und auch praktischer Ideenreichtum herrschen, gleichzeitig aber Frustration wegen der Aussichtslosigkeit, damit die Führungsebenen zu erreichen, und zwar besonders die autoritäre Führungselite Georgiens. Die georgische Führungsebene ist, auch zur innenpolitischen Stabilisierung ihrer eigenen Position, ganz auf die angeblichen Notwendigkeiten der internationalen Politik und die Statusfrage konzentriert. Den Bedürfnissen der Bevölkerung und der drängenden Frage, wie Georgien zu einem Land werden kann, in dem sich ethnische Minderheiten aufgehoben statt bedroht fühlen, wird nicht ausreichend Aufmerksamkeit geschenkt. Auch dieses prekäre Verhältnis von Führung und Zivilgesellschaft (Kaufmann 2007) ist ein den Konflikt stabilisierender Faktor.

Unterstützung zivilgesellschaftlicher MultiplikatorInnen

Solange also die Makroebene für dialogische Ansätze nicht erreichbar ist, bietet sich weiter die Arbeit mit zivilgesellschaftlichen MultiplikatorInnen an: Medienleute, Menschen aus Bildungswesen, Kunst und Wissenschaft, religiöse Autoritäten, Angehörige von Nichtregierungsorganisationen, Parteien, Gewerkschaften, Stiftungen etc. In Gebieten mit chronifizierten Großgruppenkonflikten, die durch schwache oder autoritäre Staatlichkeit, Ethnisierung, Gewaltökonomien und multiple soziale Probleme gekennzeichnet sind, liegt viel Transformationspotential in zivilgesellschaftlichen Kräften, die in der Gesellschaft meinungs- und einstellungsbildend wirken können. Zivilgesellschaftliche Institutionen haben einen dichteren Kontakt zur Bevölkerung, ein oft auch kooperatives Verhältnis zu ähnlichen Initiativen auf Seiten der anderen Konfliktpartei und nicht zuletzt einen höheren Anteil an Frauen. Damit sind sie eine innersystemische Ressource, die zu unterstützen sich lohnt (Kaufmann 2007). Marco de Carvalho und Jörgen Klußmann (2010) haben in Afghanistan großgruppenkonfliktbezogene Klärungsanliegen dieser Zielgruppe systemisch bearbeitet, also zum Beispiel das Anliegen eines lokalen Mediators zur Frage „Wie können Paschtunen und Tadschiken wieder friedlich im Dorf miteinander leben?“.

Es könnte nützlich sein, systemische Beratungsansätze in den Methodenkoffer der psychopolitischen Friedensarbeit zu integrieren, auf welchen Ebenen der Gesellschaft auch immer (Wils et al. 2006; Lübbe 2007; 2010). Die blockierte Situation im Kaukasus beruht, wie hier zu zeigen versucht wurde, unter anderem darauf, dass die Akteure den existenziellen Kampf antizipieren und ihn in der Folge kollusiv konstruieren. Es fehlt ein Bild davon, dass Staaten Minderheiten in deren Eigenständigkeit unterstützen können, ohne zu zerfallen. Es fehlt an Konzepten, wie man sich von Großmächten emanzipiert, ohne sie sich zu Feinden zu machen, und wie man durch regionale Kooperation an Eigenständigkeit gewinnt, statt sich von globalen Interessengegensätzen spalten zu lassen. Indem die Akteure ihr Handeln an der Welt ausrichten, wie sie sie erleben, rekonstruieren sie diese permanent. Solche fatalen Dynamiken können ein System trotz erheblichen Leidensdrucks resistent gegen Veränderungsbemühungen machen.

Hier braucht es Methoden, die diese Dynamiken bewusst machen und wieder positive Optionen in das System einführen, ressourcenvollere Beziehungen und Systemzustände. Systemische Beratung und insbesondere analoge Simulationsverfahren (Lübbe 2010; de Carvalho/Klußmann/Rahman 2010) sind eine Möglichkeit, solche ressourcenvolleren Konzepte zu entwickeln. Wesentlich ist dabei, dass die Lösungen mit den Betroffenen aus dem simulierten System selbst heraus entwickelt werden. Derart innersystemisch angeregte Veränderungsprozesse halte ich für chancenreicher als Versuche, ein System nach Maßgabe von auf externen Analysen beruhenden, mitgebrachten Konzepten instruktiv verändern zu wollen (Lübbe 2007). Möglicherweise können sie im System Veränderungen in Richtung ressourcenvollerer Systemzustände anregen, die dann nicht mehr an den Grenzen der bisherigen Realitätskonstruktionen scheitern müssen.

Fazit

Eine Bearbeitung ethnopolitisierter Großgruppenkonflikte erfordert nach allem die Integration psychopolitischer Sicht- und Herangehensweisen in den Friedensprozess. Opferidentitäten wirken selbsterfüllend; sie tendieren dazu, gegenwärtige Beziehungen der Tragik des Wiederholungszwangs zu unterwerfen. In dem Maße, wie sie zurücktreten, könnten sich wieder Optionen für ressourcenvollere Koexistenzen im Kaukasus eröffnen.

Literatur

Bar On, Dan (2008): The »Others«“ Within Us. Constructing Jewish-Israeli Identity. Cambridge University Press.

de Carvalho, Marco/Klußmann, Jörgen/Rahman, Bahram (2010): Konfliktbearbeitung in Afghanistan. Die Systemische Konflikttransformation im praktischen Einsatz bei einem Großgruppenkonflikt. Friedrich-Ebert-Stiftung.

Fisher, Ronald (Hrsg.) (2005): Paving the Way. Contributions of Interactive Conflict Resolution to Peacemaking. Lexington Books.

Gruska, Ulrike (2005): Separatismus in Georgien. Möglichkeiten und Grenzen friedlicher Konfliktregelung am Beispiel Abchasien. Universität Hamburg.

Kaufman, Stuart (2001): Modern Hatreds. The Symbolic Politics of Ethnic War. Cornell University Press.

Kaufmann, Walter (2007): Die Rolle von Nichtregierungsorganisationen bei der Bearbeitung von Konflikten im Südkaukasus. In: Klein, Ansgar/Roth, Silke (Hrsg.): NGOs im Spannungsfeld von Krisenprävention und Sicherheitspolitik. VS Verlag, S.299-312.

Kelman, Herbert (2009): Interactive Conflict Resolution by the Scholar-Practitioner. Zeitschrift für Konfliktmanagement, S.. 74-78.

Lübbe, Anna (2007): Ethnopolitische Konflikte. Das Potenzial der Systemaufstellungsmethode. Zeitschrift für Konfliktmanagement, S.12-16.

Lübbe, Anna (2009): Us versus Them. Splitting Dynamics and Turning Points in Ethnopolitical Conflict. Journal of Peace, Conflict and Development 13.

Lübbe, Anna (2010): Systemic Constellations and their Potential in Peace Work. In: Fitz-Gibbon, Andrew (Hrsg.): Positive Peace. Reflections on Peace, Education, Nonviolence and Social Change. Rodopi vibs, S.49-57.

Ropers, Norbert (2004): From Resolution to Transformation. The Role of Dialogue Projects. In: Austin, Alex et al. (Hrsg.): Transforming Ethnopolitical Conflict. The Berghof Handbook, Berghof Research Center for Constructive Conflict Management, S.225-269.

Simon, Fritz (2004): Patterns of War. Systemic Aspects of Deadly Conflicts. Carl Auer.

Volkan, Vamik (2004): Das Baum-Modell. In: Geißler, Peter (Hrsg.): Mediation – Theorie und Praxis. Neue Beiträge zur Konfliktregelung. Psychosozial Verlag, S.69-96.

Volkan, Vamik (2007): Killing in the Name of Identity. A Study of Bloody Conflicts. Pitchstone Publishing.

Wallach, Tracy (2006): Conflict Transformation: A Group Relations Perspective. In: Fitzduff, Mari/Stout, Chris E. (Hrsg.): The Psychology of Resolving Global Conflicts. From War to Peace. Praeger Publishers, S.285-305.

Wils, Oliver et al. (2006): The Systemic Approach to Conflict Transformation. Concepts and Fields of Application. Berghof Foundation for Peace Support.

Wolleh, Oliver (2006): A Difficult Encounter – The Informal Georgian-Abchazian Dialogue Process. Berghof Report No. 12, Berghof Research Center for Constructive Conflict Management.

Anna Lübbe ist Juristin, Mediatorin und systemische Beraterin. Als Professorin an der Hochschule Fulda lehrt und forscht sie mit den Schwerpunkten Öffentliches Recht und Konfliktforschung. Sie supervidiert MediatorInnen und führt den systemischen Supervisionsansatz auch in die politische Friedensarbeit ein. Der Beitrag geht auf einen Vortrag zurück, den die Autorin 2010 am Konfliktforschungszentrum der Universität Marburg gehalten hat.

Ein neuer Staat

Ein neuer Staat

von Jürgen Nieth

Vier Millionen Südsudanesen waren aufgerufen, in der zweiten Januarwoche in einem Referendum für oder gegen die Unabhängigkeit von der Islamischen Republik Sudan zu stimmen. Das Endergebnis wird zwar erst Mitte Februar erwartet, dennoch teilen bereits während des Referendums die deutschen Presseorgane die Einschätzung von Volker Perthes, Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik, in der Süddeutschen Zeitung (SZ 07.01.11): „Mit dem Referendum … wird der Südsudan die Unabhängigkeit wählen.

Zur Vorgeschichte

Das Referendum „wurde 2005 mit einem Friedensvertrag vereinbart, der den längsten (21 Jahre) Bürgerkrieg Afrikas beendete. Er kostete über zwei Millionen Menschen das Leben und sorgte für vier Millionen Vertriebene… Um einen neuen Staat bilden zu können, müssen 51 Prozent für die Unabhängigkeit stimmen bei einer Beteiligung von mindestens 60 Prozent“ der registrierten Wähler (Freitag, 9.12.10). Die Quote wurde nach Angaben des Sudan People’s Liberation Movement (SPLM) bereits am dritten Tag erreicht (taz 13.01.11).

In den letzten fünf Jahren regierte ein Kabinett der nationalen Einheit den Sudan, in dem die Regierungspartei des Nordens, der National Congress (NCP), und das SPLM aus dem Süden zusammenarbeiteten. Das SPLM verwaltete den Südsudan weitgehend selbstständig, die islamische Gesetzgebung des Nordens war im Süden ausgesetzt, und UN-Blauhelme (UNMIS) überwachten die Vereinbarungen des Friedensvertrages. Trotzdem kam es immer wieder zu Spannungen. Die Süddeutsche Zeitung verwies darauf, dass „der Norden und der Süden… all die Jahre neues Kriegsgerät eingekauft (haben), um sich zu wappnen für den Tag X“, und es wurde in Frage gestellt „ob das Regime von General Omar al-Baschir in Khartum diesen Schritt [das Referendum] verkraften wird“ (SZ 26.11.10).

Versprechen…

Sechs Wochen später heißt es in derselben Zeitung: „Staatspräsident Omar al-Baschir und seine Regierung wiederholen jeden Tag, dass sie das Ergebnis des Referendums respektieren werden. Ja man werde der erste Staat sein, der einen Botschafter nach Juba, die Hauptstadt des zukünftigen südsudanesischen Staates, senden werde.“ Und die taz (05.01.11) zitiert den Präsidenten: „Selbst wenn die Ergebnisse schmerzhaft sein werden, werden wir ihnen mit Vergebung, Geduld, Akzeptanz sowie mit offenem Herzen und gutem Willen begegnen.“ Doch die Zweifel bleiben. Bettina Gaus in der taz (08.01.11): „Präsident Omar Hassan al-Baschir schreckt vor Gewalt nicht zurück. Wegen Völkermord in der Region Darfur besteht gegen ihn ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs.“.

…und viele offene Fragen

Es sind „noch nicht alle offenen Grenzfragen geklärt, und es ist kaum zu erwarten, dass dies in der sechsmonatigen Übergangsphase nach dem Referendum geschehen wird. Der Süden beherbergt einen Teil der Darfur Rebellen, der Norden einige Oppositionsführer aus dem Süden“ (SZ 07.01.11).

Nach wie vor ungeklärt ist die Zukunft von Abyei, einer Region an der Grenze zwischen Nord- und Südsudan. „Ob das ölreiche Gebiet zum Norden oder Süden gehört, hätte ebenfalls am 9. Januar per Referendum geklärt werden sollen.“ (taz 04.01.11) Aber dieses Referendum findet nicht statt, da sich der Norden und der Süden nicht über die Abstimmungsberechtigten einigen konnten – nur die dort sesshafte Bevölkerung (so der Süden) oder auch das nordsudanesische Nomadenvolk der Misserija, das jedes Jahr mehrere Monate sein Vieh in dieser Region weiden lässt. Für Thomas Scheen (FAZ 10.01.11) ist der zukünftige Grenzverlauf in dieser Region „nach wie vor ungeklärt, weil beide Seiten nicht nur die Ölfelder von Heglig beanspruchen, sondern auch Weidegründe.“ Tatsächlich ist es in dieser Region dann auch zum Auftakt des Referendums zu bewaffneten Auseinandersetzungen gekommen. Die Angaben schwanken zwischen 30 und 60 Opfern. (SZ 12.01.11).

Konflikt- oder Schmierstoff Öl?

„Südsudan mit seinen 8,5 Millionen Einwohnern wird nach der Unabhängigkeit eine der ärmsten Nationen der Welt sein; ein Land, das… größer als Frankreich ist und auf gewaltigen Ölreserven sitzt, aber über keine Infrastruktur verfügt… (FAZ 10.01.11). Ölreserven, die der Norden nicht hat. Dieser besitzt aber „die Raffinerien und die nötige Pipeline, um den teuren Stoff nach Port Sudan ans Rote Meer zu transportieren und von dort aus in die Welt zu verschiffen“ (SZ 26.11.10). Für die SZ heißt das: „Beide Seiten sind durch die Ausbeutung der Ressourcen gleichsam aneinander gekettet. Der eine kann ohne den anderen kein Geld verdienen.“ Sie zitiert Wirtschaftsexperten, nach denen im günstigsten Fall damit „ausgerechnet das Öl den Rückfall in einen großen Krieg“ blockieren könnte.

Blauhelme zur Grenzsicherung

Andere sind nicht ganz so optimistisch. Der Stern (13.01.11) berichtet, etliche Prominente hätten „für einen Satelliten gespendet, der Überwachungsbilder von der Demarkationslinie zwischen den verfeindeten Landesteilen sendet und so einen neuen Ausbruch des jahrzehntelangen Bürgerkriegs verhindern soll.“ Volker Perthes: „Zwischen Nord und Süd wird es eine neue Blauhelmmission der Vereinten Nationen geben müssen, um Zwischenfälle an der Grenze zu verhindern.“ (SZ 07.01.11) Doch wie groß ist die Einsatzbereitschaft der UN? Der Kommandeur der UN-Truppen, Alain Le Roy, hat bereits den Vorschlag von Salva Kiir, dem aller Voraussicht nach ersten Präsidenten des Südsudan, abgelehnt, „einen 16 km breiten Puffer entlang der Demarkationslinie“ einzurichten. „Man werde zwar Soldaten nach Abyei verlegen, aber zu mehr sei man mit 10.000 Mann nicht fähig.“ (Freitag, 09.12.10)

Fazit

Der Völkerrechtler Norman Paech schreibt im Dezember nach einer Reise in den Sudan: „Sollte trotz aller warnenden Vorzeichen das Referendum planmäßig und friedlich verlaufen, könnten alle von den Sudanesen lernen, wie man auf demokratischem Weg einen neuen Staat zustande bringt.“ (Freitag, 09.12.10)

Während diese Zeilen geschrieben werden, läuft der letzte Tag des Referendums. Im Großen und Ganzen kann man von einem friedlichen Verlauf sprechen, den 4.000 ausländische Beobachter aufmerksam begleitet haben. Bleibt zu hoffen, dass das Referendum allseitig akzeptiert wird und dass beide Länder internationale Unterstützung erhalten, die sie stabilisiert und von militärischen Abenteuern abhält.

Das Jein zum Krieg

Das Jein zum Krieg

von Jürgen Nieth

Bei der UN-Resolution zu Libyen hat sich die Bundesregierung im UN-Sicherheitsrat der Stimme enthalten. Dafür hagelte es breiteste Medienschelte: „Deutschlands Ruf in Europa ist beschädigt“ (SPD-Außenpolitiker Hans-Ulrich Klose in der taz, 23.03.11). „Ich schäme mich für die Haltung meines Landes“ (Klaus Naumann, ehem. Generalinspekteur der Bundeswehr in der Süddeutschen Zeitung, 21.03.11). „Europäischer Kollateralschaden“ titelt die Neue Zürcher Zeitung (NZZ, 22.03.11). In der gleichen Zeitung schreibt Ulrich Speck einen Tag später: „Dass Deutschland im UN-Sicherheitsrat nicht für den Libyen-Einsatz gestimmt hat, konsterniert das außenpolitische Milieu in Deutschland. Kommentatoren sprechen von »historischer Fehlentscheidung«, »national-pazifistischer Borniertheit«, »feigem Opportunismus«.“ Im Mittelpunkt zahlreicher Artikel und Kommentare stehen außen- bzw. machtpolitische Gesichtspunkte. So auch bei dem ehemaligen grünen Außenminister Joschka Fischer. Für ihn ist die

Deutsche Außenpolitik eine Farce

„Die deutsche Politik hat […] ihre Glaubwürdigkeit eingebüßt, der Anspruch der Bundesrepublik auf einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat wurde soeben in die Tonne getreten. […] Mir bleibt da nur die Scham für das Versagen unserer Regierung und – leider! – auch jener roten und grünen Oppositionsführer, die diesem skandalösen Fehler anfänglich auch noch Beifall spendeten.“ (SZ, 22.03.11) Fischer zieht die Parallele zu den Jugoslawienkriegen. „Wie der Balkan gehört die südliche Gegenküste des Mittelmeeres zur unmittelbaren Sicherheitszone der EU. Es ist einfach nur naiv zu meinen, der bevölkerungsreichste und wirtschaftlich stärkste Staat der EU könne und dürfe sich da heraushalten. Wir reden bei dieser Region über unmittelbare europäische und deutsche Sicherheitsinteressen.“

Andere Kritiker der Bundesregierung, unter ihnen nicht wenige mit linker Vergangenheit, betonen die moralische Pflicht zum Eingreifen und propagieren wieder einmal den Gerechten Krieg.

Gerechte Kriege?

Allen voran Daniel Cohn-Bendit, Co-Vorsitzender der Grünen im EU-Parlament: „Ja, wir sind Partei. Waffenembargo für Gaddafi, Waffen für die Aufständischen.“ (taz, 12.03.11) Und für den Gründer der israelischen Friedensbewegung »Gusch Schalom«, Uri Avnery, ist es „egal, wer Gaddafis mörderischem Krieg gegen sein eigenes Volk ein Ende setzt: UN, NATO oder die USA alleine – wer auch immer, der hat meinen Segen“ (taz, 29.03.11).

Dazu Stefan Hebel in der FR (28.03.11): „Man könnte diesen Vorgang feiern als die endgültige gesellschaftliche Versöhnung zwischen dem Imperium USA und seinen einst schärfsten Kritikern. Doch diese Versöhnung funktioniert nur um einen schrecklich hohen Preis: Die wichtigsten Köpfe der ehemaligen Linken opfern ihre Fähigkeit und Pflicht zum kritischen Denken auf dem Altar eines falschen Friedens, besiegelt ausgerechnet durch einen Krieg.“

Der Mitherausgeber der ZEIT, Josef Joffe, macht auf einen anderen Aspekt aufmerksam: „Überdies, auch wenn die Einsicht schmerzt, wissen wir nicht so genau, wer die »Guten« und die »Bösen« sind. Der Aufstand der Gerechten sieht auf den zweiten Blick aus wie ein klassischer Bürgerkrieg: die von Gaddafi entmachteten Stämme im Osten gegen die machthabenden Stämme im Westen.“ (DIE ZEIT, 24.03.11) Tatsächlich sitzen in der von Frankreich so schnell anerkannten Rebellenregierung in Bengasi ein halbes Dutzend ehemaliger Vertrauter Gaddafis, darunter der ehemalige Innenminister. Chef der provisorischen Regierung ist M. Dschibril, der unter Gaddafi als Leiter des Nationalen Ausschusses für Wirtschaftsförderung arbeitete und laut FAZ (25.03.11) als Neoliberaler gilt, der in seiner Funktion „amerikanischen und britischen Firmen in Libyen Fuß zu fassen“ half.

Flugverbotszone

Die UN-Resolution 1973 geht über die vorher propagierte Flugverbotszone hinaus und sieht auch Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung vor. So darf die Luftwaffe Gaddafis bereits am Boden zerstört werden, es dürfen Truppenbewegungen, Gefechtsfahrzeuge und Stellungen von Gaddafis Truppen angegriffen werden. Ausgeschlossen ist aber der Einsatz „einer Besatzungstruppe in jeder Form und in jedem Teil der Republik Libyen“.

Am 26. März hielt der Bundeswehr-Vizeadmiral a.D. Ulrich Weiser das militärische Ziel der UN-Resolution für erreicht. „Gaddafis Luftwaffe existiert nicht mehr und könnte auch nicht mehr eingesetzt werden.“ (FR 26.03.11) Für die NATO gehe es „nur noch um Aufräumarbeiten“.

In der Praxis scheint das anders auszusehen.

NATO-Staaten als Kriegspartei

Am 28.03.11 berichtet M. Thörner in der taz: „»Luftunterstützung kommt gleich«, kündigt ein grauhaariger Kommandeur […] an.“ Auf die Frage „Gibt es eine direkte Verbindung?“ lächelt er: „»Wir sagen dem provisorischen Regierungsrat Bescheid, und die rufen die NATO«. Jets sind nicht zu sehen, doch nach einer Weile verrät sie ein schwaches, dumpfes Rollen in der Luft.“

Nach einem Bericht von Al Jazeera (taz, 04.03.11) „sollen amerikanische und ägyptische Spezialeinheiten libysche Rebellen […] trainieren.“ Diese hätten „neueste Katjuscha-Raketen aus Ägypten erhalten, […] wofür sie ausländische Ausbilder benötigten“.

Am 01.04. berichtete die FR, dass US-Medien zufolge „der US-Geheimdienst […] in Libyen aktiv in den Bürgerkrieg verwickelt [ist]. Neben den bereits in Tripolis aktiven US-Agenten wurden in den vergangenen Wochen zusätzliche Mitarbeiter […] eingeflogen.“ Auch „der neue Oberbefehlshaber der Rebellenarmee, Oberst Khalifa Haftar, (soll) sehr gute Beziehungen zur CIA unterhalten. Erst vor kurzem ist er aus dem Exil in den USA in die Oppositionshauptstadt Bengasi zurückgekehrt.“ Weiter heißt es in der FR: Nach einem Bericht des wissenschaftlichen Dienstes des US-Parlaments (CRS) sollen Kämpfer der Untergrundbewegung »Libysche Nationale Armee« (LNA) und „ihr Anführer Haftar […] in der Vergangenheit von den USA finanziert und ausgebildet worden sein.“

Krieg ist Krieg

Krieg ist Krieg“, schreibt Joffe in der ZEIT (24.03.11), „selbst mit den edelsten Motiven. Eigentlich hätten wir wissen müssen, dass die Demokratie oder auch nur eine tolerable Ordnung sich nicht herbeibomben lassen; siehe Irak I, Afghanistan, Irak II, davor Somalia und Libanon.“

Jürgen Nieth

Muss Frieden gerecht sein?

Muss Frieden gerecht sein?

Wege zur Integration von Menschenrechtsarbeit und Friedensförderung

von Beatrix Austin

Auf die Frage, ob in Bürgerkriegen oder Nachkriegsgesellschaften Friede oder Gerechtigkeit Vorrang habe, gibt es keine einfachen Antworten. Einerseits scheint es unaufschiebbar, Gewalt zu beenden – manchmal um jeden Preis. Andererseits sollen weder Gewalttäter ungeschoren davon kommen noch ungerechte Zustände auf lange Sicht eingefroren werden. Den Einen kann nur ein gerechter Friede ein dauerhafter Friede sein (Lederach, 1999). Andere argumentieren, dass die Eindämmung von Gewalt manchmal auch auf absolut gerechte Lösungen verzichten muss, z.B. auf Strafverfolgung durch Erlass von Amnestie (Anonymous, 1996). Gibt es also Frieden nur auf Kosten von Gerechtigkeit, oder ist Frieden ohne Gerechtigkeit nicht denkbar?

In der Debatte um gerechte Friedensordnungen hat in den vergangenen Jahrzehnten Menschenrechsarbeit stark an Bedeutung gewonnen. Die Orientierung an menschlichen Grundbedürfnissen (human/basic needs) und an menschlicher Sicherheit rückt politische und zivile, aber auch soziale, ökonomische und kulturelle Rechte von Bürgerinnen wie Minderheiten in den Mittelpunkt von Konfliktschlichtung und Friedensförderung in Nachkriegsgesellschaften. Zahlreiche AktivistInnen und Organisationen rund um den Globus arbeiten an Kampagnen zur Wahrung und Durchsetzung dieser Rechte für alle.

Menschenrechtsarbeit und Friedensförderung sind so über die letzten Jahrzehnte hinweg Teil einer einflussreichen internationalen Agenda geworden. Diese postuliert Gerechtigkeit als Achtung und Umsetzung der Menschenrechte, kodifiziert in Dokumenten, die von der 1948 verabschiedeten Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen bis hin zu deren zahlreichen Ergänzungen und Protokollen reichen. Die Einrichtung der Internationalen Strafgerichtshöfe für das ehemalige Jugoslawien und Ruanda, der 2002 eingerichtete ständige Internationale Strafgerichtshof in Den Haag und die globale Menschenrechtsbewegung sind unübersehbare Zeichen dieser Entwicklung.

Ebenfalls Teil der internationalen Agenda bilden zunehmend Friedensinitiativen, die idealerweise den konstruktiven Umgang mit Konflikt und die grundlegende Veränderung ungerechter Strukturen und gewaltfördernder Institutionen verfolgen. Weit häufiger noch treten internationale und lokale Friedensstifter in Verhandlungen von Friedensabkommen sowie bei der Implementierung von Maßnahmen zur Entwicklung, zur politischen und gesellschaftlichen Reform, zur Reintegration von KämpferInnen und bei Versöhnungsinitiativen auf. Programme zur Konsolidierung von Nachkriegsgesellschaften sind mittlerweile Teil des Standardrepertoires von internationalen (Vereinte Nationen, Europäische Union, Weltbank) und nationalen Akteuren.

Beide Bereiche sind geprägt von ihren historischen Entwicklungslinien und treten nicht selten zueinander in Konkurrenz. In der Auseinandersetzung miteinander und in der Arbeit vor Ort treten sowohl Spannungsfelder als auch Gemeinsamkeiten deutlich zu Tage.

Spannungsfelder

Der Menschenrechtsdiskurs ist gekennzeichnet von zahlreichen Debatten, die die Reichweite und Gewichtung unterschiedlicher Rechtsverständnisse zum Thema haben. Während die einen in den Menschenrechten der Charta der Vereinten Nationen einen universalen Standard sehen, drücken diese für andere einen Wertekodex aus, der klare westlich-aufklärerische Wurzeln hat und sich nicht ohne weiteres auf andere kulturelle Kontexte übertragen lässt. Allumfassende Rechtsansprüche einerseits stehen einer Betonung notwendiger Kompromisse und der Konzentration auf zentrale Rechte gegenüber.

Diskussionen entspinnen sich auch um die Frage, wer für die Umsetzung von Menschenrechten verantwortlich zeichnet: Ist dies allein der Staat (der ursprüngliche Adressat der Menschenrechtsbewegung), oder müssen sowohl andere einflussreiche Akteure (zum Beispiel internationale Großkonzerne) als auch jeder einzelne Bürger dafür eintreten und haftbar gemacht werden?

Historisch ordnet sich die Debatte um die Menschenrechte auch in den Kalten Krieg ein: Während die westlichen Mächte zivil-demokratische und politische Rechtsvorstellungen als besonders wichtig betrachteten, stellte der Ostblock wirtschaftliche und kulturelle Rechte in den Vordergrund. Bis heute prägt diese verschiedene Gewichtung Auseinandersetzungen um Menschenrechte zwischen Nord und Süd (Uvin, 2004).

Auch der Bereich der Friedensförderung, der in seiner jetzigen Ausprägung wesentlich jüngeren Datums ist als die Menschenrechtsbewegung, weist zahlreiche Spannungslinien auf, die von Prinzipien einerseits und Pragmatismus andererseits gekennzeichnet sind. Unterschiedliche Akzente werden hier gesetzt, wenn es darum geht, ob akteurszentrierte oder strukturelle Veränderungen Vorrang haben sollten (agency-structure debate), ob Ursache-Wirkungszusammenhänge linear beschrieben werden können oder in systemisch-dynamischen und zirkulären Gesamtzusammenhängen komplex zusammenwirken, ob Friedensinitiativen von oben nach unten (top-down) oder von unten nach oben (bottom-up) wirken und wachsen müssen, und schließlich bei ethischen und strategischen Abwägungen über Machtmittel und Partnerschaften.

In der Zusammenarbeit beider Felder setzen sich solche Spannungen häufig in Form von Stereotypen über die Angehörigen der jeweils »anderen« Gruppe fort: So treffen dann die anklagenden, Maximalforderungen stellenden Menschenrechtsaktivisten auf die pragmatischen, »amoralischen« Konfliktmanager.

Gemeinsame Ziele

Neben Spannungslinien und wechselseitigem Missverständnis bestehen aber in beiden Feldern auch Gemeinsamkeiten, die in den vergangenen Jahren zunehmend Beachtung und Befürwortung finden (Parlevliet, 2002; Babbitt/Williams, 2008). Wer sich für Menschenrechte und/oder Frieden engagiert, verfolgt, so der Appell, gemeinsame Ziele: Institutionen und Beziehungen zu schaffen, die es den Menschen der Welt erlauben, ein gutes Leben zu entfalten. Gibt es daher Wege, die beiden Bereiche so zueinander in Beziehung zu setzten, dass sie das gemeinsame Ziel stärken statt sich wechselseitig zu unterminieren oder intern aufzureiben?

Drei Einsichten und Herangehensweisen scheinen richtungsweisend:

Menschenrechtsarbeit kann und muss mehrdimensional sein – und darin Stärken der zivilen Konfliktbearbeitung und Friedensförderung aufgreifen und fördern. Dabei können vier Dimensionen unterschieden werden:

Erstens gilt es, kodifizierte Menschenrechte (»Rechte als Regeln«) (international wie national) umzusetzen und weiterzuentwickeln – das Engagement von Aktivistinnen im ehemaligen Jugoslawien zum Beispiel wird als ausschlaggebend für die Anpassung von Verfahrensordnungen gesehen, die die Rechte und Verletzlichkeit von Opfern sexueller Kriegsgewalt wahren und ernst nehmen (Fischer, 2011).

Des Weiteren muss ein Augenmerk auf die Untersuchung und Veränderung der Rolle von Institutionen und gesellschaftliche Strukturen gerichtet werden. Die Verteilung von Macht und Ressourcen, der Zugang zu politischen Positionen und die Mitgestaltung von gesellschaftlichen Prozessen spielen eine wesentliche Rolle für die Konfliktmuster einer Gesellschaft (»Rechte als Strukturen«).

Rechtsbeziehungen müssen nicht nur zwischen einem Staat und seinen BürgerInnen, Gruppierungen und Minderheiten gestaltet werden, sondern auch auf vertikaler Ebene der Gesellschaft und in der Staatenwelt (»Rechte als Beziehungen«).

Zu guter Letzt muss Menschenrechtsarbeit auch ein starkes Prozesselement beinhalten, durch welches auf Legitimität und Nachhaltigkeit hingearbeitet wird, indem in allen anderen Dimensionen darauf geachtet wird, würdevolle und inklusive Partizipation zu gewährleisten (»Rechte als Prozesse«).

Gerechtigkeit muss in jedem Konflikt und in jeder Nachkriegsgesellschaft neu erarbeitet werden. Hierzu gibt es keine allerorts anwendbaren Modelle oder Abkürzungen. Während im Zuge der weltweiten Verbreitung von »transitional justice«-Ansätzen1 vor allem in den 1990er Jahren eine Tendenz bestand, ohne Kenntnis der oder Rücksicht auf die lokalen Verhältnisse Wahrheitskommissionen zu verordnen, wird mittlerweile ein differenzierteres und langfristig orientiertes Herangehen empfohlen. Dennoch bleibt ein Spannungsverhältnis zwischen globalen Normen und lokalen Möglichkeiten bestehen, das in Friedensprozessen nicht vollständig aufgelöst werden kann. So prallen beispielsweise im nördlichen Uganda, in dem die Lord’s Resistance Army (LRA) über Jahre Bürgerkriegsgewalt ausübte, zwei Grundhaltungen aufeinander: Dass man in der Region Geschehenes vergangen sein lassen müsse, um sich auf die zukünftige Entwicklung zu konzentrieren und nicht durch Rache und Verfolgung von Gewalttaten einen weiteren Kreislauf der Gewalt in Gang zu setzen; oder dass die Schuldigen bestraft, eine Amnestie ausgeschlossen und die Verantwortlichen vor den Internationalen Strafgerichtshof gebracht werden müssen. Manche zivilgesellschaftlichen Akteure vor Ort fordern inzwischen einen Mittelweg, der sich auf im Land und der Gesellschaftskultur verwurzelte Ansätze der »restorative justice«, einer »heilenden Gerechtigkeit« beruft, die auf die würdevolle Wiederherstellung und Stärkung von sozialen Beziehungen zum Beispiel durch »Mato Oput«-Zeremonien (Afako, 2002) zielt.

Friedensförderung und Konflikttransformation sind langfristige Prozesse des sozialen Wandels und der schrittweisen Umsetzung von gerechten Sozialformen. Sie benötigen daher langfristiges Engagement von vielen Akteuren, Geduld und den Mut, Dinge auszuprobieren, die nicht unmittelbar nach Erfolgs- und Effizienzkriterien bewertet werden können. Dabei können unterschiedliche Ebenen unterschieden werden: Konfliktthemen, persönliche Beziehungen, Subsysteme und Gesamtsysteme (Dugan, 1996). Sowohl in der Menschenrechtsarbeit als auch in der Friedensförderung geht es darum, akute Symptome (beispielsweise gewaltsame Übergriffe oder die akute Unterdrückung von Angehörigen von Minderheiten) zu bearbeiten und gleichzeitig gewaltfördernde oder rechtseinschränkende Strukturen zu verändern. Letzteres allerdings ist häufig schwierig und nicht von kurzfristigen Erfolgen belohnt. Oftmals bietet sich die Arbeit an »Zwischenebenen«, z.B. Beziehungen zwischen Gruppen in einem bestimmten Stadtviertel, an, um langfristig Anknüpfungspunkte für tief greifende Veränderungen zu schaffen. In Nepal wurden auf diese Weise lokale Landdispute beigelegt, in der Hoffnung, dass diese zu einem späteren Zeitpunkt als Vorbild für eine landesweite Landreform dienen könnten (Parlevliet, 2010, S.26; Dudouet/Schmelzle, 2010). Je nachdem, in welcher Phase sich ein Konflikt befindet, muss das Repertoire derjenigen, die an seiner Transformation arbeiten – sei es durch Menschenrechtsaktivismus, friedensfördernde Maßnahmen oder auch Entwicklungsprojekte – entsprechend angepasst werden. Konfliktverläufe sind zudem selten geradlinig und flächendeckend, so dass für unterschiedliche Landesregionen ganz unterschiedliche Zugänge erforderlich werden können (für Kolumbien argumentiert dies Garcia-Duran, 2010; Dudouet/Schmelzle, 2010).

Schwierigkeiten und Dilemmata

In vielen konkreten Fällen bleiben jedoch Schwierigkeiten und Dilemmata bestehen, für die es keine einfachen Lösungen gibt.

Der Appell an Menschenrechte und Friedenslösungen ist nicht in jedem Fall gewaltentschärfend oder gerechtigkeitsfördernd. Wo beispielsweise Rechte exklusiv für die eigene Gruppe eingefordert, diese anderen Menschen oder Minderheiten aber verwehrt werden, kann ein Menschenrechtsdiskurs auch friedensstörende Wirkung entfalten. Diese Facetten gilt es ernst zu nehmen und zu analysieren. Gerade im Zeichen der »Versicherheitlichung« vieler zeitgenössischer Debatten kann der Menschenrechtsdiskurs als politisch eingesetztes Signal existentieller Bedrohung gewertet werden, durch das eine real existierende Problemlage vor Ort stark eskaliert werden kann (Diez/Pia, 2010; Dudouet/Schmelzle, 2010). In solchen Fällen ist es dann oft nicht weit bis zu Einschränkung von Bürgerrechten im Sinne der (heraufbeschworenen) Bedrohung. Unter Umständen kommt es sogar zur Legitimierung weiterer Gewalt. Eine politische Analyse des Umfeldes und der Akteure von Menschenrechtsarbeit (und Friedensförderung) ist daher dringend geboten.

Traditionelle Methoden und lokale Lösungen sind kein Allheilmittel. Teils stehen sie auch im Widerspruch zu Menschenrechtsnormen, zementieren alte Machtverhältnisse und hierarchisch-patriarchale Beziehungen zwischen den Geschlechtern. Dennoch sorgen sie in vielen Fällen für Legitimität und erreichen Konfliktherde abseits der städtischen Zentren. Im Einzelfall heißt es, lokale Lösungen nicht zu romantisieren, aber sie wahrzunehmen und ernst zu nehmen.

Menschenrechtsaktivismus und Friedensarbeit bzw. zivile Konfliktbearbeitung geraten vor allem in asymmetrischen Konflikten nicht selten in einen Zielkonflikt. In Sri Lanka war zu beobachten, dass Menschenrechtsaktionen vornehmlich mit der tamilischen Bevölkerungsgruppe identifiziert wurden, während Friedensprojekte stark auf der singhalesischen Seite verortet wurden. Eine ähnliche Kluft tut sich im Konflikt zwischen Palästina und Israel auf, wo mittlerweile auch eine deutliche Ermüdung gegenüber vielen Friedens- und Dialogprojekten sichtbar wird, die als (israel-nahe) »Pazifizierung« gewertet werden. Im extremen Machtungleichgewicht zwischen den Akteuren werden diese als verfehlt gewertet (Darweish, 2010; Dudouet/Schmelzle, 2010). Im Umgang mit solch asymmetrischen Konflikten, die durch eine dynamische Vermischung von Konflikt verschärfenden Faktoren (Einstellungen/Werte, Verhalten und Strukturen/Institutionen) gekennzeichnet sind, muss sowohl das Repertoire von Menschenrechtsaktivisten als auch Friedensstiftern in Zukunft unbedingt weiter ausdifferenziert werden.

Eine genaue Analyse des Kontextes und der konkreten Akteure, ihrer Interessen, Verflechtungen und Handlungen kann dabei helfen, von Fall zu Fall angemessene Lösungen zu finden.

Aufgaben

Politische Akteure sind besonders gefragt, wenn es darum geht, gerechte Friedensordnungen zu erarbeiten und gewaltsames Konfliktpotential zu transformieren. Die Gestaltung von Prozessen, in denen Unzufriedenheit gewaltfrei und konstruktiv Ausdruck finden kann bzw. asymmetrische Beziehungen angeglichen werden können, gibt in vielen Fällen den Ausschlag, ob Missstände (menschenrechtlicher und anderer Art) in Gewaltkonflikte eskalieren oder nicht.

Aus dieser Bedeutsamkeit des politischen Raumes erwächst auch die (wiederentdeckte) Notwendigkeit, den Staat verstärkt in Bemühungen um Menschenrechtsreformen und Konfliktbearbeitung einzubeziehen. Dieses erfolgt am besten in paralleler Arbeit zur Stärkung der Fähigkeiten von BürgerInnen und Minderheiten, den Staat dort herauszufordern, wo aus Unrecht Gewalt zu entstehen droht oder sich Missstände institutionell verfestigt haben.

Dazu ist es notwendig, die Wesensart, Organisationsmuster und Zusammenhänge staatlicher Akteure besser zu verstehen und verändern zu lernen. Sowohl (zivilgesellschaftliche) Nachfrage (nach Gerechtigkeit, Umsetzung von Menschenrechtsstandards, Gewaltfreiheit) als auch (staatliches) Angebot (von ernsthafter Interaktion, von Offenheit und Veränderungsfähigkeit, von Verhandlungsbereitschaft und Verhandlungsfähigkeit) müssen gestärkt werden. Wenn diese sich die Waage halten, ist das Risiko deutlich geringer, dass Frustration (auf staatlicher und/oder bürgerlicher Seite) zu Eskalation und möglicherweise Gewalt führen kann.

Ebenfalls notwendig ist es, in der Arbeit mit staatlichen Akteuren über der »Hardware« des technischen Know-how (Wahlen, transparentes Management, etc.) nicht die »Software« der Werte, Wahrnehmungen und Kommunikationsmuster zu vernachlässigen, die eine wesentliche Rolle bei der Erzeugung von Widerstand gegen Veränderungen oder Reformen spielt. Solchen Widerstand zu erwarten und mit ihm statt gegen ihn zu arbeiten, kann sowohl Menschenrechtsarbeit als auch Friedensförderung effektiver machen.

Die Entscheidung für Menschenrechtsaktivisten und Friedensförderer zwischen Strategien der Konfliktzuspitzung, die Handlungsbereitschaft erst schafft, und der Konfliktsensibilität, die sich eskalationsfördernder Effekte jeder Intervention bewusst zu sein und diese zu vermeiden versucht, kann ebenfalls nur im Einzelfall und vor dem Hintergrund eingehender Analysen getroffen werden.

Für MenschenrechtsaktivistInnen und Friedensförderer bedeutet dies, vor allem vier Aspekten verstärkte Aufmerksamkeit zu widmen: der engeren Zusammenarbeit in konkreten Fällen, dem gemeinsamen Lernen und der Entwicklung eines flexiblen Repertoires, der besseren Analyse (Phasen, Akteure, politische Agenden) und schließlich der Erdung des Handelns im Dienste von Menschenrechten und Friedensförderung in den Bedürfnissen der Bevölkerung vor Ort.

Frieden und Gerechtigkeit müssen demnach schrittweise und von Fall zu Fall neu geschaffen werden, indem sie sich mühevoll aufeinander beziehen.

Literatur

Afako, Barney (2002). Reconciliation and Justice: ‘Mato oput’ and the Amnesty Act. In: Accord 11: Protracted Conflict, Elusive Peace. Initiatives to End the Violence in Northern Uganda. London: Conciliation Resources; www.c-r.org/our-work/accord/northern-uganda/reconciliation-justice.php.

Anonymous (1996): Human Rights in Peace Negotiations. In: Human Rights Quarterly, 18, 2 (May 1996), S.249-259.

Babbitt, Eileen & Kristin Williams (2008): Complementary Approaches to Coexistence Work: Focus on Coexistence and Human Rights. Brandeis University, Waltham, MA; www.brandeis. edu/coexistence/linked%20documents/Coex%20and%20HR%20FINAL.pdf.

Dudouet, Véronique & Beatrix Schmelzle (eds.) (2010): Human Rights and Conflict Transformation. The Challenges of Just Peace. Berghof Handbook Dialogue No 9. Berlin: Berghof Conflict Research; www.berghof-handbook.net/documents/publications/dialogue9_ humanrights_complete.pdf.

Dugan, Marie (1996): A Nested Theory of Conflict. In: A Leadership Journal: Women in Leadership – Sharing the Vision, 1, 1-1996, S.9-20.

Fischer, Martina (2011): Transitional Justice and Reconciliation: Theory and Practice. In: Beatrix Austin, Martina Fischer und Hans J. Giessmann (eds.): Advancing Conflict Transformation. The Berghof Handbook II. Opladen: Barbara Budrich Verlag (im Erscheinen).

Lederach, John-Paul (1999): Just Peace – the Challenge of the 21st Century. In: People Building Peace. Inspiring Stories from Around the World. Utrecht: European Centre for Conflict Prevention, S.27-36.

Parlevliet, Michelle (2002): Bridging the Divide. Exploring the Relationship Between Human Rights and Conflict Management. In: Track Two, 11, 1 (March 2002), S.8-43.

Uvin, Peter (2004): Human Rights and Development. Bloomfield: Kumarian Press.

Anmerkungen

1) »Transitional Justice« bezeichnete ursprünglich vor allem Verfahren der Strafverfolgung in Regimen, die autoritäre, gewaltförmige Regierungsformen in demokratische umgewandelt hatten. Inzwischen zählen darunter auch Mechanismen wie Wahrheitskommissionen, die Entfernung von Personal aus Schlüsselpositionen, Reparationen, internationale Tribunale, Fakten-Sammlung und -Archivierung, traditionelle Rechtsverfahren und ähnliches, die sowohl nach Regimewechseln als auch in Nachkriegsgesellschaften Anwendung finden.

Beatrix Austin (ehem. Schmelzle) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin von Berghof Conflict Research in Berlin und koordiniert dort seit 2005 das Berghof Handbook for Conflict Transformation (www.berghof-handbook.net). Parallel arbeitet sie an ihrer Dissertation zum Umgang mit Viktimisierung in Dialogprozessen.

Dieser Beitrag fusst auf »Introduction: Towards Peace with Justice«, erschienen in Véronique Dudouet und Beatrix Schmelzle (eds.) (2010): Human Rights and Conflict Transformation. The Challenges of Just Peace. Berghof Handbook Dialogue No 9. Berlin: Berghof Conflict Research. Online: www.berghof-handbook.net. Die Autorin dankt allen KollegInnen, die darin die Grundlage für diesen Artikel gelegt haben: Michelle Parlevliet, Thomas Diez, Emily Pia, Alice Nderitu, Eileen Babbitt, Albert Gomes-Mugumya, Marwan Darweish, Mauricio Garcia-Duran und Veronique Dudouet.

Mit den Taliban verhandeln

Mit den Taliban verhandeln

Frieden durch Einbeziehung aller Konfliktparteien

von Otmar Steinbicker

Der Krieg in Afghanistan ist militärisch nicht zu gewinnen. Diese Einsicht setzt sich auch mehr und mehr in den NATO-Staaten durch. Die vielfach propagierte Lösung, nämlich der Abzug der NATO-Truppen nach Übergabe des militärischen Auftrags an afghanisches Militär und Polizei, kaschiert nur das eigene Scheitern und wird dem Land keinen Frieden bringen. Frieden gibt es nur, wenn alle Konfliktparteien die Möglichkeit haben, ihre Interessen in Verhandlungen einzubringen und an zu erarbeitenden Kompromissen mitzuarbeiten. Die Afghanen haben eine jahrhundertealte Erfahrung darin, Streitigkeiten – ob zwischen Stämmen und Nationalitäten oder zwischen Familien und Individuen – durch Verhandlungen und Kompromisse zu beenden. Das ist Teil ihrer Kultur. Hieran anknüpfend untersucht der Autor die Möglichkeiten für eine zivile Lösung des gegenwärtigen Konflikts.

Der »Fortschrittsbericht Afghanistan« der Bundesregierung vom Dezember 2010 enthält neben vielen Aussagen, die von der Friedensbewegung zu Recht kritisiert werden, doch eine bemerkenswerte Erkenntnis: „Auch wenn die von den Vereinten Nationen mandatierte internationale Militärpräsenz einen entscheidenden Beitrag in Afghanistan leistet, kann der dortige Konflikt nicht allein militärisch gelöst werden. Der Weg zu einem stabilen und sicheren Staat erfordert letztlich eine »politische Lösung«, einen Prozess der Verständigung und des politischen Ausgleichs mit der Insurgenz.“1 Wenn aber ein politischer Ausgleich mit der Insurgenz gesucht wird, dann wird man ernsthafte Gespräche und irgendwann auch offizielle Verhandlungen mit den Aufständischen führen müssen. Ein politischer Ausgleich heißt zugleich, dass auch die Interessen der Aufständischen berücksichtigt werden müssen.

Für Gespräche und Verhandlungen braucht man Partner auf der anderen Seite. Man kann nicht zugleich versuchen, sie zu töten und mit ihnen zu sprechen. Wenn also der Prozess der Verständigung und des politischen Ausgleichs mit der Insurgenz ernst genommen werden soll, dann bedeutet das eine strikte Unterordnung des Militärs unter das Primat der Politik. Dann müssen die Erfordernisse eines Verständigungsprozesses sowohl für die Bundesregierung als auch für die NATO Vorrang haben gegenüber militärischen Optionen.

Berücksichtigt werden muss ferner, dass als Basis jeglicher Friedenslösung für Afghanistan eine Verständigung der unterschiedlichen afghanischen Akteure erfolgen muss. Darauf kann und muss dann eine Verständigung der Nachbarländer und der internationalen Akteure zur Sicherung dieser Friedenslösung aufsetzen.

Historische Konflikte und traditionelle Lösungen

Für die innerafghanische Konfliktlösung sind wiederum die für uns eher fremde afghanische Kultur und die historischen Erfahrungen des afghanischen Volkes mit Kriegen, Konflikten und Konfliktlösungen zu berücksichtigen.

Gegensätze und Konflikte – auch blutige Konflikte – durchziehen die afghanische Gesellschaft nicht erst seit den letzten 30 Jahren Krieg und Bürgerkrieg. Die Afghanen haben im Laufe der Jahrhunderte eigene, für sie funktionierende Formen ziviler Konfliktlösung gefunden, die aus unserer Sicht vielleicht archaisch anmuten, aber immer lösungsorientiert und oftmals zumindest temporär erfolgreich waren – wie ja auch die deutschen und europäischen Friedensschlüsse zumindest bis 1945 allenfalls temporär erfolgreich waren.

Die traditionellen Gegensätze und Konflikte innerhalb der afghanischen Gesellschaft sind allgemein bekannt. Daher will ich sie hier nur stichwortartig nennen:

Gegensatz zwischen städtischer »Moderne« und ländlichem »Mittelalter«,

Konflikte zwischen verschiedenen Nationalitäten und

Konflikte zwischen verschiedenen Stämmen innerhalb der Nationalitäten mit häufig wechselnden Koalitionen, auch zwischen Familien innerhalb der Stämme.

Aber neben den traditionellen Konflikten gibt es auch ebenso traditionelle Formen ziviler Konfliktlösungen. Das waren und sind vor allem Versammlungen (Jirgen) von den Dorfältesten bis zu den Stammesführern der großen afghanischen Stämme. Die Afghanen haben in Jahrhunderten blutiger Auseinandersetzungen gelernt, Konflikte durch Verhandlungen und Kompromisslösungen zu beenden. Verhandlungen und Kompromisslösungen kamen und kommen nicht nur bei Streitigkeiten zwischen Stämmen und Nationalitäten zur Anwendung, sondern auch beim Streit zwischen Familien und Individuen – auch in Ermangelung eines allgemein akzeptierten Justizsystems, das auf römischem Recht basiert. Konflikte durch Verhandlungen und Kompromisse zu lösen gehört also zum unmittelbaren Kern der afghanischen Kultur. Jeder Afghane kennt das und weiß damit umzugehen, gleich ob er zur Nordallianz oder zu den Taliban, zu dieser oder jener Nationalität, zu diesem oder jenem Stamm gehört.

Für Historiker ist dabei sicherlich erstaunlich: Bei allen schweren Konflikten, die die afghanische Zivilgesellschaft seit Jahrhunderten durchziehen, ist es ausländischen Mächten niemals gelungen, dauerhaft eine Herrschaft über Afghanistan zu sichern. Nicht einmal das britische Kolonialreich, das wie kein anderes eine wahre Meisterschaft entwickelt hatte, in seinen Kolonien unterschiedliche Volksgruppen gegeneinander aufzubringen, um so besser die Herrschaft sichern zu können, hatte in Afghanistan Erfolg. Gegen solche Spaltungsversuche stand eine starke Verankerung des Islam und ein afghanisches Nationalgefühl. Die Verbindung von beidem hielt trotz der starken und vielfältigen Konflikte die Gesellschaft zusammen.

Die Nationale Friedens-Jirga

An diese afghanische Tradition der Konfliktlösung knüpfte sehr bewusst die am 8./9. Mai 2008 von mehr als 3.000 vorwiegend paschtunischen Stammesführern, religiösen Würdenträgern, Abgeordneten und Intellektuellen gegründete Nationale Friedens-Jirga Afghanistans an. Sie darf trotz Namensgleichheit nicht verwechselt werden mit der von Präsident Karsai einberufenen »Friedens-Jirga«.

Diese Stammesführer, die die kriegsmüde Bevölkerung vor allem des Südens und Ostens repräsentieren, formulierten als Ziel eine Verhandlungslösung für Afghanistan, die alle Teile der afghanischen Gesellschaft inklusive der Taliban einbezieht, sowie den Abzug der ausländischen Truppen. An der Gründung dieser Nationalen Friedens-Jirga Afghanistans nahmen als Gäste auch ausländische Diplomaten, darunter Vertreter der Deutschen Botschaft, teil. Im Juli 2009 versicherte der damalige UN-Repräsentant in Afghanistan, Kai Eide, der Nationalen Friedens-Jirga Afghanistans seine Unterstützung.

Zum 1.9.2008 verabschiedeten die Nationale Friedens-Jirga Afghanistans und die deutsche Kooperation für den Frieden, ein Zusammenschluss von mehr als 50 der größten deutschen Friedensorganisationen und -initiativen, eine gemeinsame Erklärung. Darin wurden auch Forderungen und Vorschläge an die Bundesregierung formuliert:2

„1. keine weiteren Kampfhandlungen auf dem Territorium Afghanistans durchzuführen… Die Zahl der in Afghanistan stationierten Bundeswehrsoldaten darf nicht erhöht werden, sondern es muss eine konkrete Planung mit festen Daten für einen raschen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan vorgelegt werden.

2. durch eigene Schritte, eventuell gemeinsam mit anderen europäischen Regierungen, islamischen und blockfreien Ländern, in Gesprächen mit den unterschiedlichen Gruppierungen der afghanischen Opposition einschließlich der Taliban und mit der afghanischen Regierung eine neue Tür für Verhandlungen öffnen und einen Verhandlungsprozess nach Kräften zu fördern. …

3. zivile Hilfe je nach Bedarf bis zu dem Betrag aufzustocken, der durch den Abzug der Truppen frei wird. …

4. durch eigene diplomatische Schritte, eventuell gemeinsam mit anderen europäischen Regierungen, islamischen und blockfreien Ländern die Perspektive einer internationalen Konferenz Afghanistans und seiner Nachbarstaaten (Pakistan, Iran, Usbekistan, Tadschikistan u.a.) zu eröffnen, um die Souveränität Afghanistans wiederherzustellen und einen Weg zu Frieden und Sicherheit in der Region zu ebnen. Vor allem Staaten wie Indien, China, Russland, USA, die europäischen Länder sowie die Islamische Konferenz und blockfreie Länder müssen als Beobachter und Garantiemächte an einer solchen Konferenz teilnehmen, um künftige Interventionen auszuschließen.“

Im Anschluss an diese Erklärung gab es Bemühungen der Nationalen Friedens-Jirga Afghanistans, die Taliban im Raum Kundus für einen Waffenstillstand zu gewinnen, um die Bundesregierung für eine Moderation von Verhandlungen zwischen den afghanischen Konfliktparteien zu gewinnen. Ab März 2009 gab es Zusagen der Taliban zu einem solchen Waffenstillstand im Raum Kundus. Leider zeigte das Auswärtige Amt damals daran kein Interesse.

Initiativen für einen Waffenstillstand

Einen eigenen Vorstoß unternahm der regionale Talibankommandeur in Kundus, Qari Bashir, im Mai 2009. Er rief kurzerhand einen deutschen Journalisten an und bat ihn, einen Kontakt zur Bundeswehr in Kundus zu vermitteln, um über den von der Friedens-Jirga gewünschten Waffenstillstand zu sprechen. Oberst Georg Klein, damals verantwortlicher Kommandeur in Kundus, hielt das Gesprächsangebot allerdings für nicht glaubwürdig.

Am 31.7.2009 veröffentlichten die Nationale Friedens-Jirga Afghanistans und die Kooperation für den Frieden eine weitere gemeinsame Erklärung mit einem Vorschlag für einen regionalen Waffenstillstand für Kundus und verwiesen dabei auf ihre Erfahrungen im Bemühen um eine Waffenstillstandsvereinbarung.

Unmittelbar nach dem Bombardement der Tanklaster bei Kundus am 4.9.2009 stieß dieser Waffenstillstandsvorschlag auch in hohen NATO-Kreisen auf Zustimmung. Vor diesem Hintergrund gelang es, den Talibankommandeur Qari Bashir für einen einseitigen Waffenstillstand im Raum Kundus zu gewinnen, der bis Anfang November hielt. Die Talibanorganisation Quetta Shura um Mullah Omar wurde ebenfalls kontaktiert und zeigte sich bereit, einen solchen Waffenstillstand gegebenenfalls auf ganz Afghanistan auszudehnen. Leider konnten sich die Befürworter des Waffenstillstands innerhalb der NATO damals nicht durchsetzen.

Aus den von Wikileaks veröffentlichten NATO-Dokumenten geht hervor, dass die Bundeswehr in Kundus Qari Bashir auf die NATO-Fahndungsliste (»zur Ergreifung«) setzen ließ. Bashir wurde Anfang November 2009 bei einer Aktion von Spezialkräften der US-Armee und der afghanischen Armee getötet.

Trotz des Scheiterns dieser Initiative konnten informelle Kontakte zu beiden Seiten der Konfliktparteien aufrechterhalten werden. Das bot die Chance, weiterhin zu sondieren.

Dabei zeigte sich, dass auch nach der Verhaftung des verhandlungsbereiten Mullah Barader, einem der führenden Köpfe der Quetta Shura, durch den pakistanischen Geheimdienst und die Neubildung der 18-köpfigen Führungsgruppe der Quetta Shura die Diskussion über die Möglichkeit von Verhandlungslösungen dort weiter ging und positiv weiter geht.

Positionsänderungen bei den Taliban?

Zum einen hat es bei der Quetta Shura deutliche Entwicklungen gegeben, nicht nur weg von Al Kaida und dem pakistanischen militärischen Geheimdienst ISI (Inter-Services Intelligence), sondern auch weg von der Rechtfertigung der schrecklichen Herrschaftspraxis zwischen 1996 und 2001. Zum anderen zeigen sich Spielräume für weitere Entwicklungen, auch wenn einige Entwicklungen sicherlich Zeit brauchen. Vorsichtige Bewegung zeigt sich sogar in der für Taliban besonders ideologiebefrachteten Frage der Frauenrechte. So hat Mullah Omar in seiner jüngsten Botschaft zum Ramadan zum ersten Mal das Wort »Frauenrechte« formuliert, wenn auch eingeschränkt auf »islamische« und ohne weitere Definition, was er darunter versteht.

Entscheidend für Positionsveränderungen bei den Taliban wird sein, inwieweit sie sich als nationale afghanische Kraft verstehen und definieren. Denn die Talibanherrschaft war ein massiver Bruch mit afghanischen Traditionen. In den 1980er Jahren hatten vor allem wahabitische Missionare aus Saudi-Arabien Einfluss auf die Koranschulen in den pakistanischen Flüchtlingslagern und ihre Schüler (Taliban) gewonnen, mit religiös-fundamentalistischen Auffassungen, wie sie in Afghanistan zuvor kaum bekannt waren. Auch die Kämpfer von Al Kaida, die damals nicht zuletzt mit westlicher Hilfe nach Afghanistan kamen, um dort gegen die sowjetische Armee zu kämpfen, hingen diesen wahabitischen Vorstellungen an.

Eine Rückbesinnung auf afghanische Traditionen ermöglicht und verlangt eine Trennung von Al Kaida. Diese Trennung wurde vor einem Jahr von der Quetta Shura öffentlich verkündet und wird von Diplomaten als ernsthaft akzeptiert. Wesentlich schwieriger gestaltet sich die nötige Trennung vom pakistanischen Geheimdienst ISI. Dieser war wesentlich an der Gründung der Talibanbewegung beteiligt und hatte lange Zeit bestimmenden Einfluss. Versuche der Taliban, sich davon zu lösen, werden vom ISI mit Verhaftungen, aber auch mit Attentaten bekämpft. Willfährige Talibanführer werden dagegen vom ISI vor den Nachstellungen der US-Geheimdienste geschützt.

Für eine Friedenslösung wird eine Rückbesinnung der Taliban auf afghanische Traditionen der Neutralität und Blockfreiheit wichtig werden. Afghanistan gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Bewegung der Blockfreien Staaten. Auf der Basis dieser Tradition ist eine Absage an ausländische Mächte, Militärstützpunkte in Afghanistan zu unterhalten, ebenso selbstverständlich wie die Mitarbeit in den Vereinten Nationen unter Anerkennung ihrer Beschlüsse einschließlich der Allgemeinen Deklaration der Menschenrechte. Zu den Selbstverständlichkeiten gehört dann auch, dass Afghanistan nach einem Abzug der ausländischen Truppen keine Basis für terroristische Aktivitäten bilden wird, die sich gegen die afghanische Bevölkerung oder gegen ausländische Staaten richten.

Sicherlich werden die Taliban ihrerseits Wert darauf legen, auch solche afghanische Traditionen wieder lebendig werden zu lassen, die nicht westlichen Wertvorstellungen entsprechen. Nach dem Abzug der ausländischen Truppen werden die Afghanen selbst und ohne Einmischung von außen die Grundlagen der afghanischen Innenpolitik neu bestimmen.

Zu den afghanischen Traditionen gehören aber auch Frauenrechte. So wurde in Afghanistan 1919, also im gleichen Jahr wie in Deutschland, das Frauenwahlrecht eingeführt. Das Recht der Frauen auf Bildung und Berufsausübung hat ebenfalls Tradition.

Gesprächspartner der Taliban aus der afghanischen Friedensbewegung wie aus der europäischen Diplomatie signalisieren, dass die Aufständischen in dieser Richtung konzessionsbereit sind, ja sogar bereits ein Elf-Punkte-Positionspapier an US-General Petraeus übermittelt haben.

Noch sind allerdings die Gesprächsfäden zwischen dem Westen und den Taliban dünn. Zwei direkte Gespräche zwischen Abgesandten der Quetta Shura und ISAF-Offizieren im Juli und August 2010 zeigten ernsthafte Möglichkeiten für eine Friedenslösung auf. Andererseits fehlt auf westlicher Seite noch immer der Wille zur ernsthaften Umsetzung.

Ein Fahrplan für eine Friedenslösung

Wie könnte ein Fahrplan für eine Friedenslösung aussehen?

In einem ersten Schritt könnten auf regionaler Ebene im Zusammenhang mit der Realisierung von Waffenstillständen weitergehende Vereinbarungen getroffen werden, zum Beispiel über eine gemeinsam zu errichtende Provinzverwaltung, über gemeinsame Sicherheitsstrukturen sowie über ein gemeinsames Vorgehen gegen Korruption und Drogenanbau. Konkrete Erfahrungen mit Möglichkeiten und Problemen in diesen Prozessen könnten dann in die Verhandlungen über eine Friedenslösung auf nationaler Ebene einfließen.

In einem zweiten Schritt wird sich dann über kurz oder lang auch für ganz Afghanistan die Frage einer gemeinsamen Übergangsregierung unter Einschluss der Taliban und der Vertreter der Karsai-Regierung (inklusive Nordallianz) stellen. Eine solche Übergangsregierung muss natürlich zeitlich befristet werden. Ein Zeitraum von zwei Jahren wäre vielleicht realistisch. Die Taliban formieren sich in diesem Zeitraum als politische Partei und nehmen an Wahlen teil, und die internationalen Truppen werden im Laufe der Frist der Übergangsregierung abgezogen.

Werden sich die verschiedenen afghanischen Konfliktparteien auf einen solchen oder ähnlichen Weg des Dialoges einlassen? Da bleiben nach jahrzehntelangem Bürgerkrieg Fragen offen. Andererseits gibt es hinter den Kulissen manche Anzeichen für Kriegsmüdigkeit und Gesprächsbereitschaft bei den verschiedenen Fraktionen in Afghanistan. So trafen sich bereits auf Konferenzen im Ausland Vertreter unterschiedlicher Konfliktparteien, allerdings ohne Teilnahme der Taliban.

Ein größeres Problem als die afghanischen Seiten stellt möglicherweise Pakistan dar. Sein Geheimdienst ISI baute schließlich die Taliban auf und kontrollierte sie über lange Zeit. Eine Talibanführung, die sich auf afghanische Traditionen und Unabhängigkeit besinnt, ist nicht in pakistanischem Interesse. Hier werden wohl nur die Einbeziehung Pakistans in Verhandlungen mit den anderen Nachbarländern Afghanistans sowie internationaler Druck helfen.

Anmerkungen

1) Fortschrittsbericht Afghanistan zur Unterrichtung des Deutschen Bundestags, Dezember 2010, S.162; online auf www.auswaertiges-amt.de.

2) Die vollständige Erklärung steht unter www.koop-frieden.de/dokumente/ KoFrie-Jirga.pdf.

Otmar Steinbicker ist freier Journalist und Herausgeber des Aachener Friedensmagazins (www aixpaix.de).

Die friedensbildende Kraft interaktiver TheaterRäume

Die friedensbildende Kraft interaktiver TheaterRäume

Wissensgenerierung, Transformation und politische Öffentlichkeit

von Hannah Reich

Nach einem kriegerischen Konflikt besteht neben der Vergangenheitsbewältigung ein Großteil der Friedensarbeit aus Beziehungsbildung zwischen den ehemals verfeindeten Konfliktparteien. Zunächst bedeutet dies, dass in diesen gespaltenen Gesellschaften konkrete Orte für Begegnungsmöglichkeiten geschaffen werden. Es heißt aber auch, dass Orte geschaffen werden, die eine Reflexion über die Art und Weise der gesellschaftlichen Mechanismen der Beziehungsbildung zulassen. Es bedarf dieser Gelegenheiten, um das Alltägliche zu unterbrechen und ein Innehalten zu gestatten, welches das »normale« Verhalten zu beobachten erlaubt und dadurch die Frage in den Raum stellt: „Wollen wir so miteinander umgehen?“ So ein Raum kann der sog. »ästhetische Raum« des boalschen interaktiven Theaters sein – wobei dieser Raum nicht so harmlos ist wie er aussieht.

Friedensbildung heißt im Wesentlichen: eine Erweiterung der Handlungsspielräume der Betroffenen. Eine Annahme ist, dass Gewalt dazu führt, dass – genährt durch Angst und Misstrauen – Verhaltensmechanismen gesellschaftlich eingraviert werden, die die Handlungsspielräume stark einschränken. Eine weitere Annahme ist, dass die Mechanismen unbewusst durchaus realisiert werden und eine Bewusstwerdung über diese Mechanismen zu einem anderen Handeln verhelfen kann. Dieser Prozess ist umso nachhaltiger, wenn positive Erfahrungen mit »anderem« Handeln und mit den sog. »Anderen« den neu eingeschlagenen Weg untermauern. Interaktive TheaterRäume bieten genau das: Außerhalb des Alltags, und doch mitten drin, laden sie erstens durch die Trennung zwischen Zuschauern und Akteuren zum Beobachten und Bewusstwerden ein. Zweitens konstituieren sie einen Erlebnis–Ort, der einen kulturellen Ausdruck, starke Emotionen, Sinngebungen und tiefe Erfahrungen erlaubt. Drittens aber, und hier unterscheiden sie sich von reinen Workshop-Prozessen, strecken sie sich durch ihre Darstellung aus in die Öffentlichkeit.

Im Folgenden möchte ich nun erstens erklären, was ich mit interaktivem Theater meine. Danach möchte ich zweitens auf den Prozess der Wissensgenerierung eingehen. Drittens stelle ich das Potential des interaktiven Theaters als Erfahrungsraum vor, und zu guter Letzt gehe ich auf den öffentlichen Raum des interaktiven Theaters ein. Zur Veranschaulichung möchte ich ein Beispiel aus dem Libanon heranziehen. Dort wurde vor drei Jahren von einer libanesischen Nichtregierungsorganisation mit Förderung der Berghof Stiftung interaktives Theater zur Friedenbildung eingesetzt: Mit einer Gruppe Jugendlicher aus den verschiedenen konfessionellen Segmenten der Gesellschaft wurde ein Theaterstück erarbeitet und in unterschiedlichen Regionen des Landes aufgeführt (Bteich/Reich 2009).

Der ästhetische Raum des interaktiven Theaters

Das interaktive Theater, auf das ich mich hier beziehe, ist das »Forumtheater«, eine der bekanntesten Methoden aus dem Arsenal des Theaters der Unterdrückten, entwickelt von Augusto Boal. Das Forumtheater zeichnet sich dadurch aus, dass erstens das Theaterstück im Rahmen eines Workshops aus Geschichten der Teilnehmer entwickelt wird und sich somit auf deren Lebenswirklichkeiten bezieht. Zweitens wird dieses Stück von Laien und nicht von professionellen Schauspielern dargestellt. Das Stück wird dann drittens bis zu seinem Höhepunkt gezeigt, woraufhin das Publikum – das Forum – aufgefordert wird, in die Darstellung zu intervenieren und die Szene zu einem anderen Ende zu bringen. Dieser Aufführungsprozess wird viertens von einer intermediären Figur, dem so genannten Joker, angeleitet.

Ziel des Theaters ist eine Bewusstwerdung von erlebten Unterdrückungsstrukturen und die Erarbeitung von neuen, anderen Handlungsmöglichkeiten, die auf der Bühne erprobt werden können (Boal 2002, 1990). Der Forumtheaterprozess, der auf der Wahrnehmung des eigenen Körpers und der eingenommenen Haltungen basiert und sich im sog. »ästhetischen Raum« vollzieht, ist mit einigen Modifikationen für friedensbildende soziale Veränderungsprozesse anwendbar (Bteich/Reich 2009). Ich spreche von einem Forumtheater»prozess«, da als Forumtheater nicht allein eine interaktive Performance bezeichnet wird, sondern dieser ein wohl strukturierter Gruppenprozess vorausgeht. Das Spezifische im Vergleich mit anderen friedensbildenden Prozessen ist die Arbeit mit dem ästhetischen Raum.

Kollektive Wissensgenerierung

Im Griechischen haben Theater und Theorie dieselben Wurzeln und beginnen beide mit dem Moment des Sehens/Beobachtens (griech. theatron; dt. sehen). Das Theater als Gebäude, seine Räumlichkeit, intensiviert den Prozess des Sehens, da es einen bestimmten Ort für die Zuschauenden und einen für die »Zugeschauten«, die Darstellenden ausweist. Boal macht aber deutlich, dass Theater nicht erst durch die Darstellung in einem Theatergebäude zustande kommt, sondern durch die Struktur. Ein ästhetischer Raum entsteht durch die Trennung der »Schauenden« und »Angeschauten«. Er entfaltet sich durch Aufteilung zwischen der Bühne und dem Auditorium. Es gibt eine Trennlinie, die einen Teil des Raumes von dem Rest abtrennt und diesen Rest dadurch als mit anderen sozialen Gesetzen strukturiert auszeichnet. Diese Trennlinie ermöglicht es, Verhülltes, Verdecktes und Unbewusstes sichtbar zu machen. Im klassischen Theater ist die Trennung durch eine deutliche Grenze (Bühne, Vorhang, bestuhlter Raum) und eine klare Rollenverteilung (Schauspieler vs. Zuschauer) markiert.

Bei Boal wird die Grenze von Auditorium und Bühne bewusst aufgeweicht, um den Übergang von der Rolle des Zuschauers zu der des Darstellers zu erleichtern. Dennoch existiert ein bestimmter Bereich, der betrachtet wird, und einer, von dem aus man betrachtet. Boal benutzt für den so strukturierten Raum den Begriff des »ästhetischen Raums«, da er damit auf das sinnlich Wahrzunehmende, nicht verbal Beschreibbare dieses Kommunikationsraums verweisen möchte. Dieser Raum intensiviert das Beobachten und Sehen. Das verlangt nach einer Präzision der Bilder (images), durch die gesprochen wird.

Die Bilder stellen eine eigene Sprache dar, die nicht in das gesprochene Wort übersetzt werden kann. Die Kommunikation zwischen den »Zu-schau-spielern« (Zuschauer, die dann schauspielern) über das, was gesehen, erlebt und sinnlich erfasst wurde, findet zwischenkörperlich statt. Die Darstellung des Publikums ist wichtig, da es Boal um die körperliche Interaktion und nicht nur um das gesprochene Wort geht. Die Zuschauspieler konstituieren in diesem Prozess die Figuren, die den Prozess der Bewusstwerdung und Wissensgenerierung durch ihre Erfahrung ermöglichen. Der Zuschauer tritt auf die Bühne und erscheint dort als Schauspieler in einer Situation, in der er handelt, agiert, improvisiert. Diese Improvisation erlaubt es, Möglichkeiten zu erfassen, die Auskunft über die gesellschaftliche Realität geben. Das Betrachten dieser Aktion erlaubt Erkenntnisse, die durch die anschließende Diskussion der Handlung auf der Bühne in einen kollektiven Wissensgenerierungsprozess münden.

Im Libanon wurden auf der Bühne Ereignisse dargestellt, in denen die konfessionelle Orientierung der Gesellschaft und der Protagonisten dazu führte, dass erwünschte zwischenmenschliche Beziehungen nicht eingegangen, fortgeführt oder ausgebaut wurden (Bteich/Reich 2009). Auch wenn bekannt ist, dass der Konfessionalismus das Phänomen ist, welches einer nachhaltigen Integration der Gesellschaft und damit auch einer stabilen Friedensbildung im Libanon im Wege steht, so war es den Teilnehmern des Workshops doch nicht bewusst, in welchem Ausmaß er ihr eigenes alltägliches Handeln bestimmte. Die Charaktere auf der Bühne so handeln zu sehen, wie sie selber handelten, gab ihnen das Bewusstsein über ihr eigenes Handeln.

Transformation durch Liminalität

Seit einiger Zeit wird der Bedeutung von Riten für friedensbildende Prozesse Beachtung geschenkt (Schirch 2005). Das Interessante hierbei ist die Schaffung von aus dem Alltag ausgesonderten Orten, in denen sich Transformationen ereignen. Dies geschieht nach Turner durch das Passieren eines so genannten »Schwellenzustandes« (Liminalität) (Turner 1989:95). Theaterarbeit lenkt den Blick auf Schwellenzustände, da Grenzüberschreitungen konstitutive Elemente des theatralen Gestaltens sind (Karl 2005:34, Schechner 1990; Turner 1989). Liminalität kann in ambivalenter Weise Möglichkeiten eröffnen, da sich die Person in einem aus ihrem Alltag heraus gelösten Zustand erlebt und in voller Präsenz verhüllte Facetten ihres eigenen Seins und Werdens erlebt.

Die Liminalität des ästhetischen Raumes entsteht durch die gleichzeitige Zugehörigkeit zu zwei wesensverschiedenen Welten: der Realität (dem Ort, in dem das Theater stattfindet) und dem Bild einer Realität (der dargestellte Ort, das Schloss, das Zugabteil, etc.). In der Intervention agiert der Zuschauspieler als eine Figur innerhalb der kreierten Realität des ästhetischen Raumes. Er erlebt sich in einer gleichzeitigen Zugehörigkeit zu zwei vollkommen autonomen Sphären: er ist er selber und gleichzeitig die Figur. Er, der als Figur auf die Bühne tritt, stellt nicht seine Persönlichkeit dar, macht aber von dem Reichtum seiner gesamten sozial konstruierten Person Gebrauch. Trotz des Unterschiedes zwischen der Figur und der Person ermöglicht das Betrachten der Handlung der Figur, Unterdrückungssituationen der Person anders zu begreifen (Boal 1990:42). Das Forumtheater ist dabei keine Abbildung der Wirklichkeit oder ein Spiel im Als-Ob-Modus. Vielmehr ist die Realität der im Theater erzeugten Bilder genauso real in ihrem ästhetischen Raum wie gesellschaftliche Realität real ist. Diese Arbeitsweise geht davon aus, dass – obwohl oder gerade weil Bilder und Realität grundsätzlich anders sind – eine künstlerisch dargestellte Situation in Wesentlichem einer real erlebten Situation gleicht bzw. etwas Bestimmtes dieser Realität klarer darstellt.

Alle Zuschauspieler erleben beim Eintreten in den Bühnenbereich diese Liminalität in ihrer Improvisation. Es bleibt für sie jedoch ein einmaliges Ereignis: ein Abend, eine Intervention. Die Teilnehmer-Darsteller hingegen erleben diesen Zustand in intensivierter Weise. Im Workshop experimentieren sie, arbeiten mit Hilfe von Theatertechniken mit den verschiedenen Facetten ihres Selbst. In Körperarbeit versuchen sie, sich ihrer Haltungen bewusst zu werden, um andere annehmen zu können. Sie experimentieren mit ihrer Stimme, um eine andere erklingen zu lassen. Sie erlernen einen neuen Blick, um Anderes erkennen zu können. Sie ergründen verleugnete Facetten ihres Selbst unter dem Deckmantel, andere Rollen zu spielen. In diesem Prozess vermögen sie, Teile ihres fragmentierten Selbst wieder zu finden, die im Strudel von Gewalterfahrungen verloren gingen.

Gleichzeitig sind sie in einen Gruppenprozess eingebettet, kommen mit dem »Anderen« in Berührung. Auch wenn ein gängiger Forumtheaterprozess nicht der Bearbeitung von Konflikten innerhalb der Teilnehmergruppe dient, ist dies selbstredend unter Hinzunahme von Spielen/Techniken aus der Friedensarbeit möglich, so wie es die Libanesen taten (Bteich/Reich 2009). Zuerst war die Gruppe fremd, erschien durch die Anwesenheit der sog. Anderen, mit denen man zum Teil noch nie vorher Kontakt hatte, sogar bedrohlich. Nun wandelte sie sich zu einer Gruppe, die Sicherheit bot und dem Einzelnen den nötigen Rückhalt gab, um die Herausforderungen der Aufführungen zu meistern. Es wurde deutlich, wie in dem Prozess die konfessionellen Identitäten in den Hintergrund rückten und die Identität als »Schauspieler« an Bedeutung gewann: Das Interesse, eine gute Darstellung zu erarbeiten, verband sie. Die Aufregung und Spannung vor jeder Darbietung schuf ein Erlebnis, in dem sich die Teilnehmer als Akteure eines Bildes erlebten, welches zu einem gesellschaftlichen Wandel aufrief. Und wenn am Schluss der Aufführungen jeder in der Gruppe seinen echten Namen und somit seine Konfession preisgab, stellten sie sich als Teil einer gemischten Gruppe dar, in der sie sich zusammengehörig erlebten. Die Darstellung wurde zu einer Darstellung der Zukunftsvision, gleichsam eines Festes, in dem sie sich öffentlich als gemischte Gruppe präsentierten. Allerdings: So berührend diese Momente waren, so fragwürdig waren die Verwischungen der Grenzen zwischen Darsteller und Figur, zwischen Darstellung der Gesellschaft und der eigenen Persönlichkeit. Denn die Stärke des ästhetischen Raumes liegt genau darin, dass die Darsteller nicht sich selbst zeigen.

Das Politik-Machen des ästhetischen Raumes

Trotz der unklaren und vielschichtigen Verwendung sind Öffentlichkeit, öffentlicher Raum und privater Raum wichtige Konzepte, um politische Aktionen außerhalb der offiziellen Politik zu beschreiben, zu interpretieren und zu initiieren. Für die Konstitution einer demokratischen, integrierten Gesellschaft stellt die Existenz einer das Allgemeinwohl im Blick habenden Öffentlichkeit eine Notwendigkeit dar. Bezogen auf klientelistische Gesellschaften möchte ich hier auf eine Idee aus der Diskussion um den öffentlichen Raum eingehen, die erklären kann, warum der ästhetische Raum des interaktiven Theaters solch politische Brisanz hat.

Jean Bethke Elshtain konzeptioniert das Private als das Persönliche und verbindet das Öffentliche direkt mit dem Politischen (Elshtain 1995:169). Das Politische und das Persönliche konzeptioniert sie eng miteinander verwoben, aber strikt von einander getrennt, da eine Gleichsetzung dieser beiden Bereiche den Raum für an der Gemeinschaft interessiertes Handeln eliminiere. Elshtain fordert nicht nur zwei Bereiche, sondern sie erkennt in ihnen einen wesentlichen Unterschied: der politische Bereich ist repräsentierend und steht im Gegensatz zu dem persönlichen, dem identisch seienden Bereich. Damit schafft Elshtain nicht nur eine Trennung, sondern erwartet eine wesentlich andere Formation dieser beiden Bereiche. In einer Politik, die das Bewusstsein zu repräsentieren verloren hat, präsentiert die persönliche Identität das politische Programm. Dies ist in klientelistischen Gesellschaften häufig der Fall. In dem klientelistisch-konfessionell strukturierten System des Libanon existieren kaum öffentliche Räume, in denen das Dargestellte eine Repräsentation und nicht die Präsentation von etwas identisch Seiendem ist.1

Der ästhetische Raum umgeht die Diskussion über die Konstruktion und Oszillation des Ontischen und des Dargestellten ohne eine Essentialisierung beider Kategorien. Das gelingt ihm dadurch, dass er nicht nach unterscheidenden Kriterien fragt. Er schafft ein Faktum mit und durch seine Ausgestaltung, seine Bezeichnung und seine bezeichnende Kraft: Eine deutlich erkennbare Grenze markiert einen Bereich, in dem das Getane, Gesagte und Gehandelte eine Darstellung ist. Die Existenz der Grenze zwischen Bühne und Auditorium, die eine Unterscheidung zwischen Repräsentation und Sein herstellt, schafft einen öffentlichen Raum für die interaktive Diskussion im Sinne Elshtains.

Im Libanon stellten die Forumtheater-Aufführungen Geschichten dar, die von den Teilnehmern erlebt wurden, und zwar mit dem Anspruch, Alltägliches zu repräsentieren. Sie nutzten die Kraft des ästhetischen Raumes, das Seiende zu annullieren, um allgemein gesellschaftlich Relevantes zu repräsentieren. Auf den ersten Blick kreierten sie also ein Feld, durch das eine Repräsentation und damit eine Diskussion möglich wurde, in der das Seiende nicht direkt zur Disposition stand. Der ästhetische Raum bildete zwar eine Abgrenzung zwischen dem Seienden und dem Dargestellten, diese wurde aber in den Aufführungen durch die schwammige Grenze zwischen Person und Rolle ständig von einer Verwischung bedroht.

Normalerweise wurden die Räumlichkeiten, in denen die Aufführungen stattfanden, für Festlichkeiten aller Art genutzt. In ihnen gibt es einen hervorgehobenen Bereich, der von der Festgesellschaft betrachtet wird, und sich nicht prinzipiell von dem Bereich unterscheidet, in dem sich die Festgesellschaft aufhält. Er ist sichtbar, herausgestellt, aber nicht grundsätzlich anders, wie es die Bühne ist, wo mit dem Auftritt die Person zurückgelassen wird und an ihrer Stelle eine neue Rolle im Sichtfeld erscheint. Die Qualität dieser festlichen Räumlichkeit, die keinen ästhetischen Raum kreiert, war in allen Aufführungen präsent und unterstützte die Verwischung der Grenzen zwischen Seiend und Darstellend im elsthainschen Sinne.

Die Gewohnheit der Annahme des Präsentierten als etwas Ontisches im öffentlichen Raum schien so groß zu sein, dass sie selbst in einem ästhetischen Raum, der durch seine scharfe Grenzziehung entsteht, die Grenze unklar und verschwommen werden ließ und damit Gefahr lief, die Diskussionen unmöglich zu machen. Dies zeigt, dass der Versuch, einen solchen Raum aufzuspannen, in dem weder abstrakt noch ontisch gesellschaftliche Realitäten erörtert werden, Bewegungen in das Gesellschaftsgefüge bringt, die subtil und dennoch sehr substantiell sind. Und es erklärt auch, warum bereits die Etablierung eines interaktiven, ästhetischen Raumes politisches Handeln darstellt.

Zusammenfassung

Der ästhetische Raum des Forumtheaters, der auf eine Bewusstwerdung abzielt und sich durch einen wohl strukturierten Prozess konstituiert, erlaubt es, die Friedensbildung als Methode der Wissensgenerierung, als Transformationsraum und als einen Politik-Machenden öffentlichen Raum zu bereichern. Das Potential des ästhetischen Raumes zu sehen bedeutet auch, sich des destruktiven Potentials des interaktiven Theaters in Kriegssituationen bewusst zu sein und nicht jede Form des interaktiven Theaters als friedensbildend zu bezeichnen. Es bedarf ferner der weiteren Forschung in diesem Bereich und der Einbettung von friedensbildenden Theaterprojekten in eine in zyklischer Wiederholung langfristig ausgerichteten Struktur. Bleibt zu hoffen, dass die Kraft des ästhetischen Raumes erkannt wird und in professioneller Anwendung in die friedensbildenden Strukturen Eingang findet.

Literatur

Boal, A. (2000): The Rainbow of Desire. The Boal Method of Theatre and Therapy. London: Routledge.

Bteich, R., Reich, H. (2009): Enacting Places of Change. Interactive Theatre as an Instrument for Postwar Peacebuilding. http://www.sabisa.de/.

Elshtain, J.B. (1995): Women and War. Chicago: University of Chicago Press.

Karl, U. (2005): Zwischen/Räume und Grenzgänge. Einige Überlegungen zu Bildungsprozessen im Medium des Theaterspielens. In: Korrespondenzen, Zeitschrift für Theaterpädagogik 47 (21), S.33-41.

Schechner, R. (1990): Theateranthropologie. Spiel und Ritual im Kulturvergleich. Hamburg: Reinbek.

Schirch, L. (2005): Ritual and Symbol in Peacebuilding. Bloomfield: Kumarian Press.

Schutzman, M., Cohen-Cruz, J. (Hrsg.) (1994): A Boal Companion. Dialogues on Theatre and Cultural Politics. London/New York: Routledge.

Turner, V. (1989): Vom Ritual zum Theater: Der Ernst des menschlichen Spiels. Frankfurt: Campus.

Anmerkung

1) Die Medien fungieren in dieser Gesellschaft nicht als eine solche Öffentlichkeit, als ein Organ der Informations- und Meinungsverbreitung. Vielmehr konstituieren sie ein Emblem, ein Aushängeschild der Zugehörigkeit.

Hannah Reich (M.A. Islamic Societies and Cultures; Dipl. Kulturgeografin) arbeitet als assoziierte Wissenschaftlerin am Berghof Forschungszentrum in Berlin.

Gut gemeint ist längst nicht gut

Gut gemeint ist längst nicht gut

Über die Umsetzung des Aktionsplans Zivile Krisenprävention

von Herbert Wulf

Mit dem Aktionsplan »Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung«1 wollte 2004 die damalige Bundesregierung eine zukunftsweisende Politik zur Gewaltverhütung und Friedensförderung initiieren. Seit langem war von Fachleuten eine Außen-, Sicherheits- und Friedenspolitik aus einem Guss gefordert worden. Der Aktionsplan sollte diesem Anliegen Rechnung tragen und die verschiedenen Politikfelder zusammenführen. Im Juni 2010 legte die schwarz-gelbe Bundesregierung ihren 3. Bericht zur Umsetzung dieses Aktionsplans vor. Herbert Wulf zieht nach sechs Jahren eine kritische Bilanz.

Im vergangenen Jahrzehnt unternahmen verschiedene europäische Regierungen (u.a. Großbritannien, die Niederlande, Schweden, die Schweiz und auch Deutschland) ambitionierte Versuche, die eigene Politik kohärenter zu gestalten, um Krisen verhindern und gewaltsame Konflikte effektiver lösen zu können. Die britische Regierung forcierte besonders stark die so genannten Conflict Prevention Pools, in denen Außen- und Verteidigungsministerium sowie die Abteilung für Entwicklungszusammenarbeit mit einem gemeinsamen Budget Präventionsmaßnahmen durchführen. Zwei Besonderheiten machen den deutschen Aktionsplan zu einem potenziell innovativen Politikinstrument: erstens die ausdrückliche Betonung des zivilen Engagements in der Konfliktprävention und zweitens die Betonung nicht nur der interministeriellen Koordination, sondern vor allem die angestrebte Zusammenarbeit mit nicht-staatlichen Akteuren.2

Inzwischen gibt es in der deutschen Politik zur zivilen Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedensförderung vielfältige Initiativen und Erfahrungen (wie beispielsweise die Etablierung des Zentrums für Internationale Friedenseinsätze, den Zivilen Friedensdienst und die Förderung von Projekten zivilgesellschaftlicher Träger). Mehr zivile Aktivitäten zur Krisenprävention als allgemein in der Öffentlichkeit wahrgenommen wurden in den letzten Jahren entfaltet. Auch wurden im vergangenen Jahrzehnt die finanziellen Mittel hierfür erhöht.

Der jetzt vorgelegte dritte Bericht zur Umsetzung dieses Aktionsplans (für den Berichtszeitraum Mai 2008 bis April 2010)3 besteht aus einer Zwischenbilanz mit Ausblick und einer detaillierten Auflistung der Politikfelder und Aktionen, die die Bundesregierung für relevant im Sinne des Aktionsplans hält. Wie fällt nun die Zwischenbilanz nach sechs Jahren aus und was ist für die Zukunft zu erwarten?

Ein Sammelsurium statt klarer Prioritäten

Insgesamt 161 unterschiedliche Aktionen listete der Aktionsplan von 2004 auf (von Atomwaffenkontrolle und Ausstattungshilfe für ausländische Streitkräfte bis Zivilgesellschaft und ziviler Friedensdienst). Zu Recht handelte sich die Regierung damit die Kritik ein, auf alle möglichen Politikfelder das Etikett »Krisenprävention« zu kleben und nicht wirklich neue Akzente zu setzen oder verbindliche Prioritäten festzulegen. Mit der Vielzahl der Aktionen wurde die Entwicklungszusammenarbeit per se zur Prävention erklärt und der Präventionsbegriff damit tendenziell entleert.4 In den Folgejahren gingen zwar die genannten 161 Aktionen nicht völlig aus den Augen verloren, es mangelte jedoch an einem nachhaltigen Monitoring, welche der Aktionen tatsächlich umgesetzt wurden und ob sie erfolgreich waren und tatsächlich zur Prävention von Krisen oder zur Förderung des Friedens beigetragen haben.

Dieses Urteil muss für die jetzt vorgelegte Zwischenbilanz erneut gefällt werden. Auch der 3. Bericht zum Aktionsplan lässt eine solide Analyse der Politik zu Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedensförderung vermissen. Im Bericht vom Juni 2010 werden wieder zahlreiche Politikfelder aufgezählt. Es ist nur folgerichtig, dass aus einer buchhalterischen Auflistung vielfältiger Absichten und Initiativen der Vergangenheit, ohne eine nüchterne Evaluierung deren Wirkung, keine konzeptionell ausgereifte und kohärente Politik entstehen kann, sondern lediglich bürokratisches Abarbeiten einer an und für sich sinnvollen Vorgabe.

Im Bericht dominiert die Perspektive der Entwicklung in Nachkriegssituationen (post conflict) – eine weiterhin wichtige Aufgabe der Politik –, die Prävention aber, die im Aktionsplan mit dem selbstreflexiven Ansatz des »do no harm« enthalten war, ist inzwischen abhanden gekommen.5

Der Leser kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich die Bundesregierung mit der langatmigen Aufzählung ihrer zahlreichen Aktionen »durch lautes Rufen im Walde« selbst Mut machen will. Wieder listet sie die vielfältigen Politikfelder auf: Menschenrechte, »Transitional Justice«, Polizeihilfe, Sicherheitssektorreform, Terrorismusbekämpfung, grenzüberschreitende Kriminalität, Abrüstung, Rüstungskontrolle, Armutsbekämpfung, soziale Gerechtigkeit, Klima, Umwelt und Ressourcenschutz, Wirtschaft und Konflikt, Kultur, Bildung, Medien, Zivilgesellschaft, Gleichberechtigung – um nur die markanten Untertitel zu benennen. Sie führt auf, was sie alles im Rahmen der Vereinten Nationen, der Europäischen Union, der Regionalorganisationen auf anderen Kontinenten, im Europarat, in der NATO, der G8, der OECD und der Internationalen Finanzinstitutionen zur Krisenprävention und Konfliktbewältigung geleistet hat.

Schaut man sich die Präsentation der Politik der Bundesregierung im Detail an, dann erweist sich, dass es sich um ein Sammelsurium handelt, das irgendwie mit Krisenprävention und Konfliktlösung zu tun hat, es unterbleibt aber eine klare Prioritätensetzung. In einer Reihe von Feldern werden Allgemeinheiten oder Selbstverständlichkeiten aufgezählt, bei manchen handelt es sich um eine Verharmlosung der eigenen miserablen Politik. Zwei Beispiele: Bei der Politik zur Förderung der Gleichberechtigung und der Gleichstellung der Geschlechter hat man sich weitgehend den offiziellen internationalen Diskussionsmustern angeschlossen. Es werden »brav« die relevanten internationalen Dokumente und Beschlüsse benannt (vor allem Resolution 1325 des UN-Sicherheitsrats »Frauen, Frieden und Sicherheit«); es wird ebenso »brav« aufgeführt, dass in einigen Ländern Einzelprojekte zur Frauenförderung unterstützt wurden. Es fehlt jedoch jegliches innovative Element; ebenso vermisst man eine überzeugende und kraftvolle Politik, mit der dann tatsächlich Fortschritte zur Gleichstellung der Geschlechter erreichbar sind.

Zweites Beispiel: Rüstungsexport. Die Bundesregierung lobt sich zwar selbst für ihre Initiativen in der Rüstungskontrolle und betont, dass sie das UN-Waffenübereinkommen und dessen Implementierung unterstützt. Kein Wort aber davon, dass Deutschland zu den Hauptwaffenexporteuren gehört (nach den Statistiken von SIPRI in den letzten Jahren an dritter Stelle).6 Die kritischen Rüstungsexportberichte der Gemeinsamen Konferenz Kirche und Entwicklung (GKKE) dokumentierten in den letzten Jahren solide, welch fatale Rolle deutsche Rüstungsexporte in Krisenregionen spielen.7 Hier wäre eine grundlegende Umkehr der Politik erforderlich und damit ein wirklicher Beitrag zur Krisenprävention möglich. Würde hier eine am Frieden in der Welt orientierte Politik verfolgt und würden nicht immer wieder die restriktiven Rüstungsexportrichtlinien durch das eigene Handeln der Regierung ausgehebelt, dann könnte es sich die Bundesregierung auch ersparen, auf die Tatsache hinzuweisen, dass Deutschland im Jahr 2010 den Vorsitz in der UN-Kommission für Friedenskonsolidierung (UN Peacebuilding Commission) führt – oder sollte dieses diplomatisch-bürokratisch interessante Detail etwa auch als herausragender Beitrag der Friedensförderung durch Deutschland verstanden werden?

»Vernetzte Sicherheit«

Das größte Problem der Politik ziviler Krisenprävention ist die von der Bundesregierung anvisierte und praktizierte Verschränkung zwischen zivilen und militärischen Maßnahmen. Der Aktionsplan von 2004 führte wegen bestehender Differenzen zwischen einzelnen Ministerien etwas verklausuliert aus: „Krisenprävention ist fester Bestandteil deutscher Friedenspolitik und damit eine Querschnittsaufgabe, die in der Gestaltung der einzelnen Politikbereiche verankert sein muss. Aus diesem Grund verweist der Aktionsplan auch auf militärische Instrumente der Krisenprävention; diese sind zwar nicht Gegenstand dieses Aktionsplans, gleichwohl erfordert ein umfassender Ansatz, auch die Schnittstellen der zivilen zur militärischen Krisenprävention zu berücksichtigen.“ 8 Militärische Maßnahmen waren damit zwar im Blick aber eindeutig außerhalb des Aktionsplans angesiedelt.

Im Weißbuch des Verteidigungsministeriums von 2006 hieß es dann: „Der Begriff ‚zivile Krisenprävention’ ist nicht als Abgrenzung zu militärischer Krisenprävention zu verstehen, sondern schließt diese ein.“ 9 Zivile und militärische Krisenprävention sind zweifelsfrei Alternativen und folgen unterschiedlichen Logiken. Diese unterschiedlichen Ansätze in einen Topf zu werfen und zu behaupten, zivile Krisenprävention schließe militärische Einsätze ein, ist orwellscher Sprachgebrauch.

Während man sich innerhalb der Bundesregierung 2004 über das Verhältnis militärischer oder ziviler Maßnahmen nicht verständigen konnte, folgt der aktuelle Bericht zur zivilen Krisenprävention den Vorgaben des Verteidigungsministeriums. Es heißt, dass es ein Erfordernis ist, „insbesondere auch ein ausreichend dimensioniertes ziviles Engagement zu entfalten, um soweit wie möglich der Notwendigkeit militärischen Engagements vorzubeugen oder ggf. durch einen integrierten – zivile und erforderlichenfalls militärische Komponenten umfassenden – Ansatz zielgerichtet Konflikte zu bewältigen. Militärische Maßnahmen werden durch den Aktionsplan nicht ausgeschlossen; sie bleiben jedoch letztanwendbare Option.“ 10 Damit werden die beiden Bereiche vermengt, und angesichts der erheblich größeren Kapazitäten entsteht eine Hierarchie mit militärischer Dominanz.

Die Bundesregierung passt sich ganz dem an, was international inzwischen durchaus üblich geworden ist. Konfliktbearbeitung setzt vorrangig auf militärische Mittel, was sich auch in Art und Umfang der für Friedensmaßnahmen zur Verfügung gestellten Mitteln niederschlägt.11 Selbstbewusst führt die Bundesregierung im Bericht aus: „Im Rahmen der NATO hat sich die Bundesregierung dafür eingesetzt, den umfassenden Ansatz (comprehensive approach) der Krisenprävention und Konfliktbewältigung substantiell im neuen strategischen Konzept der NATO zu verankern.“ 12 Was aber ist der »comprehensive approach« der NATO? Der Begriff, der ins Deutsche mit »vernetzte Sicherheit« übersetzt wurde, ist ein neues außen- und sicherheitspolitisches Leitbild, mit dem zivile Fähigkeiten und Akteure für die Optimierung von »Stabilisierungseinsätzen« – de facto Besatzungs- und Aufstandsbekämpfungsoperationen – nutzbar gemacht werden sollen.13

Im 3. Bericht heißt es dann weiter: „Muster einer besonders engen Vernetzung und Koordinierung unter den deutschen staatlichen Stellen bleibt die Koordinierung der Ressorts beim deutschen Einsatz in Afghanistan und ihre Spiegelung in den Koordinierungsstrukturen vor Ort, wo das Modell der Provincial Reconstruction Teams (PRTs) den ganzheitlichen Ansatz des deutschen Engagements reflektiert.“ 14 Hier wird vorgegaukelt, dass es sich um ein ganzheitliches Konzept handelt. In Wirklichkeit wird eine Optimierung der Sicherheitspolitik betrieben und die zivilen Aufbaumaßnahmen werden den militärischen Erfordernissen untergeordnet. Was laut Umsetzungsbericht 2010 Modell einer ganzheitlichen Politik sein soll und der Inbegriff zivil-militärischer Zusammenarbeit ist, wird vom Dachverband der entwicklungspolitischen Organisationen VENRO abgelehnt. Ganz eindeutig distanzieren sie sich von der Politik, die von der Bundesregierung als modellhaft beschrieben wird. „Für die Hilfsorganisationen bedeuten die genannten Tendenzen zur zivil-militärischen Zusammenarbeit und zur Unterordnung der Entwicklungshilfe unter politisch-militärische Zielsetzungen eine deutliche Erschwerung und Einschränkung ihrer Arbeit. Sie schaden dem Ansehen und der Glaubwürdigkeit der NRO als unabhängige und unparteiliche humanitäre Akteure.“ 15 Trotzdem: Schritt für Schritt wird Entwicklungspolitik militarisiert.

Zivilgesellschaft an den Rand gedrängt

Der Aktionsplan betonte die Notwendigkeit der Kooperation mit der Zivilgesellschaft und die Stärkung ziviler Kräfte. Diese politische Vorgabe hat sich in Teilbereichen in erhöhten Mittelzuwendungen für Nichtregierungsorganisationen niedergeschlagen, auch wenn die aktuellen Haushaltszwänge manche Erwartungen enttäuscht haben. Doch das, was 2004 als notwendig erkannt wurde und was eine innovative Besonderheit des deutschen Ansatzes war – die Betonung des Zivilen und der Zivilgesellschaft –, diese Erkenntnis wurde inzwischen sicherheitspolitischen Erwägungen geopfert. Diese Politik wird nicht nur in der praktischen Arbeit vor Ort, vor allem in Afghanistan, deutlich. Denn der ursprünglich gegründete Beirat, in dem die Zivilgesellschaft und auch Wissenschaftler die Bundesregierung in der Umsetzung des Aktionsplans beraten sollen, ist inzwischen an den Rand gedrängt. In einer Stellungnahme der »Plattform Zivile Konfliktbearbeitung« und des «Forum Menschenrechte«, abgedruckt in dieser Ausgabe von W&F, wird der „marginalisierte Beirat“ beklagt. Inzwischen hält es die Bundesregierung nicht einmal mehr für nötig, den Beirat zu konsultieren. Vielmehr veröffentlicht sie den 3. Bericht und legt ihn dann dem Beirat zur Kenntnisnahme vor. Deutlicher kann man kaum kundtun, welche Priorität der Rat aus der Zivilgesellschaft hat.

Silomentalität statt Ressortkoordination

Der Aktionsplan von 2004 war mit dem Anliegen angetreten, zur effektiveren Krisenbewältigung eine kohärentere Politik und koordiniertes Zusammenwirken der beteiligten Akteure zu erreichen, national wie international. Jedoch lässt schon die Zusammenarbeit zwischen den beteiligten Ministerien (Auswärtiges Amt, Bundesministerium für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit, Bundesministerium der Verteidigung, gelegentlich auch Bundesinnenministerium und Justizministerium) zu wünschen übrig. Der Ressortkreis zur zivilen Krisenprävention, unter Vorsitz des Auswärtigen Amtes, hat es nie geschafft, eine einheitliche Politiklinie zu entwickeln oder gar durchzusetzen. Das liegt zum einen an der mangelnden Personal- und Mittelausstattung, ebenso aber auch an der niedrigen Aufhängung in der Hierarchie der Ministerien.16 Die geringe politische Bedeutung, die die jetzige Regierung dem Aktionsplan beimisst, mag man auch daran erkennen, dass er im Koalitionsvertrag mit keinem Wort erwähnt wird.

Bedeutsamer aber ist die Tatsache, dass in den Ministerien oftmals eine unverkennbare Silomentalität vorherrscht und die Umsetzung von Programmen in Konkurrenz zu anderen Ressorts verstanden wird. Dies ist vor allem zwischen Auswärtigem Amt und Entwicklungsministerium der Fall. Empirische Untersuchungen über die Art und die Ergebnisse der Ressortzusammenarbeit in der Krisenprävention gibt es nicht, bezeichnend aber ist, wie der 3. Bericht der Bundesregierung zur Umsetzung die Bedeutung einschätzt. Aus dem ursprünglich anspruchsvollen Ansatz, eine Politik aus einem Guss zu praktizieren, wurde jetzt ein „Forum des gegenseitigen Informationsaustauschs und der Abstimmung in Fragen der Krisenprävention.“ 17 Es ist ein Gremium zur horizontalen Koordination und Information, das keine Initiative ergreifen kann, ohne sie einem der beteiligten Ressorts zuzuordnen. Jedes Ministerium scheint besonders interessiert zu sein, ein möglichst breites Spektrum eigener Aktivitäten aus relevanten Bereichen zu präsentieren.18 Damit steht die deutsche Regierung im deutlichen Kontrast zu den eingangs erwähnten Prevention Conflict Pools in Großbritannien, die eben über Ministeriumsgrenzen hinweg operieren. Manche Beobachter messen dem Ressortkreis deshalb lediglich eine Alibifunktion zu.19

Wie weiter?

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die Besonderheiten des deutschen Ansatzes im Aktionsplan von 2004, nämlich die Betonung des zivilen Charakters der Krisenprävention und die Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft, sicherheits- und machtpolitischen Überlegungen geopfert bzw. nie ernsthaft und im umfassenden Sinne in Angriff genommen wurden. Positiv zu bewerten ist, dass die Bundesregierung gleich im ersten Unterkapitel ihrer Zwischenbilanz die Politik der Menschenrechte, der Demokratie und guter Regierungsführung als Kennzeichen krisenpräventiver Politik heraushebt.

Doch in der konkreten Durchführung ihrer Politik macht sie durch die Verzahnung von militärischen und zivilen Mitteln die Entwicklungszusammenarbeit und selbst Menschenrechtspolitik zu einem Instrument von Sicherheitspolitik. „Und genau darum geht es: Schritt für Schritt sind in den letzten Jahrzehnten ehemals eigenständige Politikbereiche dem Diktat sicherheitspolitischer Strategien untergeordnet worden.“ 20 Dabei steht nicht die Sicherheit der Menschen in den Konfliktregionen im Mittelpunkt, wie es das UN-Konzept der »menschlichen Sicherheit« im Blick hat, sondern vor allem deutsche sicherheitspolitische Interessen. Dass sich in der Europäischen Union eine ähnlich gestaltete Politik durchgesetzt hat, lässt eine klare Strategie zur Friedensförderung um so mehr vermissen. Das Themenfeld ziviler Krisenprävention und Konfliktförderung wird in Deutschland anscheinend als nicht ausreichend wichtig erachtet, um es als eigenständigen Bereich auch institutionell zu verankern.21

Der derzeitige Fokus auf Afghanistan und die dort gescheiterte Politik führen offensichtlich dazu, dass keine zielgerichtete zivile Krisenpräventionspolitik für Konflikt- und Postkonfliktsituationen möglich ist. Ob sich durch die Einrichtung eines neuen Parlamentsunterausschusses »Zivile Krisenprävention und vernetzte Sicherheit« in Zukunft an dem misslichen Zustand deutscher Krisenpräventions- und Friedenspolitik etwas ändert, bleibt abzuwarten. Angesichts der Erfahrungen der vergangenen sechs Jahre muss man jedoch skeptisch bleiben, dass sich der Gedanke der Prävention mit zivilen Mitteln als Priorität durchsetzen wird.

Anmerkungen

1) Die Bundesregierung: Aktionsplan »Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung«, Berlin, Mai 2004; http://www.auswaertiges-amt.de/diplo/de/Aussenpolitik/Themen/Krisenpraevention/Downloads/Aktionsplan-De.pdf.

2) Stengel, Frank A. und Christoph Weller: Action Plan or Faction Plan? Germany’s Approach to Conflict Prävention, in: International Peacekeeping 17 (2010), Nr. 1, S.93-107.

3) Die Bundesregierung: 3. Bericht der Bundesregierung über die Umsetzung des Aktionsplans »Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung«, Berlin, Juni 2010; http://www.auswaertiges-amt.de/diplo/de/Aussenpolitik/Themen/Krisenpraevention/Downloads/100623-AktionsplanKrisenpraevention2010.pdf.

4) Heinemann-Grüder, Andreas: Konfliktprävention – eine Alternative zu Militäreinsätzen, in: Bruno Schoch et al (Hrsg.): Friedensgutachten 2007, Münster, 2007, S.122 – 134.

5) Nachtwei, Winfried: Schriftliche Stellungnahme. Expertenanhörung zur zivilen Krisenprävention im Bundestag, Unterausschuss »Zivile Krisenprävention und Vernetzte Sicherheit«, 14. Juni 2010; http://www.nachtwei.de/index.php/articles/982.

6) Nach Angaben von SIPRI exportierte Deutschland weltweit im Zeitraum von 2004 bis 2009 11% aller konventionellen Großwaffensysteme und liegt damit auf Platz drei nach den USA und Russland und vor Frankreich und Großbritannien. SIPRI, SIPRI Yearbook 2010, Oxford, S.287.

7) Gemeinsame Konferenz Kirche und Entwicklung: Rüstungsexportbericht 2009, Bonn/Berlin, Dezember 2009; http://www3.gkke.org/fileadmin/files/publikationen/2009/GKKE_51_REB_2009.pdf.

8) Aktionsplan, a.a.O., S.1.

9) Bundesministerium der Verteidigung: Weißbuch zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr, Berlin 2006, S.28 Bildunterschrift; http://www.bmvg.de/fileserving/PortalFiles/C1256EF40036B05B/W26UVC8A855INFODE/Weissbuch_2006_Kapitel_1_mB_sig.pdf.

10) 3. Bericht der Bundesregierung, a.a.O., S.5.

11) Buro, Andreas: Schriftliche Stellungnahme. Expertenanhörung zur zivilen Krisenprävention im Bundestag, Unterausschuss »Zivile Krisenprävention und Vernetzte Sicherheit«, 14. Juni 2010; http://www.frient.de/downloads/Unterausschusssitzung_Buro.pdf.

12) 3. Bericht der Bundesregierung, a.a.O., S.6.

13) Wagner, Jürgen: Prototyp Afghanistan: »Comprehensive Approach« und Zivil-militärische Aufstandsbekämpfung der NATO, in: Johannes M. Becker und Herbert Wulf (Hrsg.): Afghanistan: Ein Krieg in der Sackgasse, Münster, Lit. Verlag, 2010 i.E., Kap. 5.

14) 3. Bericht der Bundesregierung, a.a.O., S.10.

15) VENRO: Was will Deutschland am Hindukusch? VENRO-Positionspapier 7/2009: Hilfsorganisationen fordern grundlegenden Kurswechsel in der Afghanistan-Politik, S.6; http://www.venro.org/fileadmin/Presse-Downloads/2009/November_2009/091112_VENRO_Afghanistan-Positionspapier_Vorschau.pdf.

16) Nachtwei, Winfried, a.a.O.

17) 3. Bericht der Bundesregierung, a.a.O., S.75.

18) Buro, Andreas, a.a.O.

19) Stengel und Weller, a.a.O., S.101, und Heinemann-Grüder, a.a.O., S.132.

20) Gebauer, Thomas: Zivil-militärische Zusammenarbeit. NGOs im Kontext der Militarisierung des Humanitären, in: Johannes M. Becker und Herbert Wulf (Hrsg.), a.a.O., Kapitel 7.

21) Paffenholz, Thania: Schriftliche Stellungnahme. Expertenanhörung zur zivilen Krisenprävention im Bundestag, Unterausschuss »Zivile Krisenprävention und Vernetzte Sicherheit«, 14. Juni 2010; http://www.frient.de/downloads/Unterausschusssitzung_Paffenholz.pdf.

Prof. Dr. Herbert Wulf war von 1994 bis 2001 Leiter des Bonner Konversionszentrums (BICC), er forschte am Institut für Friedens- und Sicherheitspolitik Hamburg (IFSH) und am SIPRI, Stockholm. Er ist Berater für verschiedene UN-Organisationen und Mitglied des geschäftsführenden Vorstandes von W&F.

Stillschweigender Abschied vom Aktionsplan Zivile Krisenprävention?

Stillschweigender Abschied vom Aktionsplan Zivile Krisenprävention?

von Plattform Zivile Konfliktbearbeitung und Forum Menschenrechte

Die Plattform Zivile Konfliktbearbeitung und das Forum Menschenrechte haben den 3. Umsetzungsbericht der Bundesregierung zum Aktionsplan »Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung« einer ausführlichen Analyse unterzogen. Nachfolgend dokumentieren wir die Kurzfassung der Stellungnahme.

Am 12. Mai 2004 formulierte die Bundesregierung mit dem Aktionsplan »Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung« erstmals konkrete Zielvorgaben für krisenpräventive Politik, die ressortübergreifend gelten sollten. Der am 23. Juni 2010 verabschiedete 3. Umsetzungsbericht vermittelt jedoch den Eindruck, dass es den beteiligten Ressorts an einem Kompass fehlt. Der Bericht ist von einer mitunter ideenlosen Vermengung verschiedenster Ansätze geprägt. Mit dem Konzept der »vernetzten Sicherheit« wird ein neues Hierarchieverhältnis von Militärischem und Zivilem begründet. Dass dieses Konzept gerade in Afghanistan kläglich gescheitert ist, wo es als alternativlos deklariert wird, bleibt unerwähnt. Besorgnis erregt, dass die für die zivile Krisenprävention erforderlichen Kapazitäten in Zukunft offenbar nicht auf- und ausgebaut sondern zurückgefahren werden sollen. Die Plattform Zivile Konfliktbearbeitung sowie das Forum Menschenrechte haben den Umsetzungsbericht in einer ausführlichen Stellungnahme kritisch kommentiert.

(1) Wohlklingende Zahlen mit wenig Aussagekraft

Der 3. Umsetzungsbericht dokumentiert, dass die Mittel für Maßnahmen der Prävention, Bewältigung und Überwindung von Gewaltkonflikten bis 2009 erfreulicherweise kontinuierlich angestiegen sind. So wurde z.B. der für internationale Maßnahmen aufgewendete Betrag von 63 Mio. EUR in 2008 auf 109 Mio. EUR in 2010 angehoben, gegenüber lediglich 12 Mio. Euro 2001. Nicht qualifiziert werden die angedeuteten drastischen Kürzungen im Haushaltsentwurf 2011. Sie würden die Ziele des Aktionsplans konterkarieren. Bei Maßnahmen für Frieden und Stabilität sollen Mittel im Umfang von 88 Mio. EUR gestrichen werden – das sind 18% der bisherigen Mittel. Gar 30% der Gelder für Krisenprävention, Konfliktbewältigung und Friedenskonsolidierung sollen entfallen, was eine Mittelkürzung von 38,6 Mio. EUR bedeutet. Der Zivile Friedensdienst (ZFD) soll von 30 Mio. EUR auf 29 Mio. EUR gekürzt werden.

Der Bericht weist häufig wohlklingende Zahlen aus mit nur wenig Aussagekraft. Zur Einordnung hilfreiche zeitliche und andere nachvollziehbare Bezugsrahmen werden oft nicht angeführt. So wird angegeben, dass Deutschland im Berichtszeitraum mit 8,6% bis 8,0% dritt-bzw. viertgrößter Beitragszahler zum Budget der Vereinten Nationen für Friedensmissionen war. Unerwähnt bleibt jedoch, dass die Bundesrepublik lediglich auf Platz 45 der personalstellenden Staaten rangiert und damit die Vereinten Nationen zugunsten von NATO-geführten Einsätzen »im Regen stehen« lässt. Leichtfertig wird zudem der im Dezember 2009 von Bundeskanzlerin Angela Merkel auf dem Weltklimagipfel von Kopenhagen für 2010–2012 in Aussicht gestellte Beitrag für Anpassungs-und CO2-Minderungsmaßnahmen der Zivilen Krisenprävention zugerechnet. Großzügig verbucht der Bericht die Zuwächse des BMZ-Etats in 2008 und 2009 (um 634 bzw. 656 Mio. EUR) unter Krisenprävention – als würde zur Begründung reichen, diese Mittel würden insbesondere zur Armutsreduzierung in Afrika eingesetzt.

(2) Ziviles im Schatten der »vernetzten Sicherheit«

Die zentralen Handlungsfelder »Menschenrechte, Demokratie und gute Regierungsführung« hebt der 3. Umsetzungsbericht prominent hervor. Allerdings ist den bisherigen Umsetzungsberichten nach und nach das Spezifische des Zivilen abhanden gekommen. In den Vordergrund rückt 2010 das bundesdeutsche Sicherheitsinteresse, das durch „moderne und leistungsfähige Streitkräfte und geeignete zivile Instrumente“ gewahrt werden soll. Vermehrt wird auf die Integration dieser Instrumente im Schatten »vernetzter Sicherheit« gesetzt. Hochproblematisch ist insbesondere die jüngste Tendenz, die Unterstützung humanitärer Hilfsorganisationen in Afghanistan auf die Einsatzgebiete der Bundeswehr zu beschränken und an eine Zusammenarbeit mit dieser zu binden. Humanitäre Hilfsorganisationen müssen neutral und aufgrund der eigenen Sicherheit sowie internationaler Konventionen und Standards unabhängig vom Militär arbeiten können. Die Einordnung ziviler Akteure und Handlungsbereiche in eine militärische Logik von Intervention und Krisenreaktion widerspricht liberalen Traditionen, bürgerschaftliches Engagement nicht an die Präferenzen des Staates zu binden.

(3) Wenig Information über Fortschritte

Der Bericht ist in weiten Teilen ein Sammelsurium, aus dem sich nur wenig über Fortschritte und mögliche Hindernisse bei der Implementierung von Initiativen und Maßnahmen herauslesen lässt. Das Kapitel zur Gleichberechtigung/Gleichstellung der Geschlechter beschränkt sich z.B. auf Hinweise zu bestehenden Initiativen, wie etwa der im Jahre 2000 verabschiedeten UN-Sicherheitsratsresolution 1325. Zielführender wäre es gewesen, konkrete Anregungen aufzunehmen, wie sie etwa der Frauensicherheitsrat vorgebracht hat. So könnte Deutschland einen nationalen Aktionsplan zur Resolution 1325 einführen und den Anteil weiblichen Personals bei Friedensmissionen der Vereinten Nationen, Polizeimissionen und zivilem Personal gezielt erhöhen. Auch Projekte zur Konsultation lokaler Frauengruppen im Vorfeld und bei der Durchführung von Friedensmissionen und Vermittlungsprozessen könnten stärker gefördert werden. Wenig Informationen gibt es im Bereich von Ressourcen etwa zur Frage, wie die Rohstoffgewinnung wirksam zu zertifizieren ist. Bei der grundsätzlich wichtigen Einbindung der Privatwirtschaft bleibt die seit langem erhobene Forderung unbeachtet, solche Initiativen nicht allein auf Freiwilligkeit und Gegenseitigkeit zu stützen, sondern verbindliche, überprüfbare menschenrechtliche Standards zu vereinbaren.

(4) Keine Auswertung eigener Politik

Der 3. Umsetzungsbericht blendet viele Politikfelder aus, in denen deutsche Interessen auf negative Rückwirkungen hin zu überprüfen wären. Der »Do No Harm«-Grundsatz scheint ad acta gelegt zu sein. Dies gilt z.B. für große wirtschaftliche Projekte auf multilateraler Ebene (v.a. Weltbank, Internationaler Währungsfonds), Handelsabkommen in der Zuständigkeit der Welthandelsorganisation und Rüstungsexporte. Zu einer kritischen Betrachtung des eigenen Handelns gehören Evaluationen und Wirkungsanalysen: Ein erster Schritt wäre die Aufstellung aussagekräftiger und nachvollziehbarer Datenübersichten. Anhand von Fallstudien sollte thematisiert werden, wie überhaupt bestimmte Wirkungen in komplexen Zusammenhängen identifiziert und beurteilt werden können. Hier wäre ein größerer Forschungsauftrag erforderlich.

(5) Schwacher Ressortkreis, marginalisierter Beirat

Der Aktionsplan ist in den Ministerien nicht hoch genug aufgehängt und der Ressortkreis selbst ist in den vergangenen Jahren nur mühsam in Gang gekommen. Enttäuschend fällt die Bilanz des Dialogs zwischen Administration, Wissenschaft und Zivilgesellschaft aus. Wohl selten ist ein Beirat durch die Administration derart marginalisiert worden wie beim Aktionsplan. Bezeichnend ist, dass die Stellungnahme des Beirats zum 2. Umsetzungsbericht weder in denselben aufgenommen noch im 3. Umsetzungsbericht erwähnt wurde. Auch wurden die Empfehlungen des Beirats kaum aufgegriffen. So wurde zwar eine Evaluierung des ZFD in Auftrag gegeben, nicht aber eine umfassendere Bestandsaufnahme der krisenbezogenen Aktivitäten der Bundesregierung. Von einer professionellen Kommunikationsstrategie ist der Ressortkreis nach wie vor weit entfernt. Der Krisenbeauftragte ist weiterhin öffentlich kaum sichtbar. Die Verstetigung der Finanzmittel wird durch die jüngsten Haushaltsplanungen ins Gegenteil verkehrt. Die Frühwarnsysteme sind keinesfalls besser vernetzt. Lediglich die Anregung, das Thema Krisenprävention und Friedenskonsolidierung als Querschnittsaufgabe bewusst zu machen, wurde über Übungs-und Ausbildungsmodule weiter verfolgt und soll durch ein nationales Planspiel weiter voran getrieben werden. Der neu eingerichtete Unterausschuss »Zivile Krisenprävention und Vernetzte Sicherheit« deutet aber eine potenziell zuversichtliche Entwicklung an. Abzuwarten bleibt, ob der Ausschuss dem Aktionsplan zu besseren politischen Umsetzungs-und Steuerungsinstrumenten verhilft und ein Leitbild entwickelt, das dem Primat des Zivilen wirklich folgt und auch die entsprechenden Ressourcen und Konzepte zur Verfügung stellt.

Köln/Berlin, den 13. September 2010

Anmerkungen

Die Überschriften des Textes wurden in W&F leicht gekürzt.

Die Langfassung der Stellungnahme vom 13. September 2010 ist online verfügbar unter http://www.konfliktbearbeitung.net/downloads/file1556.pdf. Die Stellungnahme kann mit unterzeichnet werden. Bitte einfach eine entsprechende Mail an: Koordination@konfliktbearbeitung.net.

Plattform Zivile Konfliktbearbeitung: Ulrich Frey (für den Sprecherrat)
Forum Menscherechte: Dr. Jochen Motte (für den Koordinierungskreis)

Zivile Konfliktbearbeitung im Inland

Zivile Konfliktbearbeitung im Inland

Vom Umgang mit gesellschaftlichen Konflikten

von Bernd Rieche

Fachkräfte aus Deutschland gehen weltweit in ausländische Krisenregionen, um z.B. im Rahmen des Zivilen Friedensdienstes lokale Partner bei der zivilen Bearbeitung von Konflikten zu unterstützen. Doch auch im deutschen Inland bestehen Konflikte, die gewaltsam zu eskalieren drohen, bspw. rechtsextreme Gewalt oder Auseinandersetzungen bei Demonstrationen. Bernd Rieche beleuchtet, welche Ansätze der Zivilen Konfliktbearbeitung im Inland in Deutschland existieren und welche inhaltlichen Fragen und Spannungsfelder sowie Probleme der Vernetzung und der politischen Einflussnahme aktuell bestehen und innerhalb der »Community« diskutiert werden. Der Autor skizziert die Werte, Ziele, Handlungsfelder und Grenzen der Zivilen Konfliktbearbeitung im Inland und plädiert dafür, das neue Konzept als Mittel einer konstruktiven Streitkultur im Rahmen einer lebendigen innergesellschaftlichen Demokratie weiter zu entwickeln.

Zivile Konfliktbearbeitung (ZKB) umfasst ein breites Spektrum zivilen Engagements, um gesellschaftliche Konflikte gewaltfrei, friedlich und konstruktiv auszutragen. Der Begriff tauchte Anfang der 1990er Jahre zum ersten Mal auf, als es nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation darum ging, gewaltsame, nun zunehmend innerstaatliche Konflikte friedlich zu regeln. Andere Begriffe wie Krisenprävention, friedliche Streitbeilegung, Konfliktregelung etc. beschreiben ähnliche Ansätze und werden meist unter Konfliktbearbeitung zusammengefasst. Dabei kann »zivil« dreierlei bedeuten – ohne dass dies in jedem Fall reflektiert und unterschieden wird: Erstens bedeutet »zivil« nicht-militärisch, zum Zweiten meint es zivilgesellschaftlich bzw. nicht-staatlich oder steht drittens für zivilisiert, z.B. im Sinne des zivilisatorischen Hexagons. Da der Begriff zunächst für Interventionen in gewaltsamen Konflikten im Ausland – wie die Arbeit von Friedendiensten im ehemaligen Jugoslawien oder der Schutz von bedrohten AktivistInnen durch Begleitung der Internationalen Friedensbrigaden – verwendet wurde, ist die mit dem Begriff »nicht-militärisch« vorgenommene Abgrenzung zunächst scharf genug, um auch eine Debatte mit staatlichen Akteuren zu führen und sie als potentielle Akteure der ZKB mit einzubeziehen.

Mitte der 1990er Jahre gründete sich die »Plattform Zivile Konfliktbearbeitung« (Plattform ZKB) und führte diverse zivilgesellschaftliche Milieus der Friedendienste, Entwicklungszusammenarbeit, Menschenrechtsarbeit und Wissenschaft zusammen. Gemeinsames Interesse waren vor allem Interventionen im Ausland. Die Plattform ZKB hat sich zur Aufgabe gemacht, fachlichen Austausch sowie gemeinsame Öffentlichkeitsarbeit und Lobbyarbeit zu organisieren und die internationale Vernetzung zu fördern (vgl. Plattform ZKB, 1998). Zumindest für die Auslandsarbeit haben sich dabei in den letzten Jahren einige Erfolge eingestellt: Arbeitsstrukturen sind etabliert und staatliche Fördergelder stehen bspw. für den Zivilen Friedensdienst (ZFD) oder das Förderprogramm Zivile Konfliktbearbeitung (zivik) zur Verfügung. Darüber hinaus wurden spezifische Methoden entwickelt, Erfahrungen werden systematisch ausgewertet und auch im wissenschaftlichen Raum befassen sich einige – wenn auch noch wenige – mit Fragestellungen auf diesem Gebiet.

ZKB ist aber weder auf die Arbeit im Ausland noch auf Interventionen als Methode beschränkt. Eine grundlegende Erfahrung der Arbeit im Ausland ist, dass Friedensprozesse von den Akteuren vor Ort getragen werden müssen. Externe Akteure können solche Prozesse lediglich unterstützen und friedenswillige Kräfte im Inneren stärken. Entsprechend können und müssen Akteure auch in ihren eigenen Konfliktkonstellationen im Inland Methoden der ZKB anwenden. Grundlage der ZKB ist ein positives Konfliktverständnis, bei dem Konflikte nicht als etwas Negatives angesehen werden, sondern als zum Leben dazugehörig. Konflikte treiben Entwicklung voran. Ziel ist es daher nicht, Konflikte zu vermeiden, sondern Wege zu finden, wie mit ihnen gewaltfrei umgegangen werden kann.

Zivile Konfliktbearbeitung in Deutschland

Auch innerhalb Deutschlands gibt es viele Akteure, die Methoden der zivilen Konfliktbearbeitung anwenden. Die Mediation, welche in den 1990er Jahren in Deutschland zunehmend Verbreitung fand, hat sich zu einer der profiliertesten Methoden in diesem Bereich entwickelt. Aber auch die Friedensdienste und Kirchen begannen in dieser Zeit, verstärkt Kurse für Friedensarbeit und Konfliktbearbeitung anzubieten. Es gründete sich bspw. der Ökumenische Dienst/Schalomdiakonat, welcher Menschen für die Friedensarbeit im In- und Ausland qualifiziert; die MultiplikatorInnenausbildung zur Bearbeitung innergesellschaftlicher Konflikte wurde von der Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden (AGDF) initiiert; es entstand die TrainerInnenausbildung des Fränkischen Bildungswerkes usw. Alle diese Initiativen hatten auch die Arbeit im Inland im Blick.

Von Anfang an engagierten sich die genannten Akteure in der Plattform ZKB. Die Motive und Begründungen für die Arbeit in Deutschland bezogen sich dabei auf innergesellschaftliche Konfliktlagen, wie die Ausbreitung rechtsextremer Gedanken und Szenen (vor allem in Ostdeutschland), Amokläufe an Schulen oder gesellschaftliche Konflikte wie der alljährlich im Wendland vor allem durch gewaltfreie Aktionen eskalierte und in den Mittelpunkt gesellschaftlicher Aufmerksamkeit gerückte Konflikt um Atomenergie.

Auch der Staat erkennt die Methoden der ZKB im Inland inzwischen an und fördert sie entsprechend. So wurde mit dem rot-grünen Regierungswechsel 1998 nicht nur der ZFD als staatlich finanziertes Programm eingeführt; mit dem Förderprogramm Civitas wurden darüber hinaus auch zivilgesellschaftliche Ansätze der Eindämmung von Rechtsextremismus gefördert. Im Rahmen von Civitas baute man Beratungsstellen mit mobilen Beratungsteams auf, wobei in den letzten Jahren eine Ausweitung dieser Struktur auf das gesamte Bundesgebiet erfolgte. Staatliche Förderung erhielten zudem einzelne Kurse in ziviler, gewaltfreier Konfliktbearbeitung.

Das Problem der Vernetzung

Die Begrifflichkeit der »Zivilen Konfliktbearbeitung im Inland« (ZKBI) scheint auf den ersten Blick wenig einleuchtend zu sein. ZKB im engen Sinne als Gegensatz zu einem militärischen Eingreifen kann in Deutschland glücklicherweise (noch!) ausgeschlossen werden, da letzteres durch das Grundgesetz verhindert wird. In einem weiteren Sinne – zivil als »zivilgesellschaftlich« verstanden – stellen sich die Fragen, wer in Deutschland wie und wo zivile Konfliktbearbeitung betreibt und wie entsprechende Ansätze staatlicher Akteure dem zuzuordnen sind.

Während die Szene der im Ausland aktiven deutschen Organisationen einigermaßen überschaubar ist, stellt sich die Situation im Inland um einiges komplexer dar. Hier existieren zahlreiche Akteure, die an und in gesellschaftlichen Konflikten arbeiten, welche (zumindest potentiell) auch gewaltsam ausgetragen werden.

In der Auslandsarbeit, wo sich die Akteure vor allem über Entwicklungs-, Menschenrechts- oder Friedensarbeit definieren, sind staatlicherseits vor allem die Bundesebene mit den Ressorts Entwicklungszusammenarbeit und Auswärtiges relevant. Im Inland dagegen definieren sich die Akteure über verschiedenste Arbeitsbereiche, wie Schule, Gemeinwesen, Gewaltprävention, Bildungsarbeit, Arbeit mit MigrantInnen etc. Diese Bereiche fallen staatlicherseits in so unterschiedliche Ressorts wie Inneres, Kultus, Familie/Jugend und Justiz – Zuständigkeitsbereiche also, die vor allem von den Ländern verantwortet werden. Eine bundesweite Vernetzung ist vor allem deshalb schwierig, weil die meisten Aufgabenfelder staatlicherseits dezentral in den Ländern oder Kommunen bearbeitet werden. Entsprechend sind viele fachliche Vernetzungen jeweils auf Landesebene organisiert, und es gibt regional sehr unterschiedliche Trägerstrukturen.

Da sich Lobbystrukturen meist parallel zu staatlichen Strukturen entwickeln, ergibt sich hier eine bisher nicht gelöste Herausforderung für die Vernetzung der ZKB auf Bundesebene. Es fehlt bislang sowohl an geeigneten fachlichen Vernetzungs- als auch an politisch wirksamen Vertretungsstrukturen. Entsprechend ist es bisher kaum gelungen, in geeigneter Weise auf staatliche Programme Einfluss zu nehmen.

Um diese Defizite an fachlicher und politischer Vernetzung zu beheben oder zumindest zu lindern, hat sich 2005 innerhalb der Plattform ZKB eine »Arbeitsgruppe Zivile Konfliktbearbeitung im Inland« gegründet. Diese will das Feld erkunden und zu einer fachlichen Vernetzung einladen sowie eine gemeinsame Lobbyarbeit aufbauen. Gemeinsames Ziel ist es, eine konstruktive Konfliktkultur in Deutschland zu fördern. Die Arbeitsgruppe hatte als einen ersten Arbeitsschritt und als Gesprächsgrundlage eine Arbeitsdefinition für ZKBI erarbeitet: „Zivile oder staatlich allparteiliche Akteure wenden Methoden der gewaltfreien konstruktiven Konfliktbearbeitung an. Im Mittelpunkt steht die nachhaltige Bearbeitung sozialer Konflikte, mit dem Ziel, unmittelbar Gewalt zu vermindern und langfristig den gewaltfreien Umgang mit Konflikten in Strukturen zu verankern.“ (Klußmann/Rieche, 2008)

Während diese Arbeitsgruppe zunächst noch von ZKB in Deutschland sprach, wurde bald deutlich, dass es generell um die Bearbeitung gesellschaftlicher Konflikte im Inland durch innergesellschaftliche Akteure geht und dass daher die Bezeichnung »Zivile Konfliktbearbeitung im Inland« (ZKBI) treffender ist.

Im Grundsatzpapier der AG wird zur Situation der ZKBI konstatiert: „Eine Vernetzung der vielfältigen Arbeitsfelder und unterschiedlichen Methodenansätze der ZKBI findet bisher allenfalls ansatzweise statt. Übergreifende Strukturen des konzeptionellen Austauschs, der Diskussion von Methoden und ihrer Anwendungspraxis sowie wissenschaftliche Forschung hierzu fehlen bisher weitestgehend. Ebenso fehlt bislang eine systematische Überprüfung, inwieweit Konzepte der Arbeit im Ausland im Inland hilfreich sind, und andersherum. In der Öffentlichkeit sind die Arbeitsfelder und ihre Chancen nicht angemessen repräsentiert, Strukturen für eine gemeinsame politische sowie gesellschaftliche Lobby- und Öffentlichkeitsarbeit haben sich noch nicht herausgebildet.“ (Plattform ZKB 2009)

Spannungsfelder und Dilemmata

Nachdem 2006 in Bonn bereits eine erste Fachtagung zur ZKB in Deutschland abgehalten wurde (vgl. Klußmann/Rieche, 2008), findet aktuell eine Workshop-Reihe statt, welche die Arbeitsbereiche in einen fachlichen Austausch bringt und auf folgende allgemeine Fragen zu Spannungsfeldern oder Dilemmata der ZKB fokussiert, die auch für die Arbeit im Inland relevant sind:

Zielt der jeweilige Ansatz auf Veränderungen bei Schlüsselpersonen oder bei vielen Menschen ab?

Sind Veränderungen vor allem auf der individuellen/persönlichen Ebene oder auf der strukturellen/politischen Ebene beabsichtigt?

Ist der Ansatz allparteilich/neutral oder parteiisch/solidarisch?

Ist der Ansatz auf Deeskalation oder (konstruktive) Eskalation ausgelegt?

Handelt es sich um eine Intervention von außen oder ein Engagement von innen?

Geht die Arbeit auf eine Anfrage zurück oder eher auf ein aktives Angebot?

Auf welcher gesellschaftlichen Ebene setzt die Arbeit an – auf der Graswurzelebene, auf der mittleren oder auf der oberen Ebene?

Diese Fragen werden in Bezug auf unterschiedliche Felder wie Kampagnenarbeit, Moderation von kommunalen Prozessen gegen rechtsextreme Aufmärsche, Bildungsarbeit (Ausbildung in ZKB, Trainingsarbeit) oder Begleitung des Baues der Moschee in Köln, aber auch Sozialarbeit oder Traumatherapie betrachtet und diskutiert. Auch wenn der Prozess des gemeinsamen Lernens noch nicht abgeschlossen ist, so ist doch schon jetzt klar, dass diese Fragen für viele Bereiche der ZKB relevant sind und sich ein Austausch – auch zwischen zunächst nicht ähnlichen Arbeitsfeldern – lohnt, da er der Reflexion der eigenen Arbeit dient und das eigene Profil schärft.

Folgende Erkenntnisse ergab die bisherige Debatte mit Blick auf die oben skizzierten Fragen: Die Arbeit mit Individuen – bspw. mit Arbeitslosen in der Sozialarbeit oder PatientInnen in der Traumatherapie – ist zunächst keine ZKB, da sie in der Regel nur die individuellen Konfliktlinien im Blick hat und nicht auf gesellschaftliche Veränderung abzielt. Trotzdem ist eine solche Arbeit geboten, kann durchaus gewaltpräventiv wirken und auch eine Voraussetzung für ZKB sein, um Menschen (wieder) politisch handlungsfähig zu machen.

Ebenso ist Mediation zwar eine konfliktbearbeitende Methode, aber nicht per se ZKB. Auch hier ist entscheidend, ob die gesellschaftliche/strukturelle Ebene mit in den Blick genommen wird. Gemeinwesenmediation etwa ist eher ein der ZKB zuzuordnender Bereich der Mediation als Familienmediation.

In gleicher Weise ist auch Gewaltprävention differenziert einzuordnen. Diese wird auf kommunaler Ebene (besonders aus polizeilicher Sicht) oft auch als Kriminalprävention verstanden und setzt dann meist auf der individuellen Ebene potentieller Täter und Opfer oder an Symptomen der unmittelbaren Gewaltreduktion – wie der Gestaltung von öffentlichen Räumen, ggf. durch Überwachung – an. Die Bearbeitung zugrunde liegender gesellschaftlicher Konflikte bildet selten ein Ansatzpunkt. Hier könnte die Perspektive der ZKB einen Beitrag liefern.

Handlungsfelder

Im Verlauf des Diskussionsprozesses kristallisierten sich bisher drei idealtypische Handlungsfelder der ZKBI heraus:

1. Eine zunächst vor allem parteiische, solidarische Arbeit auf Seiten von Benachteiligten. Dies kann Empowerment, wie z.B. Bildungsarbeit oder Capacitybuilding sein. Auch eine politische Eskalation des Konfliktes kann angestrebt werden, um ihn politisch bearbeitbar zu machen. Diesem Ansatz können dann auch Bereiche der (politischen) Asylarbeit, der Beteiligung an sozialen Bewegungen – z.B. im Rahmen der Anti-Atom-Bewegung oder von Attac – zugerechnet werden, solange sie das Ziel haben, die zugrunde liegenden gesellschaftlichen Konflikte gewaltfrei zu bearbeiten.

2. Die allparteiliche Moderation vor allem in kommunalen Konflikten. Das sind Angebote wie die Beratungsnetzwerke gegen Rechtsextremismus oder die Moderation kommunaler Prozesse bspw. in Bezug auf Moscheebauten.

3. Bildungsarbeit, Kompetenzvermittlung in ziviler, gewaltfreier Konfliktbearbeitung. Dabei werden allgemein Menschen befähigt, in ihren eigenen Konflikten, aber auch gegenüber Dritten handlungsfähig zu werden.

Werte und Grenzen

Deutlich wird, dass alle drei Handlungsfelder im engen Zusammenhang mit Demokratieentwicklung/-bildung stehen und eng mit diesem Ziel verbunden sind, da Demokratie vom Diskurs und der Handlungsfähigkeit der gesamten Gesellschaft inklusive benachteiligter Gruppen lebt.

ZKB ist – nicht nur im Inland – immer an Werte gebunden, die sich an den Menschenrechten orientieren. Hieraus leiten sich sowohl ihre Ziele als auch ihre Grenzen ab. Solche Grenzen werden auch in der Arbeit im Inland schnell erreicht: Wie verhalte ich mich in einem Beratungsprozess, wenn Benachteiligte für Gewaltanwendung plädieren? Wie gehe ich damit um, wenn in Beratungsprozessen gegen Rechts von »normalen« Akteuren rassistische Äußerungen kommen? In welchem Ausmaß gestehen wir Akteuren demokratische Rechte zu, wenn sie selbst für eine Einschränkung eben dieser Rechte eintreten (z.B. Demonstration gegen »Ausländer«)?

ZKB kann Methoden zum Umgang mit Grenzen bieten, z.B. indem sie diese explizit thematisiert. Akteure der ZKB stoßen ihrerseits an ihre Grenzen, wenn strukturelle und gesellschaftliche Rahmenbedingungen ihre Handlungsmöglichkeiten einschränken. Soziale Ungerechtigkeiten können nicht durch ZKB überwunden werden, aber Methoden der ZKB können in durch Konflikte hervorgerufenen gesellschaftlichen Prozessen angewandt werden, welche letztlich auch strukturelle und gesellschaftliche Rahmenbedingungen verändern können. Hierzu zählen, auch wenn zunächst nicht als ZKB bezeichnet, beispielsweise die Freiwilligendienste der Aktion Sühnezeichen, die zu einer Aussöhnung mit Polen mit beitrugen, oder die Moderation der Runden Tische am Ende der DDR. (Staffa, 2008; Rieche/Weingardt, 2008)

Der Erfahrungsaustausch mit Projekten der ZKB im Ausland, z.B. mit Fachkräften des ZFD, zeigt, dass sich die Herausforderungen und Fragen ähneln. Jedoch gibt es auch spezifische Herausforderungen der Arbeit im Ausland, da kulturelle Unterschiede in diesem Bereich von größerer Bedeutung sind. Aber schon die Unterscheidung von extern und intern ist immer relativ und situationsbezogen zu diskutieren. Eine inländische Beraterin aus einer anderen Kommune kann ebenso als extern wahrgenommen werden wie eine Fachkraft im Ausland. Und selbstverständlich ist eine Intervention im Ausland auch ein Eingriff in das bestehende soziale Gefüge, wodurch die Fachkraft als konfliktinterner Akteur wahrgenommen werden kann. Hier hilft der gegenseitige Austausch zwischen der Arbeit im Inland und im Ausland zur Klärung der eigenen Rollen und damit der weiteren Qualifizierung der Arbeit.

Letztlich bleibt die Begrifflichkeit der »ZKB im Inland« problematisch und ist weiterhin zu diskutieren. Die Verwendung des Begriffes »zivil« ist mit Bezug auf das Inland schwierig, da eine Abgrenzung zum Militärischen nicht notwendig ist und die Bedeutung »zivilgesellschaftlich« offen lässt, wieweit staatliche Akteure, inkl. Polizei, mitgemeint sind, da auch diese, z.B. unter dem Begriff der Gewaltprävention, Methoden der ZKB anwenden. Daher haben sich im kommunalen Kontext auch Begriffe wie »konstruktive Konfliktbearbeitung« oder »friedliche Konfliktbearbeitung« etabliert.

Die Verwendung eines neuen Begriffes ist immer auch eine strategische Entscheidung, abhängig davon, ob hierdurch neue gesellschaftliche Debatten gestartet werden und z.T. alte Anliegen neu ins Gespräch gebracht werden können. Somit bleibt offen, ob »ZKB im Inland« ein Unter- oder Überbegriff oder ein Querschnittsthema ist, ebenso bleibt die Zuordnung oder Abgrenzung zu »Gewaltprävention«, »Demokratiebildung« oder »politischer Arbeit« unscharf. In jedem Fall ist »ZKB im Inland« als Arbeitstitel zur Vernetzung, zum fachlichen Austausch und zum gemeinsamen politischen Wirken verschiedener Szenen hin zu einem Mehr an konstruktiver, d.h. gewaltfreier, Streitkultur in unserer Gesellschaft tauglich.

Literatur

Klußmann, Jörgen/Rieche, Bernd (Hrsg.) (2008): Zivile Konfliktbearbeitung in Deutschland. Dokumentation der gleich lautenden Tagung aus dem Jahr 2006. Bonn: Evang. Akademie im Rheinland.

Plattform ZKB (2009): Grundsatzpapier Zivile Konfliktbearbeitung im Inland. www.konfliktbearbeitung.net.

Plattform ZKB (1998): Charta Plattform Zivile Konfliktbearbeitung. www. konfliktbearbeitung.net.

Staffa, Christian (2008): Schuld, Verantwortung, Umkehr – Lernen im Angesicht der deutschen Geschichte. In: Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden (Hrsg.): Gewaltfrei streiten für einen gerechten Frieden. Plädoyer für zivile Konflikttransformation. Oberursel: Publik-Forum, S.228-239.

Weingardt, Markus A./Rieche, Bernd (2008): Gewaltfreier Widerstand. Die evangelische Kirche in der DDR. In: Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden (Hrsg.): Gewaltfrei streiten für einen gerechten Frieden. Plädoyer für zivile Konflikttransformation. Oberursel: Publik-Forum. S.100-109.

Bund für Soziale Verteidigung e.V. (Hrsg.) (2010): Neue Wege aus der Gewalt. Beiträge zur BSV-Jahrestagung 2010. Hintergrund- und Diskussionspapier Nr. 30. Minden.

Bernd Rieche ist Referent für zivile, gewaltfreie Konfliktbearbeitung der Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden (AGDF) und koordiniert die AG Zivile Konfliktbearbeitung im Inland der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung.