Zivil, selbstbestimmt und politisch Handeln

Zivil, selbstbestimmt und politisch Handeln

NGOs im Kontext der Militarisierung des Humanitären

von Thomas Gebauer

Hauptziel der Entwickklungszusammenarbeit ist entsprechend dem Vertrag über die Arbeitsweise der EU (Artikel 208) die Bekämpfung der Armut und auf längere Sicht deren Beseitigung. Der für dieses Gebiet zuständige deutsche Minister, Dirk Niebel, setzt offensichtlich andere Schwerpunkte. Er möchte die Entwicklungszusammenarbeit auf die Wahrung deutscher Interessen und die Zuarbeit zum Militär verpflichten. Anfang Mai stellte er im BMZ die neue NGO-Fazilität für Afghanistan vor. In dem Fördertopf sind 10 Millionen Euro enthalten, die nur an Organisationen gehen sollen, die sich zur Kooperation mit dem Militär bereit erklärt haben. Unser Autor geht ein auf die Gefahren, denen die zivilen Helfer an der Seite des Militärs ausgesetzt werden. Zivil-militärische Zusammenarbeit hat für ihn nicht die Zivilisierung eines militärischen Einsatzes zum Ziel, sondern die Steigerung dessen Wirksamkeit. Er fordert ein Recht auf Unabhängigkeit für die Hilfsorganisationen.

Zu den Merkmalen heutiger Kriege zählt die Unklarheit über den Status von Gewaltakteuren. Ob jemand als Soldat, protestierender Oppositioneller oder ziviler Sympathisant von Aufständen und feindlichen Einheiten anzusehen ist, das beschäftigt heute nicht nur Armeeführungen, sondern auch Völkerrechtler und Institutionen wie das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK). Die Sorge ist groß, dass mit der Verwischung der Grenze zwischen Krieg und Frieden auch die Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nicht-Kombattanten immer schwerer fällt. Wie sollen Interventionskräfte Zivilpersonen begegnen, wenn diese gleichzeitig als potentielle Verbündete gelten, deren »hearts and minds« man erobern möchte, und als Sicherheitsrisiken, die es zu bekämpfen gilt? Der junge Mann an der Straßenecke, die Insassen des auf einen Checkpoint zufahrenden Autos, die Gruppen von Bauern auf dem Feld – immer bleibt Unsicherheit. Das gilt gerade auch für das Geschehen in Afghanistan, wo Umfragen nahelegen, dass eine Mehrheit der Menschen die Präsenz der ausländischen Truppen begrüßt, aber offenbar auch die Zahl derer wächst, die sich aktiv am Widerstand gegen die Internationalen Schutztruppen beteiligen (Henze 2010).

Solche Unsicherheiten sind nicht neu. Schon in früheren Kriegen haben Militärs in Zivilisten nicht einfach nur Unbeteiligte gesehen, sondern immer auch Akteure, die zumindest mittelbar in die Kampfhandlungen verwickelt sein können. Spätestens in den anti-kolonialen Guerilla-Kriegen ist die Zivilbevölkerung ins Visier von Militärs geraten. Der Auftrag der Truppen lautete Aufstandsbekämpfung, was neue Formen der Kriegsführung notwendig machte. Wie diese aussahen, das kann dem Bericht einer Tagung entnommen werden, die 1962 von der Rand Cooperation, einer Denkfabrik der US-Militärs, veranstaltet wurde. Bemerkenswert ist das Kapitel »Psychological Warfare and Civic Action«, das bereits alle Elemente heutiger Hearts and Minds-Strategien beschreibt: die Bedeutung von psychologischer Kriegsführung, die Notwendigkeit, auf die sozialen Bedürfnisse der lokalen Bevölkerung zu antworten, das Bemühen, über den Bau von Gesundheitsstationen und Schulen die Unterstützung der Menschen zu gewinnen, die Rolle von Medien in der Propagandaarbeit sowie die Vorteile, die sich ergeben, wenn Civic Action Programme nicht von Zivilisten, sondern von Militärs gesteuert werden (Hosmer 1963).

Die neue Strategie Counterinsurgency entstand u.a. auf den Erfahrungen Großbritanniens in Malaysia (1948-1960), Frankreichs in Algerien (1954-1962) und der USA in Laos bzw. Vietnam. Sie wurde in den 60er Jahren erstmals systematisiert und später in militärische Direktiven und Planungsmanuale überführt. Erwähnt sei der »Counterinsurgency Planning Guide« der US Army Special Warfare School, Fort Bragg, an dem sich die Strategie für die US-Interventionen in Mittelamerika der 80er Jahre ausrichtete. Auch in Afghanistan ist die Kriegsführung der US-Truppen deutlich von Counterinsurgency geprägt. Sie wird ergänzt durch eine taktische Doktrin, durch Civil-Military-Cooperation, abgekürzt CIMIC.

Von Counterinsurgency zu CIMIC

CIMIC ist seit Mitte der 90er Jahre in der Diskussion. Mit den »Militärpolitische Leitlinien zur zivil-militärischen Zusammenarbeit« (CIMIC), MC 411/1 vom Juli 2001, erweitert in der »Allied Joint Publication« 9 (AJP-9) vom Juni 2003 lässt die NATO keinen Zweifel, dass CIMIC nicht die Zivilisierung eines militärischen Einsatzes zum Ziel hat, sondern die Steigerung dessen Wirksamkeit. CIMIC ist „die der Unterstützung des Auftrags dienende Abstimmung und Zusammenarbeit zwischen dem NATO-Befehlshaber und den zivilen Akteuren, die Bevölkerung vor Ort ebenso eingeschlossen wie kommunale Behörden und nationale, internationale und Nichtregierungsorganisationen und Einrichtungen“ (NATO 2002).

Explizit werden Absicht und Funktion von CIMIC militärisch begründet. Es geht um die Unterstützung militärischer Missionen durch Zivilisten und nicht um die Konversion von Soldaten zu Aufbauhelfern. Drei Ziele sind dabei auszumachen:

die Vergrößerung des Aktionsradius von entsandten Truppen durch das Aufpolieren ihres Ansehens in der lokalen Bevölkerung,

der Aufbau von Beziehungen zu zivilen Akteuren, um leichter an Informationen für Lageberichte zu kommen und

der Schutz der Truppen vor Übergriffen, militärisch: Force Protection.

Auch wenn es der Öffentlichkeit immer wieder anders nahegelegt wurde, spielen entwicklungspolitische Überlegungen in CIMIC-Aktivitäten keine oder nur einen nachgelagerte Rolle. Es geht nicht um die Interessen der lokalen Bevölkerung, sondern um die Unterstützung der entsandten Truppen durch Schaffung bestmöglicher Einsatzbedingungen. Allein das ist der Grund, warum die ISAF-Truppen in Afghanistan Schulen gebaut haben. Von den Militärs durchgeführte soziale Projekte sollten die Akzeptanz der Soldaten in der Bevölkerung fördern und so die Gefahr, selbst Opfer von Anschlägen zu werden, reduzieren.

Eine besondere Form von zivil-militärischer Kooperation stellen in Afghanistan die »Provincial Reconstruction Teams« (PRTs) dar. In ihnen arbeiten Truppenverbände mit zivilen, zumeist staatlichen Entwicklungsexperten und diplomatischem Personal in festen Strukturen zusammen. Ursprünglich von der US-Armee initiiert, haben auch andere der in Afghanistan engagierten Länder das PRT-Konzept übernommen. 26 PRTs gab es Ende 2009. Deutschland ist für zwei verantwortlich: eines in Kundus, ein weiteres in Faizabad. PRTs leisten sowohl CIMIC-Aktivitäten mit der Funktion der Schaffung eines sicheren Umfeldes, koordinieren aber auch staatlich finanzierte Entwicklungsprogramme. Die deutschen PRTs, in denen Mitarbeiter der staatlichen Entwicklungszusammenarbeit systematisch mit militärischen Kräften kooperieren, werden von einer Doppelspitze geführt, die aus einem Kommandeur der Bundeswehr und einen Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes gebildet wird.

Aus humanitärer und entwicklungspolitischer Perspektive entpuppen sich beide, die PRTs wie CIMIC-Aktvitäten als höchst problematisch. Sie sind nicht nur teuer und wenig effizient (Oxfam 2010), sondern widersprechen auch fundamentalen entwicklungspolitischen Grundsätzen.

Die Entsendung und Unterstützung eines US Soldaten kostet ca. 1 Mio. Dollar pro Jahr, schätzt der »Congressional Research Service« in 2009. Das gilt auch für die Kräfte, die mit CIMIC-Aufgaben betraut werden. Im Vergleich dazu belief sich die Summe, die in den zurückliegenden Jahren in Afghanistan pro Kopf und Jahr für Entwicklungshilfe aufgewendet wurde, auf gerade mal 93 Dollar (Belasco 2009). Und obwohl die USA bislang über 1 Mrd. Dollar für Hearts and Minds Projekte ausgegeben haben, ist deren Wirkung nie ausreichend evaluiert worden. In den Worten eines Clanchefs aus der Provinz Paktia: „Es ist besser, weniger von einer nachhaltigen Quelle zu haben, als viel auf einmal zu bekommen […] wir brauchen niemanden, der uns Kekse gibt und wir brauchen auch keine Aufbauprojekte, die nach einem Jahr wieder in sich zusammenfallen.“ (Oxfam 2010, S.2).

Und das ist das eigentliche Problem: Um das Ansehen der entsandten Truppen in der lokalen Bevölkerung zu erhöhen, müssen CIMIC-Maßnahmen rasche Erfolge bringen. Es fehlt die Zeit, Hilfsprojekte in gemeinsamer Verantwortung mit der Bevölkerung zu planen und umzusetzen. Notwendig ist der »Quick Impact«, auch wenn darunter die Nachhaltigkeit von Hilfsprojekten leidet. Statt sich von partizipativen Prozessen und damit Ownership leiten zu lassen, setzen Militärs auf jenen Top-Down-Ansatz, der ihnen aus soldatisch eingeübten Hierarchien und Abläufen bekannt ist. Quick-Impact-Projekte tendieren dazu, von außen übergestülpt zu werden und dabei jene Eigenständigkeit zu gefährden, die entwicklungspolitisch beabsichtigt ist. Insbesondere die PRTs stehen in der Kritik, fragwürdige Parallelstrukturen zu fördern und so dem politischen Ziel, in Afghanistan das State Building zu fördern, zuwiderzulaufen.

Es sind nicht persönliche Defizite, sondern strukturelle Unverträglichkeiten, die aus Soldaten schlechte Aufbauhelfer machen. Wenn beispielsweise die Bundeswehr in Afghanistan Brunnen bohrt, um den eigenen Schutz zu erhöhen, dann bohrt sie Brunnen vor allem entlang ihrer Patrouillerouten und nicht in den abseits gelegenen Dörfern. Das schafft regionale Disparitäten und erzeugt Neid und Begehrlichkeiten bei denen, die nicht begünstigt wurden. Tatsächlich ist es vorgekommen, dass Brunnenanlagen bei Nacht und Nebel von denen geklaut wurden, die keine bekommen hatten. Statt die Lage zu befrieden, haben Soldaten so Zwist gesät. Zwist, der schließlich ausgerechnet jenen Warlords in die Hände spielte, deren Einfluss im Rahmen des State Building eigentlich gebrochen werden sollte. Die nämlich konnten sich dann als Schlichter in Szene setzen und ihre Macht stabilisieren.

Bedrohte Helfer

Medizinische Hilfe und Minen räumen

Ein umfangreiches Minenräumprogramm steht seit mehreren Jahren im Mittelpunkt des Engagements von »medico international« in Afghanistan. Bei dem vom Auswärtigen Amt geförderten Programm arbeitet »medico« eng mit der afghanischen NGO »Mine Detection and Dog Centers (MDC)« zusammen. Es geht darum, die Gefährdung der ländlichen Bevölkerung durch Minen zu reduzieren und Flächen landwirtschaftlich nutzbar zu machen. Alleine 2009 konnten 114 Minenfelder geräumt und damit eine Fläche in der Größe von 1439 Fußballfeldern an die Bevölkerung übergeben werden. Ein kleiner Beitrag gegen zunehmende Verarmung und Arbeitslosigkeit, ein wichtiger Beitrag, der Mut macht auf dem Lande zu bleiben.

Eine Arbeit, die nicht ungefährlich ist. Immer wieder sind Mitarbeiter des MDC Opfer des eskalierenden Krieges geworden. Acht Minenräumer wurden getötet, mehrere schwer verletzt und dreimal wurden MDC-Minenräumteams entführt. Sie kamen später wieder frei – allerdings ohne die teure Ausrüstung.

Als zweites Projekt unterstützt »medico« die Kabuler Poliklinik von MDC, deren Angebotspalette von Allgemeinmedizin über zahnärztliche Versorgung bis hin zu Gynäkologie und Physiotherapie reicht. Im letzten Jahr wurden hier täglich 120-150 Patienten betreut, darunter vor allem Frauen aus der lokalen Bevölkerung. Aus Spendenmitteln finanzierte »medico« u.a. die gruppentherapeutische Arbeit einer Psychologin, die Frauen einen geschützten Raum bietet, in dem sie über die psychischen Folgen des Krieges sprechen können – für Afghanistan in jeder Hinsicht außergewöhnlich.

»medico international« gehört zu den deutschen NGOs, die seit Jahren einen Strategiewechsel in Afghanistan fordern – weg vom militärischen, hin zum zivilen Engagement – und die eine zivil-militärische Zusammanarbeit ablehmen.

Timm Raucke

Gefährlich aber sind CIMIC-Aktivitäten nicht zuletzt für Hilfsorganisationen, die in Kriegsregionen tätig sind. Aufgrund der Vermischung von zivilem mit militärischem Handeln geraten auch sie in Verdacht, Teil militärischer Strategien zu sein. Mit dramatischen Folgen: In Afghanistan zählte allein in 2009 das regierungsunabhängige »Afghanistan NGO Safety Office« (ANSO) 172 Übergriffe auf Mitarbeiter von Hilfsorganisationen. 19 Aufbauhelfer, alle lokale afghanische Mitarbeiter, kamen dabei ums Leben (ANSO 2009). Zunehmend richten sich die Anschläge der bewaffneten Oppositionsgruppen auch auf das Personal von Krankenhäusern, Schulen und anderen öffentlichen Einrichtungen. Nicht zuletzt die afghanischen Mitarbeiter von Hilfsorganisationen stehen unter einem verstärkten Druck. Zu Recht sorgen sie sich um ihre Sicherheit, weil schon der Verdacht, mit Ausländern im Kontakt zu stehen, Unheil heraufbeschwören kann. Wer bei Straßensperren der Opposition mit einer falschen Visitenkarte angetroffen wird, muss um sein Leben fürchten.

Ganz offenbar ist das Ziel der internationalen Schutztruppen, ein sicheres Umfeld für den Wiederaufbau des Landes zu schaffen, gescheitert. Längst haben die Hilfsorganisationen begonnen, die Nähe zu den ausländischen Soldaten zu meiden, weil deren Präsenz keineswegs ein Mehr an Schutz birgt, sondern ein zusätzliches Risiko bedeutet.

Und die Gefahren, denen sich Mitarbeiter von Hilfsorganisationen ausgesetzt sehen, könnten sogar noch zunehmen. Mitte 2009 pries das US-State Department auf einer seiner Website z.B. die Arbeit von humanitären Minenräumern als probates Mittel der Aufstandsbekämpfung: Minenräumer bezögen ein Gehalt, weshalb sie weniger anfällig seien, sich der bewaffneten Opposition anzuschließen, hieß es (Villano 2009). Schritt für Schritt hat der Krieg in Afghanistan humanitäre und entwicklungspolitische Vorhaben erfasst und strategischen Zielen untergeordnet. Der Bau von Schulen und Krankenstationen, das Räumen von Minen, die Förderung landwirtschaftlicher Alternativen zum Drogenanbau – all das droht zu einem Teil von Counterinsurgency zu werden. Unverblümt heißt es im »Commanders Guide to Money as a Weapon System«, einem Field Manual der US-Armee, dass Hilfe eine nicht-tödliche Waffe sei, die gezielt einzusetzen ist, um den Kampf gegen Aufständische zu effektivieren (US Army Combined Arms Center 2009).

In der Provinz Kunar stehen der US Armee 150 Millionen Dollar für Projekte im zivilen Umfeld zur Verfügung. Dagegen beträgt das Budget der amerikanischen Entwicklungshilfebehörde, US-AID, für diese Provinz ganze 10.000 Dollar (Traub 2010). Wer Hilfe als Waffensystem betrachtet, wird – wenn es ihm nützlich erscheint – auch mit Warlords kooperieren, unabhängig davon, ob dies entwicklungspolitisch sinnvollen Ansätzen entgegensteht. Genau das geschieht in Afghanistan (Thöner 2010).

Zu den Folgen der Militarisierung von Hilfe zählt, dass Entscheidungen über die Vergabe von Mitteln nicht mehr an den Bedürfnissen der Menschen, sondern an deren Loyalität gegenüber den Streitkräften ausgerichtet werden. In Afghanistan fließt heute das Gros der Hilfe in jene Landesteile, die von strategischen Interessen sind, während vergleichsweise ruhige Provinzen, wie das Hazarajat, wo doch eigentlich ein sicheres Umfeld für den Wiederaufbau bestünde, weniger von Hilfen profitieren.

Angesichts der Armut, die in Afghanistan herrscht, gibt es zur Hilfe von außen oftmals keine Alternative. Dass sie dennoch vielerorts nicht mehr geleistet werden kann, ist nicht zuletzt die Folge ihrer Instrumentalisierung für militärische Zwecke. Damit hat eine bemerkenswerte Umkehrung dessen stattgefunden, was all die Jahre zur Rechtfertigung des Afghanistan-Einsatzes öffentlich bekundet wurde: Die Entsendung von Truppen dient nicht mehr dazu, ein sicheres Umfeld für den Wiederaufbau zu schaffen, vielmehr sind es die zivilen Maßnahmen, die nun zur Absicherung des militärischen Handelns beitragen.

VENRO, der Dachverband der deutschen entwicklungspolitischen NGOs, ist mit den sicherheitspolitischen Konzepten, die den Afghanistan-Einsatz in den zurückliegenden Jahren geleitet haben, immer wieder ins Gericht gegangen ist (VENRO 2003; VENRO 2009). Zivil-militärische Zusammenarbeit sei keine Kooperation unter Gleichen, sondern bedeute die Unterordnung von humanitärer Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit unter militärische Vorgaben. Gemeinsam mit den Organisationen der afghanischen Zivilgesellschaft verlangt VENRO einen Stopp jeglicher Militarisierung von Hilfe. Und auch das IKRK lässt keine Zweifel daran, dass „military forces should not be directly involved in humanitarian action“, so das offizielle Statement des IKRK auf einer Tagung zur Frage zivil-militarischer Zusammenarbeit in Montreux 2000: „Humanitarian agencies must be allowed to maintain their independence of decision and action“ (ICRC 2000).

Die Rolle der Hilfsorganisationen

Zu Recht pochen Hilfsorganisationen auf ihre Unabhängigkeit. Sie setzten sich zur Wehr, als zu Beginn des Irak-Krieges 2003 der damalige US-Außenminister Colin Powell unverblümt davon sprach, Hilfsorganisationen seien ein „Machtmultiplikator und wichtiger Teil der eigene Truppen“. Und sie verlangen heute, dass öffentliche Zuschüsse für ihre Arbeit nicht an die Bereitschaft geknüpft werden, mit den Streitkräften zusammenzuarbeiten, wie dies von der neuen Bundesregierung erwogen wurde.

Und doch tun NGOs gut daran, wenn sie politische Unabhängigkeit nicht mit dem Verzicht auf politisches Handeln verwechseln. Gerade das Geschehen in Afghanistan macht deutlich, wie gefährlich die Vorstellung ist, Hilfe mische sich nicht ein, sondern könne sozusagen zwischen allen Fronten neutral bleiben. Alles Pochen auf Neutralität hat die Helfer nicht davor geschützt, von allen Seiten instrumentalisiert bzw. bekämpft zu werden. Auch Warlords wissen, wie sie sich die Arbeit von Hilfsorganisationen zu nutze machen können.

So sehr es stimmt, dass mit der Verwischung von Grenzen zwischen dem Militärischen und dem Zivilen die Gefahren für die Helfer zugenommen haben, so wenig ist zu leugnen, dass Hilfsorganisationen auch deshalb angegriffen werden, weil sie zu einer Normalisierung von Lebensumständen beitragen. Genau daran aber haben beispielweise terroristische Gruppierungen, Drogenbarone und andere Akteure, die zur Sicherung ihrer Macht auf ein Klima der Angst setzen, keine Interesse. Das gilt auch für Afghanistan, wo jedes Anzeichen von sozialer Entwicklung und selbst nur funktionierende Nothilfebemühungen die Konfliktdynamik zugunsten der Regierung und die sie unterstützenden Truppen beeinflussen würden. Es sind die sozialen Nöte der Menschen, die Armut, das Fehlen verlässlicher Verwaltungen, die Korruption, die in die Hände der Taliban spielen. Auf diese Weise ist Hilfe, die auf demokratische Beteiligung und soziale Gerechtigkeit setzt, nie neutral, sondern greift immer in die Kräfteverhältnisse ein, die zwischen Konfliktgegnern bestehen.

Auf Dauer werden Hilfsorganisationen ihre Unabhängigkeit nur dann verteidigen können, wenn sie sich politisch einmischen und auf (welt)-gesellschaftliche Verhältnisse drängen, die es zulassen, das Konflikte auf andere als militärische Weise gelöst werden können. Die weitere Militarisierung von Hilfe ist nur zu stoppen, wenn eine Politik des sozialen Ausgleichs mit der flagranten Forcierung von sozialer Spaltung Schluss macht. Nicht die Militarisierung von Politik, sondern die Re-Politisierung von Konflikten ist gefragt, ganz so wie es schon die Propheten wussten: „Und der Gerechtigkeit Frucht wird der Friede sein.“ (Jesaja 32, 17).

Literatur

ANSO – Afghanistan NGO Safety Office (2009): The ANSO Report. Issue 40.

Belasco, Amy (2009): The Cost of Iraq, Afghanistan, and Other Global War on Terror Operations Since 9/11. Congressional Research Service. http://www.fas.org/sgp/crs/natsec/RL33110.pdf .

Henze, Arnd (2010): Die Hoffnung kehrt zurück nach Afghanistan. Westdeutscherrundfunk (WDR). http://www.tagesschau.de/ausland/afghanistanumfrage144.html.

Hosmer, Stephen T. (1963): Counterinsurgency – A Symposium, April 16–20, 1962. Rand Cooperation. http://www.rand.org/pubs/reports/2006/R412-1.pdf.

ICRC – International Committee of the Red Cross (2000): The ICRC and civil-military cooperation in situations of armed conflict. Official Statement: 03.02.2000. http://www.icrc.org/Web/eng/siteeng0.nsf/htmlall/57JQBD?OpenDocument.

NATO – North Atlantic Treaty Organisation (2002): MC 411/1 – NATO Military Policy on Civil-Military Co-operation. http://www.nato.int/ims/docu/mc411-1-e.htm.

Oxfam (2010): Quick Impact, Quick Collapse – The Dangers of Militarized Aid in Afghanistan. http://www.oxfam.org/sites/www.oxfam.org/files/quick-impact-quick-collapse-jan-2010.pdf.

Thörner, Marc (2010): Afghanistan-Code. Reportagen über Krieg, Fundamentalismus und Demokratie. Hamburg: Edition Nautilus.

Traub, James (2010): Surge Incapacity – Let‘s face it: America just isn‘t very good at nation-building. Foreign Policy: 08.03.2010. http://www.foreignpolicy.com/articles/2010/03/08/surge_incapacity.

US Army Combined Arms Center (2009): Commanders Guide to Money as a Weapon System – Tactics, techniques and Procedures. US Army Financial Management School: April. http://usacac.army.mil/cac2/call/docs/09-27/09-27.pdf.

VENRO – Verband Entwicklungspolitik Deutscher Nichtregierungs-organisationen (2003): Streitkräfte als humanitärer Helfer? Mai. http://www.venro.org/fileadmin/Publikationen/arbeitspapiere/PositionspapierStreitkraefteundhumanitaereHilfe.pdf.

VENRO – Verband Entwicklungspolitik Deutscher Nichtregierungs-organisationen (2009): Fünf Jahre deutsche PRTs in Afghanistan. Januar. http://www.venro.org/fileadmin/Publikationen/Afghanistan-Positionspapier_PRT.pdf.

Villano, Peter (2009): Community-Based Demining Links Development and Counterinsurgency in Afghanistan. US Department of State official Blog: 23.Juni. http://blogs.state.gov/index.php/entires/demining_afghanistan/.

Thomas Gebauer, Diplom Psychologe, ist Geschäftsführer von medico international. Der vorliegende Artikel basiert auf einem wesentlich umfangreicheren Beitrag, den der Autor für »Afghanistan: Ein Krieg in der Sackgasse« geschrieben hat. Das von Johannes Becker und Herbert Wulf herausgegebene Buch wird zur Frankfurter Buchmesse erscheinen.

Ohne die Menschen geht es nicht

Ohne die Menschen geht es nicht

Theater als Waffe des Friedens

von Hjalmar Jorge Joffre-Eichhorn

Angesichts der weiterhin problematischen Situation in Afghanistan bietet Community-based Theater ein kreatives und basisdemokratisches Mittel der zivilen Konfliktbearbeitung. Es leistet einen wesentlichen Beitrag zur Bearbeitung sensibler Themen wie Vergangenheitsbewältigung. Ziel ist es,Orte des gelebten Friedens zu ermöglichen.

Das Land Afghanistan ist mit Sicherheit nicht für eine Theatertradition bzw. für eine Wertschätzung des Theaters bekannt. Gefördert während der Jahre sowjetischen Einflusses hatte die Schauspielerei in den Jahren des Bürgerkrieges und bei den Taliban nicht viel zu lachen und auch heute noch hat das Theater bei vielen AfghanInnen den Ruf, ein niederer Beruf zu sein, der höchstens zur Belustigung taugt, darüber hinaus aber auch gewisse Islamische Gesetze – das Abbilden des menschlichen Anlitzes – verletzt. Erschwerend kommt hinzu, dass viele Theateraktivitäten der letzten Jahren vor allem die Elite, oft aus dem Ausland heimgekehrte AfghanInnen, bedienten bzw. »Donor-driven« sind. Letzteres bedeutet, bestimmte Theaterprojekte werden auf Wunsch großer internationaler Geldgeber durchgeführt, die dann auch über die Köpfe der Bevölkerung hinweg entscheiden, welche Themen für die afghanische Bevölkerung wichtig sind. Im Regelfall sind das Theaterstücke mit den Schwerpunkten Demokratieerziehung, Drogenmissbrauch und Frauenrechte, die alle einen wenig pädagogischen dafür aber um so mehr belehrenden Tenor haben. So verkommt das Theater häufig zu einer reinen Propagandaveranstaltung, die zwar manchmal eine beachtliche Menschenmenge anzieht – oft gibt es trotz der verschlechterten Sicherheitslage mehrere Hundert Zuschauer, die sich amüsieren und ein wenig von ihrem von Armut und Gewalt geprägten Alltag abgelenkt werden. Das ist symbolisch für die Rolle der internationalen Gemeinschaft in Afghanistan: Wenig Mitbestimmung der normalen Bevölkerung, finanzielle Fokussierung auf Themenschwerpunkte, die den Interessen der Geldgeber entsprechen und der Versuch, den afghanischen Menschen die Welt zu erklären, da ihnen diese Fähigkeit nach rund dreißig Jahren Krieg von vielen schlichtweg abgesprochen wird. Das Resultat: auch knapp neun Jahre nach Einmarsch der US-amerikanischen Truppen und dem zumindest oberflächlichem Ende der Taliban-Herrschaft ist keine grundsätzliche Verbesserung der allgemeinen Lebensverhältnisse und schon gar keine größere Liebe zu einer repräsentativen Demokratie oder einer Reduktion der Opiumproduktion festzustellen. Im Gegenteil, nach dem PR-Debakel der Präsidentschaftswahlen, den zunehmenden zivilen Opfern und den Scheinerfolgen in Bezug auf Bildung, Gesundheit und Frauenrechte ist bei vielen AfghanInnen, zumindest in der Hauptstadt Kabul, eine Demokratiemüdigkeit spürbar. Diese äußert sich immer häufiger in Frustration und Ablehnung der ausländischen Präsenz, ob militärisch oder zivil, auch wenn die Konsequenz des Wunsches, ein Verschwinden sämtlicher »Charidjis1« im Normalfall noch nicht geäußert wird.

Theater als Mittel ziviler Konfliktbearbeitung

Die Idee, mit Theater einen kleinen Beitrag zu leisten, damit in Afghanistan endlich Frieden einkehren kann, wurde geboren in der Zusammenarbeit zwischen dem Deutschen Entwicklungsdienst (DED) und der afghanischen Kulturorganisation >Foundation for Culture and Civil Society< (FCCS). Die Zusammenarbeit ist Teil einer vor einigen Jahren von der deutschen Bundesregierung begonnenen Friedensoffensive, dem Zivilen Friedensdienst (ZFD), der mittlerweile in vielen Konflikt- und Post-Konfliktländern zum Einsatz kommt und in Afghanistan besonders stark vertreten ist. DED und FCCS suchten Mitte 2006 nach einer Person, die die Themen Frieden und Theater kombinieren würde. Die spezifische Herangehensweise wurde dabei bewusst offen gelassen, weshalb für mich, als mir die Stelle angeboten wurde, die Möglichkeit bestand, den Schwerpunkt auf verschiedene partizipative und interaktive Theatermethoden wie das Theater der Unterdrückten2 oder das Playback Theater3, in Afghanistan heutzutage als »Community-based Theatre« bekannt, zu legen. Zunächst jedoch war sowohl bei FCCS als auch bei vielen potentiellen Partnern die Skepsis gegenüber der Methoden spürbar. Ein Theater, das mit ganz gewöhnlichen, in der Regel nicht lesen und schreiben könnenden Menschen arbeitet, sollte als Mittel der Konfliktbearbeitung taugen? Das war für viele EntwicklungshelferInnen und einheimische Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen kaum vorstellbar. Deshalb habe ich, ermutigt durch erste Erfolge in behutsam durchgeführten Workshops mit Frauengruppen, taubstummen Kindern sowie Heroinabhängigen, nach wenigen Monaten die professionelle Unabhängigkeit gesucht. Stück für Stück und nach unzähligen Gesprächen, Workshops und Aufführungen sind die beiden Techniken schließlich zum Herzstück friedensfördender Theaterarbeit in Afghanistan geworden. Sie haben in der Anfang 2009 von jungen afghanischen Menschenrechtsaktivisten gegründeten und später von mir trainierten Afghanistan Human Rights and Democracy Organization (AHRDO4 ) ein rein-afghanisches Zuhause gefunden, das sich in extrem kurzer Zeit auch schon überregional (so etwa auf einer Theaterkonferenz in Ruanda) einen Namen gemacht hat. Es nutzt ganz bewusst unterschiedliche partizipative Theatermethodiken, um mit verschiedenen, gesellschaftlich gesehen eher unterpriviligierten Gruppen das Theater als Waffe des Friedens und zur gesellschaftlichen Veränderung einzusetzen. AHRDO arbeitet in verschiedenen Teilen Afghanistans, hauptsächlich mit Frauen, Jugendlichen und schwerpunktmäßig Gruppen von Kriegsopfern zum Thema »Transitional Justice« (TJ), d.h. Vergangenheitsaufarbeitung. Diese Thematik stellt in Afghanistan ein Tabu dar, da viele der ehemaligen Warlords und Massenmörder, von Präsident Karzai und der internationalen Gemeinschaft umgarnt, ihre Macht erhalten konnten bzw. wieder errungen haben. Deshalb wird Strafverfolgung nicht besonders gefördert – und selbst ein Gedenken an die mindestens 1,5 Millionen Opfer in drei Jahrzehnten Krieg ist nicht unproblematisch. Im Gegenteil: Diejenigen, die sich für eine Aufarbeitung schwerer Menschenrechtsverletzungen in Vergangenheit und Gegenwart (inklusive ziviler Opfer in Folge von Angriffen der Nato- bzw. der afghanischen Armee) einsetzen, haben im Jahr neun nach der Scheinbefreiung von den Taliban manchmal mit gewalttätiger Verfolgung und dem bewussten Vertuschen sämtlicher Beteiligter zu rechnen. Die Folge: Viele TJ-Aktivisten werden bedroht und leben heute im Untergrund oder im Exil.

Auf der anderen Seite sind in den letzten Jahren verstärkt Opfergruppierungen gegründet worden, die sich für ein Recht auf historische Wahrheit einsetzen und Haftstrafen für die Mörder ihrer Familienangehörigen fordern. Dass die internationale Gemeinschaft sich nicht stärker für die Opfer einsetzt, ist für viele ein Zeichen internationaler Doppelmoral. Das Resultat ist ein äußerst kritisches Infrage stellen der Arbeit der internationalen Gemeinschaft, das im Jahr 2010 sehr häufig in offene Ablehnung oder Zynismus mündet. Es ist mit großer Wahrscheinlichkeit ein Grund dafür, dass in Afghanistan nach wie vor kaum von Fortschritt und (demokratischer) Entwicklung die Rede sein kann. Die Menschen erwarten konkrete Resultate. Nach rund dreißig Jahren gebrochener Versprechen (von AfghanInnen wie Ausländern) ist bei vielen die Geduldsschwelle äußerst niedrig. Das Vertrauen in die Demokratie schwindet rasant.

Aus diesem Grund ist die Arbeit mit den verschiedenen partizipativen Theaterformen vielleicht doppelt wichtig. Obwohl sich dieses Werkzeug nicht leicht messbaren Erfolgen unterwerfen lässt, sind Ziele und Wirkung der Arbeit dennoch ersichtlich bzw. spürbar: Das Theater kreiert Orte physischer und emotionaler Sicherheit (Stichwort »Safe Space«), in denen Menschen verschiedener Colour (im afghanischen Fall verschiedener Ethnien sowie Männer und Frauen) in einem sicheren Raum zusammentreffen, um gemeinsam sensible Themen zu diskutieren, zu analysieren und aus der Sicht normaler BürgerInnen konkrete Veränderungsvorschläge zu entwerfen. Auch stimulieren diese Orte den freien Meinungsaustausch im Sinne real existierender Meinungsfreiheit sowie der Möglichkeit, gefördert durch die verschiedenen Theaterspiele und –übungen, neue Ideen, Gedanken und Alternativen zu denken und zu entwickeln. Selbst das einfache Zusammenkommen einer Gruppe von Menschen, um für einige Stunden den tristen und von Angst und Gefahr geprägten Lebensalltag hinter sich zu lassen, sich abzulenken, zu spielen, zu lachen und zu weinen, ist ein keinesfalls zu unterschätzender Effekt. Darüber hinaus trägt das Theater zur Gemeinschaftsbildung bei, zu besserem gegenseitigen Verständnis sowie zu neu definierten, auf Respekt basierenden, zwischenmenschlichen Beziehungen. Es fördert einen Protagonismus von unten, d.h. einen auf partizipativ- und basisdemokratischen Idealen basierenden Austausch, in dem die Analyse gesellschaftlicher Konflikte und deren potentielle Handlungsalternativen nicht länger exklusiv den traditionellen politischen Eliten überlassen wird. Im Gegenteil, normale Bürger und Bürgerinnen ermächtigen sich selbst und emanzipieren sich ein Stück weit von den Eliten, um fortan, zumindest in der Form eines theatralischen Aktivismus, eine stärkere Präsenz in der Bearbeitung ihrer Konflikte für sich zu beanspruchen. Die finale Zielsetzung besteht daher in einer stärkeren Mobilisierung der Menschen bei gleichzeitiger Demokratisierung von Debatte und Entscheidungsverfahren. Dass viele dieser Ziele und Wirkungen nur fragiler und temporärer Natur sein können, und möglicherweise außerhalb des theatralischen Raumes, in der kalten Realität von mehr als dreißig Jahren Krieg, ihre Wirkung ein wenig verlieren ist nicht auszuschließen. Deshalb muss immer wieder hervorgehoben werden, dass »Friedensbildung« natürlich ein langwieriger, notwendigerweise aus verschiedenen Ansätzen bestehender, Prozess sein muss, in dem künstlerische Werkzeuge wie das Theater (aber auch Poesie und Literatur) eine kleine, aber mit Sicherheit wertvolle Komponente darstellen.

Die Erinnerung stirbt zuletzt

Im konkreten Fall des Themas »Transitional Justice« hat die bereits erwähnte Afghanistan Human Rights and Democracy Organization, gefördert u. a. vom International Center for Transitional Justice (ICTJ), der GTZ sowie der Friedrich-Ebert Stiftung, das Theater vor allem mit drei Zielsetzungen verbunden:

Bewusstseinsbildung mit Bezug auf die inhaltlichen Komponenten von Transitional Justice, d.h. mit Hilfe auf den afghanischen Kontext bezogener (eher konventioneller) Theaterstücke, didaktischen Materials sowie Diskussionsrunden wird der afghanischen Bevölkerung die Möglichkeit gegeben, sich zum Thema Vergangenheitsaufarbeitung zu informieren.

Dokumentation und Wahrheitsfindung. Verschiedene interaktive Theatermethoden und vor allem das Playback Theater werden genutzt, um einen Raum zu schaffen, in denen die zahlreichen Opfer der letzten Dekaden ihre persönlichen Geschichten erzählen und kollektiv verarbeiten können und diese Geschichten zeitgleich dokumentiert werden, um so einen partizipativen Beitrag zur Wahrheitsfindung zu leisten.

Interaktive Forum-Theaterstücke5 zum Thema Menschenrechtsverletzungen werden gemeinsam mit Opfergruppierungen sowie anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren (z.B. der unabhängigen afghanischen Menschenrechtskommission) erarbeitet und dann einem größeren, wenn auch aus Sicherheitsgründen meist geladenen, Publikum präsentiert, um gemeinsam konkrete Handlungsalternativen auszuarbeiten, diese im theatralischem Raum zu testen und dann mit Hilfe von Anwälten ein Strategiepapier auszuarbeiten, wie die afghanische Regierung, afghanische zivilgesellschaftliche Organisationen sowie die internationale Gemeinschaft das Thema konkret angehen sollen.

Es geht bei diesen drei Theater-Aktivitäten also gewissermaßen um eine direkte Auseinandersetzung mit Vergangenheit (Dokumentation/Wahrheitsfindung), Gegenwart (Was beinhaltet Transitional Justice?) und Zukunft (Welche konkreten Aktionen sind notwendig, um die Themen Krieg und Verletzung des Völkerrechts positiv und vor allem gerecht zu gestalten). All dies immer mit der Grundprämisse, dass die afghanische Bevölkerung ein Recht darauf hat, gehört zu werden und bewusst mitzuentscheiden, wie das Thema dreißig Jahre Krieg angegangen werden soll. Millionen von Witwen, Waisen und andere, häufig auf sich allein gestellte und von der eigenen Familie missachtete Kriegsopfer sind in den letzten Jahrzehnten immer wieder von ihren Repräsentanten und politischen Herrschern ignoriert worden. Im Zuge der Theateraktivitäten haben einige von ihnen ihre Enttäuschung, Wut, Trauer und Ablehnung dieser Politik kundgetan. Sie haben im Theater ein Werkzeug gefunden zur Selbstermächtigung. Selbst neue Opfergruppierungen haben sich als direktes Resultat einiger Theaterworkshops sowie Theateraufführungen gegründet. Es scheint, als habe das bewusste Ansprechen von dreißig Jahren massiver Gewalt durch das Theater bei vielen ganz normalen AfghanInnen Hoffnung und Energie geweckt. Sie erkennen, dass der so unbefriedigende Status Quo keinesfalls unveränderlich ist. Die im Juni 2010 von verschiedenen afghanischen Organisationen durchgeführte »Victim’s Jirga«, ein Zusammentreffen hunderte Opfer und zivilgesellschaftlicher Akteure zum Thema Menschenrechtsverletzungen als Folge von Krieg, ist dabei besonders hervorzuheben. So ein bewusstes und vor allem öffentliches Einfordern von Gerechtigkeit und Anerkennung von Kriegsgewalt war bis vor kurzem undenkbar. Es gibt keinen Zweifel daran, dass rund 2 ½ Jahre Basistheaterarbeit zu diesem Thema einen nicht zu unterschätzenden Beitrag geleistet hat, dass »Transitional Justice« nicht einfach von der offiziell politischen Erdoberfläche verschwunden ist, wie von vielen ehemaligen und aktuellen Straftätern gewünscht. Selbst viele internationale Geldgeber sind mittlerweile davon überzeugt, dass die Arbeit mit dem Theater in der derzeitigen, immer schwieriger und chaotischer werdenden Lage, eines der wenigen Medien ist, mit dem dieses sehr sensible und gefährliche Thema auf respektvolle und vor allem demokratische (im Sinne des Einbeziehens gewöhnlicher AfghanInnen) Art und Weise behandelt werden kann. Dies zahlt sich nun auch für AHRDO aus, da sie endlich längerfristig ihre Theateraktivitäten planen und durchführen sowie andere Menschen aus verschiedenen Teilen des Landes in den unterschiedlichen Techniken trainieren kann. Damit wird nachhaltige Friedensarbeit, sollte die Lage im Land sich nicht weiter verschlechtern, zumindest eine Möglichkeit.

Ist mit dem Theater also ernsthaft Frieden zu schaffen? Wenn man bedenkt, wie viele Milliarden Euro in den letzten neun Jahren von Militär und internationaler Gemeinschaft in Afghanistan investiert wurden, um – zumindest offiziell – Demokratie und Menschenrechte zu fördern, so ist es sicherlich ein wenig verwunderlich, möglicherweise sogar befremdend, dass ein extrem kostengünstiges, unscheinbares aber zugängliches sowie realdemokratisches Medium wie das Theater bei vielen tausenden AfghanInnen, unabhängig von Geschlecht, Alter oder Ethnie, so positiv aufgenommen wurde.

Es ist ein Armutszeugnis für die gesamte internationale Gemeinschaft, dass innerhalb der Theateraktivitäten die Hauptkritik seitens der TeilnehmerInnen der fehlende menschliche Kontakt mit EntwicklungshelferInnen und Militärs ist. Viele der TeilnehmerInnen sehen sich als Spielball verschiedener Interessen, die mit Demokratie und Menschenrechten nur sehr wenig zu tun haben. Das Wort »Besatzung« hat das ehemals populäre »Befreiung« im Wortschatz vieler AfghanInnen verdrängt. In den Projekten wurde selbst die Gefahr sichtbar, dass die Menschen wieder selbst die Waffe in die Hand nehmen gegen diejenigen, die weiterhin Gewalt und Menschenopfer produzieren – d. h. sowohl gegen die Taliban als auch gegen regierungstreue oder internationale Kräfte. Drei Dekaden Krieg können so schnell zu vier, fünf oder zu einem immer währenden Krieg werden. Eine angst einflößende Vision, die aber nicht zur Prophezeiung werden muss. Vor allem dann nicht, wenn es endlich nach dem Willen der ganz gewöhnlichen AfghanInnen geht. Diese nämlich zeigen in sämtlichen Theateraktivitäten eine große Bereitschaft und Fähigkeit das Wort Frieden nicht nur in den Mund zu nehmen, sondern es auch real zu praktizieren, sozusagen als gelebter Frieden im theatralischen Raum. Frei nach dem Motto: Bühne frei, jetzt kommt das Volk.

Anmerkungen

1) „Ausländer“ auf Dari

2) Das Theater der Unterdrückten ist Theater der, von und für die Unterdrückten. Es ist ein System, das den Menschen die Handlung innerhalb der Fiktion des Theaters ermöglicht, um damit Protagonisten, d.h. handende Subjekte, ihrer eigenen Leben zu werden.

3) Playback-Theater ist eine besondere Form des interaktiven Theaters, in der das Publikum eingeladen ist, individuelle Momente und Erlebnisse sowie Geschichten aus dem Leben zu erzählen und eine Gruppe von SchauspielerInnen und Musiker diese aus dem Stegreif improvisieren.

4) www.ahrdo.org

5) Im Forum-Theater wird ein Konfliktsituation gemeinsam mit dem Publikum bearbeitet.

Hjalmar Jorge Joffre-Eichhorn arbeitet seit März 2007 für verschiedene Organisationen in Afghanistan. Darüber hinaus hat er mit verschiedenen partizipativen Theatermethoden in Australien, Bolivien, Deutschland, Kolumbien, Ruanda und Tadschikistan gearbeitet. Sein Buch über die Arbeit mit dem Theater in Afghanistan wird im Herbst 2010 im Ibidem-Verlag erscheinen. Mail: communitybasedtheatre@gmail.com

Lehren aus Afghanistan

Lehren aus Afghanistan

Zehn Thesen und ein Plädoyer

von AFK

Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung (AFK) haben die Situation in Afghanistan analysiert und einige allgemeine friedenspolitische Lehren aus dem Fall Afghanistan gezogen, die sie in zehn Thesen zusammen gefasst haben. Sie kommen zu dem Schluss, dass eine Neuorientierung der Politik hin zu einen konsequenten Ausbau der nicht-militärischen Krisenprävention und Konfliktbearbeitung unerlässlich ist.

Mit dem Luftschlag von Kundus am 4. September 2009 hat die deutsche Afghanistanpolitik ihre »Unschuld« verloren. Nach jahrelangen Beschönigungen, Vertuschungen und Halbherzigkeiten braucht diese Politik nun endlich Ehrlichkeit, Offenheit und Konsequenz. Die Bundeswehr hat auf ihrem langen Weg zur Einsatzarmee in Afghanistan den Rubikon hin zu Kampfeinsätzen im Rahmen eines asymmetrischen Konflikts überschritten und sich in einen Krieg verstrickt. Dringend erforderlich ist daher nicht nur eine schonungslose Überprüfung der deutschen Afghanistanpolitik, sondern darüber hinaus eine Debatte über deutsche Sicherheits- und Friedenspolitik im Allgemeinen.

Wie es mit Afghanistan weitergehen wird, weiß niemand. Nach unserer Auffassung sind es vor allem drei Problemfelder, die im Interesse einer friedlichen Entwicklung in dem geschundenen Land einer konstruktiven Bearbeitung bedürfen: die »Afghanisierung« der Sicherheit, die innerafghanische Versöhnung und das regionale Umfeld.

Erste These: Der afghanische Staat wird vermutlich auf lange Sicht wesentliche Kernfunktionen nicht effektiv ausüben können.

Dies gilt insbesondere für die Durchsetzung eines flächendeckenden Gewaltmonopols. Daher ist es eine Illusion zu glauben, durch den beschleunigten Aufbau einer nationalen personalstarken Armee und Polizei könnte schon bald das Ziel „sich selbst tragender Sicherheitsstrukturen“ erreicht werden. Um verlässliche Sicherheit zu gewährleisten, bedarf es vielmehr der Ausbildung und Stärkung lokaler Sicherheitsstrukturen im Kontext eines von der afghanischen Gesellschaft selbst getragenen Aushandlungs- und Versöhnungsprozesses.

Zweite These: Der Prozess des Ausgleichs und der Versöhnung muss die »Aufständischen« bzw. die »Taliban einschließen.

Dies setzt voraus, sich von eindimensionalen Feindbildern zu verabschieden, die sehr heterogene Gruppierungen von lokalen Gewaltakteuren mit recht unterschiedlichen Interessen und Motiven pauschal zum »Gegner« erklären. Die geduldige Klärung von Streitfragen in einem langwierigen Verhandlungsprozess dürfte allerdings nicht leicht fallen. In Anbetracht der allseits eingestandenen Nichtgewinnbarkeit des Krieges durch die aus- und inländischen Truppen kann es letztlich nur eine Verhandlungslösung geben.

Dritte These: Zu einer dauerhaften Stabilisierung Afghanistans kann es nur kommen, wenn es dafür ein gedeihliches regionales Umfeld gibt.

Hierzu bedarf es eines auf Frieden zielenden Verhaltens der Staaten und Regionalmächte in der engeren und weiteren Umgebung Afghanistans. Dies gilt besonders für Pakistan, das am unmittelbarsten und intensivsten in die afghanische Krise verstrickt ist. Doch gilt es auch andere Länder der Region wie Russland, China und Indien, den Iran und die Türkei sowie die zentralasiatischen Anrainerstaaten in eine tragfähige regionale Sicherheitsarchitektur zur Stabilisierung Afghanistans einzubeziehen.

Allgemeinen friedenspolitischen Lehren

Welche allgemeinen friedenspolitischen Lehren sind aus der verfahrenen Lage in Afghanistan zu ziehen?

Vierte These: Mit militärischen Mitteln kann der islamistisch inspirierte Terrorismus nicht nachhaltig eingedämmt werden.

Der militärisch geführte »Anti-Terror-Krieg« hat eher zur Erosion völker- und menschenrechtlicher Normen sowie zur Unglaubwürdigkeit des Westens als Wertegemeinschaft beigetragen. Erforderlich sind demgegenüber diplomatisch-politische, polizeilich-juristische, entwicklungspolitische sowie integrations- und kulturpolitische Herangehensweisen und Methoden. Zudem scheinen mittlerweile von »hausgemachten« Terroristen in den Ländern des Westens größere Gefahren auszugehen als von fernen Gesellschaften in Afghanistan, Somalia oder im Jemen.

Fünfte These: Asymetrische Kriege sind militärisch nicht gewinnbar

Historisch-komparative Untersuchungen über Aufstandsbewegungen, Erhebungen gegen Fremdherrschaft und asymmetrische Gewaltkonflikte haben deutlich gemacht, dass derartige Kriege in der Regel nicht im klassischen militärischen Sinne »gewonnen« werden können, da es sich hierbei stets eher um soziale und politische als um militärische Konflikte handelt.

Sechste These: Politische Prävention ist sinnvoller als militärische Intervention

Eine frühzeitige nicht-militärische Prävention in Krisen ist einer aufwendigen und langwierigen, militärisch gestützten, reaktiv-kurativen Krisenbearbeitung vorzuziehen. Eine effektive Krisenprävention kann dazu beitragen, selbst solche, durch fragwürdige Politiken westlicher Staaten mit verursachten Krisenlagen wie Afghanistan gar nicht erst entstehen zu lassen. Hier sei nur auf die langjährige Vernachlässigung des Landes durch den Westen nach dem Abzug der Sowjets sowie an das zögerliche und defizitäre internationale Engagement in den ersten Jahren des Wiederaufbaus verwiesen.

Siebte These: Das Projekt des »Staaten bauens« muss mit Bescheidenheit und ohne Illusionen betrieben werden

Die Fähigkeit externer Akteure zur Kontrolle und Steuerung komplexer sozialer Dynamiken in fremden Gesellschaften in einem gewünschten ordnungspolitischen und normativen Sinn (nämlich des Modells des liberalen OECD-Staates mit Demokratie, Marktwirtschaft und Menschenrechten) wird weit überschätzt. Letztlich können nur eigenständige Prozesse der Staatsbildung zum Ziel führen und nur solche können von außen unterstützt werden. Daher sind zahlreiche externe Versuche, ob mit oder ohne militärische Mittel, Staaten nach westlichem Muster zu formen, weit hinter ihren Zielen zurückgeblieben, oder ganz gescheitert. Dies gilt auch für Afghanistan.

Achte These: Zivile Konfliktbearbeitung in Krisenregionen ist friedenspolitisch unabdingbar.

Unrealistisch ist ein sozialtechnologischer Machbarkeitsglauben, der in fremden Gesellschaften mit Hilfe des Militärs »Frieden schaffen«, »Staaten bauen« oder »Stabilität herstellen« will. Vielmehr ist in diesen Gesellschaften eine intensive Förderung von eigenständiger lokaler Konfliktbearbeitung vonnöten. Denn die Hauptakteure in Friedensprozessen sind die in den Krisenregionen lebenden Menschen. Friede kann nie von außen implantiert werden, sondern muss von innen her wachsen. Daher gilt es, lokale Kapazitäten für den Frieden zu stärken und politische Räume für die Entfaltung eigenständiger Friedensprozesse zu eröffnen oder zu weiten.

Neunte These: Deutschland muss seinen Aktionsplan zur zivilen Krisenprävention konsequent umsetzen.

Unbestreitbar hat es in den letzten Jahren in konzeptioneller und organisatorischer Hinsicht friedenspolitische Fortschritte gegeben. Einen Höhepunkt stellte im Jahr 2004 die Verabschiedung des »Aktionsplans Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung« durch die Bundesregierung dar. Doch mangelt es dem Aktionsplan bis heute an einem deutlichen Umsetzungswillen der Politik sowie an einer klaren regionalen und sektoralen Prioritäten- und Schwerpunktsetzung. Dem koordinierenden Ressortkreis fehlt es nach wie vor an politischer Steuerungskompetenz und Ressourcen. Der anhaltende Ressort-Egoismus behindert eine bessere Abstimmung zwischen den Ministerien. Schließlich ist es nicht gelungen, die Anliegen ziviler Krisenprävention auf wirkungsvolle Weise in der Öffentlichkeit zu propagieren. Daher fordern wir nachdrücklich eine politische Aufwertung des Konzepts und der Agenda ziviler Krisenprävention sowie einen massiven Ausbau der Infrastruktur und Ressourcenausstattung ziviler Konfliktbearbeitung.

Zehnte These: Eine kritische Evaluierung der Auslandseinsätze der Bundeswehr ist überfällig.

Wenn auch nicht von einer umfassenden »Militarisierung« der deutschen Friedens- und Sicherheitspolitik zu sprechen ist, so ist doch unverkennbar, dass es zu einer wachsenden Kluft zwischen militärischen Einsätzen und ziviler friedenspolitischer Konfliktbearbeitung sowie bei der zivil-militärischen Zusammenarbeit zu einer Dominanz des Militärischen gekommen ist. Zudem ist die friedenspolitische Bilanz von Auslandseinsätzen der Bundeswehr durchaus strittig. Eine unabhängige, umfassende und kritische Evaluierung dieser Einsätze ist daher, nicht zuletzt angesichts ihrer immensen Kosten, dringend geboten.

Thesen und Lehren fordern ein Fazit:

Plädoyer für nichtmilitärische Krisenprävention und zivile Komnfliktbearbeitung

In der überfälligen Debatte über deutsche Sicherheits- und Friedenspolitik ist eine nachhaltige Neuorientierung dieser Politik zugunsten des zivilen Elements anzustreben. Der wohlfeilen politischen Rhetorik muss endlich die realpolitische Substanzausfüllung des Konzepts ziviler Krisenprävention und Konfliktbearbeitung folgen. Das überkommene Ungleichgewicht zwischen militärischen und zivilen Fähigkeiten, Kapazitäten und Ressourcen gilt es zu überwinden. Gerade der Fall Afghanistan zeigt deutlich diese schon lang anhaltende Schieflage zwischen militärischen und zivilen Mitteln und bekräftigt die Erkenntnis, dass Militär ein in seiner Wirkung immer wieder weit überschätztes, immens teures und letztlich untaugliches Instrument nachhaltiger Konfliktbearbeitung und Friedenspolitik ist.

Die Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft für Frieden- und Konfliktforschung (AFK): Dr. Barbara Müller, Prof. Dr. Berthold Meyer, Prof. Dr. Volker Matthies, PD Dr. Thomas Kater, M.A. Sandra Dieterich, Wilhelm Nolte, Prof. Dr. Susanne Buckley-Zistel, M.A. Jutta Viebach, Christoph Werthmann.
Die Langfassung des Dokuments kann eingesehen werden unter »volkermatthies@t-online.de«

Frieden durch zivile Konfliktbearbeitung?

Frieden durch zivile Konfliktbearbeitung?

Herausforderungen für Evaluierung und Wirkungsanalyse

von Martin Quack

Egal wie Konflikte zivil bearbeitet werden – dies reicht von Traumaarbeit mit Gewaltopfern bis hin zu Gewaltprävention durch Gemeinwesenarbeit – irgendwann stellt sich die Frage, inwieweit es gelingt, Frieden tatsächlich zu fördern. In anderen Politikbereichen gibt es schon längere Erfahrungen mit Evaluation, von denen zivile Konfliktbearbeitung (ZKB) lernen kann, und die um spezifische Aspekte der ZKB erweitert werden müssen.

Funktionen von Evaluationen

Funktionen von Evaluationen

Evaluationen können aus vielen Gründen hilfreich sein, nicht allein wirtschaftliche Effizienzgründe müssen sich dahinter verbergen: Die Beteiligten lernen viel über die eigene Arbeit und können herausfinden, ob sie ihre Ziele wirklich erreichen. Evaluationen können dazu dienen, Rechenschaft gegenüber den Betroffenen, aber auch den politisch Verantwortlichen abzulegen. Außerdem können mit Hilfe von Evaluationen laufende Projekte und Programme verbessert werden – sie können wirkungsvoller ausgestaltet werden. (Funktionen von Evaluationen siehe Kasten)

In der Praxis haben Evaluationen oft auch taktische Funktionen, die Evaluationen in Misskredit bringen. Um Missbrauch von Evaluationen zu verhindern, müssen die allgemein anerkannten Standards für Evaluationen ernst genommen werden, nach denen Evaluationen vier grundlegende Eigenschaften aufweisen sollen: Nützlichkeit, Durchführbarkeit, Fairness und Genauigkeit. Diese Eigenschaften werden in 25 Einzelstandards genauer gefasst (DeGEval 2008).

Herausforderung Evaluation

Für die Beurteilung von Interventionen der ZKB stellen sich eine Reihe von Herausforderungen, insbesondere wenn Wirkungen analysiert werden.

Zunächst sind sehr unterschiedliche Wirkungsverständnisse in Gebrauch: Von der Erreichung eines Projektziels über eine langfristige Veränderung der Lebensverhältnisse der Zielgruppen bis zu einem kontrafaktischen Verständnis, nach dem als Wirkung jedes Geschehen gilt, das ohne ein anderes Geschehen, die Ursache, nicht stattfände. Häufig werden bereits durch ein enges Wirkungsverständnis unbeabsichtigte Wirkungen (positive wie negative) und erhaltende Wirkungen (die nicht als Veränderungen sichtbar werden) übersehen.

Zivile Konfliktbearbeitung soll auf Konflikte wirken, die häufig ganze Staaten oder Regionen prägen. Bei den Interventionen der zivilen Konfliktbearbeitung handelt es sich aber in der Regel gemessen an personellem und finanziellem Umfang um sehr kleine Interventionen, die nur einen winzigen Bruchteil anderer wirtschaftlicher und politischer Interventionen ausmachen.

Die zivile Konfliktbearbeitung hat kurz-, mittel und langfristige Wirkungen. Es lassen sich aber immer nur die Wirkungen bis zum Zeitpunkt der Analyse untersuchen, über mögliche spätere Wirkungen kann nur mehr oder weniger gut begründet spekuliert werden.

Ein großes Problem bei der Zuordnung von Wirkungen zu bestimmten Ursachen sind konkurrierende unabhängige Variablen (andere mögliche Ursachen), die nur selten konstant bleiben: endogener Wandel (z.B. interne Veränderungen von Organisationen), exogener Wandel (z.B. wirtschaftlicher Wandel) oder Ereignisse (z.B. Infrastrukturmaßnahmen). Haben die Teilnehmer eines bestimmten Projekts ihr Verhalten wegen des Projekts verändert oder gibt es dafür ganz andere Gründe?

Um solche Wirkungen nachzuweisen werden in den Naturwissenschaften und in der Medizin häufig Experimente oder Untersuchungen mit Kontrollgruppen (z.B. der Vergleich von Menschen, die an einem bestimmten Projekt teilgenommen haben mit anderen, die nicht teilgenommen haben) durchgeführt. Solche Untersuchungen sind in der Konfliktbearbeitung häufig aus praktischen und/oder ethischen Gründen nicht möglich. Stattdessen sind Wirkungsanalysen häufig auf die Messung von Veränderungen im Zeitverlauf und auf die Wirkungsüberzeugungen beteiligter Akteure angewiesen.

Bisher gibt es keine allgemein anerkannten Indikatoren für die Wirkungsweise der ZKB. Ob eine Wirkung in einem Konflikt als friedensfördernd angesehen wird, hängt u.a. auch vom politischen Standpunkt und der damit verbundenen Vorstellung von Frieden ab. Umso wichtiger ist es, die normativen Kriterien der Bewertung von Wirkungen offenzulegen.1 Die Perspektiven und Schlussfolgerungen der Betroffenen sind u.U. ganz andere als die der »Intervenierenden« und Evaluierenden. Partizipation soll hier integrierend wirken, ein Prinzip, das oftmals aber eher vage bleibt.

Zu vielen ZKB-Interventionen gibt es nur unvollständige Dokumentationen und Daten. Diese sind zudem häufig subjektiv und/oder vertraulich. Die Methoden, mit denen sie erhoben wurden, sind oft unklar, Evaluationen oft nicht extern zugänglich. Die Arbeitsweise in der ZKB erschwert einfache Messungen und Datendokumentation, forschungstechnische Probleme wie notwendiges multidisziplinäres Fachwissen, Regional- und Sprachkenntnisse kommen hinzu.

Verfahren

In einer Evaluation können niemals alle Aspekte untersucht, alle Wirkungen analysiert werden. Deshalb sind Modelle notwendig, die den Blick auf das Wesentliche lenken. Die Modelle basieren zumeist auf Wirkungsketten, zunehmend werden auch Elemente »systemischer« Konzepte integriert. Ein Beispiel hierfür ist eine Evaluation eines Projekts des Zivilen Friedensdienstes zur Stärkung der südafrikanischen Friedensorganisation »Sinani« durch die Berghof Foundation for Peace Support: „[Es] wurde eine Methode für die Evaluierung entwickelt, die auf systemischem Denken und systemischen Konzepten basiert, da diese gut mit Grundkomponenten afrikanischer Kultur harmonieren und zudem auch einen wesentlichen Bestandteil des konzeptionellen Ansatzes von Sinani darstellen. Die Evaluierung versteht sich als ein zyklischer und organischer Prozess von Aktion und Reflektion, in dem gemeinsames Lernen im Vordergrund steht. Ein Hauptziel dieser Methode ist es, die Kapazität von Sinani zu fördern, selbst die eigenen Stärken und Schwächen zu identifizieren und zu verstehen und Ideen für die weitere Entwicklung zu generieren“ (Körppen et al 2008: V).

Den oben genannten Herausforderungen stehen verschiedene etablierte, teilweise spezifisch für die Konflikttransformation entwickelte Verfahren zur Evaluation und Wirkungsanalyse gegenüber. Einige davon – mit jeweils unterschiedlichen Zielen – werden im Folgenden beispielhaft vorgestellt.

Do No Harm

Das inzwischen weit verbreitete Verfahren »Do No Harm« (DNH) soll dazu dienen, die negativen Wirkungen von Interventionen auf gewaltträchtige Konflikte zu minimieren: Jede Intervention in einem Konfliktkontext wirkt sich auf den Konflikt selbst aus, sie wird Teil des Konflikt-Kontextes. Diese Wirkungen sind oft ungeplant und unbedacht. Mit Hilfe des Verfahrens werden beispielsweise die Auswirkungen von Ressourcentransfers oder der impliziten ethischen Botschaften der Intervention analysiert. Sowohl die Wirkungen auf die »dividing factors« und die »sources of tension« in einem Konflikt als auch die »connecting factors« und die »local capacities of peace« werden untersucht. Durch die Eröffnung von Handlungsoptionen sollen negative Wirkungen minimiert und positive verstärkt werden. Maßgeblich für die Identifizierung von Wirkungszusammenhängen ist dabei die subjektive Einschätzung der Akteure.

Peace and Conflict Assessment

»Peace and Conflict Assessment« (PCA) ist ein Verfahren, das den Anspruch erhebt, einen umfassenden Rahmen zur Planung und Evaluation von Interventionen in Konfliktgebieten zu liefern. Die Wirkungsanalyse ist ein Anwendungsgebiet des Verfahrens. Im Vordergrund stehen Wirkungen auf den gesellschaftlichen Meso- und Makroebenen. Prinzipiell sollen alle relevanten Wirkungen erfasst werden: geplante und ungeplante, direkte und indirekte. PCA setzt sowohl auf (mehr oder weniger) objektive Monitoringdaten als auf subjektive Einschätzungen derjenigen Akteure, die an dem Verfahren beteiligt sind (partizipative Wirkungsbeobachtung). Das Verfahren ist in sich geschlossen, ermöglicht aber die Integration anderer Elemente, z.B. von »Do No Harm«. Idealerweise sollte PCA in den Projektzyklus integriert werden. Aufgrund seines Umfangs ist es für kleinere Interventionen weniger geeignet.

Reflecting on Peace Practice

Seit 1999 arbeiten über 100 internationale und lokale Friedensorganisationen und -initiativen im Projekt »Reflecting on Peace Practice« (RPP) zusammen. Die darin erarbeiteten Effektivitätskriterien sollen Wirksamkeit auf der Makroebene (Peace Writ Large) belegen. RPP liefert weitere Erkenntnisse, die für die Untersuchung von ZKB wichtig sind: Prinzipien zu Partnerschaften zwischen Insidern und Outsidern, zur Verortung von Interventionen und speziell zu Dialogen und Trainings als besonders weit verbreitete Methoden. Die fünf Kriterien zur Analyse der Wirkungen auf »Peace Writ Large« sind folgende: Das erste Kriterium: Leistet das Projekt einen Beitrag, um Schlüsselfaktoren des Konflikts zu stoppen? Es bezieht sich auf Menschen, Themen oder Dynamiken, die als »key contributors« des Konflikts identifiziert wurden. Das zweite Kriterium: Werden lokale Akteure in eigenen Friedensinitiativen aufgrund einer ZKB-Intervention selbst tätig? Es bezieht sich also auf die Erweiterung von Handlungsmöglichkeiten von Menschen in Konflikten. Das dritte Kriterium: Kommt es zu institutionellen Reformen? Gemeint sind Institutionen auf allen gesellschaftlichen Ebenen, die Einfluss auf diejenigen Ungerechtigkeiten und Missstände haben, die den Konflikt verursacht haben oder anheizen. Das vierte Kriterium, Widerstand gegen Provokationen, bezieht sich auf Akteure, die dazu ermächtigt werden sollen, Manipulationen und Provokationen besser zu widerstehen. Hierbei geht es sowohl um verbesserte Analysefähigkeiten und neue Handlungsoptionen als auch um veränderte Wertemuster und Einstellungen. Das fünfte Kriterium ist eine verbesserte Sicherheitslage: Wenn Bedrohungen stärker wahrgenommen werden als »objektiv« gerechtfertigt, dann ist bereits eine subjektiv empfundene verbesserte Sicherheitslage ein Erfolg; ist die Bedrohung real, so muss sich die Sicherheitslage auch objektiv verbessern. Die Kriterien des Verfahrens sind additiv zu verstehen, d.h. umso mehr davon erfüllt werden, umso höher die Wirksamkeit der Intervention.

Evaluationskultur

Eine Evaluation, die mit klaren Zielen, einem schlüssigen Konzept und nach den anerkannten Qualitätsstandards durchgeführt und entsprechend genutzt wird, kann sehr nützlich für alle Beteiligten sein. Eine Evaluation, die dem Gegenstand und der Fragestellung nicht angemessen ist, kann jedoch mehr Schaden als Nutzen stiften. Unrealistische Ansprüche an Wirkungsnachweise sollten selbstbewusst zurückgewiesen und nicht durch »zurechtgebogene« Evaluationen scheinbar erfüllt werden.

In vielen Evaluationsberichten – und vermutlich auch in vielen Evaluationsprozessen – fehlt ein wichtiger Schritt: Es bleibt offen, wie die Verantwortlichen die Evaluationen zur Verbesserung ihrer Arbeit nutzen.2 Um die Nützlichkeit von Evaluationen zu gewährleisten muss dieser Schritt von Anfang an eingeplant werden.

Da die meisten Evaluationen auch zum Lernen von Dritten dienen können und Evaluationen in der Friedensförderung noch wenig verbreitet sind, ist es besonders wünschenswert, dass Evaluationsberichte veröffentlicht werden.3 Nur dann ist gemeinsames Lernen möglich. Dazu gehört auch, dass bei allen Beteiligten, auch bei den Geldgebern, das Lernen aus Fehlern stärker gewürdigt wird, so dass nicht nur Berichte über besonders erfolgreiche Interventionen zugänglich gemacht werden.

Eine Evaluation der gesamten Friedensförderung in Kosovo im Jahr 2006 (CDA/CARE International Kosovo 2006) etwa hat untersucht, weshalb es bei den Unruhen im März 2004 in Kosovo in manchen Gebieten zu weniger Gewalt kam als in anderen. Diese Evaluation hat ergeben, dass die internationalen Bemühungen zum Zusammenbringen verfeindeter Gruppen nicht die erwünschten Wirkungen hatten. Einige Organisationen in Kosovo haben deshalb ihre Friedensarbeit in Kosovo verändert.

Literatur

Anderson, Mary B. (1999): Do No Harm: how aid can support peace – or war. Boulder/London: Lynne Rienner.

Anderson, Mary B./Olson, Lara (2003): Confronting war: critical lessons for peace practitioners (www.cdainc.com/cdawww/pdf/book/confrontingwar_Pdf1.pdf).

Calließ, Jörg (Hg.) (2006): Evaluation in der zivilen Konfliktbearbeitung, Rehburg-Loccum: Evangelische Akademie Loccum (www.konfliktbearbeitung.net/?info=docs&pres=detail&uid=686).

Caspari, Alexandra (2004): Evaluation der Nachhaltigkeit von Entwicklungszusammenarbeit, Wiesbaden: VS Verlag.

CDA/CARE International Kosovo (2006): What difference has peacebuilding made? A study of the effectiveness of peacebuilding in preventing violence: lessons learned from the March 2004 riots in Kosovo (www.careks.org/pub3.pdf).

DeGEval (2008): Standards für Evaluation (www.degeval.de/calimero/tools/proxy.php?id=19074).

DeGEval, Arbeitskreis Entwicklungspolitik (2009): Verfahren der Wirkungsanalyse – eine Landkarte für die entwicklungspolitische Praxis (www.degeval.de/index.php?class=Calimero_Webpage&id=9037).

GTZ (2007): Peace and Conflict Assessment (PCA): Ein methodischer Rahmen zur konflikt- und friedensbezogenen Ausrichtung von EZ-Maßnahmen. Eschborn (www2.gtz.de/dokumente/bib/07-1526.pdf).

Körppen, Daniela/Mkhize, Nhlanhla/Schell-Faucon, Stephanie (2008): Evaluation Report: Peace Building Programme of Sinani (www.berghof-peacesupport.org/publications/sinani_final_report.pdf).

KwaZulu-Natal Programme for Survivors of Violence

OECD DAC (2008): Guidance on evaluating conflict prevention and peacebuilding activities: working draft for application period (www.oecd.org/secure/pdfDocument/0,2834,en_21571361_34047972_39774574_1_1_1_1,00.pdf).

Rossi, Peter H./ Lipsey, Mark W./ Freeman, Howard E. (2004): Evaluation – a systematic approach, Thousand Oaks, Canada: Sage.

Quack, Martin (2009): Ziviler Friedensdienst: Exemplarische Wirkungsanalysen. Wiesbaden: VS Verlag.

Zupan, Natascha (2005): Methoden der Evaluation im Konfliktkontext (FriEnt Briefing Nr. 3/2005) (www.frient.de/materialien/detaildoc.asp?id=1).

Anmerkungen

1) Vor allem in der staatlichen Entwicklungszusammenarbeit spielen die Evaluationskriterien des Entwicklungshilfeausschusses der OECD (DAC) eine wichtige Rolle: Relevanz, Effektivität, Wirkung (impact), Nachhaltigkeit und Effizienz (OECD DAC 2008: 39-45).

2) In einigen Organisationen ist inzwischen die „management response“ integraler Teil des Evaluationsberichts, s. z.B. UNDP http://erc.undp.org/evaluationadmin/manageresponse/view.html?evaluationid=2314 (14.4.2010).

3) Im Rahmen der Arbeit des Berghof Forschungszentrums wurden mehrere Evaluationsberichte veröffentlicht: www.berghof-peacesupport.org/publications/sinani_final_report.pdf www.nenasilje.org/publikacije/evaluation_e. html Auch von staatlichen Akteuren und Geldgebern gibt es eine Reihe von Berichten: www.bmz.de/de/service/infothek/evaluierung/index.html www.ifa.de/foerderprogramme/zivik/projektmonitoring-und-evaluation/projektevaluation

Dr. Martin Quack ist Politikwissenschaftler mit dem Schwerpunkt Friedens- und Konfliktforschung. Er hat die Wirkungen von Interventionen des Zivilen Friedensdienstes in Serbien, Kosovo und Palästina & Israel untersucht. Seit 2008 arbeitet er für das Forum Ziviler Friedensdienst in Kosovo.

Visions of Peace: The West and Asia

Visions of Peace: The West and Asia

10.-12. Dezember 2009 – Otago Museum in Dunedin, Neuseeland

von Takashi Shogimen

Vom 10. bis 12. Dezember 2009 fand das international Symposium »Visions of Peace: The West and Asia« im Otago Museum im neuseeländischen Dunedin statt. Die Veranstaltung – finanziert von der Japan-Stiftung und der Fakultät für Geschichte und Kunstgeschichte der Universität von Otago – widmete sich als multi-disziplinäres Symposium der Untersuchung der verschiedenen traditionellen Konzeptionen des Friedens in den Geschichten der asiatischen und der westlichen Welt.

Angeregt durch 9/11 fokussiert die gegenwärtige Literatur auf die Rechtsvorschriften und die Ethik »gerechter Kriege«. Die Ideen und Ideale des Friedens wie sie in der Vergangenheit von asiatischen und westlichen Denkern konzeptualisiert worden waren, scheinen der Aufmerksamkeit der Wissenschaftler entrückt zu sein. Das Symposium beabsichtigte, diese Lücke zu füllen und bisher übersehene oder unterschätzte Friedensvisionen der historischen Betrachtung ins Licht zu rücken.

Die Veranstaltung orientierte sich an den folgenden kulturellen Einheiten und Traditionen: islamisch, jüdisch, indianisch, chinesisch, japanisch und europäisch. Dabei wurde die Mannigfaltigkeit der globalen Traditionen der Idee des Friedens an den Schnittstellen Religion, Philosophie und politische Ideenwelt betrachtet. Der zentrale, jedoch nicht exklusive zeitliche Fokus lag auf der Vormoderne. Zu den allgemeinen theoretischen und historischen Fragen, die aufgeworfen wurden, gehörten etwa: Was bedeutete »Frieden« in einer gegebenen Tradition? War er vor allem politisch bestimmt? War Frieden das Ziel oder das Mittel für etwas anderes? Ist Frieden in dieser Welt erreichbar? Was sind die Bedingungen für Frieden? Welches sind die Kontexte, in denen Frieden bewertet wird? Welche Beziehung besteht zwischen Krieg und Frieden? Wie wird die Legitimität von Gewaltanwendung in den verschiedenen Traditionen gesehen?

Dr. Takashi Shogimen, Senior Lecturer für die Geschichte des Mittelalters an der University von Otago, hatte die Veranstaltung organisiert und fünf Sprecher für die Plenarveranstaltungen und dreizehn Referenten aus verschiedenen Teilen der Erde einschließlich Jerusalem, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Indien, China, Japan, Kanada, den USA und Neuseeland versammeln können. Den Eröffnungsbeitrag über die ghandische Synthese buddhistischer, hinduistischer, christlicher und liberaldemokratischer Friedensvorstellungen und ihren Einfluss auf westliche pazifistische Ideen und Bewegungen hielt Dr. David Cortright, Direktor des Kroc Institute for International Peace Studies, University of Notre Dame, USA. Einige der pazifistischen Ideen, die von der japanischen und anderen ostasiatischen Nationen geteilt werden, wurden von Professor Shin Chiba von der International Christian University in Tokio vorgestellt. Er verdeutlichte auch die aktuelle Bedeutung des konstitutionellen Pazifismus' Japans.

Dr. Kaushik Roy von der Visva-Bharati University in Indiaen und dem International Peace Research Centre (PRIO) stellte die Idee von Krieg und Frieden im Hinduismus vor der pazifistischen Reinterpretation durch Gandhi vor. Der an der Tufts University, Massachusetts, USA, lehrende Dr. Malik Mufti untersuchte die Gegensätze zwischen der »modernistischen« Schule islamischen Denkens zu internationalen Beziehungen – wie sie durch Autoren wie Muhammand Shaltut, Muhammad Abu Zahra und Wahaba al-Zuhayli repräsentiert werden – und der »klassischen« Doktrin vertreten durch die Juristen der Ära der Abbasiden. Dabei hob er die unterschätzte intellektuelle Tradition, wie sie vor allem durch Ibn Khaldun vertreten worden sei, hervor. Schließlich schloß die Veranstaltung mit einer fesselnden Analyse von Dr. Kamp-por Yu von der Hong Kong Polytechnic University, der sich der konfuzianischen Vorstellung des Friedens aus vergleichender Perspektive widmete und dabei die zentrale chinesische Art des Denkens über Konflikte und Konfliktregelungen hervorhob.

Neben diesen Plenarvorträgen gab es sechs Panels, in denen dreizehn Paper vorgestellt wurden: Dr. Patricia Hannah von der University of Otago befasste sich mit der Idee der eirene, während Associate Professor Murray Rae, ebenfalls von der Universität in Otago, frühen christlichen Pazifismus als dissidente Tradition zeigte. Dr. Vanessa Ward porträtierte Cho Takeda Kiyo (1917-) als eine japanische Friedensstifterin, die in einzigartiger Weise zum japanischen Pazifismus beigetragen habe. Dr. Erica Baffelli, auch sie aus Otago, befasste sich mit dem Pazifismus verschiedener Neuer Religionen, um den charakteristischen japanischen Traditionen nachzugehen, und Tadashi Iwami vom International Pacific College, Palmerston North, New Zealand, stellte – insbesondere im japanischen Kontext – die Zulässigkeit von Vokabeln wie »Zivilisation« und »zivilisatorischer Standard« in Frage, mit denen sich potentiell Antagonismen schaffen ließen. Dr. Vicki Spencer von der University of Otago analysierte Johann Gottfried Herders „eingebetteten Kosmopolitanismus als Alternative zu einem institutionalisierten staatlichen Kosmopolitanismus“ und kontrastierte so seine Vorstellung von Frieden mit der Kants. Dr. Katherine Smits von der University of Auckland stellte eine weitere Alternative zum Kant'schen Friedensplan vor, indem sie Jeremy Benthams unterschätzte Vision des Friedens darlegte und deren aktueller Relevanz nachging. Rajimohan Ramanathalillai vom Gettysburg College, USA, untersuchte anhand von Beispielen wie Al Qaida, den Tamil Tigers und weiteren , wie und warum die US-amerikanischen, indischen und sri-lankischen Regierungen damit scheiterten, eine Ursachenanalyse des Terrorismus vorzunehmen. Nalini Rewadikar vom Madhya Pradesh Institute of Social Sciences Research, Indien, und Uri Zur vom Ariel University Center of Samaria, Israel, stellten eine umfassende Bestandsaufnahme der antiken indianischen und jüdischen Vorstellungen des Friedens vor. Scott Morrison von der Zayed University, Dubai, UAE, bot eine empfindsame Analyse der Friedensidee bei Hasan al-Banna. Bernard Jervis von der Massey University, New Zealand, untersuchte den ethnischen Konflikt zwischen den serbischen, kroatischen und muslimischen Gemeinschaften im Zeitraum 1992 bis 1995 unter dem Gesichtspunkt, was getan wurde, um nach der Gewalt den Frieden wieder herzustellen. Schließlich war es Emily Spencer von der University of Northern British Columbia, die die Bedeutung kultureller Intelligenz (cultural intelligence = CQ) im Rahmen ihrer Untersuchung der neuen Rolle des Militärs in »friedenschaffenden Operationen« hervorhob.

Insgesamt gelang es dem Symposium erfolgreich, die historische und kulturelle Vielfalt der Konzeptualisierung von Frieden und friedensstiftendem Handeln aufzuzeigen und auf einige bisher übersehene traditionelle Friedenskonzeptionen hinzuweisen.

Die Veranstaltung war für die allgemeine Öffentlichkeit zugänglich und zog sowohl lokales als auch landesweites Interesse auf sich. David Cortright wurde von Radio New Zealand und der Otago Daily Times, der Zeitung Dunedins, interviewt. Takashi Shogimen und Vicki Spencer werden eine Sammlung von einschlägigen Aufsätzen herausgeben, die voraussichtlich in naher Zukunft bei einem führenden Wissenschaftsverlag erscheinen werden.

Takashi Shogimen

Zivile Konfliktbearbeitung in der Südsee

Zivile Konfliktbearbeitung in der Südsee

von Volker Böge

Der Diskurs über Zivile Konfliktbearbeitung, Gewalt- und Kriegsprävention ist sehr stark von westlichen Konzepten, Mustern und Ansätzen geprägt. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass »wir hier« (im »entwickelten« Westen/Norden) »denen da unten« (im Globalen Süden) beibringen müssen (und können), wie Konflikte nicht-gewaltförmig zu bearbeiten und Kriege zu verhindern sind. Dabei gibt es eine Vielzahl nicht-westliche, in den lokalen Gemeinschaften der konfliktbetroffenen Regionen des Südens verankerte Institutionen und Instrumente traditioneller Konfliktbearbeitung. In diesem Beitrag soll eine Geschichte von Konfliktbearbeitung kurz nachgezeichnet werden, die erfolgreich war, gerade weil in ihr lokale traditionelle Formen eine zentrale Rolle spielten. Es geht um Friedensbildung auf der Südseeinsel Bougainville.

Die südpazifische Insel Bougainville, mit rund 9000 Quadratkilometern etwa so gross wie Zypern, wurde im Jahre 1975 Teil des damals aus australischer Kolonialherrschaft entlassenen unabhängigen Staates Papua-Neuguinea (PNG). Auf Bougainville wurde im Jahrzehnt zwischen 1989 und 1998 der bislang blutigste und längste Gewaltkonflikt im Südpazifik nach dem Zweiten Weltkrieg ausgetragen. Ihm sind nahezu 20.000 der knapp 200.000 Inselbewohner zum Opfer gefallen. Es bekämpften sich die sezessionistische »Bougainville Revolutionary Army« (BRA) auf der einen Seite und die Streitkräfte der Zentralregierung Papua Neuguineas, die »Papua New Guinea Defence Forces« (PNGDF), unterstützt von lokalen bougainvilleanschen Hilfstruppen, den so genannten »Resistance Forces«, auf der anderen Seite.

Die Vorgeschichte: Krieg auf Bougainville

Wie so viele der zeitgenössischen »vergessenen« Kriege war auch der Gewaltkonflikt auf Bougainville geprägt von Menschenrechtsverletzungen und Grausamkeiten, die vor allem an der Zivilbevölkerung verübt wurden. Dörfer und Kirchen wurden niedergebrannt, Menschen gefoltert und ermordet, vertrieben und beraubt. Nur relativ wenige der Kriegsopfer waren tatsächlich Kombattanten, die bei Kampfhandlungen fielen. Die große Mehrheit waren Zivilisten, Frauen und Kinder.

Ausgelöst wurde der Krieg durch ein gigantisches Bergbauprojekt, das durch Inwertsetzung der reichen Bodenschätze der Insel (Kupfer und Gold) einem multinationalen Bergbaukonzern Profite und dem jungen Staat Papua-Neuguinea Ressourcen für die nationalstaatliche »Entwicklung« bescheren sollte. Der lokalen Bevölkerung im Minengebiet brachte es allerdings vor allem die Zerstörung der Umwelt und die Zersetzung traditionaler Lebenszusammenhänge. Aus dem Widerstand dieser Bevölkerung und der repressiven Reaktion der Staatsorgane entwickelte sich ein Konflikt, der zu einem Krieg um die Sezession der Insel vom Staatsverband Papua-Neuguineas mutierte. Der Stein des Anstoßes, die Gold- und Kupfer-Mine Panguna, wurde in einer frühen Phase des Krieges von den Aufständischen erobert und still gelegt (1989) – und das ist die Situation bis heute.

Mit Fortdauer des Krieges trugen auf Seiten der PNG-Regierung die »Resistance Forces«, ausgerüstet und unterstützt von den PNGDF, die Hauptlast der Kampfhandlungen gegen die BRA. Die Streitkräfte der PNG-Regierung wurden zudem massiv von Australien unterstützt; ohne diese australische Militärhilfe wären die PNGDF und die »Resistance« nicht in der Lage gewesen, den Krieg so lange durchzuhalten.

Weit entfernt davon, ‚nur‘ ein Sezessionskrieg zu sein, wurden unterhalb dieser Ebene – und auf komplizierte Weise mit ihr verbunden – eine ganze Reihe weiterer Sub-Kriege ausgetragen, die sich aus überkommenen innergesellschaftlichen Konflikten ergaben. Zum Krieg »der« Bougainvilleans gegen die »fremden« Regierungstruppen kamen Gewaltkonflikte der Bougainvilleans untereinander. Traditionale Konflikte zwischen verschiedenen Clans, die sich entweder der BRA oder der »Resistance« anschlossen, wurden gleichsam unter dem Dach des »großen« Krieges gewaltsam ausgetragen, was zur »Ausfransung« des Kriegsgeschehens beitrug. Die politischen und militärischen Spitzen der Konfliktparteien hatten lediglich nominell, nicht aber faktisch die Führung »ihrer« Einheiten inne.

Ein letzter Versuch der Zentralregierung, zu einer militärischen Lösung zu gelangen, scheiterte im Frühjahr 1997 kläglich: Seinerzeit heuerte die damalige Regierung eine britisch-südafrikanische Söldnertruppe an, die von den Söldnerfirmen »Sandline International« und »Executive Outcomes« gestellt wurde, um die Panguna-Mine zurückzuerobern und die BRA zu zerschlagen. Doch Demonstrationen in der Hauptstadt Port Moresby gegen die Söldner und die Weigerung der PNGDF-Führung, mit diesen zu kooperieren, zwangen die Regierung zum Rücktritt und die Söldner außer Landes. Die nach Neuwahlen vom Juni 1997 gebildete neue Regierung sah keine Perspektive mehr in der Fortsetzung des Krieges und erklärte sich zu Verhandlungen bereit.

Waffenstillstand und Friedensabkommen

Auf Vermittlung der neuseeländischen Regierung kam es ab Juni 1997 zu einer Reihe von Gesprächen zwischen den Konfliktparteien. Hinzugezogen wurden auch RepräsentantInnen anderer gesellschaftlicher Kräfte aus Bougainville, die eine »dritte« Seite bildeten und der Kriegsmüdigkeit der Menschen Ausdruck verleihen konnten: Nichtregierungsorganisationen, vor allem Kirchen- und Frauengruppen sowie traditionale Akteure wie Clanälteste und chiefs. Im Oktober 1997 einigte man sich auf eine Waffenruhe, den so genannten »Burnham Truce«.

Die Erklärung zum »Burnham Truce« wurde nicht allein von den politischen und militärischen Spitzen der Konfliktparteien, sondern auch von VertreterInnen der Zivilgesellschaft, Kirchenleuten, Clanältesten sowie den lokalen Kommandeuren der BRA und der »Resistance« unterzeichnet. Das erhöhte ihre Verbindlichkeit und Implementierbarkeit. Im April 1998 wurde schliesslich ein „permanenter und unwiderruflicher“ Waffenstillstand verkündet, der als das Ende des Krieges gelten kann. Beendigung des Krieges bedeutet allerdings in Situationen wie auf Bougainville noch lange nicht Frieden. Vielmehr folgten nunmehr Jahre mühsamer Friedensbildung.

Ein Element hiervon war ein komplizierter, immer wieder von Verzögerungen, Rückschlägen und Unterbrechungen begleiteter Verhandlungsprozess auf der politischen Ebene. Schließlich konnte in den politischen Schlüsselfragen eine Einigung erzielt werden. Am 30. August 2001 wurde das »Bougainville Peace Agreement« (BPA) unterzeichnet. Es sah vor:

weitgehende politische Autonomie für Bougainville im Rahmen PNGs und seiner Verfassung und Wahlen zu einer Autonomieregierung;

ein Referendum über die politische Zukunft – also die Frage: Unabhängigkeit oder Verbleib bei PNG – innerhalb von 10 bis 15 Jahren nach Bildung der Autonomieregierung;

einen dreistufigen Prozess der Abgabe der Waffen und der Auflösung der bewaffneten Gruppierungen – verbunden mit dem Abzug der Regierungstruppen von der Insel.

In der Tat zogen sich die PNGDF völlig aus Bougainville zurück, und BRA und »Resistance« gaben nach und nach ihre Waffen ab.1

Von 2002 bis 2004 arbeitete eine bougeanvilleansche Verfassungskommission an einer Autonomie-Verfassung für Bougainville; mehrere Entwürfe wurden der Bevölkerung auf Bougainville vorgelegt und von dieser breit diskutiert. Im November 2004 erfolgte die Verabschiedung der Verfassung durch eine bougainvilleansche Verfassunggebende Versammlung. Im Mai und Juni 2005 dann fanden Wahlen für eine Autonomieregierung statt. Zum Präsidenten der »Autonomous Region of Bougainville« – so der offizielle Name der neuen politischen Einheit – wurde Joseph Kabui gewählt, einer der führenden politischen Köpfe der Sezessionisten. Aus nach seinem Tode notwendig gewordenen Neuwahlen ging im Dezember 2008 James Tanis als Sieger hervor, ein ehemaliger jüngerer Kommandant der BRA.

Traditionale Konfliktbearbeitung an der Basis

Die bisher angesprochenen Verhandlungen und Prozesse auf der politischen Ebene allein hätten auf Bougainville sicher nicht zu einer nachhaltigen Friedenskonsolidierung geführt. Von entscheidender Bedeutung für die Stabilisierung der Nachkriegssituation war vielmehr der Rückgriff auf traditionale Formen der Beendigung von Gewaltkonflikten und der Friedensschaffung auf der lokalen Ebene – handelte es sich bei dem Krieg doch nicht allein um einen Sezessionskrieg, sondern um ein mixtum compositum aus modernem Krieg und traditionalen Sub-Kriegen zwischen Clans, Dörfern und ethnolinguistischen Gruppen. Er wurde partiell auch nach traditionalen Regeln geführt. Deswegen konnte und musste seine Beendigung ebenfalls auf traditionalen Wegen erfolgen. Es ging nicht allein um Verhandlungen und Verständigung zwischen den politischen und militärischen Führungen der Kriegsparteien, sondern auch um (Wieder-)Annäherung und Versöhnung der Akteure »an der Basis«. Denn der Krieg war hochgradig personalisiert: Die sich bekämpfenden Parteien waren relativ kleine Einheiten, deren Mitglieder sich persönlich bzw. als Angehörige eines bestimmten Clans, einer bestimmten Familie oder einer bestimmten ethnolinguistischen Gruppe kannten. Die Kriegführung folgte der Logik der Vergeltung (»pay back«).

Ebenso wie Regeln der Kriegführung haben die traditionalen Gemeinschaften auch Verfahren der Kriegsbeendigung und Versöhnung. Diese wurden in der Übergangs- und Nachkriegsphase vielerorts praktiziert. Das wurde möglich, weil während des Krieges traditionale Institutionen und Verfahren der Konfliktregelung eine Renaissance erfahren hatten. Während des Krieges nämlich hatten sich staatliche Instanzen weitestgehend aus Bougainville zurückziehen müssen; es gab keine staatlichen Konfliktregelungsinstitutionen mehr, und dadurch eröffnete sich ein sozialer Raum für die Renaissance von »custom« und »customary law«. Vielerorts übernahmen »elders« und »chiefs«, Klanälteste und Dorfoberhäupter, die Verantwortung für die öffentliche Ordnung in ihrem lokalen Einflussbereich. Sie rekurrierten bei der Regelung von Konflikten und öffentlichen Angelegenheiten generell auf »customary ways«meist zur weitgehenden Zufriedenheit der lokalen Bevölkerung. Und so kam ihnen dann auch eine bedeutende Rolle zu, als in der Phase des Übergangs vom Krieg zum Frieden die vielfältigen lokalisierten Gewaltkonflikte beendet werden mussten.

Vor allem geht es bei traditionaler Konfliktbearbeitung um den Ausbruch aus der »payback«-Logik, die verlangt, dass für materielle Verluste und für Opfer auf der eigenen Seite Rache an der Gemeinschaft der Täter genommen werden muss. Das Vergeltungsprinzip, welches in einen Teufelskreis der Gewalt führt, muss durchbrochen werden. Das verlangt einen komplizierten und oft langwierigen Aushandlungsprozess, in dem autorisierte Führungspersonen der Konfliktparteien – so genannte »big men« – die Bedingungen für einen Friedensschluss herstellen. Einigung über die Interpretation der Konfliktgeschichte (was ist geschehen, wer hat was getan), die Übernahme von Verantwortung und das Eingeständnis von Übeltaten, die Bereitschaft zur Vergebung sowie schließlich die Festlegung von Kompensationen für die geschädigte Gemeinschaft sind zentrale Elemente eines solchen Prozesses. Abgeschlossen wird er mit einer festlichen Friedenszeremonie, in deren Rahmen zusammen gefeiert, gegessen, getrunken und getanzt wird, gemeinsam Betelnuss (eine beliebte leicht berauschende Droge) gekaut wird, Pfeile und Bögen symbolisch zerbrochen und vor allem die Kompensationen übergeben werden. Der Austausch von Gaben (Kompensationen) ist äußerliches Zeichen der Versöhnung. Ziel ist die Wiederherstellung der Beziehungen zwischen den Konfliktparteien und der sozialen Ordnung der Gemeinschaft.

Solcherart lokale Friedensprozesse wurden gestärkt durch Einbeziehung christlicher Elemente. Die Bevölkerung Bougainvilles – in der großen Mehrheit Katholiken – ist streng gläubig. Für den erfolgreichen Abschluss von Friedensprozessen sind nicht allein traditionale Friedenszeremonien, sondern in Verbindung damit auch gemeinsame Gottesdienste der ehemals verfeindeten Gruppen von hoher symbolischer Bedeutung. Schweinefest und Gottesdienst gingen zusammen. Versöhnung im christlichen Verständnis, also auf der Basis des Eingeständnisses von Schuld, der Bereitschaft zur Sühne und zur Vergebung, gilt auf Bougainville als unerlässlich für dauerhafte Friedenskonsolidierung.

Versöhnungsprozesse hat es auf Bougainville in den vergangenen Jahren vielfach gegeben; sie stehen aber mancherorts und zwischen verschiedenen Gruppen noch aus bzw. sind noch nicht abgeschlossen, brauchen sie doch in der Regel sehr viel Zeit. In der Tat ist der Prozesscharakter dieser Art von Friedensschaffung von grosser Bedeutung: es ist eine ganze Serie von Treffen, Verhandlungen, Versöhnungssignalen, Auszeiten und neuen Anläufen erforderlich, bis es zu einem Abschluss des Prozesses kommen kann. Ebenso bedeutend ist die Inklusivität: in bestimmten Phasen und bei bestimmten Gelegenheiten müssen tatsächlich alle Mitglieder der vormals verfeindeten Gemeinschaften zugegen sein, weil nur dann die Verbindlichkeit erzielter Vereinbarungen gewährleistet werden kann.

Zentrale Aspekte traditionaler Konfliktbearbeitung fanden auch Eingang in den Friedensprozess auf politischer Ebene. Zu nennen ist etwa die eben erwähnte Inklusivität. VertreterInnen der Zivilgesellschaft und traditionale Autoritäten und nicht zuletzt Frauen waren in recht großer Zahl bei allen wichtigen Konferenzen und Verhandlungsrunden zugegen. Der Einfluss von Frauen spielte eine große Rolle, haben Frauen in den matrilinear organisierten Gemeinschaften auf Bougainville doch eine traditionell starke soziale Stellung.

Bemerkenswert ist die Dauer, auf die das Projekt Friedenskonsolidierung angelegt wurde, sowohl hinsichtlich seiner einzelnen Elemente als auch des Gesamtprozesses. Die ersten bougainvilleanschen Gesprächs- und Verhandlungsrunden auf Neuseeland zum Beispiel dauerten jeweils Wochen, die neuseeländischen Gastgeber gaben keinen zeitlichen Endpunkt vor und liessen den Bougainvilleans sehr viel »freie Zeit«. Auch wurden keine Zeitvorgaben für die Abgabe der Waffen gemacht, es ergab sich ein über Jahre hin ziehender, bis heute nicht völlig abgeschlossener Prozess. Friedenskonsolidierung auf Bougainville geht nunmehr ins elfte Jahr und wird – nimmt man das angepeilte Referendum über den künftigen politischen Status der Insel als Fluchtpunkt – noch mindestens ein weiteres Jahrzehnt brauchen.

Generalisierungen – lessons learnt

Abschliessend seien sechs Aspekte herausgehoben, die als Lehren aus dem Friedenskonsolidierungsprozess auf Bougainville besonderer Beachtung wert sind und die Anregungen für ähnliche Prozesse in anderen Krisenregionen des Globalen Südens geben können.

1. Versöhnung. Der Friedensprozess auf Bougainville demonstriert die große Bedeutung der psychosozialen und emotionalen, ja spirituellen Problemdimension von Friedenskonsolidierung. Das Beispiel Bougainville zeigt, welch langwieriger, komplizierter und schmerzhafter Vorgang Versöhnung in Nachkriegsgesellschaften ist. Westliche Ansätze von Konfliktbearbeitung und Friedensbildung neigen dazu, die rationale von der emotiv-spirituellen Dimension zu trennen und sich auf die rationale Seite zu konzentrieren. Die Menschen auf Bougainville nehmen diese Trennung nicht vor. Zudem tendieren westliche Ansätze zur Betonung materiellen Wiederaufbaus, politischer Lösungen und physischer Rehabilitation und zur Vernachlässigung der Versöhnungsdimension. Für die Bougainvilleans steht diese im Vordergrund. Die Verbindung traditional-spiritueller und christlicher Elemente spielte und spielt dabei für die Versöhnungsprozesse auf Bougainville eine große Rolle. Versöhnung ohne Einbezug der spirituellen Dimension ist nicht möglich. Die Geister der Ahnen und Gott müssen am Prozess teil haben.

2. Zeit. Selbst nach einem Jahrzehnt Nicht-Krieg sind die Menschen auf Bougainville noch mit dem Thema Versöhnung befasst. Zeitvorstellungen auf Bougainville unterscheiden sich ebenso wie Zeitvorstellungen in anderen Gesellschaften des Globalen Südens entscheidend vom westlichen Zeitregime. Zeit ist nicht linear, sondern zirkulär; in der Gegenwart sind Vergangenheit und Zukunft, die Geister der Ahnen und die ungeborenen Generationen, unmittelbar präsent.

3. Der gesellschaftliche Kontext. Westliche Ansätze favorisieren universale allgemein anwendbare Instrumente und Verfahren, »tool boxes« für Konfliktregelung und Friedensbildung sind beliebt. Traditionale Ansätze wie auf Bougainville sind dem gegenüber in hohem Masse kontext-spezifisch. Ein Konflikt und seine Bearbeitung können nicht losgelöst gesehen werden von der – oft viele Generationen zurück verfolgten – gemeinsamen Geschichte der Konfliktparteien, dem Gesamtzusammenhang ihrer gegenwärtigen Beziehungen und den lokalen Spezifika des jeweiligen traditionalen Umgangs mit Konflikten. Ein einzelner Konflikt lässt sich nicht isolieren, er muss stets in die Geschichte der Gesamtbeziehungen der beteiligten Gemeinschaften gestellt werden.

4. Wiederherstellende Gerechtigkeit. Konfliktbearbeitung auf Bougainville zielt auf die Wiederherstellung sozialer Beziehungen zwischen den Konfliktparteien und sozialer Harmonie in der Gemeinschaft. »Restorative justice« – wiederherstellende Gerechtigkeit – wird daher westlichen Konzepten strafender Gerechtigkeit entschieden vorgezogen.

5. Partizipation, Inklusivität und Konsensbildung. Da die gesamte Gemeinschaft für Konflikte verantwortlich ist, muss auch die gesamte Gemeinschaft in die Konfliktregelung einbezogen werden, und es muss ein von allen getragener Konsens erreicht werden. Das ist ein mühseliges und zeitaufwändiges Unterfangen. Aber die erreichten Lösungen haben den Vorteil, dass sie von allen Beteiligten mit verantwortet und getragen werden, so dass sie nicht gegen Widerstand durchgesetzt werden müssen.

6. Zeremonien und Rituale. Deren Bedeutung ergibt sich aus der Betonung der spirituellen Dimension von Konfliktbearbeitung und Friedensbildung. Sie sind nicht – wie es westlicher Sicht erscheinen mag – lediglich schmückendes Beiwerk, folkloristische Zutat zu den »eigentlich« wichtigen Verhandlungen und Vereinbarungen, sondern integraler und unverzichtbarer Bestandteil des Prozesses. Für säkularisierte westliche Gesellschaften ist das nur schwer nachvollziehbar. Im Kontext Bougainvilles ist es selbstverständlich, dass rituelle Handlungen, z.B. Heilungsrituale, Gebete und Versöhnungs- und Friedenszeremonien notwendig sind, um Frieden zu schaffen.

Dass diese Aspekte, die in der lokalen Konfliktbearbeitungskultur der sozialen Gemeinschaften auf Bougainville tief verwurzelt sind, in der post-conflict Friedensbildung einen prominenten Stellenwert hatten und dass die lokalen Versöhnungsprozesse, die dementsprechend gestaltet wurden, eng mit der »höheren« politischen Ebene verbunden wurden, war entscheidend für den Erfolg der Friedenskonsolidierung. Erst die Verbindung der vielfältigen Friedensprozesse »unten«, auf der Ebene »von Dorf zu Dorf« mit jenen »oben« verlieh den im engeren Sinne »politischen« Regelungen der »großen« Streitfragen ihre Nachhaltigkeit. Und erst die Verbindung traditionaler lokaler Konfliktregelungsverfahren mit modernen staatlich-politischen und zivilgesellschaftlichen Verfahren machte Bougainville zu einer der seltenen Erfolgsgeschichten zeitgenössischer post-conflict Friedensbildung.

Literatur

Böge, Volker (2009): Peacebuilding and State Formation in Post-Conflict Bougainville, in: Peace Review, Vol. 21, No. 1, S.29-37.

Böge, Volker (2008): A promising liaison: kastom and state in Bougainville (= ACPACS Occasional Paper No. 12). Brisbane: ACPACS.

Bougainville Constitutional Commission (2004): Report of the Bougainville Constitutional Commission. Report on the third and final draft of the Bougainville Constitution, prepared by the Bougainville Constitutional Commission. Arawa and Buka.

Bougainville Peace Agreement, 30 August 2001, in: Carl, Andy/Lorraine Garasu (eds.): Weaving consensus – The Papua New Guinea – Bougainville peace process (Conciliation Resources Accord Issue 12/2002). London: Conciliation Resources.

Carl, Andy/Garasu, Sr. Lorraine (eds.) (2002): Weaving consensus. The Papua New Guinea – Bougainville peace process (= Accord Issue 12). London: Conciliation Resources.

Howley, Pat (2002): Breaking Spears and Mending Hearts. Peacemakers and Restorative Justice in Bougainville. London – Leichhardt: Zed Books – The Federation Press.

Regan, Anthony J./Helga M. Griffin (eds.) (2005): Bougainville before the conflict. Canberra: Pandanus Books.

Wehner, Monica/Denoon, Donald (2001): Without a Gun. Australians’ Experiences Monitoring Peace in Bougainville, 1997-2001. Canberra: Pandanus Books.

Anmerkung

1) Mit Ausnahme einer Gruppierung, der »Me’ekamui Defence Force« (MDF), einer BRA-Fraktion, die sich 1998 von der BRA gelöst und dem Friedensprozess bisher nicht angeschlossen, ihn aber stillschweigend geduldet hat. Die MDF-Leute kontrollieren nach wie vor die Mine und das umliegende Gebiet, welches sie zur »no-go area« für alle Fremden erklärt haben.

Dr. Volker Böge, Friedensforscher und Historiker, ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Australian Centre for Peace and Conflict Studies (ACPACS) an der University of Queensland in Brisbane, Australien. Er forscht u.a. zu Umweltzerstörung und Gewaltkonflikten, Friedenskonsolidierung in Nachkriegslagen, Staatlichkeit und Gewalt, traditionelle (nicht-westliche) Formen der Konfliktbearbeitung. Regionaler Schwerpunkt: Südpazifik und Südostasien.

Zentralasien, Europa und die Balance der Gewichte

Zentralasien, Europa und die Balance der Gewichte

von Arne C. Seifert

BND-Analysten schätzten in einer vertraulichen Studie vom Februar 2009 ein, dass sich eine Verschiebung der „Gewichte zwischen den großen Blöcken USA, EU und China langsam nach Osten“1 vollzieht. In den Diskussionen über Folgen der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise wird die Frage erörtert, dass künftig veränderte Kräfteverhältnisse die internationalen Beziehungen prägen werden. Vorbei sind Bipolarität und Unipolarität, bestimmend wird »Multipolarität« als Konkurrenz alter Großmächte (USA, EU, Japan) und neuer, weiter aufsteigender (vor allem die »BRIC«2-Staaten) sein.

Die internationalen Beziehungen bewegen sich auf eine Phase von »Nichtpolarität« zu. Zwar hat man sich zu einem solchen Terminus noch nicht durchgerungen, er entspräche aber besser der Logik, da es der Pole immer nur zwei geben kann. Unbestritten dürfte jedoch auf der Hand liegen, dass mehrere große Mächte mit ihren Bewegungen und Gegenbewegungen miteinander kollidieren werden. Um hier konfliktvorbeugend und verhütend zu steuern, wird die Bedeutung von Politikinstrumenten der friedlichen Koexistenz erneut zunehmen.

Friedliche Koexistenz und Kooperation – Schlüsselworte des neuen Jahrhunderts

Eine Politik, die in ihren Mittelpunkt die Konfliktvermeidung stellt, hat ein Grundprinzip zu beachten: Alle Seiten müssen bedingungslos demokratisch miteinander umgehen. Egon Bahr erkannte dies, als er bereits 2007 voraussagte: „Es ist eine europäische Verantwortung, dass »Kooperation« zum Schlüsselwort unseres Jahrhunderts wird.“3 In internationalen und zwischenstaatlichen Beziehungen bedingungslos demokratisch miteinander umzugehen, impliziert allerdings, dass »der Westen« sich auch gegenüber autoritären Regierenden demokratisch verhalten müsste. Letzteres würde einer Erkenntnislogik folgen, dass veränderte internationale Bedingungen auch die Verhaltensregeln in den internationalen Beziehungen verändern.

In diesem Kontext kann als erstaunlich gelten, dass aus den öffentlichen Debatten um die internationale Finanz- und Wirtschaftskrise, in welcher sich zugleich das Scheitern der Strategie des Neoliberalismus manifestiert, die westliche, gleichfalls neoliberal gesteuerte Außenpolitik ausgeklammert bleibt. Dabei ist offensichtlich, dass dem Neoliberalismus auch die internationale Politik des westlichen Bündnisses zu Diensten stand, von denen sich Europas außenpolitische Eliten und ihre intellektuelle Dienstleistungsbranche offensichtlich bisher nicht zu lösen gedenken. Das mag auch daran liegen, dass der Entwurf neuer Verhaltensregeln für den eigenen politischen Raum, nämlich den der OSZE, nicht ohne selbstkritische Bilanzierung eigener Politik in den letzten zwanzig Jahren auskäme. Paradox erscheint dabei, dass sich die westlichen Mitgliedstaaten der OSZE ausgerechnet in dieser Organisation von den Prinzipien ihres Mutterschoßes, der KSZE, nahezu völlig verabschiedet haben: nämlich den Prinzipien der friedlichen Koexistenz. Sie erneut auf den Prüfstand zu stellen, wäre für Europa ein Anpassen an »Nichtpolarität«, und Gewichteverschiebung in Richtung Osten eine lohnende intellektuelle Investition. Man sollte dieses Experiment, neben dem Imperativ Russland, mit den Staaten Zentralasiens beginnen. Dazu gehört auch das Erlernen eines demokratischen Umgangs mit autoritär Regierenden. Dafür spricht, dass Zentralasiens autoritäre Regierungen die »Mitte des Stocks« eines weltweit unvergleichlichen Kontinentalraums – Europa, Russland, Zentralasien, China, Indien u.a. – in ihren Händen halten.

Neue Weichenstellungen für den östlichen euro-asiatischen Kontinentalraum

Dieser Raum könnte sich für Europa als wichtigste »strategische Reserve« erweisen – von seinen wirtschaftlichen und menschlichen Ressourcen bis zu seinem zukünftigen internationalen Gewicht. Keine andere geopolitische »Einheit« der Welt verfügt über ein derartiges Potential und eine solche Chance gemeinsamer Entwicklungsmöglichkeiten. In den USA ist das erkannt. Sowohl unter dem Gesichtspunkt eines europäischen Gewichtszuwachses unter den neuen internationalen Bedingungen, als auch der eigenen Kontrolle jenes euro-asiatischen Kontinentalkolosses. Die strategische Stoßrichtung der USA erfolgt aus dem Süden. Daraus erklärt sich auch die Entschlossenheit der Obama-Regierung, Afghanistan zu halten, dafür dort ihr militärisches Engagement zu erhöhen und Pakistan einzubeziehen. Diese als »Afpak« für Afghanistan und Pakistan apostrophierte Strategie trägt dem Wunsch der USA Rechnung, hier den Grund für langfristige Präsenz zu bereiten, sozusagen für ein »Standbein«, um ihrem »Spielbein« Mobilität zu ermöglichen in Richtung Zentralasien, Iran, Indien sowie dem Persischen Golf und dem Arabischen Meer. Insofern kann eine von der Obama-Regierung ins Spiel gebrachte regionale Afghanistanregelung unter Einbeziehung der Nachbarstaaten, darunter Zentralasiens, weniger als Eingeständnis des Scheiterns der bisherigen Afghanistanintervention interpretiert werden denn als politische Umarmungsgeste gegenüber den Zentralasiaten. Daher dürften sich die USA auch in den kommenden Monaten darum bemühen, in der Afghanistanfrage politisch sowohl gegenüber der EU als auch Zentralasien offensiv zu bleiben. Dazu benötigen sie aber gegenwärtig noch die Führung in militärischer Hinsicht.

Neuen Realitäten Rechnung tragen

Die europäische Transformationsstrategie der letzten rund zwanzig Jahre gegenüber Zentralasien und anderen Teilen des post-sowjetischen Raums erhellt, wie unter den neuen Bedingungen einer in östlicher Richtung verlaufenden Gewichtsverschiebung ein strategisch weitsichtiger Umgang mit autoritär Regierenden nicht funktionieren wird.

Für Westeuropas politische Eliten war die Transformation des sozialistischen in ein kapitalistisches Gesellschaftssystem von vornherein ein Projekt äußerer politischer Einflussnahme und Drucks. Als sicherster Weg dazu erschienen ihnen Reformen, die möglichst direkt und schnell, ohne »evolutionäre« Verzögerungen, vollendete Tatsachen schufen: die Implantierung von Marktwirtschaft und eines politischen Systems westlichen Typs. Außerdem musste er sich die äußeren Tore in die jungen Staaten des postsowjetischen Raums öffnen, um die Durchführung der Reformen zu forcieren.

Diese Politik war als bewusste Schock-Strategie eine Komponente der neoliberalen Gesamtstrategie. Deren drei typische Forderungen Privatisierung, Deregulierung und tiefe Einschnitte bei den Sozialausgaben charakterisieren heute die Bedingungen in allen zentralasiatischen Staaten. Versagt hat die Transformationsstrategie bei der dringend erforderlichen Schaffung und Konsolidierung ökonomischer Grundlagen für die weiteren Staatsformungsprozesse und die Staatskonsolidierung, weshalb einige dieser Staaten heute äußerst labil sind (besonders Kirgisistan und Tadschikistan) und sie die internationale Wirtschaftskrise besonders hart trifft. Eindeutig negativ ist die Bilanz auch hinsichtlich der Lebensqualität der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung, die sich erheblich verschlechtert hat. Hier erweist sich die neoliberale Transformation nicht nur als zutiefst regressiv. Sie behindert auch die Transformation zur Demokratie, da sich keine ökonomische Basis für eine soziale Marktwirtschaft und Demokratie herausbilden konnte. In Zentralasien bildet sich eine Kluft zwischen Armut und Reichtum heraus, wie sie uns aus der Mehrheit der Entwicklungsländer bekannt ist – mit all ihren sozialen und politischen Risiken, einschließlich der rasant zunehmenden politischen Instrumentalisierung des Islams.

»Der Westen« übte von vornherein über seine internationalen Organisationen und bilateralen Beziehungen auf alle Transformationsprozesse und die Führungen der zentralasiatischen Staaten, welche diese zu implementieren hatten, einen gewaltigen äußeren Druck aus. Die OSZE spielte und spielt als „einer der Agenten des Wandels“ in diesem Szenarium eine zentrale Rolle. Indem sie die menschliche Dimension als „Kern der Anstrengungen zur Gewährleistung umfassender Sicherheit“4 in Zentralasien sieht, machte sie sich zu einer zentralen Trägerin der bisherigen westlichen Strategien gegenüber den zentralasiatischen Gesellschaften und deren Führungen.5

Sein Ziel, politische Systeme seines Typs zu etablieren, hat »der Westen« bislang nicht erreicht. Nüchternheit sollte das Nachdenken über die Frage bestimmen, ob und in welchen Zeiträumen das nachgeholt werden könnte. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird es nicht gelingen, das Modell liberaler Demokratie in den zentralasiatischen Gesellschaften in absehbaren Zeiträumen zu verwurzeln. Vielmehr wird sich Europa hier auf eine Situation einzustellen haben, in der der Charakter der wirtschaftlichen Systeme kapitalistisch und der politischen nicht liberal-demokratisch sein wird. Das heißt, Europa wird eine Koexistenz-Politik entwickeln müssen gegenüber nicht am westlichen Gesellschaftsmodell fixierten ordnungspolitischen Orientierungen. Welche Zusammenhänge erlauben diese Hypothese?

Erstens hat die Einordnung der zentralasiatischen Führungen in die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SchOZ)6 das Kräfteverhältnis zwischen Europa und der zentralasiatischen Region schon heute zu Gunsten Letzterer verändert und verändert es weiter. Mit China und Russland sowie Indien als Beobachter der SchOZ eröffnet sich für die Staaten Zentralasiens die Möglichkeit, sich an die Gruppe der BRIC-Staaten anzulehnen. Sie sind Nutznießer jener Verschiebung der Gewichte nach Osten, aus der die zentralasiatischen Führungen ihren Honig saugen können.

Zweitens hat sich im Ergebnis einer von IWF, Weltbank und deren westlichen Migliedsstaaten vorgegebenen neoliberalen ökonomischen Transformationsstrategie in Zentralasien ein »bürokratischer Familienclan-Kapitalismus« etabliert. Seine Träger, die großen Clans, haben die frühere Allmacht des KPdSU-Apparates gegenüber der Gesellschaft abgelöst durch eine weitgehende Monopolisierung der ökonomischen, politischen und militärischen Macht. Das Wesen dieses neuen Herrschaftsmechanismus zu verstehen, ist deshalb wichtig, weil er sich in vielen jungen Staaten des post-sowjetischen Raums beobachten lässt. Er ist das Produkt einer Transformationsstrategie, die westliche Demokratie und Marktwirtschaft für ein geeignetes Bedingungsgefüge für die Überführung (nicht nur) der zentralasiatischen Gesellschaften zum kapitalistischen System hielt. „Die einzige Bedingung, unter der Marktwirtschaft und Demokratie gleichzeitig implantiert werden und gedeihen können, ist die, dass beide einer Gesellschaft von außen aufgezwungen und durch internationale Abhängigkeitsverhältnisse für längere Fristen garantiert werden.“7

Diese Strategie erweist sich heute als gravierende Fehlkalkulation. »Der Westen« verschätzte sich völlig im Typ des Kapitalismus und seiner Unternehmerklasse, die vor dem Hintergrund der sozialen, traditional-paternalistischen Spezifik der zentralasiatischen Gesellschaften (und nicht nur dieser) entstehen würden. Dabei war voraussehbar, dass die großen Clans die Gewinner einer Transformationsstrategie sein würden, welche auf die Privatisierung des staatlichen Eigentums als oberste Priorität setzte. Nach der Demontage der UdSSR verfügte nur diese erste Transformationsgeneration über die administrativen und finanziellen Ressourcen, um die Privatisierung zu ihren Gunsten umzulenken und zu entscheiden. Nie zuvor hat das Clansystem einen solch gewaltigen Aufschwung erfahren wie durch jene Privatisierung »von oben«. Da es eine in sich und für sich geschlossene Gesellschaftsschicht darstellt, widersetzt es sich der Öffnung der Gesellschaft und ihrer Demokratisierung. Selbst in der sowjetischen Periode war die Verquickung von politischer, ökonomischer und möglichst auch militärischer Macht in Personalunion nicht so eng wie heutzutage bei den Clans jener ersten Generation von Transformationssiegern, aus der die heutigen Entscheidungsträger kommen.

Das Paradoxon besteht weiter darin, dass »der Westen« von dieser neuen Unternehmerklasse politische Systeme präsentiert bekam, welche das Gegenteil zu dem von westlicher Feder vorgeschriebenen Postulat der KSZE-Charta von Paris für ein neues Europa von 1990 ist. Ihr zufolge verpflichten sich alle OSZE-Staaten „die Demokratie als die einzige Regierungsform […] aufzubauen, zu festigen und zu stärken“.8 Um zu dem vom Westen eingeforderten Typ von Demokratie zu gelangen, müsste er jedoch jenen Typ von bürokratischem Familienclan-Kapitalismus erst wieder abschaffen. Das aber wird der Westen nicht wagen, was die Herrschenden in Zentralasien wissen. Darin besteht das große Dilemma der westlichen Demokratisierungsstrategie.

Mehr noch: dieser Zustand wird sich selbst dann nicht ändern, wenn die Clan-Oligarchen der ersten Generation der Konkurrenz neuer zweiter und dritter Unternehmergenerationen weichen müssen. Letztere werden zwar nach politischer Macht streben, auf ihre ökonomische jedoch nicht verzichten. Also werden solche inneren Auseinandersetzungen weder den herrschenden Typ von Unternehmerklasse noch deren Aversion gegen eine Trennung von politischer und ökonomischer Macht, gegen eine offene Gesellschaft und Demokratie westlichen Typs, aus der Welt schaffen.

Heißt das, seine Transformationsstrategie hat »dem Westen« gar nichts gebracht? Keineswegs. Er erreichte für ihn Vorrangiges – die Beseitigung der politischen und ökonomischen Grundlagen des sowjetischen Gesellschaftstyps. Ein Zurück zum einstigen sowjetischen Imperium wird es nicht geben, was er als Erfolg historischen Ausmaßes wertet. Auch bei der Transformation zur Marktwirtschaft ist der Rubikon überschritten. Selbst wenn westliche Unternehmen noch nicht auf allen Gebieten zufrieden sind – ein Zurück in die Planwirtschaft wird es ebenfalls nicht geben. Folglich könnte man sich in Europa ein etwas entspannteres Nachdenken über eine Neujustierung politischer Prioritäten gegenüber Zentralasien leisten und über den Sinngehalt des Hinweises Egon Bahrs nachdenken: „[…] wer die Beschwörungsformel von der Wertegemeinschaft undifferenziert benutzt, muss wissen, dass daraus Unterwerfungsformeln werden können, wenn die eigenen Werte nicht mehr klar vertreten werden.“9 Was heißt – wer Achtung der Demokratie als universellen Wert einfordert, darf sie aus seinem internationalen Verhalten nicht ausklammern.

Welches Fazit könnte gezogen werden?

Erstens: In den letzten knapp zwei Jahrzehnten haben sich im zentralasiatischen Teil des OSZE-Raums die geostrategischen Konstellationen verschoben, die gesellschaftssystemischen Bedingungen verändert und die Eliten sich ebenso umgeschichtet wie deren Charakter, Interessenlagen und Kooperationsvoraussetzungen. Die Zeiten hochfliegender Hoffnungen, dass »der Westen« seine »Demokratie als die einzige Regierungsform« im riesigen, seiner sozialen Natur und politischen Kultur nach höchst pluralistischen post-sowjetischen Raum durchzusetzen vermag, neigen sich ihrem Ende zu. Er muss auch Obacht geben, dass neue Widersprüche die noch bestehenden Voraussetzungen für strategische Partnerschaften und Kooperation nicht unterlaufen. Die OSZE haben sie bereits eingeholt. Als wichtigster Widerspruch kann derjenige zwischen den internationalen demokratiepolitischen Gestaltungsansprüchen »des Westens« und den real existierenden Herrschaftsstrukturen gelten. Es sind die praktisch-politischen Konsequenzen zu prüfen, die sich aus der richtigen Erkenntnis ergeben, dass „[e]xterne Demokratieförderung […] nicht oktroyiert, exportiert oder exekutiert werden kann. Sie kann nur eine optimierende Katalysatorrolle einnehmen von im Empfängerland bereits vorhandenen Liberalisierungs- und Demokratisierungsansätzen.“10

Zweitens: Das politische und ökonomische Überleben der zentralasiatischen Führungen hängt zukünftig immer weniger von Europas Verständnis oder Unverständnis der in ihrer Großregion ablaufenden gesellschaftspolitischen Prozesse ab. Die neue »nichtpolare« Großmachtkonstellation eröffnete ihnen die Wahl zwischen Großmächten unterschiedlicher Herrschaftssysteme und politischer Orientierungen. Dieser Umstand und das in Europa erwachende Verständnis für die besondere Rolle Zentralasiens stellen die europäische Politik vor eine völlig neue, aber ganz zentrale Aufgabe: Wenn die zentralasiatischen Staaten schon nicht mehr darauf angewiesen sind, ins europäische Boot zu steigen, aber dennoch daran interessiert sind, mit ihrem eigenen Boot an unseres anzudocken, dann ist für Europa die Zeit gekommen zu prüfen, wie mit autokratischen Führungen auf gleicher Augenhöhe demokratisch umzugehen ist.

Drittens: Zum Glück gibt es dafür die OSZE mit ihren wichtigen politischen Erfahrungen aus der Konstruktion von Zusammenarbeit und friedlicher Koexistenz unterschiedlicher Systeme. Die europäischen Staaten sollten abwägen, ob sie bereit sind, ihr Verständnis der OSZE als Kontrollinstrument und ein Motor der »Proliferation« des liberalen Demokratiemodells in den postsowjetischen Raum in das einer Zukunftsvision von der OSZE als »Regulator« von Zusammenarbeit und Sicherheit im Sinne euro-asiatischer, kontinentaler Partnerschaft zu transformieren, der hilft, den euro-asiatischen Raum als gemeinsamen zu erschließen. Entscheidet sie sich für Ersteres, würde die OSZE Europa eine strategisch unverzichtbare Dienstleistung erweisen: die Justierung ihrer Prinzipien und Steuerungsinstrumente für eine solche Partnerschaft im Sinne kooperativer Sicherheit und Zusammenarbeit, des Ausgleichs und der Harmonisierung von Interessen. Zum anderen würde der Entwurf eines solchen neuen Verhältnisses es wichtigen euro-asiatischen Staaten – Russland und Zentralasien eingeschlossen – erleichtern, ihre strategische Partnerschaftswahl, in der sie heute noch schwanken, zugunsten einer gesicherten Zukunft mit Europa auf einem gemeinsamen Kontinent zu treffen. Auch ließen sich Misstrauen stiftende Konkurrenzängste, insbesondere der Russischen Föderation bezüglich seiner asiatischen und zentralasiatischen Nachbarschaftsregionen, ausräumen. Die so zu öffnenden neuen Perspektiven und ihr gemeinsames Gestalten könnten auch dazu beitragen, die Krise zu überwinden, in der sich die OSZE heute befindet.

Fiele die Abwägung zugunsten von Sicherheit und Zusammenarbeit im Sinne einer euro-asiatischen kontinentalen Partnerschaft aus, so wäre das für Europa keine »Rolle rückwärts«, sondern vorwärts, da der Ausgleich und die Harmonisierung von Interessen Potenziale einer euro-asiatischen Kooperation mobilisieren könnten, die noch nicht in vollem Umfang erkannt wurden: in wirtschaftlicher, außenpolitischer und weltpolitischer Hinsicht sowie im Sinne gegenseitiger kultureller Befruchtung.

Das Nachdenken über ein neues Verhältnis zueinander müsste selbstverständlich ein gemeinsames sein. Geographisch bräuchte der jetzige OSZE-Raum nicht überschritten zu werden. Zunächst geht es um Vertrauensbildung zwischen den europäischen und den euro-asiatischen OSZE-Teilnehmerstaaten. In weiteren Schritten könnte Vertrauensbildung durch Letztere gegenüber deren asiatischen Partnern angestrebt werden. Die Verschiebung der internationalen Gewichte nach Osten wartet nicht auf Europa.

Anmerkungen

1) Rinke, Andreas: Metamorphose der Geopolitik, in: Internationale Politik, Juni 2009, S.40.

2) BRIC-Staaten: Brasilien, Russland, Indien, China

3) Egon Bahr: Europas strategische Interessen, in: Internationale Politik, April 2007, S.87.

4) Organization for Security and Co-operation in Europe (2001): OSCE Meetings on Human Dimension Issues 1999-2001. Warschau, S.7 (eigene Übersetzung).

5) „Fragen der menschlichen Dimension sind zum wichtigsten Tätigkeitsfeld der OSZE geworden […]“ zit. nach Wolfgang Zellner (2006): Managing Change in Europe: Evaluating the OSCE and Its Future Role: Competencies, Capabilities, Missions. CORE Working Paper Nr. 13, S.26 (eigene Übersetzung).

6) SchOZ-Mitglieder: China, Russland, Kasachstan, Kirgisien, Tadschikistan, Usbekistan. Beobachterstatus haben Indien, Pakistan, Iran und Mongolei.

7) Claus Offe (1994): Der Tunnel am Ende des Lichts. Erkundungen der politischen Transformation im Neuen Osten, New York, S.65 (Hervorhebung durch den Autor).

8) Charta von Paris für ein neues Europa. Erklärung des Pariser KSZE-Treffens der Staats- und Regierungschefs, Paris, 21. November 1990, in: Ulrich Fastenrath (Hrsg.): KSZE/OSZE. Dokumente der Konferenz und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, Neuwied u.a., Loseb.-Ausg., Kap. A.2, S.2 (Hervorhebung durch den Autor).

9) Bahr, a.a.O. (Anm. 5), S.87.

10) Wulf Lapins (2007): Demokratieförderung in der Deutschen Außenpolitik, Berlin, FES, S.16.

Dr. Arne C. Seifert, Botschafter a. D., ist Mitglied des Vorstands des Verbands für internationale Politik und Völkerrecht, Berlin

Visuelle Konflikte

Visuelle Konflikte

von Paul Fox und Gil Pasternak

Die Konferenz »Visual Conflicts: Art History and the Formation of Political Memory« am University College in London befasste sich am 7. März 2009 mit den verschiedenen Arten, in denen sich visuelle Kultur mit bewaffneten Konflikten und allen Typen politisch motivierten Gewalthandelns befasst. Auf der Grundlage der analytischen Bezugssysteme der Disziplinen Kunstgeschichte und Visuelle Kultur wurde das ganze Feld der visuellen Repräsentation abgedeckt, so etwa wie bereits bestehende Konfliktnarrative darauf Einfluss nehmen, wie ForscherInnen den Repräsentationen von Konflikten Bedeutung zuweisen oder welche Auswirkungen Veränderungen der Bildtechnologien und der Erfahrungen des Krieges – auf dem Schlachtfeld wie darüber hinaus – auf wissenschaftliches Forschen haben.

Die Konferenz bot eine Plattform für die sich entwickelnde Vernetzung der Forschungen zur Politik der Gewalt, deren visuelle Repräsentationen, Erinnerungsarbeit und Identitätsformation. Die sechs Vortragenden behandelten eine Vielzahl von Aspekten: Darstellungen des Alltagslebens britischer und französischer Expeditionstruppen in illustrierten Magazinen des späten 19. Jahrhunderts; Bilder von Veteranen in der Druckkultur des nach-revolutionären Frankreichs; den Vergleich zweier Zweihundertjahrfeiern zum Irischen Aufstand von 1798 in Irland bzw. Nordirland; ein »Bild der Woche« aus dem »LIFE«-Magazin von 1944 über den fortdauernden Krieg gegen Japan; klischeehafte photografische Repräsentationen von Krieg und anderen politischen Gewaltkonflikten in der englischen Presse der Gegenwart; einen Film über die Politik revolutionärer Selbstrepräsentation in Rumänien 1992 sowie die Ziele, Intentionen und Artikulation von digitalen Aufnahmen von SelbstmordattentäterInnen im Nahen Osten.

Die Mehrheit der auf den Call for Papers eingereichten Papiere befasste sich mit Aufständen oder Rebellionen und weniger mit zwischenstaatlichen Konflikten. Die große Bandbreite der ausgewählten Themen wurde durch die Fragestellung verbunden, wie visuelle Repräsentationen zur Anwendung kommen, um die Erinnerung an Gewaltakte zu begrenzen, zu kontrollieren, zu bewahren oder auch in Frage zu stellen.

Trotz der Unterschiedlichkeit der behandelten Themen und der analytischen Zugänge ergaben sich zwei gemeinsame Linien: Die Kategorien »Kämpfer« und »Zivilist« wurden häufig hinsichtlich ihrer Unterscheidbarkeit behandelt. Tom Gretton (University College London) etwa argumentierte, dass Bilder, die das Lagerleben der Expeditionsstreitkräfte zeigen, die eigentliche Aussage offenbaren, dass die subordinierte Kultur »unzivilisiert« sei, da diese keine Unterscheidung zwischen »Zivilperson« und »Kämpfer« anböten. Demgegenüber versicherten Bilder über die Normalisierung des Lebens in der Heimat mit ihren Konnotationen von »Zivilisation« die moralische Überlegenheit der imperialen Macht. Sue Walker (University College London) diskutierte, wie Abbildungen napoleonischer Veteranen (halb Soldaten, halb Zivilisten) im Frankreich des 19. Jahrhunderts als Orte der Erinnerung an zentrale Ereignisse napoleonischer Eroberung fungierten. Mit Blick auf das am 22. Mai 1944 im »LIFE«-Magazin erschienene »Bild der Woche« widersprach Jay Curley (Wake Forest University) der Argumentation, dass mediale Versuche der Rationalisierung extremen Gewalthandelns zu deren Nachvollziehbarkeit an der Heimatfront führten. Katy Parry (Liverpool University) untersuchte Zeitungsfotos, die Angehörige zeigen, die Fotos ihrer verstorbenen Angehörigen in die Kamera halten. Indem sie diese Sitte als klischeehaft charakterisierte, führte Parry die Frage nach der Beziehung zwischen Fotografie und Erinnerung, zwischen Konflikt und der Darstellung des Verlustes ein. Kira Shewfelt (University of South Carolina) ging der Frage nach, wie »Märtyrer« in einer Zeit dargestellt werden, da die Ausbreitung digitaler Medien mit dem Übergang zur »asymmetrischen« Kriegführung (inklusive fortdauernder »Terror«-Kampagnen) zusammenfällt. Indem Shewfelt zeigte, dass sein/ihr Bild heimlich produziert, aber später im öffentlichen Raum platziert würde, verdeutlichte sie wie der »Märtyrer« zugleich die Position des/der KämpferIn als auch die eines integralen Mitglieds der zivilen Gemeinschaft einnehme.

Das zweite verbindende Thema bestand in der Beobachtung, dass alle Typen visuell-kultureller Produktion bei der Darstellung des Erlebens von Konflikten versagen. Viele der im Rahmen der Konferenz diskutierten Bilder berührten die Frage der Gewalt nur: Tom Gretton verwies auf die Darstellung entfernter, in Rauch gehüllter Horizonte; Sue Walker auf Kriegsmedaillen, Namen von Schlachten und fehlende Extremitäten; John Curley auf den Schädel eines japanischen Soldaten, der als »memento mori« fungierte; und in den von Katy Parry gezeigten Bildern tauchen die Stätten der Konflikte nur selten auf. Nur in den von Kira Shewfelt ausgewählten Erzeugnissen, die das erkennbar politisierte Leben und den Tod der SelbstmordattentätterInnen sowohl unterstreichen als auch daran erinnern, wird der/die Betrachtende dichter an den Gewaltakt herangeführt. Daher dienen die typischen digitalen Repräsentationen solcher Akte des Widerstandes ihrer Ansicht nach dazu „den Gegensatz von Tatsache und Fiktion zu vergrößern, zu trüben und folglich zu verwirren“, so dass die Auswirkungen der Gewaltakte der SelbstmordattentätterInnen aus der Kernbilanz des Märtyrertodes verdrängt werden.

Thomas Cauvin (European University Institute) und Eva Kernbauer (University of Bern) stellten als einzige Vortragende Bilder aktueller Gewaltakte vor. Cauvins Vortrag untersuchte wie das politische Erinnern an die irische Rebellion von 1798 in zwei unsymmetrischen Beschreibungen verhandelt wird, die im Rahmen jüngerer Erinnerungsausstellungen beidseitig der irischen Grenze angeboten wurden. Die Bildgestaltung ziviler Blutbäder stellte ein besonderes Problem im Verlaufe des nordirischen Friedensprozesses dar – bis hin zu dem Punkt, dass eine der Ausstellungen solche visuelle Rhetorik herunterspielte und die andere es als weniger problematisch betrachtete, indem sie behauptete, dass exzessive Gewalttaten die Ausnahme gewesen seien und ohnehin nur von örtlichen irregulären Kräften verübt worden seien. Kernbauer analysierte das Stück »Videograms of a Revolution«, das im Auftrag der Revolutionäre erstelltes Fotomaterial über die Hinrichtung des Ceauscescu-Paares zeigt, unter dem Gesichtspunkt, wie Erkenntnis und Kritik der Bedingungen politischer Repräsentation die Behandlung und das Verständnis historischen Materials beeinflussen.

Insgesamt hat die Konferenz hervorgehoben, wie visuelle Repräsentationen von Konflikten über Diskussionen von richtig oder falsch, gerecht oder ungerecht hinausreichen. Die Vorträge stellten Wege vor wie über politisch aufgeladene Bilder diskutiert warden kann, ohne notwendig über die historischen Ereignisse, die sie zeigen, ihren Gewaltcharakter oder die beteiligten Parteien zu urteilen. Dieser Ansatz vermeidet die Annahme, dass eine Art der Repräsentation glaubhafter oder präziser ist als eine andere. Die Beiträge verdeutlichten aber auch die zentrale Bedeutung, die visuelle Repräsentationen von Konflikten zum Verständnis gewaltsamer historischer Momente im zeitgenössischen Kontext wie in der Erinnerung haben.

Paul Fox & Gil Pasternak

Sri Lanka – »Ein Land wie kein anderes«

Sri Lanka – »Ein Land wie kein anderes«

von Luxshi Vimalarajah

Der Artikel analysiert den aktuellen Konflikt in Sri Lanka und versucht der Frage nachzugehen, warum durch die militärische Eskalation ein positiver Frieden in weite Ferne gerückt ist.

Unter dem Motto »Ein Land wie kein anderes« präsentierte sich Sri Lanka als »sicheres Reiseziel« auf der Internationalen Tourismus Börse in Berlin, die am 15. März 2009 zu Ende ging. Sri Lanka ist wahrlich nicht ein Land wie andere. In Sri Lanka herrscht Asiens längster und blutigster ethnopolitischer Konflikt, der bisher 70.000 Menschen das Leben gekostet hat. Seit 1983 – mit kurzen Unterbrechungen – tobt ein bewaffneter Konflikt zwischen der singhalesisch dominierten Regierung und der LTTE (Liberation Tigers of Tamil Eelam), die sich als alleinige Vertreterin des tamilischen Volkes sieht. Die politisch-wirtschaftliche und kulturelle Selbstbestimmung des tamilischen Volkes, das gut 18% der Gesamtbevölkerung ausmacht, kann als Kerngegenstand des Konflikts bezeichnet werden. Im Zuge der Singhalesisierung des gesamten Staats- und Verwaltungsapparates und des kulturellen Lebens nach der Unabhängigkeit 1949 wurden die Tamilen zu Bürgern zweiter Klasse.

Die ethnischen Pogrome gegen die Tamilen in den Jahren 1958, 1977 und 1983 veranlassten Hunderttausende ins Ausland zu fliehen. Die moderate tamilische politische Klasse versuchte vergeblich auf einem friedlich-parlamentarischen Weg auf die singhalesischen Machthaber einzuwirken und forderte Föderalismus zur Lösung des ethnopolitischen Konflikts. Ihre Forderungen wurden als separatistisch zurückgewiesen. Der bewaffnete Widerstand entstand im Kontext gescheiterter parlamentarischer Lösungsversuche. Die LTTE kämpft seit 1983 für einen unabhängigen Staat im Nordosten des Landes.

Militärische Eskalation und Erosion der humanitären Situation

Aktuell steht Sri Lanka vor einer entscheidenden militärischen Zäsur. Laut Erklärungen der srilankanischen Armee1 steht der vollständige militärische Sieg unmittelbar bevor. Die LTTE wurde nach und nach aus ihrem 15.600 Quadratkilometer großen, unter ihrer Kontrolle stehenden Gebiet im Osten und Norden der Insel verdrängt und inzwischen in einem kleinen Dschungelstreifen eingeschlossen. Die humanitären Folgen der aktuellen Eskalation sind immens. Nach Human Rights Watch (2009) werden auch die kürzlich von der Regierung deklarierten »Sicherheitszonen« und die klar gekennzeichneten zivilen Einrichtungen wie Krankenhäuser ständig beschossen. Die internationalen Hilfsorganisationen bezichtigen beide Kriegsparteien des völkerrechtswidrigen Verhaltens und des Kriegsverbrechens. Das Internationale Rote Kreuz (IKRK) gibt an, dass mindestens 150.000 Menschen tamilischer Herkunft zwischen den Fronten eingekesselt sind.

Während die Armee der LTTE vorwirft, sie würde diese Menschen als Schutzschilder missbrauchen, kreidet die LTTE der Armee an, sie würde bewusst auf die Zivilbevölkerung schießen, um sie aus ihrer Heimat zu vertreiben und in Internierungslagern2 einzukerkern. Unterdessen berichtet Human Rights Watch (2009) von ca. 1.123 getöteten und 4.027 verwundeten Zivilisten allein zwischen dem 20. Januar und dem 5. Februar 2009. Es gibt jedoch keine sicheren Zahlen. Die Zahlen variieren je nach Quellen. Denn auch dieser Krieg, wie viele andere auf dieser Erde, tobt ohne Zeugen, unabhängige Berichterstatter und internationale Beobachter. Angesichts der sich abzeichnenden humanitären Katastrophe im Norden Sri Lankas klingt die Bezeichnung »sicheres Reiseziel« nahezu zynisch.

Dies ist auch ein Krieg gegen demokratische und zivile Instanzen. Seit der Eskalation sind elf Journalisten und 51 humanitäre Helfer ermordet worden oder ums Leben gekommen. Mehr als 22 Journalisten haben das Land bereits verlassen. Nicht zuletzt deswegen steht Sri Lanka mit seinen Menschenrechtsverletzungen im South Asia Human Rights Violators Index 2008 an erster Stelle. Vor dieser Eskalation gab es zwischen 2002-2006 Hoffnung auf eine friedliche Lösung des Konflikts, die verpasst wurde. Damals stand sogar die internationale Gemeinschaft dem Friedensprozess 2002-2006 mit massiven Finanzhilfen, ca. 4.5 Milliarden US-Dollar, zur Seite. Die Gründe für das Scheitern des Friedensprozesses wirken weit in die neue Phase der Eskalation hinein und werden in künftigen Friedensprozessen eine wesentliche Rolle spielen. Sie werden daher im nächsten Abschnitt kurz skizziert.

Die Gründe für die Eskalation des Konflikts

Eine ausführliche Besprechung der wesentlichen Gründe für das Scheitern des Friedensprozesses würde den Rahmen des Artikels sprengen, diese können daher nur kurz skizziert werden.3 Mit der Aufkündigung des Waffenstillstandsabkommens am 3. Januar 2008 wurde der Friedensprozess 2002 von der srilankanischen Regierung formell beendet. Der Friedensprozess, der mit dem einseitigen Waffenstillstand der LTTE ins Rollen kam, wurde durch die internationale Gemeinschaft, im Wesentlichen durch die »Co-Chairs« Gruppe, bestehend aus der EU, Japan, USA und Norwegen, getragen. Norwegen agierte zudem als Vermittler und nahm auch gleichzeitig an der Beobachtermission für den Waffenstillstand teil. Die Abkehr vom Friedensprozess erfolgte faktisch sehr bald schon mit der Entmachtung der früheren Wickremasinghe-Regierung durch die damalige Präsidentin Kumaratunga, nachdem die LTTE Vorschläge für eine Interimsverwaltung 2003 veröffentlicht worden waren. Das Scheitern der bereits unterzeichneten Abkommen für eine gemeinsame Bewältigung der Tsunami-Folgen und die anschließende Ermordung des Außenministers im Jahr 2005 beschleunigten diesen Prozess.

Mit der Wahl M. Rajapakses 2005 zum Präsidenten änderte sich die politische Landschaft dramatisch und der Waffenstillstandsvertrag wurde schrittweise unterhöhlt. Rajapakse gewann die Wahlen auf der Basis eines nationalistischen Wahlprogramms und brach mit dem bis dahin bestehenden Konsens, dass Frieden nicht durch militärische Mittel möglich sei, keine Seite den Krieg gewinnen könne und nur Verhandlungen mit der LTTE zum dauerhaften Frieden führen könnten. Tragischerweise ist dieser Wahlerfolg auf den von der LTTE heimlich unterstützten Wahlboykott im Norden zurückzuführen. Das war der Denkzettel für das Ausbleiben der versprochenen Friedensdividende durch die alte Regierung. Im Wesentlichen sind die folgenden Rahmenbedingungen und Bestimmungsfaktoren für das Scheitern des Friedensprozesses verantwortlich:

Machtkalkül der beiden Hauptparteien im Süden (»ethnic outbidding«): Die jeweilige Oppositionspartei bedient sich der anti-tamilischen Ressentiments für Wählerstimmen und verhindert somit jegliche Bemühungen der Regierungspartei für eine konstruktive Lösung des Konflikts.

Kollektive Enttäuschung und fehlender Wille: Beide Seiten interpretieren den Friedensprozess als Benachteiligung der eigenen Position. Der LTTE wird vorgeworfen, dass sie die Feuerpause für die Wiederbewaffnung genutzt habe, und der Regierung wird vorgeworfen, dass Sie die versprochenen Maßnahmen zur »Normalisierung« (Friedensdividende) nicht durchgeführt habe. Fehlende Bereitschaft sich zu einigen, bildete den Kern des Problems.

Asymmetrie: Die Konfliktparteien sind in Bezug auf ihre Macht, Ressourcen, Status und Zugang zur internationalen Gemeinschaft asymmetrisch aufgestellt. Das hatte erhebliche Konsequenzen für das Gelingen des Friedensprozesses. Die LTTE pochte auf »Gleichberechtigung und Gleichbehandlung«, was in einem asymmetrisch aufgestellten Konfliktgelage nicht immer zu verwirklichen ist.

Paradoxien des internationalen Sicherheitsnetzes: Die Internationale Gemeinschaft wurde von beiden Seiten als parteiisch empfunden. Die LTTE warf ihr Schwächung durch das internationale Sicherheitsnetz (LTTE-Verbot in der EU 2006, Militärhilfe für die Regierung, Erschwerung finanzieller Ströme etc.) vor, die Regierung warf ihr eine illegitime Aufwertung und Unterstützung der LTTE vor.

Menschenrechtsverletzung und Kultur der Furcht: Bereits während des Friedensprozesses sind eklatante Menschenrechtsverletzungen eingetreten, so z.B. politisch motivierte Morde, Rekrutierung von Minderjährigen, Entführungen, Anschläge etc. Keine der Gewalttaten wurde je aufgeklärt. Zudem verbreiteten paramilitärische Einheiten, die von höchsten Stellen gedeckt werden, Angst und Terror.

Vermeidung von Kernproblemen: Obwohl die Parteien im Jahr 2002 den Föderalismus als möglichen Lösungsweg in Betracht gezogen haben, haben sie faktisch keinen ernsthaften Schritt unternommen, das in die Tat umzusetzen. Die Krise im Friedensprozess trieb die Parteien dazu, an ihren Maximalforderungen festzuhalten: einheitlich zentralistischen Staat einerseits und unabhängigen Tamilenstaat andererseits.

Krieg gewonnen – Frieden verloren?

Im Gegensatz zu den bisherigen singhalesischen Regierungen, die eine größere Hemmschwelle vor humanitären Folgekosten zeigten, verfolgt die jetzige Regierung mit aller Brutalität ihr oberstes Ziel der vollständigen Eliminierung der LTTE. Die immensen humanitären Schäden und finanziellen Kosten werden als notwendige bzw. unverzichtbare Begleiterscheinungen gesehen. Zudem vermuten Analysten, dass die Erfolgsstrategie der Regierungstruppen einerseits auf einen ziemlich autark funktionierenden Militärapparat ohne politische Einmischung zurückzuführen ist und andererseits die Rhetorik des »Anti-Terrorismus Kampfes« international auf breite Zustimmung und Unterstützung stößt (vgl. Uyangoda, Jayadeva 2009).

Den Krieg mag die singhalesische Führung gewinnen, aber der Frieden wird in weite Ferne rücken. Der Riss zwischen den beiden Ethnien wird nach diesem Krieg noch tiefer sein. Tatsächlich existieren keine ernstzunehmenden politischen Angebote an die tamilische Bevölkerung. Obwohl einige Geber sich auf ein »Post-Konflikt«-Szenario vorbereiten, bleibt der Kernkonflikt nach wie vor ungelöst. Die zaghaften politischen Bemühungen in Form eines Allparteienausschusses (All-Party Representative Committee) unter Ausschluss des führenden tamilischen Parteienbündnisses TNA (Tamil National Alliance) und der Oppositionspartei UNP (United National Party) eine politische Lösung des Konflikts zu finden, sind vor dem Hintergrund des militärischen Siegestaumels als aussichtsloses Unterfangen zu bewerten. Selbst die Opposition hat angesichts der deutlichen Unterstützung für die gegenwärtige Kriegsstrategie unter den Singhalesen eingelenkt und unterstützt stillschweigend den Regierungskurs. Das Selbstverständnis der herrschenden Mehrheitsmentalität wird anhand der Aussage Sarath Fonsekas, dem kommandierenden Oberbefehlshaber der Armee, deutlich: „Ich bin der festen Überzeugung, dass dieses Land den Singhalesen gehört (…) als Mehrheit des Landes werden wir nie nachgeben und wir haben das Recht das Land zu beschützen (…) Sie [die Tamilen] können in diesem Land leben. Aber sie können nicht unter dem Vorwand einer Minderheit unangemessene Dinge fordern.“ (National Post, Canada, 23. September 2008)

Die LTTE scheinen militärisch geschwächt zu sein. Politische Beobachter spekulieren, ob hinter der LTTE-Strategie eine gezielte Kalkulation steckt (in der Erwartung, dass Autonomieforderungen oder Sezession in einem »failed state« international legitimer erscheinen). Einige meinen, dass ihre starke Fokussierung auf eine militärische Strategie und Unterordnung der politischen Strategie maßgeblich zur Schwächung beigetragen habe. Fest steht, dass sie ihren de-facto Staat im Norden der Insel weitgehend verloren hat. Die Abspaltung der Gruppe um Oberst Karuna Ende 2004, die Tsunamifolgen und die internationale Ächtung durch Verbote haben der LTTE sichtlich geschadet. Obwohl sie kürzlich um einen Waffenstillstand ersucht hat (während die andere Seite bedingungslose Kapitulation fordert), spricht vieles dafür, dass sie auf einen langen Guerillakrieg setzt und darauf hofft, dass die Regierung mit ihrer neuen Strategie (militärisch, finanziell und international) Schiffbruch leidet. Im Laufe der Geschichte hat die LTTE mehrmals Territorien verloren (so z.B. 1995 Jaffna) und neue Gebiete erobert (1998 Kilinochchi). Auch damals glaubte man, der endgültige Sieg der Regierungstruppen stünde bevor. Daher wäre es verfrüht, von einer Zerschlagung der Organisation zu sprechen.

Das Schicksal der tamilischen Bevölkerung auf der Insel scheint vor diesem Hintergrund mehr als ungewiss. Eine Kriegsstrategie gemäß dem Motto »jeder Tamile ist ein Tiger und potentieller LTTE Kader« bedeutet für die Tamilen Verunsicherung und Existenzbedrohung. Die humanitäre Katastrophe trifft einerseits die zwischen den Fronten eingeschlossene Zivilbevölkerung und andererseits die in Internierungslagern eingesperrten unter dem Generalverdacht der Zusammenarbeit mit den Rebellen stehenden Zivilisten mit voller Härte. Die Folge wird eine zunehmende Radikalisierung der Tamilen auf der Insel, der tamilischen Diaspora und der tamilischen Weltgemeinschaft sein (Tamil Nadu, Malaysia, Südafrika etc).

Internationale Lähmung und kollektive Ratlosigkeit

Die internationale Gemeinschaft wirkt angesichts dieser realpolitischen Herausforderungen gelähmt und überfordert. Je stärker der Friedensprozess in die Krise geraten war, desto wirkungsloser zeigte sich ihr Ansatz. Eine zutiefst gespaltene internationale Gemeinschaft mit geo-politischen Interessen (Indien, Pakistan, China), Wirtschaftsinteressen (Japan), militärischen Interessen im Fahrwasser des Anti-Terrorismus Ansatzes (USA) und politischen Interessen, die sich jeglichen Sezessionsbestrebungen widersetzen (Russland, Türkei und China ) scheint keine Konzepte gegen die sich anbahnende humanitäre Katastrophe parat zu haben. Die EU, die stets auf eine friedliche Lösung des Konflikts gedrängt hat, scheint auf weiter Flur alleine zu sein. Im September 2008 wurden auch die letzten internationalen Hilfsorganisationen aus den Kriegsgebieten herausgedrängt. Zudem herrscht eine regelrechte Hetzjagd gegen die internationale Gemeinschaft. Jede Mahnung, die Menschenrechte einzuhalten, wird als unangemessene neo-koloniale Einmischung zurückgewiesen oder damit gedroht, »aufmüpfige« Diplomaten und Akteure der internationalen Zivilgesellschaft außer Landes zu »jagen« (Gothabaya Rajapakse, Verteidigungssekretär in Sunday Island, zitiert nach Tagesspiegel 02.02.2009). Diese Taktik der Einschüchterung scheint in vielen Fällen aufzugehen. Natürlich kann ein dauerhafter Frieden nicht von außen erzwungen werden und nur die einheimischen Kontrahenten können dafür Sorge tragen. Aber angesichts des drohenden Massenexodus und der systematischen Vertreibung der tamilischen Bevölkerung aus ihren Heimatgebieten ist die internationale Gemeinschaft gefordert, sofort im Sinne von »Schutzverantwortung« (»Responsibility to Protect«)4 einzugreifen. Politische Probleme bedürfen politischer Antworten und die »Terrorismus«-Diagnose des Konflikts greift zu kurz.

Literatur

Asia Centre for Human Rights: South Asia Human Rights Violators Index 2008, www.achrweb.org.

Der Tagesspiegel: Sri Lankas Regierung droht deutschem Botschafter, 02. Februar 2009, S.3.

Human Rights Watch (Februar 2009): War on the Displaced – Sri Lankan Army and LTTE abuses against civilians in the Vanni.

International Crisis Group (2008): Sri Lanka´s Return To War: Limiting The Damage, Asia Report Nr. 146, 20.02.2008.

Liyanage, Sumanasiri (2008): One step at a time. Reflections on the Peace Process in Sri Lanka 2001-2005, Colombo: South Asia Peace Institute.

Lohmann, Annette/Saxer, Marc (2007): »Responsibility to Protect«: Vom Konzept zur angewandten friedens- und sicherheitspolitischen Doktrin? FriEnt Briefing Nr. 6.

Nadarajah, Suthaharan/Vimalarajah, Luxshi (2008): The Politics of Transformation – The LTTE and the 2002-2006 peace process in Sri Lanka, Berghof Series 04.

National Post Canada: Interview with Sarath Fonseka, 23. September 2008.

Rupesinghe, Kumar (2008): The war to end the war in Sri Lanka, Daily Mirror 17.01.2008.

Rupesinghe, Kumar (Hrsg) (2006): Negotiating Peace in Sri Lanka: Efforts, Failures and Lessons. Colombo: Foundation for Co-Existence.

The Economist (2009): Sri Lanka´s war- To the bitter end, 14. Februar 2009, S.62.

Uyangoda, Jayadeva: New Configurations and Constraints, Frontline, Februar 14-23. 2009.

Anmerkungen

1) Die Truppenstärke wird auf 100.000 Mann geschätzt, bei einer Gesamtbevölkerung von nur 21 Mio. Menschen.

2) Die fliehenden Menschen aus den LTTE Gebieten werden wegen sicherheitsrelevanter Aspekte in so genannten »welfare villages« untergebracht. Die internationalen Hilfsorganisationen bezeichnen diese Sammellager als Internierungslager, weil die Lager mit Stacheldrahtzäunen militärischen Festungen ähneln und durch das Militär kontrolliert werden, in denen die Bewegungsfreiheit der Flüchtlinge massiv eingeschränkt ist. (vgl. Human Rights Watch (2009))

3) Für eine ausführliche Darstellung siehe Liyanage (2008), Rupesinghe (2006) und Nadarajah/Vimalarajah (2008).

4) Vgl. zum Konzept »Responsibility to Protect« Lohmann/Saxer (2007).

Luxshi Vimalarajah ist Diplom-Politikwissenschaftlerin und als Senior Program Coordinator an der Berghof Foundation for Peace Support in Berlin tätig. Von 2003 bis 2007 war sie für das Konflikttransformations- und Friedensförderungsprogramm der Berghof Stiftung in Sri Lanka tätig.

Erdrückende Erblast

Erdrückende Erblast

Schwerer Rückschlag für den Friedensprozess im Süden der Philippinen

von Rainer Werning

Weitgehend unbeachtet von der Weltöffentlichkeit werden auf den Philippinen verschiedene soziale und religiös konnotierte Konflikte ausgetragen. Zeitweise schien es, als ließe sich einer der komplexen und längsten Konflikte – der zwischen der Regierung und der Moro Islamischen Befreiungsfront (MILF) – einer Regelung zuführen. Doch auch diese Hoffnung wurde enttäuscht.

Der 5. August 2008 hätte ein großartiger Tag in Richtung Frieden sein können, von dem die Bevölkerung in einer der ältesten Konfliktregionen Südostasiens seit Langem träumt. Doch es kam buchstäblich knüppeldicke. Bereits am 27. Juli war unter der Schirmherrschaft Malaysias von Vertretern der philippinischen Regierung und der Moro Islamischen Befreiungsfront (MILF), der gegenwärtig bedeutendsten und größten Organisation des muslimischen Widerstands, das sogenannte MoA-AD (siehe Kasten) ausgehandelt worden. An jenem 5. August, so jedenfalls sah es die Etikette vor, sollte es in einer feierlichen Zeremonie unterzeichnet werden. Die Vertragspartner und hohe geladene ausländische Gäste, unter ihnen die in Manila akkreditierten Botschafter der USA, Australiens und Japans sowie der Sonderemissär der Organisation der Islamischen Konferenz, weilten bereits in der malaysischen Metropole Kuala Lumpur, als der Oberste Gerichtshof der Philippinen im letzten Moment mittels einer einstweiligen Verfügung die offizielle Vertragsunterzeichnung torpedierte. Ein höchst ungewöhnlicher Vorgang in der Geschichte internationaler Diplomatie. Das Gericht in Manila begründete seinen Last Minute-Akt damit, es müsse prüfen, ob kurzfristig eingereichten Petitionen philippinischer Regionalpolitiker und Geschäftsleute, das MoA-AD verstoße gegen geltendes Recht und die Verfassung, stattzugeben sei. In seinem Urteilsspruch von Mitte Oktober bestätigte das Gericht denn auch diese Auffassung.

Unverzüglich machten sich allseits Wut und Enttäuschung breit. In Kuala Lumpur mussten sich hochrangige Diplomaten nolens volens wie düpierte Deppen vorgekommen sein. Die Verhandlungsführer Manilas schlichen sich kleinlaut vom Parkett. Und der ansonsten stets um Contenance bemühte Chefunterhändler der MILF, Mohagher Iqbal, hatte sichtlich Mühe, nicht aus der Haut zu fahren. „Die philippinische Regierung“, so Iqbals erster Kommentar, „muss sich schämen, sich vor Vertretern der internationalen Gemeinschaft dermaßen blamiert zu haben. Selbst der Gastgeber, die Regierung Malaysias, hat dem MoA-AD vollumfänglich zugestimmt.“

Heftiger Streitpunkt – das MoA-AD

1997 begannen erste Waffenstillstandsverhandlungen zwischen Vertretern der philippinischen Regierung und der Moro Islamischen Befreiungsfront (MILF), die ab 2001 im Sinne bilateraler Friedensverhandlungen aufgewertet wurden. Erst nach mühsamer Verständigung über Sicherheitsaspekte und Fragen von Hilfs- und Rehabilitationsmaßnahmen kam als dritter »Korb« das von beiden Seiten ausgehandelte Memorandum über die Vereinbarung des Landes der Ahnen (Memorandum of Agreement-Ancestral Domain – kurz: MoA-AD) als letzte Vorstufe einer umfassenden friedensvertraglichen Regelung zustande. Kernpunkte des MoA-AD sind: Der muslimischen Bevölkerung in Mindanao, Sulu und Palawan wird das Recht zugestanden, als »Bangsamoro« (wörtlich: Moro-Nation) ihre eigene Identität zu wahren und ihre eigenen Rechte auszuüben, indem sie eine ihren Vorstellungen entsprechende Selbstregierung schafft, die innerhalb ihres Gebietes die dort vorhandenen Ressourcen schützt und nutzt. Diese Selbstregierung trägt den vorläufigen Namen »Bangsamoro Rechtseinheit« (Bangsamoro Juridical Entity – kurz: BJE) und soll mit größerer Autonomie und mehr Befugnissen ausgestattet sein und über ein größeres Territorium verfügen als die bislang lediglich aus fünf Provinzen und einer Stadt bestehenden »Autonomen Region in Muslim Mindanao« (ARMM). Diese entstand Ende der 1980er Jahre und ist wesentlich eine Domäne der Moro Nationalen Befreiungsfront (MNLF), von der sich die MILF 1977 abgespalten hatte und der sie vorwarf, mit ihrem am 2. September 1996 unterzeichneten Endgültigen Friedensvertrag mit Manila das Selbstbestimmungsrecht der Moros preisgegeben zu haben. Das MoA-AD enthält in zwei zusätzlichen Anhängen Listen derjenigen Dörfer, die Bestandteil der BJE werden sollen. Außerdem benennt es insgesamt 151 Gemeinden, die außerhalb des avisierten BJE-Territoriums als »Besondere Interventionsgebiete« klassifiziert sind. Gemeint sind damit konfliktträchtige Gebiete, um deren Anliegen sich die Zentralregierung künftig kümmern soll. Die genauen exekutiven, legislativen und judikativen Befugnisse der BJE sowie die Nutzung der territorialen und maritimen Ressourcen sind im Detail erst nach Unterzeichnung des MoA-AD im Rahmen sich daran anschließender Verhandlungen festzulegen. Ein Prozess, an dessen Ende ein (ursprünglich für November 2009 vorgesehener) rechtsverbindlicher Friedensvertrag (Comprehensive Compact) stünde.

R.W.

Im Interesse der MILF?

Wenngleich das MoA-AD lediglich Konsenspunkte zwischen den Vertragspartnern und eine Art Roadmap in Richtung Frieden entwirft, bedeutet es längst keinen abschließenden und rechtsverbindlichen Friedensvertrag. Selbst wenn ein solcher Vertrag unterzeichnet worden und in Kraft getreten ist, müssten immer noch Nicht-Muslime und Angehörigen der indigenen Völker (lumad) im Rahmen der neuen Bangsamoro-Regierung per Plebiszit darüber entscheiden, ob sie einer solchen Verwaltung zustimmen oder sie ablehnen. Schließlich wäre in einer gesonderten Abstimmung möglicherweise eine Verfassungsänderung nötig, die das bestehende präsidiale zugunsten eines parlamentarischen und föderalen Regierungssystems änderte. Danach besäße die Bangsamoro-Regierung auch nicht automatisch die Oberhoheit über jenes Land der Ahnen, auf dem beispielsweise heute internationale Bergwerksgesellschaften agieren oder Bodenschätze aufgrund bestehender Gesetze und Abkommen mit ausländischen Firmen und lokalen (nicht-muslimischen) Großgrundbesitzern abgebaut werden. Der Zentralregierung bliebe theoretisch immer noch die Möglichkeit, im »nationalen Interesse« den »Notstand« auszurufen, um nicht die Kontrolle über Energiequellen wie Erdgas oder Öl zu verlieren. Ob die MILF-Führung ihrem Anliegen näher gekommen ist, wenigstens einen Teil des Grund und Bodens ihrer Ahnen, die bis zu Beginn der US-amerikanischen Kolonialherrschaft (1898-1946) nahezu ganz Mindanao, Sulu und Palawan ihr eigen genannt und besiedelt hatten, zu kontrollieren, ist gegenwärtig nicht eindeutig auszumachen. In einem Interview mit dem Autor hatte der (2003 verstorbene) MILF-Vorsitzende Hashim Salamat kategorisch erklärt: „Ein unabhängiges Bangsamoro ist nicht verhandelbar. Reden und verhandeln lässt sich einzig über dessen genaues Territorium.“

Proteste und Widerstand

Doch es gibt in Manila und auf Mindanao gewichtige Akteure, die partout nicht reden wollen. Erst recht dann nicht, wenn sie befürchten, im Rahmen von Verhandlungen mit Moros auch nur einen Bruchteil ihrer Macht und Pfründe zu verlieren. Für sie ist der »Moro«1 das geblieben, was er für die spanischen Kolonialherren (1521-1898) von Anbeginn war – ein Abschaum in Gestalt von Piraten, Banditen und unzivilisierten Stämmen. Noch immer sitzen vor allem in der Bevölkerung im Norden und zentralen Teil der Philippinen die Ressentiments gegenüber Moros dermaßen tief, dass solche Feindbilder bevorzugt bemüht werden, um von höchst kontroversen innenpolitischen Themen – einschließlich Korruption und Vetternwirtschaft – abzulenken. Von den größeren Städten auf Mindanao hat sich vor allem Zamboanga City, im Südwestzipfel der Insel gelegen, stets als Hochburg antimuslimischer Stimmungen im Allgemeinen und anti-MNLF- beziehungsweise anti-MILF-Sentiments im Besonderen hervorgetan. Zamboanga war stets eine Frontstadt christlicher Siedlerkolonialisten im Kampf gegen die Moros, die die Spanier nie in die Knie zwingen konnten. Dort errichteten sie ein mächtiges Fort und widmeten als einzige Stadt in den Philippinen eine Plaza eigens General John Joseph Pershing. Wegen mehrerer von Pershing mitverantworteter Massaker in Mindanao und vor allem auf der weiter südlich gelegenen Insel Jolo gilt der General in diesem Teil des Archipels als »Schlächter der Moros«. Sein Andenken ehrt mit Verve der in Zamboanga mächtige Lobregat-Clan, dessen Tentakeln in einflussreiche Kreise von Politik und Wirtschaft reichen. Kein Wunder, dass die konservativen Kräfte und extrem reaktionären Hardliner auf Mindanao in Bürgermeister Celso Lobregat ihren ideellen Gesamtfundamentalisten gefunden haben. Offen ruft Lobregat mit Gleichgesinnten dazu auf, notfalls mit bereits bestehenden oder neuen bewaffneten Bürgerwehren gegen eine wie auch immer geartete Bangsamoro-Selbstverwaltung vorzugehen.

Eskalierende Gewalt

Gleichzeitig haben der Inhalt des MoA-AD und dessen einstweilige Aussetzung durch den Obersten Gerichtshof jenen Kräften inner- wie außerhalb der MILF Oberwasser verschafft, denen langwierige Verhandlungen ohnehin suspekt waren und die nunmehr bitter enttäuscht darüber sind, dass trotzdem keine greifbaren Ergebnisse vorliegen. Es gibt Feldkommandeure der Bangsamoro Islamischen Streitkräfte (BIAF), des bewaffneten Arms der MILF, die lieber heute als morgen klare Resultate auf dem Schlachtfeld erzwingen würden. Mehr noch: Viele Moro-Jugendliche sind in einem von Massenarmut und Perspektivlosigkeit gekennzeichneten Umfeld aufgewachsen, in dem sie von frühen Kindesbeinen an nur mit Militarisierung, massiver Präsenz von Schusswaffen und der Kultur von rido (bewaffneten Familienfehden) sozialisiert wurden. Allein das Tragen eines Gewehrs gilt als notwendiger Bestandteil von machismo und als Respekt einflößend. Wird sich für diese Generation absehbar nichts wesentlich ändern, rekrutiert sich aus ihr eine radikalisierte Gruppe neuer Moro-KämpferInnen.

Bereits wenige Tage nach dem diplomatischen Debakel in Kuala Lumpur lieferten sich Verbände der BIAF und Einheiten der regulären philippinischen Streitkräfte (AFP) zunächst Scharmützel, dann offene Gefechte in den Provinzen Nordcotabato und Lanao del Norte. Während in der Hauptstadt Manila die Nationalpolizei in höchste Alarmbereitschaft versetzt wurde, da man Anschläge der MILF gegen öffentliche Einrichtungen befürchtete, weiteten sich derweil die Kampfhandlungen auf Mindanaos Provinzen Lanao del Sur, Maguindanao, Shariff Kabunsuan und Sarangani weiter aus. Am 21. August sprach das Welternährungsprogramm (WFP) der Vereinten Nationen bereits von über 220.000 Menschen, die angesichts der Kampfhandlungen in Mindanao auf der Flucht seien. Wenngleich die Sicherheitsvorkehrungen für das eigene Personal erhöht worden seien, erklärte Stephen Anderson, der Philippinen-Beauftragte und Repräsentant des WFP im Lande, sei seine Organisation imstande, die Opfer mit knapp 900 Tonnen Reis zu versorgen. Im Übrigen hoffe er sehr, dass sich die Lage alsbald verbessere.

Propaganda auf Hochtouren

Dies blieb jedoch ein frommer Wunsch, da beide Seiten ihren Waffengang verstärkten und ihre Propaganda von Tag zu Tag schriller wurde. Nach einer Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates kündigte Präsidentin Gloria Macapagal-Arroyo in ihrer gleichzeitigen Eigenschaft als Oberkommandierende der Streitkräfte an, „jeden Zoll philippinischen Territoriums“ zu verteidigen. Man könne prüfen, so ließ sie durch ihren Pressesprecher Jesus Dureza im Präsidentenpalast Malacañang verlauten, ob man Unklarheiten im MoA-AD bereinige und darüber mit der MILF in neue Verhandlungen trete. „Man sollte nicht von Krieg sprechen, was keine Option ist“, so Dureza, „sondern über Frieden, was stets unsere Option ist und bleiben wird.“ In der vorliegenden Form jedenfalls könne das MoA-AD aufgrund anhaltend starker Proteste nicht unterzeichnet werden. „Wir stellen uns keinen Krieg vor“, konterte MILF-Chefunterhändler Mohagher Iqbal, „doch wir sind dazu bereit.“ Das MoA-AD ist von beiden Seiten einvernehmlich ausgehandelt und vereinbart worden. Diese Absprache sei, so Iqbal, unabhängig von dem Fiasko in Kuala Lumpur bindend. In einem Interview mit der Nachrichtenagentur Associated Press am 20. August fügte Iqbal kategorisch hinzu, Neuverhandlungen werde es keineswegs geben: „Das wäre so, als öffnete man eine Büchse voller Würmer.“

Harsche Kritik an der Präsidentin

Noch härter gingen kritische JournalistInnen, Menschenrechtsanwälte und Angehörige unterschiedlicher Nichtregierungsorganisationen mit der Regierung – erst recht mit Präsidentin Arroyo – ins Gericht. Am 6. August, einen Tag nach der gescheiterten Unterzeichnung des MoA-AD, schrieb der Kolumnist Neal Cruz in der landesweit auflagenstärksten Tageszeitung Philippine Daily Inquirer, Manilas Motive seien „hinterhältig und niederträchtig“. „Wenn das MoA-AD nicht implementiert wird“, so Cruz, „kann die MILF mit gutem Recht sagen, dass die Regierung in schlechter Absicht handelte, und sie kann notfalls sogar die Unabhängigkeit erklären, da sie über sämtliche Elemente verfügt, die einen Staat auszeichnen: Regierung, Volk, Territorium und internationale Anerkennung.“ „Was soll denn das“, schreibt Cruz weiter, „erst nach einem ausgehandelten Abkommen wolle man Konsultationen abhalten? Solche werden normalerweise vor einem Abkommen durchgeführt. (…) Nach so langwierigen Verhandlungen konnte es der Arroyo-Administration auf einmal nicht schnell genug gehen, obgleich der Text des MoA-AD bis zum Schluss geheim blieb und nur wenige Eingeweihte ihn kannten.“

Tatsächlich hatte Hermogenes Esperon, bis vor Kurzem noch Generalstabschef der Streitkräfte und von der Präsidentin nach heftigen Protesten zu ihrem Friedensberater ernannt, erst Anfang August Kopien des MoA-AD nur ausgewählten Generälen seines Vertrauens, nicht aber Senatoren oder Kongressabgeordneten überreicht. Am 28. Juli hatte Frau Arroyo in ihrer jährlichen Rede an die Nation angedeutet, dass endlich ein Frieden in Mindanao zum Greifen nahe sei. Außerdem hatte die malaysische Regierung, unter deren Schirmherrschaft die Gesprächsrunden zwischen Manila und der MILF über all die Jahre stattgefunden hatten, signalisiert, dass sie ihr Kontingent des außer von Malaysia noch von Libyen, Brunei und Japan gestellten Internationalen Monitoring-Teams (IMT) in Mindanao abziehen würde, wenn der Friedensprozess nicht bald konkrete Gestalt annehme.

Es mehren sich die Stimmen, die der Präsidentin ein waghalsiges Spiel mit dem Feuer vorwerfen – einzig und allein des Machterhalts willen. Sie selbst hatte ihrem Verhandlungsteam grünes Licht gegeben, das am 27. Juli ausgehandelte MoA-AD mit den Initialen zu unterschreiben. Nachdem die feierliche Unterzeichnung des Memorandums am 5. August nicht stattfand, versucht sie seitdem Nachbesserungen zu erreichen beziehungsweise den Schwarzen Peter für die augenblicklich düstere Lage in Mindanao der MILF zuzuschieben. Geriete dort die Situation gänzlich außer Kontrolle, könnte sie laut Verfassung und mit dem Verweis auf die Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung sowie die Wahrung der nationalen Souveränität und territorialen Integrität der Republik der Philippinen das Kriegsrecht ausrufen. Eine andere, weniger martialische Variante, den eigenen Machterhalt zu sichern, könnte darin bestehen, qua Verfassungsänderung anstelle eines präsidialen ein föderales System im Lande zu verankern. Demnach wäre die Beschränkung aufgehoben, dass ein Präsident lediglich eine einmalige Amtsperiode von sechs Jahren wahrnehmen kann. Sobald Frau Arroyo nicht mehr im Amt ist, dürfte sie mit einem Rattenschwanz von Korruptionsvorwürfen und wegen mehrfachen Amtsmissbrauchs konfrontiert werden. Zwei Amtsenthebungsverfahren hat die Lady zwar abwehren können. Was nichts daran änderte, dass sie die seit dem Sturz des Diktators Ferdinand E. Marcos im Februar 1986 mit Abstand unbeliebteste Präsidentin ist. Doch nur zu gern regierte sie als Premierministerin über ihre Ende Juni 2010 endende Amtszeit hinaus weiter.

Ausländische Kalküle, immense Kriegskosten

Schließlich verfolgen ausländische Mächte ihre eigenen Interessen auf der ressourcenreichen Insel Mindanao. Australien und Japan beispielsweise sind dort unter anderem stark im Bergbausektor und in Minengesellschaften engagiert, während sich die USA – die bereits mit Spezialeinheiten im Rahmen der mit Manila orchestrierten »Terrorismusbekämpfung« präsent sind – politische und geostrategische Vorteile erhoffen. Ihre Militärpräsenz vor Ort wäre ein geeignetes Sprungbrett nahe der Straße von Malakka (zwischen Malaysia, Singapur und Indonesien), der bedeutsamsten Seeroute in der Region, über die der Löwenanteil der Öl- und Gasversorgung aus dem Nahen und Mittleren Osten für die Boomökonomien Ost- und Südostasiens erfolgt und durch die in umgekehrter Richtung der Löwenanteil deren Exporte abgewickelt wird. Für US-Militärstrategen und in US-amerikanischen think tanks wie der Asia Foundation in Washington stellten beispielsweise das Kapern und die anschließende Sprengung eines mit Öl- oder Flüssiggas beladenen Großtankers am engsten Punkt der Malakka-Straße eine wirtschaftliche sowie ökologische Katastrophe größten Ausmaßes dar. Auf diese Weise bräche nicht nur der Regionalhandel zusammen; dies hätte unweigerlich auch weitreichende Konsequenzen für die Weltwirtschaft.

KritikerInnen aus linken Gruppierungen und Parteien haben wiederholt auf die US-Karte im Mindanao-Poker hingewiesen. Neben der dortigen Präsenz von GIs hat US-Botschafterin Kristie Kenney – ungewöhnlich für DiplomatInnen ihres Kalibers – gleich mehrfach die Region besucht und dabei auch mit dem MILF-Vorsitzenden Al Haj Murad Ebrahim und anderen hochrangigen Kadern der Organisation konferiert. Außerdem war das vom US-Kongress finanzierte und US-außenpolitische Interessen verfolgende Friedensinstitut (USIP) von 2003 bis 2007 überaus stark in der Region engagiert und führende USIP-MitarbeiterInnen über den Stand der Regierungsverhandlungen mit der MILF genauestens informiert. Kein Wunder, dass Frau Kenney ebenfalls am 5. August in Kuala Lumpur zugegen war, als das MoA-AD zeremoniell unterzeichnet werden sollte.

Das philippinische Verteidigungsministerium schätzt derweil die Kriegskosten im Süden allein von 1970 bis 1996 auf 73 Milliarden Peso (zirka 1,2 Milliarden Euro). Diese Schätzung wird im philippinischen Human Development Report 2005 geteilt, der konstatierte, dass der langwierige Konflikt in Mindanao von 1970 bis zum Jahr 2001 jährlich zwischen fünf und 7,5 Milliarden Peso verschlungen habe. Die Weltbank gelangte 2002 zu dem Ergebnis, dass sich die Kosten eines nicht endenden Konflikts in der Region auf 30 Millionen Peso täglich oder 10 Milliarden Peso pro Jahr summierten. All das berücksichtigt noch nicht die zusätzlich anfallenden Kosten bei der Bekämpfung der kommunistischen Guerilla der Neuen Volksarmee (NPA) in Mindanao. Von den frühen 1970er Jahren bis 1996 forderte der Krieg in den Südphilippinen über 120.000 Menschenleben – davon 50 Prozent MNLF-KämpferInnen, 30 Prozent Regierungssoldaten und 20 Prozent Zivilisten. Was die Entwurzelung von Menschen und interne Flüchtlinge betrifft, errechnete der genannte Philippine Human Development Report 2005, dass im Zeitraum von 2000 bis 2004 insgesamt 1,135 Millionen Menschen für kürzere oder längere Zeit infolge bewaffneter Feindseligkeiten in Mindanao vertrieben worden und über Nacht obdachlos geworden seien. In all diesen Zahlen sind nicht eingerechnet die der Region vorenthaltenen Investitionen, der Verlust und die Zerstörung von Eigentum und weitere nicht quantifizierbare, gleichwohl bedeutsame »Kollateralschäden« des Krieges wie Hass, Vorurteile, Rache(gefühle) und Diskriminierung.

Anmerkungen

1) Als »Moros« – in Anlehnung an die »Mohren«, »Mauren« Nordafrikas – bezeichneten die spanischen Kolonialherren abschätzig die muslimische Bevölkerung im Süden der später von ihnen »Philippinen« getauften Inseln. Vor Ankunft der Spanier waren u.a. die Sultanate von Sulu und Maguindanao souveräne Gemeinwesen mit eigenen politischen und wirtschaftlichen Strukturen. Ende der 1960er Jahre maß die damalige Führung der MNLF dem Begriff »Moro« eine positive Bedeutung bei und führt ihn deshalb bewusst in ihrem Organisationsnamen.

Dr. Rainer Werning ist Politologe und Publizist mit dem Schwerpunkt Südost- und Ostasien.