Keine Kenntnis von den Erkenntnissen?

Keine Kenntnis von den Erkenntnissen?

30 Jahre „Göttinger Erklärung“

von Corinna Hauswedell

Sie werden in diesen Wochen auf vielfältige Weise gewürdigt – jene achtzehn Wissenschaftler, die vor 30 Jahren mit der „Göttinger Erklärung“ gegen die atomare Bewaffnung der Bundeswehr auftraten und damit viel Aufsehen in Politik und Öffentlichkeit erregten. Die historischen Umstände in Erinnerung zu rufen öffnet auch den Blick auf Konstanten und Veränderungen des Engagements von Naturwissenschaftlern gegen die Atomkriegsgefahr heute – einschließlich deren Wirkungen auf die Politik.

„Wenn die Wissenschaftler sagten, ein kleines Land wie die Bundesrepublik schütze sich am besten durch einen ausdrücklichen Verzicht auf den Besitz atomarer Waffen, dann habe das mit wissenschaftlichen Erkenntnissen nichts zu tun (…) man müsse aber Kenntnis von den Erkenntnissen haben, die diese Wissenschaftler nicht hätten, weil sie nicht zu ihm gekommen seien (…)“1 Diese erste heftige Reaktion Adenauers auf die „Göttinger Erklärung“ enthüllte nicht nur die feudalistisch geprägte Denkungsart des Kanzlers, sondern auch in erschreckender Weise das Politikverständnis der Regierenden: Alle anderen sind inkompetent und unter Berufung auf Wissenschaftlichkeit wird die Wissenschaft von der Politik ausgeschlossen.

Dabei waren es gerade der bemerkenswert demonstrative Mangel an Sachkenntnis und die damit intendierte Verharmlosung in einer Presseerklärung Adenauers vom 5. April 1957 („Die taktischen Atomwaffen sind im Grunde nichts anderes als eine Weiterentwicklung der Artillerie (…)“.2, die die „Göttinger 18“ schließlich zu ihrem öffentlichen Auftreten provoziert hatten.

Vorausgegangen waren zwischen 1954 und 1956 Meldungen über die geplante atomare Ausrüstung der Bundeswehr mit US-Raketen und im November 1956 ein Brief der Atomwissenschaftler an Verteidigungsminister Strauß, „öffentlich zu erklären, daß die Bundesregierung Atomwaffen weder herzustellen noch zu lagern gedenke.“3 Die Antwort war unbefriedigend geblieben und

Adenauers Presseerklärung mußte nun aufs Äußerste beunruhigen. „(…) sie mußte fast zwangsläufig der deutschen Bevölkerung ein völlig falsches Bild von der Wirkung der Atomwaffen vermitteln. Wir fühlten uns also verpflichtet zu handeln (…) Erstens mußte die deutsche Bevölkerung über die Wirkung der Atomwaffen voll aufgeklärt, jeder Beschwichtigungs- oder Beschönigungsversuch mußte verhindert werden. Zweitens mußte eine veränderte Stellung der Bundesregierung zur Frage der atomaren Bewaffnung angestrebt werden. Daher durfte sich die Erklärung nur auf die Bundesrepublik beziehen.“4 So schilderte W. Heisenberg die Motive der „Göttinger“. „Verantwortung für die möglichen Folgen dieser Tätigkeit (…)“, das war der Antrieb für die achtzehn Wissenschaftler, als „Nichtpolitiker“ in die Politik einzugreifen. Sie nahmen dafür den Vorwurf der Inkompetenz in kaut, mußten sich, wie schon andere vor ihnen, des Vaterlandsverrats bezichtigen lassen. So argwöhnte Adenauer, sie hätten „es geradezu auf eine Schwächung der Bundesrepublik abgesehen.“5

C. F. von Weizsäcker erläuterte zwei Wochen, nachdem die Veröffentlichung zunächst Empörung und dann Beschwichtigungsversuche regierender Politiker ausgelöst hatte, die hinter der Erklärung stehenden Überlegungen:

„Erstens: Der Westen schützt seine eigene Freiheit und den Weltfrieden durch die atornare Rüstung auf die Dauer nicht; diese Rüstung zu vermeiden, ist in seinem eigenen, Interesse ebenso wie in dem des Ostens.

Zweitens: Die Mittel der Diplomatie und des politischen Kalküls reichen offenbar nicht aus, diese Wahrheit Geltung zu verschaffen; deshalb müssen auch wir Wissenschaftler reden sollen die Völker selbst ihren Willen bekunden.

Drittens: Wer glaubwürdig zur atomaren Abrüstung raten soll, muß Überzeugend dartun, daß er selbst die Atombombe nicht will.

Nur dieser dritte Satz bedarf noch eines weiteren Kommentars. In der Schrecksekunde nach der Veröffentlichung unserer Erklärung wurde uns von prominenter Seite vorgeworfen, wir hätten uns an die falsche Adresse gewandt; wir hätten einen Appell an unsere Kollegen in der ganzen Welt richten sollen. Diesen Vorwurf halte ich für ein Mißverständnis. Daß die große Welt nicht auf Appelle abrüstet, haben wir erlebt. Wir hatten uns dorthin zu wenden, wo wir eine direkte bürgerliche Verantwortung haben, nämlich an unser eigenes Land (…)“.6

Daß die „Göttinger“ sich gegen das lähmende und diskriminierende geistige Klima des Kalten Krieges überhaupt zu ihrer Manifestation zusammenfanden, macht bereits ein Gutteil ihrer moralischen und politischen Bedeutung aus.

Die drei Punkte Weizsäckers verweisen auf die Substanz und das Anliegen der „Göttinger 18“ und damit zugleich über den historisch-konkreten Anlaß der „Göttinger Erklärung“ hinaus. Sie enthalten bereits wesentliche Elemente dessen, was heute mit dem Begriff des „neuen Denkens“ impliziert ist.

Auch Heisenberg entwickelte in der direkten Konfrontation mit Adenauers Vorwürfen (siehe oben) die Notwendigkeit, sich der neuen Herausforderung des Atomzeitalters zu stellen: „Wir seien überzeugt, daß jede atomare Bewaffnung der Bundeswehr zu einer gefährlichen Schwächung der politischen Stellung der Bundesrepublik führen müßte, daß also gerade die Sicherheit, an der ihm mit Recht soviel gelegen sei, durch eine atomare Bewaffnung aufs Äußerste gefährdet wird. Ich glaube, daß wir in einer Zeit leben, in der sich die Fragen der Sicherheit ebenso radikal veränderten wie etwa beim Übergang vom Mittelalter in die Neuzeit und man müsse sich in diese Veränderung erst gründlich hineindenken, bevor man leichtfertig den alten Denkmustern folgen dürfe.“7

Die Infragestellung der atomaren Abschreckung (und der damit verbundenen Rüstungsspirale), die Notwendigkeit des eigenständigen Handelns der Menschen (nicht nur der Politiker), die Bereitschaft „im eigenen Land“ mit Abrüstung zu beginnen (einseitig und konkret), diese Schlußfolgerungen, die Weizsäcker bereits 1957 andeutete, sind politischer Natur. Möglich geworden sind sie allerdings aus der (natur-) wissenschaftlichen Kenntnis von dem Ausmaß der atomaren Gefahr.

Nach 30 Jahren fortgesetzter atomarer Aufrüstung mehren sich die Anzeichen, daß dieser Zusammenhang – daß das Atomzeitalter eine wirkliche neue Politikkonzeption für die Friedenssicherung verlangt – auch zunehmend in die Politik Eingang findet.

Bei weitem nicht überall allerdings ist dies schon so. Das Antwortschreiben von Verteidigungsminister Wörner an die Initiatoren des Internationalen Naturwissenschaftlerkongresses in Hamburg im November 1986 „Wege aus dem Wettrüsten“ ist noch vom alten Denken geprägt: „(…) Entscheidend ist dabei allerdings, daß den sicherheitspolitischen Zusammenhängen Rechnung getragen wird. Gestatten Sie mir festzustellen, daß in diesem Punkt die Stellungnahmen zu allen Bereichen möglicher und erforderlicher Abrüstung aus wissenschaftlicher Sicht eine Reihe schwerwiegender Mängel aufweisen (…)“.8 Sicherheitspolitik und wissenschaftliche Sicht bleiben anscheinend unvereinbar für die Regierenden unserer Landes.

Die Veränderungen in den Reihen der „Nichtpolitiker“, 30 Jahre nach der „Göttinger Erklärung“ gerade auch bei den Naturwissenschaftlern, geben allerdings Anlaß zu mehr Zuversicht. Nach den „Göttingern“ sind sehr viele hinzugekommen, die ihre Stimme erheben, die Mitarbeit an Rüstungsprojekten verweigern. Man organisiert sich in unterschiedlicher Weise; Kongresse zu einzelnen Waffensystemen sowie zu allgemeinen Rüstungsfragen sind eine übliche Form des fachlichen Meinungsaustausches wie der politischen Stellungnahme geworden. International ist die Zusammenarbeit – gemeinsam die zu lösenden Aufgaben.

Ein Anlaß für diese neue Qualität und Qualifizierung im Friedensengagement der Wissenschaftler (wie vieler anderer Berufsgruppen) war die erneute Zuspitzung der atomaren Rüstungsdiskussion anläßlich der Stationierung der Mittelstreckenraketen 1983 in Europa.

Vergleicht man heute die Stellungnahme der Naturwissenschaftler, etwa die „Göttinger Erklärung gegen die Militarisierung des Weltraums“ (1984) mit der alten „Göttinger Erklärung“ fällt das neue Selbstbewußtsein ins Auge. An die Stelle von Berufung auf „Nichtpolitiker“ – Status und „Wissenschaft“ tritt die explizite Zielstellung, „Öffentlichkeit und Politiker über die geplante Militarisierung des Weltraums und ihrer Konsequenzen sachlich zu informieren sowie konstruktive Beiträge zur Friedenssicherung zu leisten.“9

Die Verantwortung der Wissenschaft wird konkret wahrgenommen: Als „Dienstleistung“ von Experten für die Friedensbewegung und die Öffentlichkeit und zunehmend als Initiatoren gegenüber der Politik. Während die „Göttinger“ noch schrieben, „wir fühlen keine Kompetenz, konkrete Vorschläge für die Politik der Großmächte zu machen“, liegen jetzt der Vertragsentwurf zur Weltraumrüstung sowie die „Hamburger Abrüstungsvorschläge“ vor.

In dieser Entwicklung kommen tiefgreifende Prozesse zum Ausdruck: Die wachsende Bedeutung der Wissenschaft für alle gesellschaftlichen Bereiche, das sich in Richtung Selbsttätigkeit ändernde Politikbewußtsein vieler Menschen.

Die entsprechenden Rückwirkungen auf die Politik selbst stehen noch aus. Die Chancen allerdings sind größer geworden. An der „Kenntnis von den Erkenntnissen“ mangelt es nicht!

Die „Göttinger Erklärung“ der achtzehn
Atomwissenschaftler (12.04.1957)

Die Pläne einer atomaren Bewaffnung der Bundeswehr erfüllen die
unterzeichneten Atomforscher mit tiefer Sorge. Einige von ihnen haben den zuständigen
Bundesministern ihre Bedenken schon vor mehreren Monaten mitgeteilt. Heute ist eine
Debatte über diese Frage allgemein geworden. Die Unterzeichneten fühlen sich daher
verpflichtet, öffentlich auf einige Tatsachen hinzuweisen, die alle Fachleute wissen, die
aber der Öffentlichkeit noch nicht hinreichend bekannt zu sein scheinen.

1. Taktische Atomwaffen haben die zerstörende Wirkung normaler Atombomben,.
Als „taktisch bezeichnet man sie. um auszudrücken, daß sie nicht nur gegen
menschliche Siedlungen, sondern auch gegen Truppen im Erdkampf eingesetzt werden sollen.
Jede einzelne taktische Atombombe oder -granate hat eine ähnliche Wirkung wie die erste
Atombombe, die Hiroshima zerstört hat. Da die taktischen Atomwaffen heute in großer Zahl
vorhanden sind, würde ihre zerstörende Wirkung im ganzen sehr viel größer sein. Als
„klein“ bezeichnet man diese Bomben nur im Vergleich zur Wirkung der inzwischen
entwickelten „strategischen“ Bomben, vor allem der Wasserstoffbomben.

2. Für die Entwicklungsmöglichkeit der lebensausrottenden Wirkung der
strategischen Atomwaffen ist keine natürliche Grenze bekannt. Heute kann eine taktische
Atombombe eine kleinere Stadt zerstören, eine Wasserstoffbombe aber einen Landstrich von
der Größe des Ruhrgebiets zeitweilig unbewohnbar machen. Durch Verbreitung von
Radioaktivität könnte man mit Wasserstoffbomben die Bevölkerung der Bundesrepublik
wahrscheinlich heute schon ausrotten. Wir kennen keine technische Möglichkeit, große
Bevölkerungsmengen vor dieser Gefahr sicher zu schützen.

Wir wissen, wie schwer es ist, aus diesen Tatsachen die politischen
Konsequenzen zu ziehen. Uns als Nichtpolitikern wird man die Berechtigung dazu abstreiten
wollen; unsere Tätigkeit, die der reinen Wissenschaft und ihrer Anwendung gilt und bei
der wir viele junge Menschen unserem Gebiet zuführen, belädt uns aber mit einer
Verantwortung für die möglichen Folgen dieser Tätigkeit. Deshalb können wir nicht zu
allen politischen Fragen schweigen. Wir bekennen uns zur Freiheit, wie sie heute die
westliche Welt gegen den Kommunismus vertritt. Wir leugnen nicht, daß die gegenseitige
Angst vor den Wasserstoffbomben heute einen wesentlichen Beitrag zur Erhaltung des
Friedens in der ganzen Welt und der Freiheit in einen Teil der Weit leistet. Wir hatten
aber diese Art, den Frieden und die Freiheit zu sichern, auf die Dauer für
unzuverlässig, und wir halten die Gefahr im Falle des Versagens für tödlich.

Wir fühlen keine Kompetenz, konkrete Vorschläge für die Politik der
Großmächte zu machen. Für ein kleines Land wie die Bundesrepublik glauben wir, daß es
sich heute noch am besten schützt und den Weltfrieden noch am ehesten fördert, wenn es
ausdrücklich und freiwillig auf den Besitz von Atomwaffen jeder Art verzichtet.
Jedenfalls wäre keiner der Unterzeichneten bereit, sich an der Herstellung, der Erprobung
oder dem Einsatz von Atomwaffen in irgendeiner Weise zu beteiligen.

Gleichzeitig betonen wir daß es Oberst wichtig ist, die friedliche Verwendung
der Atomenergie mit allen Mitteln zu fördern, und wir wollen an dieser Aufgabe wie bisher
mitwirken.

Fritz Bopp, Max Born, Rudolf Fleischmann, Walther Gerlach, Otto Hahn Otto
Haxel, Werner Heisenberg, Hans Kopfermann, Max v. Laue, Heinz Maier-Leibnitz, Josef
Mattauch, Friedrich-Adolf Paneth, Wolfgang Paul, Wolfgang Riezler, Fritz Strassmann,
Wilhelm Walcher, Carl Friedrich Frhr. v. Weizsäcker, Karl Wirtz

Anmerkungen

1 Archiv der Gegenwart vom 12.4.1957 Zurück

2 Zit. nach DER SPIEGEL vom 17.4.57 Zurück

3 Otto Hahn, Mein Leben, München 1986, S. 231 Zurück

4 Werner Heisenberg, Der Teil und das Ganze, München 1979, S. 265 Zurück

5 Zit. nach ebd. Zurück

6 Carl Friedrich von Weizsäcker, Die Verantwortung der Wissenschaft im Atomzeitalter, Göttingen 1957. Zitiert aus dem Vortrag am 29.4.1957 in Bonn für die Mitgliederversammlung des Verbandes Deutscher Studentenschaften, ebd. Zurück

7 W. Heisenberg, a.a.O. Zurück

8 Brief des Bundesministers der Verteidigung vom 19. 12.86 an Prof. Dr. Peter Starlinger. Zurück

9 Aus „Göttinger Erklärung gegen die Militarisierung des Weltraums“, verabschiedet auf dem Kongreß „Verantwortung für den Frieden – Naturwissenschaftler warnen vor der Militarisierung des Weltraums“ am 7.7.-8.7.1984 in Göttingen. Zurück

Corinna Hauswedell ist Doktorandin im Fach Politikwissenschaft und lebt in Bonn.

Forschen um jeden Preis?

Forschen um jeden Preis?

von Werner Buckel

Es gibt keine halbwegs klare Trennlinie zwischen militärischer Forschung und nicht-militärischer Forschung. Es gibt extreme Fälle, für die es leicht ist, sie einzuordnen. Ich will zunächst über einen solchen Fall reden, weil ich meine, daß wir, die Gemeinschaft der Wissenschaftler, selbst da oft nicht klar genug Stellung beziehen.

Die Entwicklung eines modernen Kampfgases ist rein militärische Forschung, zudem mit einem Aspekt der Massenvernichtung. Ich stehe nicht an, diese Art von Forschung strikt abzulehnen. Jeder, der hier mitarbeitet, muß sich den Vorwurf gefallen lassen etwas Verwerfliches zu tun. Wenn er dann meint, daß ihn das nicht berühre, weil er ja für die Verteidigung der Freiheit arbeiten würde, so muß er das mit seinem Gewissen ausmachen. Auch bei solchen krassen Fällen möchte ich nicht diskriminieren. Ich wage es nicht, einem Menschen, deren seinem Arbeitsplatz ohne sein Zutun mit solchen Entwicklungen konfrontiert wird, einen Vorwurf zu machen, wenn er nicht aktiv, etwa durch Kündigung des Arbeitsplatzes, gegen diese Entwicklung vorgeht. Wer könnte dieses Opfer fordern?

Es ist aber schon etwas anderes, wenn ein Wissenschaftler, weil er ein interessantes wissenschaftliches Problem sieht, diese Forschung betreibt, ohne danach zu fragen, was mit den Substanzen gemacht werden soll. Dies finde ich verwerflich. Hier können wir eine Behauptung erledigen, die häufig – ich meine als Schutzbehauptung aufgestellt wird, nämlich die Behauptung: „Die Erforschung von Zusammenhängen, die Sammlung neuen Wissens über die Natur sei grundsätzlich gut, weil sie aus einem Trieb des Menschen kommt, der überhaupt erst wissenschaftlichen Fortschritt erlaubt, nämlich der wissenschaftlichen Neugierde. Erst die falsche Anwendung mache eine naturwissenschaftliche Erkenntnis zu etwas Bösem.“ So einfach ist das nun wirklich nicht. Mehr und mehr setzt sich die Erkenntnis durch, daß der Wissenschaftler für voraussehbar böse Folgen seiner Forschung durchaus verantwortlich ist. In dem einfachen Fall unseres Kampfgasentwicklers wird man schwerlich sagen können, daß diese Arbeit wertneutral ist.

Ich habe diesen krassen negativen Fall gewählt, weil ich meine, daß wir in unseren Wissenschaftlerkreisen noch viel zu wenig darauf hinweisen, daß wir diese Art der Forschung für ethisch nicht verantwortbar halten. Hier muß eine neue Atmosphäre geschaffen werden; wir dürfen nicht wegsehen.

Nun aber zu den weniger klaren Fällen. Ist es nicht wirklich so, daß wir heute etwas untersuchen, ohne auch nur im Entferntesten voraussehen zu können, ob einmal eine Anwendung überhaupt möglich ist, und morgen steht diese Anwendung plötzlich vor uns. Manchmal sehen wir eine friedliche, dem Menschen nützliche Anwendung. Aber die Medaille hat stets zwei Seiten. Der nützlichen Anwendung steht eine schädliche gegenüber. Lassen Sie mich da ein wohl etwas weniger bekanntes Beispiel anführen. Wir können heute mit Supraleitern Geräte bauen, die außerordentlich genaue Messungen von Magnetfeldern erlauben. Wir können Magnetfelder nachweisen und messen, die nur ein Millionstel des magnetischen Erdfeldes betragen. Diese Geräte werden zur Diagnose besonders von Erkrankungen im Gehirn entwickelt, da man mit ihnen Gehirnströme sehr gut messen und Anomalien sehr gut lokalisieren kann.

Natürlich haben solche Geräte auch eine potentielle Anwendung, etwa als Lenksysteme für Raketen. Es gibt zur Zeit hier wohl noch andere Möglichkeiten. Aber gesetzt den Fall, ein solcher Magnetfeldmesser, an dessen Entwicklung ich mitgearbeitet haben würde, fände einen Einsatz in Lenksystemen für Atomraketen. Muß oder soll ich wegen dieser nicht auszuschließenden Möglichkeit die Untersuchungen an diesen Geräten abbrechen?

Ich glaube, wir alle sehen, daß diese Konsequenz nicht die Lösung sein kann. Wir müßten alle LASER-Forschung einstellen und vieles andere. Wenn dies nicht die Konsequenz sein kann, was kann man dann überhaupt tun? Ich meine einiges.

  1. Wir könnten uns z. B. verpflichten, an unseren Hochschulen keine Forschungs- und Entwicklungsarbeiten durchzuführen, die unmittelbar militärische Anwendungen betreffen.
    Ich weiß, daß hier sofort der Einwand erhoben wird: „Aber wollen Sie, daß wir uns nicht. verteidigen? Unsere Forschung dient der Verteidigung.“ Oder „Wollen Sie unsere Soldaten weniger gut ausgerüstet kämpfen lassen?“ Hier möchte ich vorschlagen, hart zu bleiben. Militärische Forschung gehört nicht an unsere Hochschulen.
  2. Wir könnten darauf verzichten, Forschungsaufträge von militärischen Stellen anzunehmen. Hier bei uns ist, soweit ich das weiß, die Vergabe von Forschungsgeldern durch militärische Stellen wohl nicht so weitgehend entwickelt wie in den USA. Zustände, wie in den USA, wo es gang und gäbe ist, daß Wissenschaftler aus den Hochschulen für reine Grundlagenforschung Geld von agencies der Army oder der Navy bekommen, möchte ich hier nicht haben. Dadurch wird notwendig eine Abhängigkeit erzeugt und im Gefolge eine bestimmte innere Einstellung. Dies sollten wir vermeiden.
  3. Wir könnten fordern, daß die Gelder, die von dritter Seite für Forschungsaufgaben in die Hochschulen fließen, offengelegt werden. Mit den Geldern der DFG geschieht das wohl, zumindest in den Jahresberichten der DFG. Ich meine, daß eine Reihe unserer Kollegen, die mit solchen Geldern forschen, durchaus ein ungutes Gefühl haben, etwa in dem Sinne: „Ja, was soll ich denn machen, soll ich aufhören, meine Arbeiten weiterführen? Wenn ich diese Gelder nicht nehmen würde, müßte ich das.“ Vielleicht müßte man das in solchen Fällen. Bei diesem Problem erhält nun die Novellierung des Hochschulrahmengesetzes einige Bedeutung. In dem Entwurf des BMBW sollen die Gelder Dritter, die für Forschungsaufgaben in die Hochschulen fließen, wieder direkter dem Begünstigten zur Verfügung stehen. Heute werden diese Gelder z.B. bei uns in Baden-Württemberg im Haushalt ausgebracht. Nun habe ich es begrüßt, daß hier die allzu große Bürokratisierung abgebaut werden soll. Im Zusammenhang mit unserem Thema kann man nun aber fürchten, daß damit die Transparenz, die ich gerne hätte, überhaupt unmöglich wird. Ich meine dennoch, daß die Grundtendenz der Entbürokratisierung richtig ist.

    In. Wir sollten an unseren Hochschulen keine Arbeiten durchführen, die geheim gehalten werden müssen. Wenn eine Arbeit geheim gehalten werden muß, dann ist sie entweder wirtschaftlich sehr interessant und sollte deshalb an einem Labor der Industrie gemacht werden, oder sie fällt unter die militärische Geheimhaltung und gehört damit nach meiner Meinung – auch nicht an die Hochschule.

Wie ich schon sagte, bin ich mir bewußt, daß diese Vorschläge sicherlich Widerspruch herausfordern. Darüber können wir diskutieren. Alles dies würde natürlich nur Rahmenbedingungen verändern, aber nicht die Frage der Verantwortung der Wissenschaftler lösen. Kann überhaupt der einzelne Wissenschaftler noch für die Folgen seiner Arbeit direkt verantwortlich gemacht werden? Ist unsere Forschungslandschaft nicht schon so komplex geworden, daß der Einzelne nicht mehr genügend Spielraum hat, um Verantwortung überhaupt geltend zu machen? Ich meine über das hinaus, was er durch eine schlichte Verweigerung erreichen kann.

Professor H. Lenk, Inhaber des Lehrstuhls für Philosophie an unserer Universität in Karlsruhe, diskutiert in diesem Zusammenhang die Entwicklung von Modellen mit ausgeprägter Kollektivverantwortung. Z.B. könnte diese Kollektivverantwortung von den wissenschaftlichen Verbänden getragen werden. Davon sind wir heute noch weit entfernt.. Es ist auch nicht ganz klar, wie man diese Kollektivverantwortung im Einzelnen wirklich realisieren könnte. Es gibt da die Gegenposition, die sagt, daß es eine Kollektivverantwortung grundsätzlich nicht gibt. Kollektive Verantwortung würde bedeuten, daß keiner Verantwortung hat. Sicher ist auch diese Position so nicht zu halten. Man darf doch annehmen, daß z.B. der Bundestag einige Verantwortung empfindet und auch hat. In dieser Richtung könnte man sicher noch einige Überlegungen anstellen. Aber dies setzt eine Atmosphäre voraus, in der eine Mehrheit der Wissenschaftler sich diesen Fragen stellen will. Diese zu schaffen, gilt es.

Werner Buckel ist Professor der Physik an der Universität Karlsruhe und Vizepräsident der European Physical Society. Den hier abgedruckten (leichtgekürzten) Vortrag hielt Prof. Buckel bei den Münsteraner Friedensgesprächen. 1985.

Rüstung und Wissenschaftsfreiheit in den USA (3)

Rüstung und Wissenschaftsfreiheit in den USA (3)

von Rainer Rilling

Im Oktober 1977 plante das Institute of Electrical and Electronics Engineers (IEEE) ein Symposion, auf dem auch einige Papiere über „Kryptographie“ – die Erstellung von Codes und Verschlüsselungen – vorgetragen werden sollten. Zwei Monate zuvor erhielten die Veranstalter einen mysteriösen Brief eines J. A.Meyer, der sich als IEEE-Mitglied bezeichnete und darauf aufmerksam machte, daß das Symposion die Exportkontrolle Regelungen der International Traffic in Arms Regulation verletzen könne. Daraufhin veranlaßte das IEEE – einer der größten Berufsverbände der USA – die Teilnehmer der geplanten Veranstaltung, ihre Papiere durch ihre Hochschulen oder Unternehmen „clearen“ zu lassen; andernfalls „the authors should refer the Paper to the Office of Munition Control, Department of State, Washington, D.C., for their ruling.“ 36 Dieses Ansinnen brachte offenbar beträchtliche Unruhe hervor. F. Jellinek, der Präsident der Information Theory Group der IEEE erklärte: „I don´t believe a law can say such a thing because it woud make scientists guilty until proven innocent“ 37. Technology Review kommentierte, daß Meyers Brief „a silly attempt at censorship“ 38 sei. Das Symposion fand statt, doch die offene Diskussion beschränkte sich auf mathematische und technische Aspekte der Kryptologie und klammerte die militärischen Anwendungsmöglichkeiten aus.

„Science“ ermittelte, daß der Briefschreiber mit dem Namen Meyer kein simples IEEE-Mitglied war, sondern ein Angestellter der militärischen National Security Agency (NSA), deren Aufgabe es ist, die Kommunikation ausländischer Regierungen aufzufangen und zu entschlüsseln bzw. die geheime Kommunikation der US-Regierung zu sichern. „Good codes are a form of weapon“, erklärte ein bekannter Experte 1980 auf einem Hearing des Repräsentantenhauses, D. Kahn; die Aktivität der NSA richtet sich dabei wesentlich auf die (jetzt noch aufzubrechenden) Codes, die in Entwicklungsländern in Gebrauch sind. 39 Ähnliche Probleme wie das IEEE bekam im selben Monat R. Rivest vom MIT Laboratorium für Computerwissenschaften: die Augustausgabe von „Scientific American“ hatte sein Schema eines nicht zu brechenden Codes publiziert und jedem 100 $ versprochen, der mit seiner Methode eine verschlüsselte Botschaft entziffern könne. Binnen kurzem entstanden heftige juristische Auseinandersetzungen darüber, ob die Publikation und Versendung des Codes einen Verstoß gegen den Arms Control Act (ITAR) darstelle. Eine weitere Ereignissequenz setzte schon 1975 ein. Beamte der NSA schlugen der National Science Foundation (eine mit der DFG vergleichbare Förderorganisation) vor, der NSA das alleinige Recht der Forschungsförderung auf dem Gebiet der Kryptographie zu übertragen. Während die NSF damals noch ablehnte, gestand sie nach weiterem Druck der NSA 1977 zu, jeden Antrag auf Förderung kryptographischer Forschungen der NSA zur Überprüfung („review“) zugänglich zu machen. Die NSF erklärte immerhin, sich Entscheidungen – auch gegen die NSA-Empfehlungen – vorbehalten zu wollen. Eine entsprechend formelle Vereinbarung zwischen der NSF und der NSA wurde im November 1980 getroffen. Damit war das Vordringen des DOD (über die NSA) in die Forschungsförderungspraxis der NSF bzw. das Forschungsfeld Kryptographie jedoch noch keineswegs zu Ende. Am 14.8.1980 erhielt L. Adleman (MIT) eine Mitteilung der NSF, daß Teile seines Forschungsprojekts nicht – wie beantragt – von der NSF finanziert würden. Der Grund dafür: die National Security Agency wollte die Forschung selbst finanzieren und damit kontrollieren. Adleman weigerte sich, seine Forschung von der NSA finanzieren zu lassen. Der Vorfall hatte zwei Konsequenzen:

– Die NSF erklärte, daß jeder Projektvorschlag an die NSF von dazu berechtigten staatlichen Behörden wie der NSA oder der CIA klassifiziert werden könnten, denen sie diese Anträge zur Überprüfung weiterreiche. 40

– Die NSA begann, ein eigenes Programm der Förderung kryptographischer Forschungen aufzubauen, das erstmals im Haushalt 1982 des DOD auftauchte.

Das deutlichste Zeichen der „Besorgnis“ der NSA über die sich ausbreitende Forschung in der Kryptographie, die nicht unter ihrer Kontrolle stand, war ihre Entscheidung im Oktober 1978, aus einer 25 Jahre langen Politik der Anonymität und Geheimhaltung herauszutreten. Die NSA war durch eine Top Secret Verordnung des Präsidenten Truman am 24.10.1952 geschaffen worden (diese Direktive ist heute noch geheim). Bis 1962 wurde die NSA nicht einmal im Handbuch der US-Regierung aufgeführt; und erst 1975 trat erstmals ein Direktor der NSA auf einem Kongreß Hearing öffentlich auf. Die NSA hatte Anfang der 80er Jahre ein Budget von 1,3 Mrd. $ und beschäftigte als eine der größten Regierungsbehörden allein in ihrem Hauptquartier 20.000 Mitarbeiter.

Im Oktober 1978 hielt der NSA-Direktor Inman eine Rede, die allgemein als Versuch interpretiert wurde, die staatlichen wie privaten Forschungsarbeiten auf dem Gebiet der Kryptographie wieder voll unter NSA-Kontrolle zu bekommen. Inman betonte die Gefahr, daß ausländische Regierungen in „amerikanische Codes“ einbrechen könnten. Unger hat in „Technology Review“ auf einen Grund für die NSA-Aktivitäten verwiesen, der von der Behörde selbst kaum genannt wird: „that private development of unbreakable codes would make it more difficult for the government to carry out surveillance of American citizens.“ 41

Im Mai 1979 beschloß auf Druck der NSA das American Council on Education, die „Public Cryptography Study Group“ vorwiegend aus Universitäts- und NSA-Vertretern zu gründen, die einen Kompromißvorschlag erarbeiten sollte. Wenige unter den Hochschulvertretern hatten jemals mit Kryptographie zu tun; andererseits waren einige sogar NSA-Berater. Auf ihrem zweiten Treffen im Mai 1980 beschloß die Studiengruppe auf Vorschlag eines NSA-Vertreters als Arbeitsgrundlage, „that we will consider a system of prier restraint concerning the publication of articies and other materials related to cryptagraphy.“ 42 Die Untersuchung Secrecy in science: a contraction in terms?“ in C&EN vom April 1982 kommentierte diesen Vorgang mit dem Satz: „This was an unprecedented concession by private citizens not at war.“ 43

Damit hatte die National Security Agency des DOD ein Stichwort lanciert, das einen vierjährigen, seit 1980 andauernden Kampf um die Zensurpraxis des DOD einleitete. Im Oktober 1980 billigte die Gruppe ein großenteils vom NSA-Vertreter geschriebenes Papier, das ein „freiwilliges' System der Publikationszensur vorschlug. Am 7.2.1981 sprach die Gruppe dann auch formell eine entsprechende Empfehlung zur Einführung einer Vorzensur aus. Die PCSG schlug vor, daß Manuskripte auf dem Gebiet der Kryptographie freiwillig vor der Veröffentlichung gleichzeitig an die NSA wie an die jeweiligen wissenschaftlichen Zeitschriften geschickt werden sollten. Die Manuskripte würden von der NSA überprüft und – falls es ihr notwendig erschien – mit Veränderungsvorschlägen zurückgesandt. Falls der Autor nicht einverstanden wäre, könnte er sich an ein neues Gremium wenden, das aus zwei Vertretern der NSA und vier weiteren, vom Wissenschaftsberater des Präsidenten ernannten Personen zusammengesetzt sei. Der gesamte Vorgang sei freiwillig. Eine 1982 publizierte Analyse kommentierte: „The Group also felt that a voluntary arrangement would be more likely to gain the cooperation of researchers.“ 44 Das Versprechen der Freiwilligkeit ermöglichte tatsächlich einen problemlosen Einstieg in ein mittlerweile entstandenes Zensursystem, bei dem von Freiwilligkeit nicht mehr die Rede sein kann. Erleichtert wurde dieser Vorstoß allerdings auch dadurch, daß die NSA/NSF-Praxis von den Hochschulen sei's akzeptiert, sei's vorweggenommen wurde. Bis Anfang 1984 wurden nach Angaben der NSA 200 Papiere vor der Veröffentlichung eingereicht und von der NSA überprüft; bei 9 Papieren wurden Veränderungen vorgeschlagen, worauf 6 modifiziert und 3 zurückgezogen wurden. Konflikte sollen ausgeblieben sein – doch an der Prozedur nahmen immerhin nicht alle Wissenschaftler teil.

Vertragsforschung und Geheimhaltung

Einmal in einer Behörde des Pentagon durchgesetzt, macht sich das DOD rasch daran, den hier „erfolgreich“ realisierten Modus der Zensur wissenschaftlicher Artikel auch in anderen Bereichen durchzusetzen – ein Modus wohlgemerkt, den etwa der Herausgeber von „Science“ W. Carey als „even in wartime … an extreme one“ 45 charakterisiert.

Der erste spektakuläre Vorstoß kam vom früheren NSA-Chef Admiral Bobby Ray Inman, der mittlerweile als CIA-Direktor in Brot stand. In einer Rede Ende 1981 vor der renommierten American Association for the Advancement of Science – der wichtigsten wissenschaftlichen Gesellschaft der USA – macht Inman einen breit publizierten Vorschlag: „A potential balance between national security and science may lie in an agreement to include in the peer review process (prior to the Start for research and Prior to publication) the question of potential harm to the nation46. Kryptographie sei nur eines von zahlreichen wissenschaftlichen Gebieten, das einer solchen Überprüfung aus Gründen der nationalen Sicherheit offen stehen müsse: „Examples (!) include Computer Hardware and Software, other electronic gear and techniques, lasers, crop projections, and manufacturing procedures.“ 47 Vorsichtshalber stellte Inman auch klar, daß die Gründe für Geheimhaltung oft noch geheimer seien als die Geheimzuhaltenden Informationen selbst: „Specified details about why Information must be protected are, more often than not, even more sensitive than the basic technical information itself.48 Inmans Forderung wurde bereits tags darauf vom obersten Leitungsgremium der AAAS eindeutig abgelehnt. Die AAAS „opposes governmental restrictions on the dissemination, exchange, or availability of unclassihed knowledgc.“ Der Vorsitzende des AAAS-Komitees für Freiheit der Wissenschaft und Verantwortung sah in Inmans Vorschlägen den Weg in eine „scientific censorship“. 49 P. J. Denning, Präsident der Association for Computing Machinery, erklärte kurz und bündig: „The required System is clearly more compatible with a dictatorship than a democracy.“ 50 Eine ähnlich großräumige Liste „sensitiver“, also zu kontrollierender Disziplinen bzw. Gebiete zählte kurze Zeit nach Inmans Rede Denysyk vom Commerce Department auf: zu den neun allgemeinen Kategorien militärisch kritischer, da für zivile wie militärische Zwecke verwendbarer („dual-purpose“) Technologien rechnete er kurzweg die gesamte Genforschung, Laser, Computer, Mikroelektronik und die Luftfahrtforschung. 51 Wenig später unterstützte der Wissenschaftsberater Reagans, George A. Keyworth, den Vorschlag Inmans; CIA-Direktor W. J. Casey erklärte, der wissenschaftliche Austausch mit der UdSSR sei „a big hole“. 52 In einer Studie für die Defense Advanced Research Projects Agency des DOD mit dem Titel „Selling the Russians the Rope?“ forderte ein Autor der Rand-Corporation eine Kontrolle des „normalen“ wissenschaftlichen Austausches mit der UdSSR. 53

Die in dieser Phase entwickelten Legitimationsmuster zur Durchsetzung einer Forschungszensur lassen sich im wesentlichen in vier Behauptungen zusammenfassen:

These I: Die USA seien im Begriff, ihre militärtechnologische Überlegenheit zu verlieren; ohne den Fluß amerikanischer Technologie in die UdSSR sei jedoch dieser ein solches Aufholen nicht möglich gewesen; die Prämisse der Technologiepolitik müsse aber „das sicherheitspolitische Ziel der Aufrechterhaltung der Technologielacke zwischen Ost und West sein.“ 54 (Mittlerweile ist das DOD von dieser These abgerückt; bei der Präsentation des letzten Forschungsbudgets des DOD behauptete DeLauer eine zunehmende militärtechnologische Überlegenheit der USA.)

These II: Die Verwissenschaftlichung der Kriegsführung habe eine neue Entwicklungsstufe erreicht – Militärtechnik und „High Tech“ würden immer mehr Synonyme; daher sei ein ausgreifender Zugriff der militärischen Seite auf Wissenschaft und Forschung notwendig; die Entwicklungszeiten verkürzten sich, die Spanne zwischen Grundlagenforschung und militärischer Anwendung schrumpfe; die Grundlagenforschung etwa sei ganz anders militärisch relevant als noch vor 2 oder 3 Jahrzehnten.

These III: Die militärischen und zivilen Verwendungsmöglichkeiten der neuen Technologien überlappten sich immer mehr; die neue Technik sei multifunktional („dual-use“); daher würden auch bislang zivile FuE sowie Technikbereiche militärisch relevant. Teilweise liege sogar die Initiative der Hochtechnologieentwicklung ausschließlich im zivilen Bereich. 55 Damit hängt zusammen, daß die bisherigen Kontrollinstrumentarien nur auf unmittelbar militärisch nutzbare Güter oder Informationen zielten; notwendig sei aber auch die Kontrolle der indirekt militärisch nutzbaren Informationen.

These IV: Die Entspannung der 70er Jahre habe ein neues „Fenster der Verwundbarkeit geschaffen und der UdSSR zahlreiche Zugangsmöglichkeiten zu militärisch relevanter Technologie des Westens verschafft. Die USA seien zum „Arsenal des Kommunismus 56 geworden. Über 90 % des später von der UdSSR militärisch genutzten Technologietransfers komme aus „offenen Quellen; der Wissenschaftsaustausch spiele dabei eine Schlüsselrolle. Der Assistant Secretary des Handelsministeriums L. J. Brady faßte die Position der Administration in der berühmten „Staubsaugerthese“ zusammen: „Operating out of embassies, consulates, and so-called „business Delegations“, KGB operatives have blanketed the developed capitalist countries with a network of operates like a gigantic vacuum cleaner, sucking up formulas, Patents, blueprints and knowhow with frightening precision.“ 57 Der Überzeugung wesentlicher Teile der akademischen Community von dieser Position – drapiert mit ständigen Hinweisen auf Afghanistan und die Lage der Menschenrechte in der UdSSR – dienten 1980-1982 Hunderte von Interviews, Statements, Papiere, Gutachten etc. der Administration und konservativer think-tanks.

Nachdem schon im April 1981 vor dem Committee on Armed Services des Repräsentantenhauses ein Hearing über die Fähigkeit der akademischen Community, den „Bedürfnissen der Verteidigung“ nachzukommen stattgefunden hatte 58, setzte der Under Secretary of Defense for Research and Engineering R. DeLauer im Oktober 1981 eine Arbeitsgruppe des DSB „on University Responsiveness to National Security Requirements“ ein, die im Januar 1982 ihren Bericht veröffentlichte.

Der über 70seitige Text formulierte, was man ein unpassendes, kohärentes Maximalprogramm des Department of Defense zur Usurpation der Macht im amerikanischen Wissenschaftssystem nennen könnten. 59

Der Bericht behandelt die militärischen Aspekte der Ausbildungs-, Forschungs- und Beratungsfunktion der Hochschulen, ihre Ausstattung und die Möglichkeiten der Einschränkung der Kommunikations-, insbesondere Publikationsfreiheit. Seit Vietnam hatten sich zahlreiche Universitäten in ihren Statuten verpflichtet, keine geheime militärische Forschung zuzulassen. Das DOD sucht daher nach einem Weg, jenseits einer formalen Klassifizierung eine faktische Geheimhaltung durchzusetzen.

Dazu wurde die These von der unterschiedlichen militärischen Relevanz der verschiedenen Forschungsvorhaben entwickelt, die zu einer simplen Dreiteilung führte: auf der einen Seite die ausschließlich oder vorwiegend zivile Forschung, auf der anderen Seite die eindeutig militärische (und daher zu klassifizierendes Forschung; dazwischen ein mehr oder weniger weites Feld „grauer“ oder „sensitiver“ oder „militärisch kritischer“ oder „dual-purpose“ Forschung, deren Verbreitung beschränkt werden müsse. Der DSB-Report versucht nun, den Umfang dieser „sensitiven“ Forschung möglichst weit zu ziehen: „The university research that DOD would consider militarily critical is for the most part DOD-funded … Other federally-funded research (NASA, NSF, DoE, HHS) could have military potential but the Proportion of research in this category would be much smaller than that which is funded by DOD. Non-federally-funded university research with military applicability is an even smaller component of university research.“ Eine „pre-publication review“ durch das DOD sollte – bis auf einige Bereiche der vom DOD finanzierten Hochschulforschung, deren Anteil an der staatlichen Forschungsförderung ja seit Ende der 70er Jahre kontinuierlich wächst, durchgängig vorgenommen werden. „Judgment as to what is militarily critical remain with DOD.“

Dieselbe Beurteilungskompetenz beansprucht das DOD auch für alle anderen, von ihm nicht Beförderten Forschungsbereiche, die von einem Vertrauensmann des DOD auf ihre mögliche militärische Relevanz überprüft werden sollten. Für diese Bereiche sollte auch im Bereich der Grundlagenforschung ein Überprüfungsmechanismus eingerichtet werden, wie er sich in der Kryptographie „bewährt“ hatte. Die Installierung eines solchen Zensurmechanismus hätte sogar noch über die staatliche Vertragsforschung hinaus Bedeutung: „Even in areas of research where there is no formal government contract relationship, there could be an education through osmosis.“ 60 Kurz darauf später begann der Versuch des DOD, dieses Konzept durchzusetzen.

Mit der Executive Order 12356 vom April 1982 verschärfte die Reagan-Administration ihre Klassifizierungspolitik: zukünftig seien wissenschaftliche Informationen „im Zweifel“ nur geheim zu erklären. Die Regierung dehnte zugleich die Anzahl der Kategorien potentiell klassifizierbarer Informationen aus und ermöglichte eine erneute Klassifizierung zuvor freigegebener Informationen. 61 Am 21. September 1982 wurden alle Abteilungen der DOD verpflichtet, beim Abschluß neuer oder bei der Verlängerung alter Forschungsverträge in der Grundlagenforschung eine Klausel aufzunehmen, die den Auftragnehmer verpflichtet, Papiere oder Berichte gleichzeitig zur Publikation und zur Begutachtung durch den jeweiligen Programmoffizier des DOD einzureichen. Die Begutachtung („review“) sei nicht bindend. Diese für „Friedenszeiten“ einmalige Maßnahme wurde begleitet von der Veröffentlichung einer neuen Verordnung zur Klassifikation auch wissenschaftlicher Informationen und der Intervention in zahlreichen Kongresse unter Hinweis auf die Exportkontrollbestimmungen.

Mit diesen Aktivitäten versuchte die Reaganadministration zugleich die Veröffentlichung des „Corson-Regarts“ zu unterlaufen, der von der NAS im Herbst 1982 fertiggestellt worden war und sich als autoritative Gegenposition der akademischen Wissenschaftselite darstellte. Der Bericht kritisiert aus der Sicht des liberalen Wissenschaftsestablishments die Begründungen der Administration für die Zensorpolitik. Er widersprach auch aufgrund den Autoren zugänglich gemachten geheimdienstlichen Informationen der zentralen These, daß es einen militärisch relevanten Transfer in die USA gebe: „Isolated occurrences of significant technology losses are fairly wen documented, but none of these documented cases has involved open scientific communication. Evidence on the ability of the Soviet military to absorb Western technology is incomplete, while evidence on the military significance of identified transfer is largely fragmentary.“ 62 Es habe nur einen oder zwei (!) Vorfälle gegeben, wo ausländische Besucher eindeutig in illegale Aktivitäten verstrickt waren – und nicht einmal diese Fälle hätten zu einem militärischen Nutzen für die UdSSR geführt. „Security through secrecy zu erreichen sei langfristig nicht durchsetzbar, ökonomisch schädlich und untergrabe das Wissenschaftsethos einer „offenen Gesellschaft“. Durch eine Politik der „security by accomplishment könne den USA viel eher „a differential advantage over its military adversaries“ garantiert werden.63

Anders als zahlreiche Beschlüsse verschiedener wissenschaftlicher Gesellschaften, Institutionen und Publikationen im Verlaufe des Jahres 1982 akzeptiert der Report jedoch Schlüsselargumentationen und -zielstellungen des Pentagon. Volle Übereinstimmung besteht in der Zielsetzung, durch den breiten Einsatz von überlegener Wissenschaft und Forschung („superior achievements“) militärische Überlegenheit zu erreichen. In Abweichung zur Praxis zahlreicher Hochschulen stellt er sich auf die Position des DOD, daß an den Hochschulen die militärische Forschung und die damit verbundenen Geheimhaltungserfordernisse legitim seien. Bedeutsamer noch, daß der Corson-Report sich mit der zentralen Argumentationsformel des DOD einverstanden erklärt, daß es eine militärisch „sensitive“ Hochschulforschung gebe, die einer Zensurpraxis (durch eine nicht bindende prepublication review) unterworfen werden müsse; der Bericht versucht nur, den Umfang dieser „grauen“ Forschung zu begrenzen. Auch akzeptiert der Bericht, daß der Zugang ausländischer Wissenschaftler zu bestimmten Forschungsprojekten eingeschränkt werden müsse und die Universitäten sogar die Pflicht hätten, dem DOD ausländische Wissenschaftler zu melden, die an solchen Projekten teilnehmen wollen. Anders gesagt: die Hochschulen sollten auch ein Auge darauf haben, ob die eingeladenen Wissenschaftler z. B. aus der UdSSR keine Spione seien: „The US scientific community in academia and elsewhere perceive activities that threaten national security, it is appropriate that they voluntarily inform government officials. 64 Endlich schließt der Bericht auch nicht aus, daß ein Überwachungssystem nach dem Modell der Kryptographie zukünftig auch in anderen Bereichen angewandt werden könne. Er fordert sogar eine bessere personelle Absicherung der Befähigung der US-Geheimdienste zur Technologiespionage und empfiehlt sogar, „that the intelligence and university communities establish an ongoing effort to raise awareness in the scientific community regarding the Problems and costs of technological lose.“ 65 Hier konnte von einer Gegenposition kaum noch die Rede sein. Tatsächlich zeigte die weitere Entwicklung seit Anfang 1983, daß es der liberalen, zivilindustriellen Fraktion der amerikanischen Wissenschaftselite nicht gelang, in die Offensive zu kommen.

Die Politik des militärisch-industriellen Wissenschaftskomplexes seit Anfang 1983 hatte drei Dimensionen:

a.) Aufhau eines Potentials an Konzeptions- und Strategiebildung, um die Diskursebene um militärische Wissenschaftssteuerung kontrollieren und damit zugleich den besonderen akademischen Modus des „Umgehens“ mit Politik in der Hand halten zu können. Eine 1981 begonnene DOD-interne Neubewertung der Politik des Technologietransfers wurde am 29.12.1982 begleitet von der Bildung eines „International Technology Transfer Panel“ unter dem „Hardliner“ R. N. Perle, dem es zeitweise gelang, die konzeptionelle Orientierung des DOD zu bestimmen. Ebenfalls im Dezember 1982 leitete die National Security Study Directive 14-82 (jetzt: NSSD 1-83) die Erarbeitung einer Regierungsstudie ein, an der alle betroffenen Ministerien beteiligt waren und die der Wissenschaftsöffentlichkeit zugleich als Antwort „auf den Corson-Report“ avisiert wurde. Es gelang, die Aufgabe der Koordinierung vom Office of Science and Technology Policy des Weißen Hauses auf das National Security Council zu übertragen. Die Fertigstellung des Berichts wurde nahezu 1 1/2 Jahre verzögert; der 1984 wohl fertiggestellte Bericht wurde … klassifiziert. Damit gelang es der Administration, den Konflikt zu entpolitisieren und vorläufig stillzulegen.

b.) Charakteristisch für die zweite Handlungsebene ist der Versuch, durch Diskurseinbindung und (scheinbares) Entgegenkommen auf anderen Politikfeldern Gegenpositionen aufzulösen. Auf Anregung des DSB und der Association of American Universities wurde im März 1982 ein DOD-University Forum aus 8 Universitätspräsidenten und 10 Vertretern des DOD gegründet. Diese Zusammenarbeit, schrieb „Physics Today“, „is an important part of a program to increase the contributions of universities to defense-related research.“ 66 Etwas direkter und in den Worten eines DOD-Angehörigen: der Zweck sei „calming the restless natives“ 67 – die Eingeborenen waren die Wissenschaftler, versteht sich. DeLauer vom DOD brüstete sich denn auch bei den Hearings zum Budget 1984, daß diese seine Politik erfolgreich gewesen sei: „ … when I came in the building is when we started this university forum. The university People of my office, were in and out, upset and everything, particularly on the whole issue of technology transfer – the whole question of classified research on the campus and the need for prior review of technical Papers before publishing. All of these issues. It was for this reason that we took the Initiative on the forum, organize it, got the People, and in a year and a half we are not arguing about the fact they need more. „Why can´t we have more?“ It isn´t a question of not wanting to have anything to do with defence research. Part of this change has to do with the recession out there, and it is surprising how many converts that makes. We have had a lot of success in getting people that in the past were very reluctant to work with us.“ 68 Bei der Inszenierung eines flexiblen, wissenschaftsfreundlichen Entgegenkommens konzentrierten sich die Forschungspolitiker des DOD auf ein Sonderprogramm zur Geräteausstattung und – in erster Linie – auf die Grundlagenforschung. 69 So stilisierte der Wissenschaftsberater Keyworth auf einer Beratung des AAAS im Februar 1984 „a renewed – and considerably strengthened – commitment to federal support for basic research“ zum „most important element“ der Forschungspolitik der Reagan-Administration 70 – und tatsächlich stiegen die Ausgaben für Grundlagenforschung seit Reagans Amtsantritt real um 20 %. Weder vom Volumen noch von der Zuwachsrate her ist diese Entwicklung jedoch das „wichtigste Element“ der Forschungspolitik des DOD; gewichtiger ist die reale Verdopplung der Ausgaben für militärische Forschung in nur 4 Jahren. Zudem kommt ein großer Teil des Mittelzuwachses für Grundlagenforschung aus dem DOD-Haushalt bzw. geht auf das Konto der Grundlagenforschung innerhalb der militärischen Nuklearforschung, die vom Energieministerium finanziert wird. Der auf dem ersten Blick korrekte Hinweis auf den Bedeutungszuwachs der Grundlagenforschung verdeckt, daß es hier auch um eine rasche Militarisierung der Grundlagenforschung geht, deren Förderung keineswegs als Moment allgemeiner Wissenschaftsförderung interpretiert werden kann: „DOD targets research funds to those areas of basic research with potential für military application“ heißt es in der DSB-Studie. 71 Mit der vom DOD ja selbst durchgesetzten Verringerung der Mittel für die zivile Forschung kann es sich nunmehr leicht als um die Entwicklung gerade der universitären Forschung besorgten, gleichsam mäzenatische Institution darstellen. Der Erfolg ist so offensichtlich, daß ein Editorial von „Nature“ am 23. Februar 1984 von der „great forgotten issue of US science policy“ sprach und forderte, daß es Zeit „for more vocal Opposition“ sei.

c.) Das dritte und wichtigste Element der DOD-Forschungspolitik seit Anfang 1983 ist jedoch die Intensivierung des Versuchs, sein Kontrollpotential gegenüber der Forschung auszubauen. Der Umfang der klassifizierten Forschung in den USA wurde Anfang 1984 erstmals ansatzweise bekannt. 72

Distribution restrictions on DOD reports by
Source, 1979 through 1983
Source Total Classified (%) Limited (%) Public (%)
DOD laboratories 61,694 12 44 44
Universities 23,119 1* 4 95
Industry 32,806 21 35 44
Nonprofit 5,609 17 15 68
Total 123,228 13 33 54
*General at research Institutes associated
with universities.

Diese vom DOD selbst stammende Aufstellung läßt leider keine Entwicklungstendenzen erkennen. Sie macht aber deutlich, daß zumindest im Durchschnitt des erfaßten Zeitraums die weitaus schwerwiegendenden Beschneidungen der Publikationsfreiheit in den DOD-eigenen Laboratorien bzw. der Rüstungsindustrie geschahen. Nur jeder zweite vom DOD finanzierte und in Auftrag gegebene Report wurde publiziert; da angenommen werden kann, daß der Geheimhaltungsgrad in der Rüstungsindustrie sowie im Bereich der militärischen Raumforschung etwas niedriger, im Bereich der Nuklearforschung etwas höher liegt – und der Anteil des Gesamtbudgets Rüstungsforschung an den nationalen FuE-Aufwendungen der USA bei 35-40 % liegt 73, wird man zukünftig davon ausgehen müssen, daß mindestens 1/5 des größten Forschungspotentials der „freien“ Welt unter Bedingungen der faktischen Geheimhaltung realisiert wird. Mit der DOD-Direktive 2040.2 vom 29.12.1983 setzt sich die Konzeption des „hard-liners“ Perle zur Vertragspolitik durch 74, welche drei Kontrollebenen einführte:

Review policy for research Papers produced by DOD contractors

Budget items Nonsensitive research Sensitive research
Basic research* Simultaneous submittal to contract officer and to publisher. DOD has no
right to require publication
Manuscript must be submitted to contract officer 60 days prior to
submittal to publisher. Researcher retains option of whether or not to publish.
Exploratory research and advanced technological development** Same rules as for basic research Manuscripts must be submitted to contract officer 90 days prior to
submittal to publisher. DOD retains the right either to recqire changes before allowing
publications or to block publication outright
DOD budget category 6.1.;
**DOD budget categories 6.2. and 6.3.

Dieses Modell stieß auf ebenso scharfe wie rasche Kritik von selten der liberalen, zivilindustriellen Wissenschaftsöffentlichkeit. Die Administration, so „Nature“, „appears to want to extend its control over scientific communication as far as possible“; die avisierten Restriktionen seien „bei weitem strikter“ als jene, die der Kompromißvorschlag des Corson-Reports vorgesehen hatte. 75

Im April lehnten die Präsidenten von Stanford, Caltech und MIT (deren Hochschulen unter den ersten zehn Empfängern von Forschungsgeldern des DOD sind), in einem Schreiben an DeLauer und Keyworth das Modell entschieden ab 76. Wenige Tage darauf machte DeLauer eine Kehrtwendung und erklärte das Konzept einer militärisch „sensitiven“ Wissenschaft für nicht durchsetzbar. Forschungsaufträge des DOD an Hochschulen bzw. auf dem Gebiet der Grundlagenforschung sollten klassifiziert sein oder nicht – und dann auch keiner Zensur unterliegen. 77 Angenommen freilich sei die „STAR WAR“-Grundlagenforschung an den Hochschulen und jegliche andere Forschung und Entwicklung. Die Reaktion auf dieses Manöver ist verhalten. „In a worst case scenario“, stellte „Physics Today“ fest, „this policy may actually enable the Pentagon to classify more rather than less research at universities and government laboratories in its cold war to prevent scientific ideas and advanced technology with defense implications from falling into hands in the Soviet bloc.“78

Die Auseinandersetzung ist noch lange nicht zu Ende.

Anmerkungen

36 Peterson, S. 3 Zurück

37 Ebd. Zurück

38 Ebd. Zurück

39 „The Government's Classification of Private Ideas“, Hearings before a Subcommittee of the Committee on Government Operations, House, 96th Congr.,2nd Sess., Washington 1981, S. 414 Zurück

40 Science v. 28.10. 1980 Zurück

41 Technology Review 2/1982, S. 33 Zurück

42 Peterson, S. 6 Zurück

43 C&EN v. 5.4. 1982, S. 14 Zurück

44 Corson-Report, S. 124 Zurück

45 Science v. 5.2. 1982, S. 635 Zurück

46 Bulletin 9/1982, S. 34 Zurück

47 Bulletin 3/1982, S. 3 Zurück

48 Eb d., S. 10 Zurück

49 Science News v. 16.1. 1982, S. 35 Zurück

50 Bulletin 9/1982, S. 6 Zurück

51 C&EN v. s.4. 1982, S. 17 Zurück

52 Ebd.,S. 10 Zurück

53 Vgl. Commentary 4/1979, S. 37ff.;Orbis 3/1978, S. 540 Zurück

54 Wehrkunde 10/ 1978, S. 508 Zurück

55 Vgl. International Security 1/1977, S. 25ff.; 3/1980, S. 132ff. Zurück

56 Industrial Research & Development 7/1980, S. 11 ff. Zurück

57 Corson-Report, S. 14 Zurück

58 Vgl. Hearings an Military Posture and H. R. 2970, DOD Authorization for Appropriations for Fiscal Year 1982 before the Committee an Armed Services, House, 97th Congr., 1st Sess, Pt. 4 R&D, Washington 1981, S. 887ff. Zurück

59 Vgl. Anm. 14 Zurück

60 Ebd., S. 308ff. Zurück

61 Science v. 4.5. 1984, S. 463 Zurück

62 Corson-Report, S. 14 Zurück

63 Ebd., S. 47 Zurück

64 Ebd., S. 62; auf einer Anhörung vor dem Subcommitteee on Science, Research and Technology des Repräsentantenhauses am 24.5.1984 schlug Date Corson vor, die Klausel des Ausschlusses von ausländischen Staatsangehörigen vom Zugang zu „sensitiven Projekten“ auf „gekennzeichnete ausländische Staatsangehörige“ („designated foreign nationals“), also vor allem auf Angehörige sozialistischer Länder, zu beschränken. Auch würden die Universitäten es begrüßen, wenn staatliche Stellen mit den Mitteln der Visavergabe den Zugang unerwünschter ausländischer Staatsangehöriger kontrollieren und ihnen dann die Last der Entscheidung bei der Zulassung zur Universität abnehmen würden…, vgl. W. Hein, Beschränkungen des internationalen Technologietransfers durch die USA – Auswirkungen auf die Innovationsentscheidungen deutscher Unternehmen. Studie im Auf trag des BMFT, Washington, Juni 1984, S. 78. Zurück

65 Ebd., S. 59 Zurück

66 Physics Today 6/1982, S. 51 Zurück

67 Physics Today 6/1983, S. 43 Zurück

68 Vgl. Hearings on H.R. 2287, DOD Authorization of Appropriations for Fiscal Year 1984 and Oversight of previously authorized programs before the Committee an Armed Services, House of Representatives 98th Corgr., I st Sess., Pt. s, R&D, Washington 1983, S. 1261 f. Zurück

69 Vgl. R. Rilling, Die Aufrüstung der Köpfe. Neue Entwicklungstendenzen in der militärischen Forschung, MS (Marburg) 1984, S. 7ff.; Informationsdienst Wissenschaft und Frieden 3/1984, S. Iff. Zurück

70 Science v.6.4. 1984, S. 9 Zurück

71 DSB-Report 1982, S. 306 Zurück

72 Science 4.5.1984 Zurück

73 Vgl. Informationsdienst Wissenschaft und Frieden 3/1984 74 Science v. 4.5. 1984, S. 463 Zurück

75 Nature v.23.2. 1984 Zurück

76 Physics Today 7/1984, S. 58 Zurück

77 Vgl. Nature v. 20.9. 1984, S. 195 u. 27.9. 1984, S. 288, Science v.5.10. 1984, S. 9 Zurück

78 Physics Today 7/1984, S. 58. Auch Hein vermerkt in seiner Studie, es sei nicht auszuschließen, „daß das DOD das Konzept des besonders kontrollbedürftigen sensitiven Technologiebereichs fallen läßt und statt dessen solche Projekte häufigerdhals geheim einstufen würde.“ (Stein, Beschränkungen, S. 78) Zurück

Dr. Rainer Rilling ist Privatdozent für Soziologie und Geschäftsführer des BdWi

Rüstung und Wissenschaftsfreiheit in den USA (2)

Rüstung und Wissenschaftsfreiheit in den USA (2)

von Rainer Rilling

Am Jahrestag des Mauerbaus – dem 13. August 1984 forderte die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ in ihrem Wirtschaftskommentar nicht etwa dazu auf, den „sowjetischen Expansionismus“ abzuwehren. Die Polemik ging just in die Gegenrichtung: „Den Technologie-Protektionismus abwehren“ und die USA dazu bewegen, „Maß zu halten in den extraterritorialen Ansprüchen“. Jene „neue Form von Protektionismus“ der USA gelte es zu verhindern, die den Import von amerikanischer Spitzentechnologie in die BRD zunehmend erschwere und bereits dazu geführt habe, daß bei Fachkongressen in Europa „amerikanische Wissenschaftler nicht mehr so bereitwillig wie früher als Referenten mitwirken.“1

Damit gab die „FAZ“ dem Bundesministerium für Forschung und Technologie Schützenhilfe, das mit Hilfe einer Auftragsstudie über die „Beschränkung des internationalen Technologietransfers durch die USA“ die amerikanische Exportkontrollpolitik scharf kritisiert hatte. 1983 hatte die Geheimhaltungshysterie der USA erstmals auch auf die bundesdeutsche Wissenschaft übergegriffen, als BMFT und Berliner Senat zusagen mußten, einen aus den USA importierten Großrechner zu überwachen, der in einem staatlichen Institut der Grundlagenforschung in Westberlin aufgestellt werden sollte. Damit wurden erstmals auch Wissenschaftler der BRD mit dem Versuch vor allem des amerikanischen Verteidigungsministeriums konfrontiert, mit Hilfe der Instrumentarien der Exportkontrollpolitik den Wissenschaftsprozeß in seinem Sinn zu beeinflussen. Neben den Bestimmungen zur Geheimhaltung von Patenten, mehreren Regierungsverordnungen zur Klassifikation von Informationen und dem „born classified“ Konzept der Atombehörden, die im ersten Teil dieses Aufsatzes behandelt wurden und eher traditionelle, schon in den 50er Jahren entstandene (unter Reagan allerdings stark ausgeweitete) Instrumente zur Sekretierung und Wissenschaftskontrolle darstellen, setzten schon seit Mitte der 70er Jahre vielfältige Versuche ein, weitere eingreifende Instrumente zu entwickeln. Die „Kontrolle des Exports wissenschaftlicher Informationen“ gehört dazu.

Exportkontrollen – Instrumente und Grundlagen

Zwanzig Jahre lang war der Export Control Act von 1949, geschaffen als Instrument des kalten Wirtschaftskrieges gegen die Sowjetunion, die legale Grundlage der Exportkontrollpolitik der USA. Er wurde 1969 bzw. 1979 durch den Export Administration Act (EEA) abgelöst, der gegenwärtig noch in Kraft ist; realisiert wird er durch die Export Administration Regulations (EAR). Das zweite wichtige Kontrollinstrument wurde 1954 in Form der International Traffic in Arms Regulations (ITAR) geschaffen, deren augenblickliche Grundlage der Arms Export Control Act (AEA) von 1976 ist und die den Export militärischer Produkte regeln (die gegenwärtig gültige Fassung wurde im Federal Register vom 19.12.1980 publiziert). Beide Gesetze verbieten jeglichen Export von Produkten bzw. auch Informationen aus den USA, es sei denn, es liegt eine entsprechende Genehmigung (Lizenz) vor. Die EAR betreffen den Export von „dual-use“ Gütern, also von Waren und Informationen mit ziviler wie militärischer Bedeutung; zuständig ist das Handelsministerium, das für die Bewertung der Anträge von Unternehmen auf Erteilung einer Exportlizenz die sog. Government´s Commodity Conrol List zugrundelegt. Die Verantwortung für ITAR liegt dagegen beim Außenministerium. Auf internationaler Ebene agiert das COCOM (Koordinationskommittee für nationale Exportkontrollen). DOD und Geheimdienste spielen auf jeder Ebene eine wesentliche Rolle: Anträge an das Handelsministerium für Exporte in sozialistische Länder werden von diesem automatisch an das DOD, manchmal auch das Außenministerium oder die Geheimdienste weitergereicht. Deren Evaluierung liegt die MCTL-Liste zugrunde, eventuell noch eine Expertise der Rand-Coporation; dann kommt der entsprechende Antrag vor COCOM. Zum Komplex der Exportkontrollbestimmungen gehört nicht zuletzt auch der „Trading with the Enemy Act“ von 1917 (!), der seit 1963 etwa gegen das sozialistische Cuba angewandt wird und auch wissenschaftliches Material einschließt. Unter Bezug auf dieses Gesetz blockierte zum Beispiel im Juli 1981 das amerikanische Schatzamt die Lieferung von 30000 Exemplaren kubanischer Zeitschriften, die an Bürger der USA adressiert waren, eine später wohl aufgehobene Maßnahme 2. Später erlassene Verordnungen haben bekanntlich den Besuch Cubas durch amerikanische Wissenschaftler nahezu unmöglich gemacht.

Die Anwendung der EAR

Noch 1970 hatte eine Beraterguppe des DOD-Defense Science Board, welcher der frühere Präsident der National Academy of Science F. Seitz vorsaß und der u. a. auch E. Teller angehörte, erklärt, rund 90 % aller klassifizierten Informationen sollten deklassifiziert werden, Zwischen 1972 und 1974 wurden allein 11 bilaterale Abkommen der Wissenschafts- und Technikkooperation zwischen den USA und der UdSSR geschlossen; Vereinbarungen zwischen den Akademien wurden erneuert. Auch auf Drängen von Unternehmen wie Sperry Univac oder Controldata waren die Exportkontrollbestimmungen gegenüber den sozialistischen Ländern gelockert worden. 1975/76 jedoch setzte nicht nur eine sich schnell beschleunigende Steigerung der Rüstungsausgaben ein, sondern auch ein langwirkender Vorstoß „aus verteidigungs- und energietechnischen Kreisen 3 für eine Neuregelung des Technologieexports. Ein stark von der Rüstungsindustrie beeinflußter – z.B. kam der Vorsitzende F. Bucy von Texas Instruments 4 –Bericht des Defense Science Board des DOD (Bucy Report) leitete 1976 die Revision ein. Bislang hatten die Exportkontrollbestimmungen keine Rolle im internationalen Wissenschaftsaustausch gespielt. Es ging um materielle Produkte. Der Bucy Report nun schlug vor, im System der Exportkontrolle künftig das Augenmerk nicht mehr nur auf die Kontrolle von Waren, sondern auch von Technologien („technical data“) zu richten. Diese Position wurde vom DOD 1977 akzeptiert. Der Kongreß übernahm sie und machte sie 1979 zum Bestandteil des EAA. Er verpflichtete zugleich das DOD, eine Liste militärisch kritischer Technologien („militarily critical technologies list“ MCTL) zu erstellen, anhand derer dann technische Daten von Exportgütern kontrolliert werden könnten. Der EAA berechtigt das Handelsministerium, nicht nur materielle Produkte zu kontrollieren, sondern jede Information, „that can be used, or adapted for use, in the design, production, manufacture, utilization or reconstruction of articles and materials“, die auf der Commodity Control List stehen. Was daraus für das wissenschaftliche Leben folgte, formulierte eine Untersuchung des Bulletin of the Atomic Scientists 1982 so: „In other words, the government apparently is proposing to create an illdefined vast new category of unclassified yet restricted information, open to all American citizens but closed to foreigners without federal authorization. Forbidden exports would include oral as well as written communications to foreign nationals; a conversation with a foreign student about unpublished results could be a forbidden export.“ 5

Das eigentlich Neue an dieser Politik war, mittels „Export“kontrolle nicht geheime und nicht einmal staatlich geförderte bzw. vertraglich gebundene Forschung staatlicher Kontrolle zu unterwerfen. Die im Folgenden skizzierten, mit dem Hinweis auf EAR oder ITAR hantierenden Aktivitäten der amerikanischen Regierung haben es also nicht mit geheimen, sondern mit explizit nicht klassifizierten wissenschaftlichen Informationen zu tun!

Ein erster spektakulärer Vorfall geschah im Februar 1980. Eine Woche vor dem Beginn der „International Conference on Bubble Memory (Magnetblasenspeicher) Materials and Process Technology“ der American Vacuum Society in Santa Barbara erhielt der Präsident der AVS John Vossen ein Schreiben des Handelsministeriums, in dem es heißt: „It has come to my attention that representations to be made at the conference may fall within the scope of Part 379 (Technical Data) of the U.S. Export Regulations (copy enclosed). Under Section 379.1 (b) oral exchanges of information in the U.S. with foreign nationals constitute the export of technical data. Under Section 379.4 (f), a validated license from the Office of Export Administration would be required prior to export of such technical data of Eastern Europe destinations, among others (…) You are invited to submit to the Office of Export Administration a request for an advisory letter so that we may make a definitive determination as to what restrictions govern the subject matter of the Conference. The request should include submission of copies of the presentation to be made, sources of the information contained in the presentations, and whether the information is proprietary in nature or in the public domain.“ 6 Vossen – der im übrigen die Konferenzpapers und damit die gesamten verlangten Informationen überhaupt nicht kannte wurde mitgeteilt, daß die Konferenz ohne eine entsprechende Exportlizenz nicht stattfinden könne, wenn die Teilnehmer aus den sozialistischen Ländern nicht ausgeladen würden; andernfalls habe der Präsident der AVS mit bis zu 250000 Dollar Strafe und/oder bis zu zehn Jahren Gefängnis zu rechnen. Aufgrund dieser Drohung wurden die Teilnehmer aus den sozialistischen Ländern tatsächlich ausgeladen; die Konferenzteilnehmer mußten einen Brief unterschreiben, in dem sie versicherten, die auf der Konferenz anfallenden Informationen an diese nicht weiterzugeben. Damit wurde eine wissenschaftliche Gesellschaft gehalten, in der Rolle von „cops and censors“ (Vossen) zu agieren. Dies blieb jedoch nicht der einzige Fall. Im Herbst desselben Jahres wurde die Cornell University vom Handelsministerium aufgefordert, einem avisierten Wissenschaftler aus Ungarn keinerlei Informationen verfügbar zu machen, die nicht ohnehin öffentlich waren; private Seminare oder Diskussionen seien dem Gastwissenschaftler nicht erlaubt. Zur Einsichtnahme an jeglicher staats- oder industriegeförderter Forschung bedürfe die Cornell-University eine Lizenz. Die Universität zog daraufhin die Einladung zurück 7. Im August 1982 veranstaltete die Society of Photo-Optical Instrumentation Engineers in San Diego eine Konferenz über Laserkommunikation und Infrarotoptik. In der Nacht vor Konferenzbeginn erhielten die Organisatoren ein Telegramm des Handelsministeriums, das sie vor Verletzungen der Exportkontrollbestimmungen warnte. Nachdem am nächsten Morgen Vertreter des DOD zahlreiche Konferenzteilnehmer in ihren Hotelräumen einer Befragung unterzogen, wurden über 150 Konferenzpapiere „freiwillig“ zurückgezogen. 8 1981 versuchte das Außenministerium, einige Universitäten zu zwingen, Wissenschaftler aus der VR China – die im Rahmen eines Austauschprogramms in den USA die im Rahmen eines Austauschprogramms in den USA waren – von Forschungen im Computerbereich fernzuhalten 9. Mehrere Firmen wurden im September 1982 schärferen Exportkontrollen unterworfen, die computerlesbare Magnetbänder vertrieben; so wurde die Lizenz der Firma, die seit 1974 die Chemical Abstracts u. a. an die Universität Warschau auf entsprechenden Bändern liefert, nicht mehr erneuert. Ähnlich lag der Fall des weltbekannten Institute for Scientific Information in Philadelphia, dessen Bänder mit bibliographischen Angaben für Ungarn und andere sozialistische Länder im Frühjahr 1982 beschlagnahmt wurden, weil die Bänder (nicht die darauf gespeicherten Informationen!) angeblich gegen die Exportkontrollbestimmungen verstoßen haben sollten. Das ISI hatte solche Bänder seit Jahren verschickt. Ein weiteres Beispiel kam aus Stanford: ein graduierter Student der Computerwissenschaften wollte unklassifizierte Informationen aus einem Forschungsindex des DOD abfragen, der über eilte Leitung mit der Stanforder ingenieurwissenschaftlichen Bibliothek zugänglich war. Das DOD jedoch gestattete keinen Zugang und klassifizierte prompt das Material. Die Stanford Bibliothek stornierte daraufhin ihren Vertrag mit dem Defense Technical Information Center 10. 1983 setzte das DOD durch, daß bestimmte Konferenzpapiere einen Vermerk erhalten sollten, der auf die Restriktionen der Exportkontrollbestimmungen hinweist. Eine Zusammenfassung der „Conference on Rapid Solidification Processing“, gefördert vom National Bureau of Standards Center for Material Science, erhielt die Vorbemerkung: „This document contains information which is subject to special export controls. It should not be transferred to foreign nationals in the US or abroad without a validated export license.“ 11 1983 hätte der EAA auslaufen sollen. Er wurde jedoch verlängert, da man sich zwischen Kongress und Senat nicht über die Neufassung einigen konnte. Das Handelsministerium machte sich für eine weitere Verschärfung stark. Ein Vertreter des Ministeriums erklärte, daß die Veranstalter von „closed conferences at which proprietary, technical data are discussed in the presence of communist country attendees“ eine Exportlizenz benötigten. „A university professor will need an export license if he is doing research on robotics, and robotics is a controlled commodity, and he has a graduate student from the Soviet Union working on the project, and he wishes to publish-proprietary information that is not in the public domain.“ 12 Nachdem es 1983 wohl auch aufgrund der parlamentarisch ungeklärten Situation keine spektakulären Fälle der Anwendung der EAR mehr gegeben hatte, deuten sich mit dem gegenwärtig vorliegenden, noch geheimen Gesetzesentwurf weitreichende Veränderungen an, in deren Ergebnis die EAR eine weit durchgreifendere Regulierung des „freien“ Flusses wissenschaftlicher Informationen ermöglichen würde. Nachdem der Kongress schon 1983 das DOD ermächtigt hatte, solche Einsprüche gegen die Exportkontrollpraxis abzulehnen, die sich auf das Grundrecht der Informationsfreiheit beriefen, beseitigt jetzt der Entwurf die bisherige Ausnahmeregelung im EAA, wonach für den Export von „scientific and education data“ keine Lizenz notwendig sei. Damit ist klar, daß „Export“ sowohl die Beschäftigung ausländischer Wissenschaftler als auch die Präsentation von Papieren auf Symposien einschließt, auf denen Ausländer anwesend sind. Hochschulen müßten Dutzende von Lizenzen für die Veranstaltung wissenschaftlicher Tagungen beantragen, an denen Ausländer – z.B. Studenten auch niedriger Semester teilnehmen und auf denen „critical technical data“ zur Sprache kommen. 12

MCTL und METAL

Dieser Begriff bezieht sich auf die interne MCTL, die auszuarbeiten der EAA von 1979 das DOD aufgefordert hatte und die Bestandteil der Commodity Control List des Handelsministeriums werden sollte. Das DOD hatte freilich bereits 1977 in Reaktion auf den Bucy Report mit der Ausarbeitung einer geheimen „Liste militärisch kritischer Technologien“ begonnen, „whose acquisition by a potential adversary would make a significant contribution to its military potential und thus prove deterimental to the national security of the United States.“ 18 zentrale Technologien wurden als MCT's definiert: „Computer network technology, Larger computer system technology, Software technology, Automated real-time technology, Composite and materials processing and manufacturing technology, Directed energy technology, LSI-VLSI (large scale integration, and very-large-scale integration in micro-electronics) technology, Instrumentation technology, Telecommunications technology, Guidance and control technology, Microware componentry technology, Vehicular engine technology, Advanced opties technology, Sensor technology, Undersea systems technology, Cryptography, Chemical technology, Nuclear specific technology.“ 13 In 17 Bänden und auf über 700 Seiten enthält die Liste insgesamt über 629 weiter spezifizierte Gebiete, die ihrerseits wiederum in buchstäblich Tausende von weiteren „kritischen“, militärisch relevanten und daher zu kontrollierenden Elementen ausdifferenziert sind. 14 Ergänzend wird eine neue, nicht geheime „Militarily Significant Emerging Technologies Awareness List“ (METAL) entwickelt, die militärische Fronttechnologien abdecken soll. Offensichtlich enthalten diese Listen zahllose Technologien, die substantiell oder sogar primär zivile Anwendungen haben.

Die Praxis der ITAR

Die MCTL bzw. METAL sind ebenfalls von Bedeutung für das zweite Hauptinstrument der Exportkontrolle, die International Traffic in Arms Regulations (ITAR), die vom Außenministerium verwaltet werden. Über ITAR wird der Export von „defense articles and defense services“ durch „oral, visual, or documentary“ Mittel an ausländische Bürger kontrolliert, die in 22 Punkten der siebenseitigen „United States Munitions List“ aufgeführt sind. „Technical data“ sind einer dieser Punkte. Betroffen sind alle Daten, die gebraucht werden bei „design, production, manufacture, repair, overhaul, processing, engineering, development, operation, maintenance or reconstruction“ irgendeiner militärischen Hardware, ebenso „any technology that advances the state of the art or establishes a new art in the area of significant military applicability.“ 15 Diese Definition ist so breit, daß auch die Präsentation unklassifizierten Materials auf einem wissenschaftlichen Kongress als Export interpretiert werden kann. Allerdings sollen sich diese Informationen unmittelbar auf die Hardware der Munitions List beziehen; und solange die Regierung nicht nachweisen könne, daß die Publikation von Forschungsergebnissen (=„Export“) in Kenntnis der militärischen Anwendungsmöglichkeiten geschah, könne ein Wissenschaftler nicht belangt werden. Wie wenig das in der Praxis freilich heißt, zeigt beispielsweise die Erklärung des Außenministeriums, daß mathematische Konzepte nicht kontrolliert wurden, bestimmte Algorithmen mit Anwendungsmöglichkeiten auf dem Gebiet der Kryptographie jedoch sehr wohl –eine Unterscheidung, die nach Ansicht eines MIT-Reports wenig Sinn macht. 16 Generell aber gilt, daß der Export solcher technischer Daten der Lizenz des Department of State bedarf. Verletzungen werden mit bis zu 2 Jahren Gefängnis oder 25 000 Dollar Strafe geahndet. Auch die Regelungen des Arms Control Act waren jahrelang auf wissenschaftliche bzw. technische Informationen nicht angewandt worden. Im Februar 1980 erteilte jedoch das State Department unter Berufung auf ITAR acht sowjetischen Wissenschaftlern keine Visa, die eine „Conference on Lasers and Electro-Optical Systems and the Topical Meeting on Inertial Confinement Fusion“ der Optical Society of America und des Institute for Electrical and Electronic Engineers besuchen wollten. Einem sowjetischen Wissenschaftler, der sich an der University of Texas aufhielt, wurde der Besuch der Konferenz untersagt. Eine, auch vom betroffenen Forschungsbereich her gesehen weit schwerwiegendere Attacke unternahm das DOD im Dezember 1980 mit einem Memorandum an alle Auftragnehmer im Very High Speed Integrated Circuits (VHISC) Forschungsprogramm, das die Notwendigkeit begründete, sämtliche technischen Papiere im Rahmen des VHISC-Programms vor der Publikation einer Begutachtung zu unterwerfen. Zur Grundlagenforschung hieß es: „although such research and its results are not generally controlled, it is the preference of the Program Office that only US citizens participate.“ 17 Damit zog das DOD die Konsequenz aus einer von ihm durchgesetzten Festlegung des Kongresses von 1979/80 (also noch unter der Carter-Administration), wonach das VHISC-Programm genügend „sensitiv“ sei, um unter die ITAR-Restriktionen zu fallen. Darüberhinaus forderte das DOD die am VHISC-Programm beteiligten Universitäten auf, ausländische Forscher fernzuhalten. Darauf kam es zu einem außerordentlich heftigen Protest der Präsidenten der Universitäten von Stanford, MIT, Cornell und California. In ihrem Schreiben vom 27.2.1981 heißt es: „We are deeply concerned about recent attempts to apply to universities the International Traffic in Arms Regulations (ITAR) and the Export Administration Regulations (EAR) … In the broad scientific and technical areas defined in the regulations, faculty could not conduct classroom lectures when foreign students were present, engage in the exchange of information with foreign visitors, present papers or participate in discussions at symposia and conferences where foreign nationals were present, employ foreign nationale to work in their laboratories, or publish research findings in the open literature. Nor could universities, in effect, admit foreign nationale to graduate studies in those areas,“ 18 Im Gegenzug schlug eine Arbeitsgruppe des DSB eine Vier-Stufen-Regelung vor: a) die Grundlagenforschung solle nicht kontrolliert werden b) kommerziell anwendbare Forschung unterliege dem EAR c) dualuse Forschung solle durch ITAR reguliert werden und d) ausschließlich militärisch nutzbare VHISC-Projekte sollten klassifiziert werden. 19 Im Mai 1982 wurden 2 Papiere aus dem VHISC-Programm von einem Meeting der Electrochemical Society in Toronto zurückgezogen. Ein Ausschluß ausländischer Wissenschaftler von der universitären VHISC-Forschung konnte nicht durchgesetzt werden. Im April 1981 forderte das State Department die Physik-Fakultät des MIT auf, die ITAR-Regeln bei einem Besuch eines chinesischen Wissenschaftlers zu beachten. 20 Mit ähnlichen Ansinnen des Außenministeriums „als ,Polizisten zu handeln, sobald sowjetische oder chinesische Gelehrte ihren Campus besuchten“ 21 wurden die Universitäten von Wisconsin, Minnesota, Stanford und Iowa konfrontiert. 22 Im März 1982 ereignete sich an der Universität von Illinois eine weitere Episode, die zwei Aufträge der Air Force für psychologische Forschungen betraf. Als der Projektleiter E. Donchin, Dekan des Psychologie-Departments der Hochschule, den Vertrag unterschreiben wollte, bemerkte er eine ITAR-Klausel, die u. a. besagte, daß die Forschungsergebnisse Ausländern nicht mitgeteilt werden dürften. Donchin wies darauf hin, daß er israelischer Staatsbürger, ein weiterer Direktor des Projekts Engländer und zwei beteiligte Studenten aus Italien und Kanada kämen. Es dauerte 6 Wochen, bis die Air Force auf den universitären Protest hin die Klausel zurücknahm. 23 Bereits 1978 hatte eine Stellungnahme des amerikanischen Justizministeriums festgestellt, daß „the existing provision of ITAR are unconstitutional insofar as they establish a prior restraint in disclosure of cryptographic ideas and information developed by scientists and mathematicians in the private sector.“ 24 Gleichwohl wurde 1981 in das Repräsentantenhaus ein außerordentlich weitreichender Gesetzentwurf eingebracht (H. R. 109), der durch Änderung des Arms Export Control Act nicht etwa nur ein „Export“-, sondern nun sogar ein Publikationsverbot sämtlicher Informationen zu normieren versuchte, die sich auf die U.S. Munitions Liste bezogen. Der Entwurf formulierte: „Notwithstanding in such regulations, or materials revealing such information, shall not be published, or disclosed unless the secretary of defense, in consultation with the secretary of state and the secretary of energy, determines that withholding thereof is contrary to the national interest.“ 25 H. R. 109 überließ die Beweislast den Wissenschaftlern: sie mußten nicht nur zeigen, daß eine Publikation keinen Schaden hervorrufen würde, sondern auch den Nachweis führen, daß ein Unterlassen der Publikation dem nationalen Interesse widersprechen würde! Nach der Einschätzung des Abgeordneten Brown, Mitglied des Committee on Science and Technology, verleihe eine solche Regelung „the secretary of defense unlimited powers to control, restrict or forbid communications of any kind, technical or otherwise.“ 26 Der H. R. 109 blieb Entwurf, doch die Idee avancierte. Die Air Force setzte bereits 1981 Restriktionen durch, die nicht geheimen, aber unter die Bestimmungen der ITAR fallenden technischen Informationen galten. Alle derartigen Forschungsdokumente, die im Auftrag der Air Force erarbeitet wurden, tragen seitdem folgende Warnung: „This document contains information for manufacturing or using munitions of war. Export of the information contained herin or release to foreign nationale within the United States, without first obtaining an export license, is in violation of the ITAR. Such violation is subject to a penalty of up to 2 years imprisonment an a fine of 100000 Dollar under 22 U.S. CC. 2778.“ 27 Aufgrund der äußerst heftigen Reaktionen einer großen Zahl wissenschaftlicher Organisationen und beträchtlicher Teile des liberalen Wissenschaftsestablishments auf diese Politik 28 wurden ähnlich wie im Falle der EAR in den letzten 1 1/2 Jahren die Interventionen des State Department in die wissenschaftliche Kommunikation mittels der ITAR-Bestimmungen abgeschwächt; eine Neufassung der Regelungen ist in Arbeit. Die Marschroute ist klar. Eine neue Bestimmung im Haushaltsgesetz 1984 des DOD ermächtigt das Pentagon „to protect certain kinds of unclassified technical data in the possession or under the control of the DOD that otherwise would be subject to release to foreign nationale under the terms of the Freedom of Information Act. Additional proposals have been circulated within the DOD to seek broader authority to protect sensitive technical data produced by other federal agencies (for example, NASA or the Department of Energy) by facultating their transfer to DOD control.“ 29

Andere Methoden der Exportkontrolle gewinnen an Gewicht oder sollten immerhin nicht unerwähnt bleiben: etwa die rabiate „Operation Exodus“ der US-Zollbehörde seit Ende 1981, die zur Beschlagnahme von bisher 2300 Exporten im Werte von 149 Mio. Dollar führte 30. Oder – bereits 1981 – die (später vermutlich wieder revidierte) Anordnung des Energieministeriums an die Direktoren von zahlreichen (vielleicht allen) Laboratorien des Ministeriums, allen Beschäftigten Kontakte zu den sozialistischen Ländern zu untersagen, es sei denn, eine besondere Erlaubnis werde gegeben. Darin eingeschlossen waren auch informelle Kontakte wie private Treffen oder persönliche Korrespondenz. 31

Die Folgen

Insgesamt hatte die Interventionspolitik in den Wissenschaftsprozeß mit den Instrumenten der Exportkontrolle – auf den ersten Blick ein durchaus abseitiges Unterfangen – bleibende Folgen:

  • Auf dem Gebiet der internationalen Beziehungen gelang es, den Wissenschaftsaustausch immer stärker in ein Instrument des Wirtschaftskrieges gegen die sozialistischen Staaten und – zunehmend – des Kampfes um die Wiedergewinnung der verlorenen Weltmarkthegemonie gegenüber den kapitalistischen Hauptkonkurrenten Japan und Europa zu machen.
  • Der Kampf um die Ausweitung des Technologieprotektionismus ist ein Hauptkonflikt innerhalb der Administration geworden; Ende Dezember 1982 wurde über das National Security Council eine Überprüfung des Technologietransfers begonnen, die – bei einer wechselvollen Geschichte –bis heute andauert. Die entsprechende Stellungnahme wurde offenbar 1984 fertiggestellt, aber für geheim erklärt…
  • „The tendency in this Administration toward restricting the flow of scientific and technological information“, erklärte 1982 der Abgeordnete G. E. Brown, „is merely part of a larger world view with which I fundamentally disagree –the inevitability of a conflict between the good guys (us) and the bad guys (the Soviets)“ 32. Die Durchsetzung der Exportkontrollpolitik steht nicht für sich; sie transportiert das rechtsradikale Feindbild der Reagan-Administration mit sich und trägt damit zugleich zur Veränderung des weltanschaulichen Gefüges innerhalb der amerikanischen scientific community bei.
  • Die grundsätzliche Einschränkung der Freiheit zur wissenschaftlichen Kommunikation ist mittlerweile nachgerade alltägliche Praxis. Das betrifft drei Sachverhalte: 1) den Ausschluß ausländischer Wissenschaftler von Konferenzen in den USA selbst. So waren jüngst Konferenzen über Materialwissenschaffen, die an den Universitäten von Dayton (Ohio) und Kalifornien (L. A.) abgehalten wurden, für Ausländer gesperrt. Dazu gehörten auch Wissenschaftler auf NATO-Ländern! Im Januar 1984 wurde ein Meeting der American Ceramics Society in Cocoa Beach, Florida buchstäblich in zwei separate Hälften aufgeteilt, deren eine vom DOD und der NASA gefördert und für Ausländer gesperrt wurde. (Angesichts dieser „Ausländer raus! –Politik“ des DOD sollte erwähnt werden, daß über ein Drittel der amerikanischen Nobelpreisträger naturalisierte Ausländer sind; das DOD andererseits läßt kaum eine Gelegenheit aus, darauf hinzuweisen, daß 20 Nobelpreisträger der USA vom DOD gefördert wurden.) 2) An Konferenzen im Ausland nehmen bestimmte amerikanische Wissenschaftler seltener oder überhaupt nicht mehr teil; das diskutierbare Themenspektrum ist durch die Restriktionen stark verengt worden. Diese Entwicklung ist bisher kaum untersucht worden. 3) Endlich unterliegen immer mehr wissenschaftliche Konferenzen und Kongresse in den USA selbst einer inhaltlichen Zensur, die – wie das folgende lakonische Beispiel aus „Nature“ zeigt – mittlerweile geradezu groteske Züge angenommen hat: „At a 1985 conference on metal matrix composites to be held by the American Society for Testing and Materials, notierte „Nature“ im Juli 1984, „delegates will have to exercise their ingenuity to avoid talking about design, manufacturing, fabrication methods production technology or end use of the materials.“ 33 Eine solche Veränderung greift aber tief in das Wertsystem der Wissenschaft ein.
  • Endlich erprobte diese Politik für den Militär-Industrie-Komplex andere Methoden zugreifender Kontrolle des Wissenschaftssystems, die zum Ted schon eine unrühmliche „Tradition“ hatten, wie etwa Visakontrollen. Der Internal Security Act von 1950 (McCarran Act) und der Immigration and Naturalization Act von 1952 (McCarran-Walter Act) hatten im Zeichen des Kalten Krieges rigide und diskriminierende Einreiserestriktionen normiert. Die allgemeine Kommunistenangst und -verfolgung, die Jagd auf Spione (Rosenberg-Fall) und die weitverbreitete Einschüchterung liberaler oder linker Wissenschaftler 34 bildeten das Milieu in dem Visakontrollen zum Mittel der Unterbindung freier wissenschaftlicher Kommunikation wurden. Ein Bericht der National Academy of Science, der National Academy of Engineering bzw. des Institute of Medicine („Corson-Report“) von 1982 vermerkt zu der damaligen Situation: „One result of these two laws was that large numbers of distinguished European scientists found it much more difficult to visit the United States to attend meetings or to assume appointments at American Universities. In some cases visas were refused outright; in others visa were approved only after such long delays that the scientific meeting had already taken place or the offer of a teaching appointment had been withdrawn.“ 35 Eine Ankündigung, Visakontrollen erneut als Instrument der Wissenschaftskontrolle zu verwenden, kam im Mai 1983 vom Außenministerium. Bei der Durchsetzung anderer Methoden war das DOD in den letzten Jahren jedoch weit erfolgreicher. (Letzter Teil in info 5/84)

Anmerkungen

1 FAZ v. 13.8.1984 Zurück

2 The Bulletin of the Atomic Scientists 9/1982, S. 32 Zurück

3 Wehrtechnik 10/1977, S. 22 Zurück

4 International Security 3/1980-1, S. 132; vgl. DOD (Hg.), Report of the DSB Task Force on Export of U.S.Technology, An Analysis of Export Control of U.S.Technology – A DOD Perspective, Washington 1976 Zurück

5 Bulletin 9/1982, S. 33 Zurück

6 Ebd. S. 34 Zurück

7 Physics Today 6/1981, S. 56 Zurück

8 Physics Today 6/1983, S. 41 Zurück

9 Bulletin 8/1983, S. 18 Zurück

10 Vgl. ebd., S. 2 1 ff. Zurück

11 Physics Today 6/1983, S. 42 Zurück

12 C&EN v. 5.4.1982, S. 17 Zurück

13 Comparative Strategy 2/198 1, S. 122 ff. Zurück

14 Der „Report of the Defense Science Board Task Force on University Responsiveness to National Security Requirements“ findet sich in den Hearings on Military Posture and H.R.5968, DOD Authorization for Appropriations for Fiscal Year 1983 before the Committee on Armed Services, House of Representatives, 97th Congr., 2d Sess., Part 5 R&D, Washington 1982, S. 256 ff., hier: S. 305 Zurück

15 IEEE Spectrum 6/198 1, S. 5 7 Zurück

16 ebd. Zurück

17 Physics Today 6/1981, S. 57 Zurück

18 Vgl. NAS, NAE, IOM (Hg.): Scientific Communication and National Security („Corson-Report“), Washington 1982, S. 137 f. Zurück

19 Ebd. S. 105 Zurück

20 Physics Today 6/1981, S. 56;vgl. auch Physics Today 4/1980, S. 81 Zurück

21 Nature v. 23. 2.1984, S. 671 Zurück

22 Physics Today 6/1982, S. 49 Zurück

23 Vgl. Bulletin 7/1983, S. 19 f.; IEEE Spectrum 2/1984, S. 62 f.; Science 2.7.1982 Zurück

24 Technology Review 2/1982, S. 38 Zurück

25 Ebd., S. 33 Zurück

26 Ebd., S. 33 f. Zurück

27 DSB-Report 1982, S. 307 Zurück

28 Vgl. H.-J. Krysmanski, Der Einfluß des MIK auf die amerikanische Wissenschafts- und Technologiepolitik. Zur Entwicklung unter der Reagan-Administration, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 7/1982, S. 841 ff. Zurück

29 Science v. 4.5.1984, S. 462 Zurück

30 Ebd. Zurück

31 Bulletin 9/1982, S. 32 Zurück

32 I. Peterson, Cryptology and National Security, FOIC Report 442, Univ. of Missouri (1981), S. 3 Zurück

33 Nature v. 19.7.1984 Zurück

34 Vgl. „The G-Men and the H-Bomb“, in: The Progressive 9/1983, S. 28 ff. Zurück

35 Corson-Report, S. 99 Zurück

Rainer Rilling ist Privatdozent für Sozoiologie an der Universität Marburg und Geschäftsführer des BdWi

Rüstung und Wissenschaftsfreiheit in den USA (1)

Rüstung und Wissenschaftsfreiheit in den USA (1)

Der San Diego – Zwischenfall

von Rainer Rilling

Am 22. August 1982 erhielten die Organisatoren des 6. Internationalen Technical Symposiums der Society of Photo-Optical Instumentation Engineers (SPIE ) in San Diego ( Kalifornien ) ein Telegramm des amerikanischen Handelsministeriums. Darin wurden sie warnend darauf hingewiesen, daß jeder mündliche Vortrag nicht geheimer, aber strategisch relevanter Informationen auf der wenige Stunden später beginnenden internationalen wissenschaftlichen Konferenz aufgrund der Teilnahme sowjetischer und osteuropäischer Wissenschaftler eine Verletzung der Exportkontrollbedingungen der USA bedeuten und mit empfindlichen Strafen belegt werden würde.

Das Department of Defense war schon einige Tage früher aktiv geworden. So hatte ein Professor zwei Papiere zur Präsentation auf der Konferenz eingereicht, die mit Hilfe eines Ausschusses der US Air Force ausgearbeitet worden waren. Entsprechend den Festlegungen seiner Hochschule, nur solche Forschungsprojekte durchzuführen, in denen die Zielsetzung, Anlage, Methode und Ergebnisse vollständig und frei diskutiert werden können, waren seine Papiere nicht klassifiziert. Kurz vor der Konferenz sandte er sie routinemäßig seinem Air Force Programmoffizier. Eine Woche vor dem Beginn des internationalen Symposions jedoch teilte ihm die Air Force mit, dass seine Papiere nicht freigegeben und daher auch nicht präsentiert werden könnten. Eine Gruppe von Geheimdienstbeamten tauchte auf der Konferenz auf und warnte die Teilnehmer, dass sie keine Freigabe für ihre Papiere hätten und angesichts der Anwesenheit von Wissenschaftlern aus kommunistischen Ländern ihre Präsentation einen illegalen Export von Informationen ins feindliche Ausland bedeute. Konferenzthemen wie zum Beispiel optische Technologien, die in Laserkommunikation und Infrarotoptik benutzt werden, seien von militärischer Bedeutung. Eine neue Verordnung des Department Auf Defense (DoD) wurde nach der Konferenz am 31.08.1982 publiziert und rückwirkend ab 01.08. in Kraft gesetzt. Sie sollte nachträglich die rechtliche Begründung für die Zensur explizit nicht geheimen, aber nun für militärisch sensitiv deklarierten Materials liefern. Über 150 der 626 Konferenzpapiere wurden zurückgezogen. Niemals zuvor, kommentierte Chemical and Engineering News hat die Regierung eine so große Anzahl von wissenschaftlichen Papieren blockiert 1.

Die massive staatliche Intervention in die Freiheit der wissenschaftlichen Meinungsäußerung auf der Konferenz in San Diego war freilich nur ein spektakulärer Höhepunkt innerhalb einer Ereigniskette, die ungefähr 1980 einsetzte und bis zum heutigen Tag andauert. Sie markiert den Versuch der amerikanischen Administration, im Namen der nationalen Sicherheit die Freiheit, wissenschaftlicher Ergebnisse und Meinungen frei vortragen zu können und zugleich gesicherten Zugang zum Bestand wissenschaftlichen Wissens zu besitzen, einzuschränken und mit einer Rigorosität zu beseitigen, wie sie in der neuen amerikanischen Wissenschaftsgeschichte zumindest für Friedenszeiten beispiellos ist. Die Anfänge dieser Politik liegen schon ein Jahrzehnt zurück. Die Instrumentarien, auf die zurückgegriffen wird bzw. die neu geschaffen wurden sind vielfältig:

1. Verordnungen zur Klassifikation von Regierungsinformationen;
2. der Invention of Secrecy Act;
3. der Atomic Energy Act;
4. der Export Administration Act;
5. der Arms Export Control;
6. Kontrollbestimmungen innerhalb der Vertragsforschung;
7. Vereinbarungen zur freiwilligen Selbstzensur;
8. Begrenzungen der internationalen wissenschaftlichen Kommunikation durch Visakontrollen und Drosselung des internationalen Wissenschaftsaustausches.

Innerhalb nur weniger Jahre ist es dabei der amerikanischen Regierung gelungen, unter Verweis auf angebliche militär- oder rüstungspolitische Sachzwänge die Geheimhaltung zu einem Schlüsselinstrument staatlicher Wissenschaftslenkung und -kontrolle zu machen. Da die Weitergabe (Zirkulation) wissenschaftlichen Wissens funktionsnotwendiger Bestandteil der Wissenschaftsentwicklung ist, bedeutet ihre Kontrolle durch militärische Instanzen eine weitere Stärkung der ohnehin herausragenden Rolle des Department of Defense im amerikanischen Wissenschaftssystem und seinen Entscheidungsinstanzen. Neben die Beeinflussung der Produktion wissenschaftlichen Wissens vor allem durch Finanzierung und Vertragsforschung tritt die Kontrolle der wissenschaftlichen Kommunikation durch eine Politik der security by secrecy. Der Machtzuwachs des Pentagon gegenüber einzelnen Wissenschaftlern aber auch den Selbstverwaltungs- und Regulierungsorganen der Wissenschaft vor allem unter der gegenwärtigen Regierung hat auch in der liberalen Wissenschaftselite der USA tiefe Beunruhigung hervorgerufen. Dutzende von Beiträgen in Science, Beschlüsse von wissenschaftlichen Institutionen und Gesellschaften oder Stellungnahmen prominenter Wissenschaftler belegen dies. Der folgende Beitrag versucht, die Kontrollinstrumentarien moderner militärischer Wissenschaftspolitik und einige Konsequenzen ihrer Anwendung systematisch darzustellen.

Die Executive Order on National Security Information (1982)

Schon 1789 verabschiedete der amerikanische Kongress ein Statut, das die Exekutive zur Klassifikation von Informationen ermächtigt. Doch es dauerte bis 1940, bis erstmals unter Roosevelt eine Regierungsverordnung erlassen wurde, die explizit unter Verweis auf die Erfordernisse der nationalen Sicherheit eine Klassifikation von Informationen erlaubte. Ähnliche Verordnungen unterzeichneten Truman, Eisenhower, Nixon und Carter. 1976 waren nach Angaben von Science 14 000 Regierungsbeschäftigte zur Sekretierung von Dokumenten und Informationen ermächtigt.

Über 4 Millionen Dokumente wurden von ihnen jährlich für top secret   oder confidential erklärt.2 Am 2. April 1982 erließ Reagan die Executive Order No 12356 on National Security Information (47 Fed.Reg.14874-1982) die seit August 1982 als juristische Grundlage der Sekretierung von (auch wissenschaftlichen) Informationen wirksam ist. Die Verordnung autorisiert eine begrenzte Anzahl Regierungsoffizieller zur Sekretierung von Informationen, falls Schaden für die nationale Sicherheit droht. Informationen können klassifiziert werden wenn sie "scientific technological or economic matters relating to the national security" (Pt.l.,Sec.1.3. (6)) oder "cryptology" (Pt.l.,Sec.1.3.(8)) betreffen. In der Sektion 1.6. der Verordnung findet unter der Überschrift "Limitations on Classification" die Feststellung: "Basic scientific research information not clearly related to the national security may not he classified". (Pt.l.,Sec.1.6.(6)).

In einer ausführlichen Analyse resümierte das Bulletin of the Atomic Scientists im November 1982, Reagans Geheimhaltungsbestimmungen stünden für die Umkehrung eines 25 Jahre langen Trends hin zu einer weniger restriktiven Informationspolitik der Regierung der unter Eisenhower einsetzte. 3 Ein Report der American Association of University Professors (AAUP) kritisierte die Verordnung schart: sie Bedeute eine außerordentliche Bedrohung für die akademische Freiheit und daher für den wissenschaftlichen Fortschritt und die nationale Sicherheit. 4 Die Hochschullehrervereinigung konzentrierte ihre Kritik auf eine ganze Reihe von Punkten:

1. Die Verordnung erleichtere entscheidend die Klassifikation, indem sie das Erfordernis beseitigte, einen identifizierbaren Schaden für die nationale Sicherheit nachweisen zu müssen.

2. Während frühere Verordnungen beim Vorliegen der Minimalvoraussetzungen eine Klassifikation nur ermöglichten, forderte die neue Verordnung dazu auf.

3. Die Verordnung der Reagan-Administration weitete das Spektrum von Informationen, die sekretiert werden können, ebenso beträchtlich aus wie die Anzahl der dazu autorisierten Personen.

4. Die neue Verordnung erlaubte die zeitlich unbegrenzte Sekretierung von Informationen und die Reklassifikation von bereits wieder freigegebenen Informationen.

5. Beseitigt wurde in der Verordnung das Erfordernis, eine Güterabwägung (balancing test) vorzunehmen zwischen den Bedürfnissen nach nationaler Sicherheit und nach Information der Öffentlichkeit. Dadurch wurde erleichtern, die Freigabe klassifizierten Materials zu verhindern.

6. Endlich machte die vorgebliche Schutzformel deutlich, daß auch Ergebnisse der Grundlagenforschung, sofern klar auf die Erfordernisse der nationalen Sicherheit bezogen, sekretiert werden können.

Die zusammenfassende Schlußbewertung des AAUP-Reports stellt der neuen Geheimhaltungsbestimmung der Regierung Reagan ein vernichtendes Zeugnis aus: Die Regierungsverordnung kann den akademischen Forscher davon abhalten, langfristige Forschungsvorhaben zu beginnen, die der Gefahr potentieller Klassifikation unterliegen. Sie kann unnötige Doppelarbeit in der Wissenschaft befördern. Wahrscheinlich wird sie die Mitteilung von Forschungsmethoden und Ergebnissen an Kollegen verhindern, weil man Gefahr läuft etwas zu enthüllen, was ein Regierungsoffizieller eine Gefahr für die nationale Sicherheit nennen könnte. Geheimhaltung oder auch schon ihre bloße Befürchtung kann zur Isolierung der Wissenschaftler führen, den freien Austausch und die wechselseitige Kritik unterbinden. 5

Knapp ein Jahr später, im April 1983, wurde von der Reagan-Administration eine weitere Regierungsverordnung (National Security Decision Directive 1984) herausgegeben. Sie forderte, daß rund 125 000 Beschäftigte der amerikanischen Regierung, die Zugang zu klassifizierten Informationen haben, sich mit einer Vorzensur ( prepublication review) jeglicher Publikation: einverstanden zu erklären hätten. Ein Inkrafttreten der Direktive mit der Orwellschen Datierung scheiterte jedoch bislang vor allem am Widerstand des amerikanischen Kongresses. 6

Der Invention and Secrecy Act (1951)

Die Universität in Wisconsin in Milwaukie beantragte im Oktober 1977 für George Davida, Professor für Elektrotechnik und Informatik, ein Patent. Ein halbes Jahr später erhielt Davida Post vom U.S. Patent and Trademark Office. Statt eines Patents enthielt das Schreiben eine Mitteilung, daß Davida bei jeder Art von Veröffentlichung seiner Erfindung mit bis zu zwei Jahren Gefängnis und $ 100 000 Strafgeld zu rechnen hätte. Davida hatte seine Erfindung aus Mitteln der zivilen National Science Foundation finanziert und keinerlei Zugang zu klassifiziertem Material gehabt. Das Patentamt teilte nicht mit, wie lange die Erfindung geheimzuhalten sei, warum die Geheimhaltung erfolgte und welche Rechtsmittel gegen die Entscheidung existierten. Zur selben Zeit hatten drei Ingenieure in Seattle ein Patent beantragt und eine ähnliche Order erhalten. Es dauerte fast ein Jahr, bis nach ausführlichen öffentlichen Protesten die Verordnungen rückgängig gemacht wurden. 7

Beiden Vorgängen lag ein bereits 1951 beschlossenes Gesetz zugrunde, das die Sekretierung von Patenten und Erfindungen regelt (Patent and Invention Secrecy Act). Es autorisiert das Patentamt, jedes zur Anmeldung eingereichte Patent für geheim zu erklären, wenn das Departement of Defense feststellt, daß eine Veröffentlichung nachteilig für die nationale Sicherheit 8 sei. Eine entsprechende Verordnung hat eine Wirkungsdauer von einem Jahr und kann verlängert werden manche ist seit über dreißig Jahren in Kraft. Sie können im übrigen sogar erlassen werden, wenn das Patentamt die Erfindung nicht für patentfähig hält oder wenn die Anmeldung zurückgezogen wurde. Daß Erfinder einen Anspruch auf Schadensersatz haben, ist nahezu bedeutungslos: zwischen 1945 und 1980 wurden gerade 29 solcher Ansprüche angemeldet. Ihre Durchsetzung bringt Probleme eigener Art mit sich. So erhielt David Pelton Moore 1957 für seine Erfindung eines Raketentreibstoffs kein Patent, sondern eine Geheimorder; als seine Sache 1980 vor Gericht verhandelt wurde, war Moore 102 Jahre alt. Die Anzahl der Geheimpatente macht einige der wenigen Angaben deutlich, die für das Jahr 1979 publiziert wurden. Von 107 409 Patentanmeldungen reichte das Patentamt 4829 – rund 5 % – an das DOD zur Überprüfung weiter. Daraus resultierten 243 Geheimhaltungsorders von denen 40 auf Patente entfielen, die bei der Anmeldung als nicht klassifiziert gekennzeichnet waren. Rund zehn Prozent der sekretierten Patente betrafen Ergebnisse privater Forschungsprojekte, so daß die Regierung auf diese Weise Zugriff auf die Kontrolle privater :Forschungsvorhaben erhält. Rund 3 300 Geheimpatente wurden im selben Jahr erneuert 9. Bemerkenswert ist, daß das Gesetz noch nie auf seine Verfassungsmäßigkeit überprüft wurde und es offenbar gute Gründe für die Annahme gibt, daß es verfassungswidrig ist 10.

Der Atomic Energy Act (1954)

Heute gehört das Manhattan District Project – das Großforschungsprojekt der ersten Atombombe – zu den weltbekannten und am besten dokumentierten Forschungsprojekten der Geschichte. Doch ursprünglich war das Projekt eines der am besten gehüteten Geheimnisse des Krieges. Auch nach Hiroshima und Nagasaki blieben alle technischen Spezifikationen des Prozesses geheim, und schon wenige Wochen nach Kriegsende machte das amerikanische Kriegsministerium deutlich, daß die rigiden Kontrollen auch in der Nachkriegszeit aufrechterhalten werden sollten. Die Grundlage dafür lieferte das Atomenergiegesetz vom 1. 8. 1946 bzw. von 1954. Das hier entwickelte Konzept der Geheimhaltung wissenschaftlicher und technischer Informationen konnte auf dem Hintergrund des beginnenden Kalten Krieges ohne größere Widerstände von Seiten der Wissenschaftler durchgesetzt werden. Vor allem drei Merkmale der Geheimhaltungskonzeption auf dem Gebiet der Nuklearforschung sind von großer Bedeutung.

1. Wenn Harold  P. Green Washington University National Law Center in einer Untersuchung vom Dezember 1981 von den "vollständig einmaligen Regelungen der Informationskontrolle des AEA" spricht, dann bezieht er sich zunächst auf den Geltungsbereich der Kategorie "Restricted Data", die dem Gesetz zugrunde liegt. Die Sektion 11 (y) des Atomic Energy Act von 1954 definiert diese Kategorie wie folgt: "Der Begriff Restricted Data bezieht sich auf alle Informationen, die betreffen 1) den Entwurf, Bau oder die Nutzung atomarer Waffen; 2) die Produktion speziellen nuklearen Materials bei der Energieproduktion. Der Begriff schließt nicht ein deklassifizierte Daten." 10a Die Definition dieser Daten ist, wie Green zu Recht vermerkt, "breit genug, um buchstäblich und ausnahmslos die Gesamtheit der Informationen zu umfassen, die sich auf Atomenergie beziehen". Gemeint sind also nicht nur Nuklearwaffen, sondern sämtliche Fragen, die mit Atomenergie zusammenhängen. Die Regelungen hätten somit auch etwa angewandt werden können, um die detaillierte Information der Einwohner Pennsylvanias über die Harrisburg-Katastrophe zu verhindern. Kurz: die Konzeption erlaubt den kontrollierenden Zugriff über den unmittelbaren Bereich der militärischen Atomforschung hinaus auf den Sektor der zivilen Atomforschung. 11

2. Die hier entwickelte Kategorie der restricted data ist (so Green) auch "breit genug, um alle Daten unabhängig von ihrer Herkunft einzubeziehen – stammten sie nun von Regierungspersonal, Auftragnehmern des Staates, Journalisten, Dichtern, Akademikern, Privatunternehmen, freundlichen oder feindlichen Regierungen." Die Atomenergiebehörde bzw. das Department of Energy (DOE) als Nachfolgebehörde können dank dieser extensiven Bestimmung jegliche Information unabhängig von ihrer Herkunft, welche sich auf Fragen der Atomenergie bezieht, für geheim erklären, wenn sie diese "als relevant für Angelegenheiten der nationalen Sicherheit" ansehen. Als 1976 ein prominenter sowjetischer Physiker, L. I. Rudakow, während eines Gastaufenthalts in den USA in einem Regierungslaboratorium einen Diskussionsbeitrag über thermonukleare Fusion hielt, klassifizierten Beamte der Energy Research and Development Administration jetzt DOE) nicht nur seine Rede. "In ihrem blinden Eifer packten sie sogar die Tafel ein, die Rudakow während seines Beitrags benutzt hatte".12 Da im übrigen die Gründe für die Klassifikation bzw. die entsprechenden Richtlinien selbst geheimgehalten werden, gibt es auch keine Erklärung dafür, warum die Regierung der Vereinigten Staaten etwas klassifizieren sollte, was sowjetische Staatsbürger auf  feindlichem Boden offen mitteilen (…)

3. Endlich normieren die Atomenergiegesetze Geheimhaltungsbestimmungen, die für die moderne Wissenschaftsgeschichte einmalig sind: jede (wissenschaftliche) Information über ein bestimmtes (Forschungs-)Objekt, in diesem Fall die Atomenergie, gilt im Moment ihrer Entstehung automatisch als geheim. Sie ist von "Geburt geheim (born classified)". Damit gelang es dem amerikanischen Militär, auf dem Sektor der Nuklearforschung in der Nachkriegszeit eine Geheimhaltungsregelung durchzusetzen, die weit radikaler war als die vergleichbaren Bestimmungen auf anderen Gebieten: "Hier bedarf es keiner besonderen Aktivität seitens der Behörden, um Daten als restricted zu klassifizieren; die Daten sind von Geburt aus geheim. Auf allen anderen Gebieten der nationalen Verteidigung sind entsprechende Maßnahmen der verantwortlichen Behörden nötig, um Informationen als geheim oder restricted zu klassifizieren. Die Daten in diesen Sektoren sind born free." 13 Während somit ansonsten militärisch relevante Forschungsergebnisse klassifiziert werden müssen, um ihre Verbreitung zu verhindern, müssen hier die Ergebnisse militärischer wie ziviler Erfindungsarbeit erst deklassifiziert werden, damit sie publiziert und Gemeingut der Wissenschaft werden können.

In ihrer umfangreichen Analyse hat Chemical & Engineering News 1982 den AEA "eine aktuelle Bedrohung" der akademischen Freiheit genannt. Sie rückte allerdings erst mit dem Fall der Zeitschrift PROGRESSIVE ins öffentliche Bewußtsein. Das politische Monatsmagazin beabsichtigte die Publikation eines Artikels von Howard Morland "The H-Bomb Secret: How We Got It, Why We 're Telling It". Als das DOE eine Kopie des Manuskripts erhielt, verbot es die Veröffentlichung des Artikels mit dem Verweis auf "restricted data", die der Artikel enthielte. Der Herausgeber von The Progressive Knoll, erklärte, die Daten Morlands stammten "aus veröffentlichten Materialien, die in fast jeder Bibliothek erhältlich sind, aus einer Rundreise durch Einrichtungen für Nuklearwaffen, die das DOE arrangiert hatte, und aus Interviews.(…) Howard Morland sah niemals ein klassifizierten Dokument." 14 Auch die Regierung behauptete zu keinem Zeitpunkt, die Informationen des Artikels seien illegal beschafft worden. Daß sie dennoch ein Publikationsverbot "im Namen der nationalen Sicherheit" aussprach, war – sieht man von der Auseinandersetzung um die Publikation der Pentagon Papiere 1971 ab – einmalig in der amerikanischen Geschichte.

Das Verbot erfolgte, obwohl in Morlands Artikel keine einzige geheime Information verwandt wurde. Das DOE argumentierte jedoch, daß die aufgearbeitete (reworked) Information nicht deklassifiziert worden sei und daher als restricted data definiert werden müsse. In der anschließenden   juristischen Auseinandersetzung US vs The Progressive konnte die Verteidigung darauf verweisen, daß das Tagebuch des Sekretariats von Eisenhower, das 1977 publiziert wurde, zwei der drei Erläuterungen thermonuklearer Waffen enthielt, die in der Anklage der Regierung von 1979 als geheim deklariert worden waren. Schließlich stellte sich heraus, daß die zwei Konzepte bereits 1970 in Edward Tellers Artikel in der Encyclopedia Americana grafisch dargestellt worden waren! Als in der juristischen Auseinandersetzung das Magazin unterstützende Stellungnahmen von Experten erhielt, die Zugang zu Geheiminformationen hatten wurden deren Statements vom DOE klassifiziert. Und als einige Wissenschaftler des Argonne National Laboratory an den Senator John Glenn schrieben und den Mißbrauch der Geheimhaltungsregeln des DOE kritisierten, wurde ihr Schreiben für geheim erklärt; ein Physiker des Livermore Laboratory, dessen Expertise die Zeitschrift unterstützte, wurde der Verletzung von Geheimhaltungsbestimmungen angeklagt. Auf der anderen Seite wurden Aussagen, welche die Position des DOE unterstützen, aber offensichtlich gegen die Geheimhaltungsbestimmungen verstießen, breit publiziert. (Diese Praxis erinnerte an ein anderes Vorkommnis knapp ein Jahr zuvor: als ein Mitglied des amerikanischen Kongresses in einem Schreiben an des DOE eine Reihe von Fragen zur Steigerung der Produktion von Plutonium aufwarf, reagierte das DOE nicht etwa mit Antworten, sondern mit der Klassifikation der Fragen!) 15. Der PROGRESSlVE-Fall endete, nachdem eine Zeitung Morlands Artikel publizierte.

Doch was eine erfolgreiche Gegenwehr gegen die weitere Ausuferung der Geheimhaltungspraxis der Wissenschaftsadministration schien, läutete in Wirklichkeit eine neue Phase ein. Im April 1983 schlug das DOE Regelungen vor, die eine vollständig neue Kategorie kontrollierten Information schaffen würden – die sogenannte "Unclassified-Controlled Nuclear Information" (UCNI). Dabei geht es um die Kontrolle nicht geheimer (vor allem wissenschaftlicher) Informationen. Hierfür bürgerte sich schnell der Begriff der zwar nicht geheimen, aber "sensitiven" Information ein. Die entsprechende Verordnung über die "Identification and Protection of Unclassified Controlled Nuclear Information" wurde im Federal Register vom 1. 4.1983 publiziert. Danach soll sämtliche sensitive Information nur einem von DOE besonders dafür legitimierten Personenkreis zugänglich sein. Um welche Informationen geht es dabei? Es können sein: Dokumente, Korrespondenzen, Vortrage, Telephongespräche oder Berichte, die Informationen enthalten, welche "die Produktion, den Transport und die Nutzung nuklearen Materials betreffen"! als sensitiv können eingestuft werden ebenso Informationen, welche sich auf den Entwurf, den Bau, den Gebrauch oder die Bewachung nuklearer Waffensysteme oder Teile beziehen. Für eine Einstufung als UCNI ist gleichgültig, ob die sensitive Information zuvor unklassifiziert oder deklassifiziert war. Tausende von Dokumenten, die sich in der offenen Literatur finden, können als sensitive erklärt und der Informationskontrolle des DOE unterworfen werden. Das DOE kann so die "born secret Informationen" als zwar nicht weiter geheim, gleichwohl sensitiv deklarieren. Die Strafen bei Zuwiderhandlung belaufen sich bis auf 100 000 $ Strafgeld oder 20 Jahre Gefängnis – ausgesprochen durch das DOE ohne jede juristische Überprüfung. Die geplanten Bestimmungen haben heftige Kritik provoziert. Die Senatoren Hart und Hollings kritisierten die nahezu willkürliche Macht der Informationskontrolle, die sich das Energieministerium auf diese Weise verschaffen könne – jenseits der Legalität 16. Universitäten, Bibliotheken, Umweltschützer und Gewerkschaften der Beschäftigten von Kernkraftwerken protestierten gegen die geplante Regelung. Ein Vertreter der Stanford University erklärte, daß die Regelungen die Universität zwingen würden, ungezählte Mengen von Büchern von den offenen Regalen zu entfernen, darunter Grundlagentexte aus der Physik oder Elektrotechnik. "Unsere Physiker, Elektroingenieure, Informatiker und viele andere Gelehrte in verwandten Gebieten arbeiten, forschen und lehren täglich mit Materialien, die durch die vorgeschlagene Regelung betroffen wären." 17 Das DOE mußte schließlich die Inkraftsetzung der Regelungen aufschieben und einer Reihe öffentlicher Hearings zustimmen. Von einem Verzicht der Administration auf die breitflächige, im zivilen wie militärischen, privaten wie öffentlichen Sektor greifende Installierung eines Systems der Kontrolle nicht geheimer, sensitiver Information ist jedoch nicht die Rede. Eine Neufassung der Regelung ist in Arbeit. (Teil II und II folgen)

Anmerkungen

1 Rosemary Chalk: Security and scientific communication, in: Bulletin of the Atomic Scientists August/September 1983,S. 20; Vgl. auch Robert A. Rosenbaum u.a.: Academic Freedom and the Classified Information System, in: Science v. 21.1. 1983, S. 257 sowie Science News v. 4.9. 1982,S. 148 u. 18.9.1982; Science v.11.1. 1977,S. s89 u.26.3.1982,S. 1591;Physics Today November 1982,S. 69 u. Juni 1983 S. 41. Zurück

2 Science v. 11.1.1977,S. 589. Nach Carol Truxal, Buying, selling, and trading technology, IEEE Spectrum 2/1984, S. s9, klassifizierten 1983 etwa 7000 Regierungsbeamte über 1 Million Dokumente. Vgl. auch National Academy of Science, National Academy of Engineering, Institute of Medicine (Hg.): Scientific Communication and National Security (Corson Report), Washington 1982, S. 27 ff., S. 97 ff., S. 143 ff. Zurück

3 Edward Gerjnoy: Embargo on ideas: the Reagan isolationism, in: Bulletin of the Atomic Scientists, November 1982, S.31. Zurück

4 Rosenbaum, Academic Freedom, S.2s7 Zurück

5 Ebd. S. 258. Als Beispiel für die Unterbindung wissenschaftlicher Publikation durch Klassifikation vgl. IEEE Spectrum 2/1984, S. 58 f.; zur Kritik auch Bulletin of the Atomic Scientists, April 1982, S. 15. Zurück

6 Vgl. Physics Today/ Juni 1983, S. 43,Truxal, Technology, S. 59; Physics Today, Juni 1982,S. 49 f. Zurück

7 Vgl. Lois R. Ember: Secrecy in science: a contradiction in terms? in: Chemical and Engincering News (C&EN) v. 5.4.1982,S. 13; Truxal, Technology, S. 63 ff.; Science v. 8.9.1978; Science News v. 10.6.1978; Stephen H. Unger: The Growing Threat of Government Secrecy, in: Technology Review/ Februar/März 1982/S. 32; Ivars Peterson: Cryptology and national security, Freedam of Information Center Report No. 442, School of Journalism, University of Missouri at Columbia, Juli 1981, S. 4. Zurück

8 Vgl. Gerjnoy, Embargo, S. 37. Zum Folgenden vgl. besonders die Hearings before a subcommittee on Government operations, House of Representatives, 69. Congress, 2. Sess., The Government's Classification of private Ideas, Washington 1981, S. 27 ff. Zurück

9 Vgl. ebd., S. 1 ff., 181, 450 ff.; Truxal, Technology, S. 64 ff. Zurück

10 Vgl. C&EN v. 5.4.1982, S. 13. Zurück

10a Vgl. Harold  P. Green: A legal perspective. Born classified in the AEC, in: Bulletin of the Atomic Scientists/Dezember 1981 Zurück

11 Vgl. Green, Born classified, S. 28. Zurück

12 Peterson, Cryptology, S. 5; vgl. auch Unger, Threat, S. 36. Zurück

13 Richard G. Hewlett: A historian´s view, in: Bulletin of the Atomic Scientists/Dezember 1981, S. 25. Zurück

14 Alicia Patterson Foundation: apf Reporter 3/1979 S. 4. Zum Progressive-Fall s.a. Physics Today, Oktober 1983, S. 44 f.; Unger, Threat, S. 37; C&EN v. 5.4.1982, S. 12 f. Zurück

15 Ebd., S. 12. Zurück

16 Physics Today,Oktober 1983, S. 43. Zurück

17 So ein Vertreter der Standford University nach Truxal, Technology, A.63. Zurück

Rainer Rilling ist Privatdozent für Soziologie an der Universität Marburg und Geschäftsführer des Bundes demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler

Hippokrates und Holocaust

Hippokrates und Holocaust

Von der Verantwortung der Wissenschaft in finsterer Zeit

von Walter Jens

Der naturwissenschaftlichen Aufklärung den Charakter eines Entwurfs zur Beförderung von Emanzipation wiederzugeben, der bis heute nicht realisiert, ja, ins Gegenteil verkehrt worden ist: darauf käme es an – und, in der Tat, an Visionen, das ursprüngliche „Projekt“, die Menschheit auf die Ebene einer zweiten, von Zwängen und Fremdbestimmungen befreiten Natur zu heben und derart, auf Autonomie aber nicht Autarkie der Subjekte abzielend, zur Wiederversöhnung von Wissenschaft und Moral beizutragen (…) an solchen Visionen mangelt es nicht.

Albert Einsteins Entwurf einer neuen, Herrschaft transzendierenden Denkweise und Albert Schweitzers Bestimmung der Ethik als „Ehrfurcht vor dem Leben“, allen voran, „Erneuerung der Kultur“, heißt es in Schweitzers Schrift Kultur und Kritik, „ist nur dadurch möglich, daß die Ethik wieder Sache der denkenden Menschen wird, und daß die Einzelnen sich in der Gesellschaft als ethische Persönlichkeiten zu behaupten suchen. In dem Maße, als wir dies durchführen, wird die Gesellschaft aus einer rein natürlichen Größe (…) eine ethische (…) Im Besitz des absoluten Maßstabs des Ethischen lassen wir uns nicht mehr Prinzipien der Zweckmäßigkeit, ja der vulgärsten Opportunität als Ethik mundgerecht machen (…) Alle unter uns auftretenden Gegensätze, Gesinnungen und Ideale messen wir in grandioser Pedanterie mit dem durch die absolute Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben geeichten Maße. Gelten lassen wir nur, was sich mit der Humanität verträgt.“ Ist das, gilt es zu fragen, wirklich nur eine pathetische Deklaration, diese Verlautbarung aus der Zeit des Ersten Weltkrieges, geschrieben im afrikanischen Urwald: den kriegsführenden „Kulturnationen“ vor die Füße geschleudert? Nur Kampfansage, formuliert in einem hochidealistischen Stil an die Adresse der Herrschenden, der „verblödeten Autoritäten“, wie Schweitzer schrieb, der „politischen Machthaber“, die „die Menschenrechte bei Banketten verherrlichen und in ihrem Handeln mit Füßen treten“?

Nein, es ist mehr – viel mehr: die zornige Bußrede eines Mannes, eines Naturwissenschaftlers, Arztes und Theologen, dessen barocke Predigt, „Kehrt um, ehe es zu spät ist“, nicht nur den Regierenden, sondern auch – und gerade! – der eigenen Zunft gilt, die ihr Wissen in den Dienst der Macht gestellt habe: in den Dienst des Kriegs!

So betrachtet gehört Albert Schweitzer – neben Einstein und Georg Friedrich Nicolai – zu jener Handvoll Aufrechter, die, lange bevor es eine Kernspaltung gab, die Frage durchdachten, kraft welcher Gesinnung und welcher für unabdingbar erklärten ethischen Prämissen der Sündenfall der Wissenschaft – Protagoras´ Triumph über den Dichter der Antigone! – rückgängig zu machen sei … eine Frage, die sich heute, in einem Augenblick auf den Begriff gebracht sieht, da die Dialektik von Allmacht und Ohnmacht, allen sichtbar, ihre äußerste und endgültige Konsequenz gefunden hat: „Gleich wie lange, gleich ob es ewig währen würde“, so Günther Anders in der „Antiquiertheit des Menschen“, „dieses Zeitalter ist das letzte: Denn seine differentia specifica, die Möglichkeit unserer Selbstauslöschung kann niemals enden – es sei denn durch das Ende selbst.“

In dieser Situation, da der totale Triumph wissenschaftlichen Entdeckens zugleich das Ende aller Forschung bedeuten könnte, in dieser Situation ist zweierlei unabdingbar: zum ersten, aufs Gestern bezogen, ein nüchternes Resumee. Das Bedenken, Sammeln und Aufzählen aller Erfindungen, die dazu beitrugen, die „letzte Epidemie“ – den drohenden Holocaust also – näherzurücken. Da wären Fritz Haber, der „Vater des Gaskrieges“, wie man ihn genannt hat, und Edward Teller zu einem großen imaginären Disput einzuladen, da hätte Einstein noch einmal, seinen Brief an den Präsidenten betreffend, Rechenschaft abzulegen; da käme Oppenheimer zu Wort, Brecht mischte sich ein und akzentuierte das Gespräch durch die Bemerkung, die Wissenschaftler möchten bedenken, daß es, im Zeitalter der Atomkriege, nur noch Niederlagen, aber keine Siege mehr gäbe, ja, daß gerade die vermeintlichen Siege die gnadenlosesten Niederlagen seien: „Als die ersten Blättermeldungen (vom Abwurf der Bombe auf Hiroshima) Los Angeles erreichten“, heißt es in Brechts Journal, „wußte man, das dies das Ende des gefürchteten Krieges, die Rückkehr der Söhne und Brüder bedeutete. Aber die große Stadt erhob sich zu einer erstaunlichen Trauer. Der Stückeschreiber hörte Autobusschaffner und Verkäuferinnen in den Obstmärkten nur Schrecken äußern. Es war der Sieg, aber es war die Schmach einer Niederlage.“

Aufarbeitung der Geschichte ihrer Disziplin, mitsamt deren Dialektik: Das wäre, im Zeichen der drohenden Katastrophe, die erste Aufgabe der Naturwissenschaftler, wobei es wohlgemerkt um Trauerarbeit, nicht aber um Schuldzuweisungen ginge. Und dann das zweite: Der historischen Analyse hätte, zum Heute gewendet, die wissenschaftstheoretische Besinnung auf die Verantwortung der Physiker, Biologen, Mediziner in einem Augenblick zu folgen, da sie ihre Unschuld – sprich: zeitenthobene Neutralität – ein für allemal verloren haben. Abermals wäre ein Disput zu inszenieren – ein Streitgespräch zwischen Edward Teller, beispielsweise, und James Franck.

Teller: „Der Wissenschaftler ist für die Gesetze der Natur nicht verantwortlich. Seine Aufgabe ist es lediglich, herauszufinden, in welcher Weise diese Gesetze funktionieren. Die Aufgabe des Wissenschaftlers besteht darin, Wege zu suchen, diese Gesetze dem menschlichen Willen untertan zu machen. Es ist hingegen nicht die Aufgabe des Wissenschaftlers zu entscheiden, ob Bomben gebaut, ob sie angewandt oder wie sie angewandt werden.“ Gegenrede James Franck und seines Teams: „In der Vergangenheit konnten die Wissenschaftler jede unmittelbare Verantwortung für den Gebrauch, den die Menschheit von ihren uneigennützigen Entdeckungen machte, ablehnen. Jetzt aber sind wir gezwungen, einen aktiven Standpunkt einzunehmen, weil die Erfolge, die wir auf dem Gebiet der Kernenergie errungen haben, mit unendlich viel größeren Gefahren verbunden sind als bei allen Erfindungen der Vergangenheit.“ Hier Edward Teller, dort James Franck: Die Entscheidung, wer von beiden Recht und Moralität auf seiner Seite hat, scheint einfach zu sein – ist es aber in Wahrheit offenbar nicht: Wie anders wäre es sonst zu erklären, daß die Mehrzahl der Wissenschaftler auch heute zwar noch wie Franck redet aber wie Teller handelt? Wo, fragen wir, liegen die Gründe der Schizophrenie, die Naturforscher veranlaßt, den Mächtigen die Verwertung ihrer Forschung zu überlassen, obwohl sie doch zum ersten wissen, daß die Entscheidungsbefugten man denke an die Verhöhnung der Physiker durch General Groves beim Bombenabwurf auf Nagasaki – nicht daran denken, die Skrupel der Forscher auch nur in Erwägung zu ziehen, obwohl sie, zum zweiten, anders als ihre Vorgänger sehr wohl eine Ahnung haben, „zu welchen Greueln gegen die Menschheit“, mit Brecht zu reden, „die Meisterung der Natur führen mag“, obwohl sie zum dritten durch die Geschichte belehrt sein müßten daß gerade die barbarischsten Mächte sich mit Vorliebe der scheinbar unpolitischen Wissenschaftler bedienen, um ihre Ziele in die Tat umzusetzen, und obwohl sie, viertens und letztens, zumindest heute erkennen müßten, in welchem Ausmaß sich anno 1984 auch die vermeintliche freie Grundlagenforschung von Forderungen der Rüstungs-Lobbies und Militär-Bürokraten akzentuiert sieht.

Obwohl, obwohl, obwohl! Und warum das alles? Warum diese unermüdliche Schuldanhäufung der Wissenschaft trotz der Kenntnis, des Problembewußtseins und der hohen Moral Tausender von Wissenschaftlern? Warum, ungeachtet aller Einsicht in die Ambivalenz noch der humansten: weil scheinbar (aber eben nur scheinbar!) nicht korrumpierbaren Forschung, der Verzicht auf allgemeine Verweigerung kriegsfördernder Betätigung? Warum, weltweit, die Scheu, dort Widerstand zu leisten, wo mit der Vernichtung des anderen längst schon der eigene Untergang droht? Warum das geheime Komplizentum mit einer offen auf Eliminierung des Gegners abzielenden Macht von Seiten der Wissenschaftler, die, wiewohl aufgeklärt seit langem, dabei sind, in letzter Konsequenz nicht nur den Mord, sondern auch den Suizid zu befördern?

Die Antwort muß lauten: Diese Schizophrenie grassiert, weil zwar einzelne Wissenschaftler, nicht aber die Wissenschaft über einen verbindlichen Moral-Kodex im Sinne des hippokratischen Eides für die Ärzte verfügt, sich also nicht in der Lage sieht, die spätestens durch den potentiellen Holocaust unabdingbar gewordene Kongruenz von Ethik und Wissenschaft mit den ihr eigenen Mitteln: szientifisch also zu analysieren … und eben dies ist die conditio sine qua non umfassender Verweigerung: der Resistance einer Wissenschaft, die ihr Ziel, die Mühsal der menschlichen Existenz zu erleichtern, durch Botmäßigkeit gegenüber der Militärindustrie ins Gegenteil verkehrt sieht und deshalb danach trachten sollte, Verantwortungsethik – im Sinne eines Bedenkens der Folgen – und Gesinnungsethik vereinend, endlich jene Postulate zu erfüllen, die der Philosoph und Theologe Kurt Weisshaupt in einem Essay „Von der Verantwortungslosigkeit des Wissenschaftlers“ bereits vor zehn Jahren aufgestellt hat: „In den Wissenschaften muß von der individuellen und subjektiven zur intersubjektiven und wissenschaftlichen Rechtfertigungsstrategie vorangeschritten werden. Eine jede Wissenschaft selbst hat Wissenschaftsethik auszubilden als jenen Forschungskomplex, welcher Entscheidungsprozesse und Verantwortlichkeit auf allen Ebenen innerhalb der Wissenschaft und gegenüber der realen Lebenswelt konkretisiert.“

Herausbildung einer wissenschaftlichen Ethik als verbindlicher und konsensfähiger Gesellschaftsmoral, vorgelegt von Forschern, deren Integrität, so Albert Einstein, „für ihre Generation und für den Verlauf der Geschichte vielleicht von noch größerer Bedeutung ist als rein intellektuelle Leistungen“ (…) Die Herausbildung einer wissenschaftlichen Ethik im Sinne des hippokratischen Eides ist unabdingbar, wo es in später, aber noch nicht letzter Stunde, darum geht, die Arbeitsteilung in Beruf und Privatheit, in die wertfreie, von keinem et respice finem geprägte Welt der Tätigkeiten und den Raum schöner Enthobenheit, wo das Gewissen getrost seine rigiden Forderungen anmelden darf, endlich zu überwinden und damit einem Zustand ein Ende zu machen, von dem einer, der sich auf Schizophrenien verstand, Karl Jaspers, gesagt hat: „Wo dies eine“, die Berufsarbeit, „sich vollzieht“, so der Traktat „Die Atombombe und die Zukunft des Menschen“, „schweigt das andere", das Gewissen. „Wo die eine sich vollzieht, schweigt das andere. Für die Befehlsausführung im Beruf weiß sich der Ausführende nicht verantwortlich. An das Endziel wird nicht gedacht, denn es ist nicht die eigene Sache. Wenn dies Ganze ein Verbrechen ist, so hat nicht er es befohlen.“

Überwindung der Diskrepanz von Wissenschaft und Ethik im Rahmen nüchterner Selbstreflexionen auf die Konsequenzen des eigenen Tuns, die kleinen Vergröberungen um die großen Perversionen: Das bedeutet, dazu beizutragen, die Verpflichtung, der Erhellung des verum zu dienen, durch das Selbst-Gebot zu ergänzen, das da besagt: Es ist nicht Aufgabe der Wissenschaft, sondern ein Verstoß gegen ihre Aufgabe, das Humanitäts-Potential zu vergrößern, wenn das verum zum Fetisch wird, weil sein Korrelat, das bonum, den Blicken entschwindet.

Verum et bonum, das eine nicht ohne das andere, hat im Sinne der Einsteinschen Forderung, es gelte um des Überlebens der Menschheit willens, eine neue Art des Denkens zu entwickeln (…) verum et bonum hat die Maxime einer Wissenschaft zu lauten, die sich ihrer gesellschaftlichen Verpflichtung bewußt ist und um die sophokleische Identität von menschlicher Größe und menschlicher Hybris weiß (verum sine bono).

Ein hippokratischer Eid – „Ich sage Nein zu allem, was den Krieg befördern hilft und mich und meinesgleichen und die Welt, in der ich lebe, sterben lassen wird.“ – gut und schön. Entwurf einer verbindlichen Wissenschaftsethik, die jeden, der gegen ihre Verbote verstößt, zum outcast macht, der in den Reihen der Wissenschaft, gut Brechtisch, nicht geduldet werden kann und sich folglich so behandelt sieht, wie einst Fritz Haber von Rutherford behandelt worden ist (mit Verachtung und ohne Handschlag: Max Born, auch er zum Fähnlein der wenigen Hellsichtigen gehörend, berichtet darüber) – nichts dagegen zu sagen. Nur darf es nicht beim schon so oft, und von vielen, geträumten Gedankenspiel bleiben: Wie also sähen sie aus, die Prämissen einer verbindlichen Wissenschaftsethik – einer Moral, die, wiewohl konfrontiert mit der möglichen Apokalypse, dennoch nüchtern zu sein hat, nicht nur ad hoc entworfen, sondern auch historisch ableitbar: plausibel und eher behutsam als eifernd – im Tonfall des Franck-Reports etwa?

Da müßte einsichtig werden, daß es, auf der einen Seite, ein Verleugnen oder gar Vergessen des gewonnenen Kenntnisstandes nicht gibt – „Was einmal gedacht wurde“, heißt es in Dürrenmatts „Physikern“, „kann nicht mehr zurückgenommen werden“ -, daß aber, auf der anderen Seite, „alles machen können“ eins und „alles machen dürfen“ ein anderes ist, ja, daß sich Wissenschaft erst durch freiwilligen Verzicht aufs Mach- aber nicht Verantwortbare als menschlich erweist – und als meisterlich in der Beschränkung, mit der großen Kunst vergleichbar und klassisch dazu.

„In Zeiten, da es gut um die Künste steht“ – Paul Valery: „Von der überragenden Würde der Künste, die das Feuer wirkt“- „kann man sehen, wie sie sich Schwierigkeiten schaffen, die nur Geschöpfe ihrer Einbildung sind; wie sie sich ganz und gar willkürliche Gesetzlichkeiten und Regeln erfinden, Freiheiten beschneiden, die fürchten zu müssen sie begriffen haben, und sich den Gebrauch der Fähigkeit untersagen, mit sicherem Griff und im Augenblick alles machen zu können, was in ihrem Wollen liegt.“

Warum sollte, mutatis mutandis, die Wissenschaft, statt sich im Ziellos-Zerstörerischen zu verlieren, das Kunst-Gesetz der freiwilligen Selbst-Erschwerung (ein Gebot, das auf begrenztem Feld Höchstes zu leisten verlangt) nicht, kraft eigener Überzeugung, zu dem ihrigen machen, da es die Stunde mit ihren Gefahren nun einmal verlangt?

Wieviel könnten, im Zeichen der überall sichtbaren Symbiose von Kunst und Wissenschaft, den belles lettres und der Medizin, der Musik und der Mathematik, selbst die exakten Disziplinen den Künsten entleihen: das Wissen nicht zuletzt, daß es mittlerweile längst ein Gemeinplatz – der Einbeziehung des reflektierenden Subjekts in die Erkenntnisprozesse bedürfe, um Wissenschaft als eine humane und nicht als eine von Robotern zu bewältigende Disziplin ausweisen.

Walter Jens, 1923 geboren, ist Professor für Allgemeine Rhetorik an der Tübinger Universität. Er zählt zu den Mitgliedern der „Gruppe 47“, er war lange Präsident des PEN-Zentrums in der Bundesrepublik. Jens war von 1972 bis 1976 Mitglied des Vorstandes des Bundes demokratischer Wissenschaftler.

Eine Göttinger Erklärung heute

Eine Göttinger Erklärung heute

Göttingen, den 30. Juni 2007

von Göttinger Wissenschaftler für Frieden und Abrüstung

Wir, Teilnehmerinnen und Teilnehmer eines Göttinger Friedenskongresses anlässlich des 50. Jahrestages der Göttinger Erklärung der 18 Atomwissenschaftler gegen die atomare Aufrüstung der Bundeswehr haben uns mit den Problemen von Kriegen, Aufrüstung und Militärstrategien befasst. Angesichts eines sich verschärfenden weltweiten Kampfes um mineralische und Energie-Rohstoffe und einer immer offeneren militärischen Durchsetzung von wirtschaftlichen Interessen weniger Großmächte treten wir an die Öffentlichkeit und beziehen Stellung zu wichtigen Brennpunkten der heutigen Friedenspolitik.

Militarisierung des Denkens und der Politik

Die durch das Grundgesetz nach dem II. Weltkrieg auferlegte Beschränkung der Bundeswehr aufdie Landesverteidigung wurde in den letzten Jahren Stück für Stück aufgehoben, so dass Deutschland sich nun weltweit an Militäreinsätzen, ja sogar an Angriffskriegen und Besatzungen beteiligt. Die Forderung von Auslandseinsätzen wurde bereits in den Verteidigungsrichtlinien von 1992 offen begründet mit der Notwendigkeit »zur Sicherung des freien Welthandels und zur Sicherung des ungehinderten Zugangs zu Rohstoffen und Märkten in aller Welt«. Militärische Auslands-Einsätze sollen demnach helfen, das ungebändigte exponentielle ökonomische Wachstum der reichen Nationen weiter zu ermöglichen und abzusichern.

Derzeit stehen fast 10.000 Bundeswehrsoldaten und geheim agierende Sondereinheiten in Auslandseinsätzen, u. a. in Afghanistan, Kosovo, Bosnien-Herzegowina, am Horn von Afrika, in Sudan, Georgien, Äthiopien und im östlichen Mittelmeerraum. Diese Einsätze werden mit dem Kampf gegen Terrorismus, humanitärer Hilfe und zur Förderung der Demokratie gerechtfertigt. Tatsächlich geht es jedoch um Geopolitik und die Sicherung des Zugriffs auf Ressourcen. Wir lehnen Einsätze der Bundeswehr im Ausland unter diesen Vorzeichen ab und fordern die Bundesregierung und den Bundestag auf, diese einzustellen.

Die europäischen Mitgliedsstaaten dürfen auch nicht (wie es im »Vertrag über eine Verfassung für Europa« steht) durch eine Aufrüstungs-Verpflichtung gebunden werden, »ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbesser« und dazu ein »Europäisches Amt für Rüstung, Forschung und militärische Fähigkeiten« einzurichten. Der neue EU-Grundlagenvertrag darf eine solche Forderung nicht enthalten. An Stelle eines »Europäischen Amtes für Rüstung, Forschung und militärische Fähigkeiten« (EU-Verfassungstext) fordern wir ein bislang nicht erwähntes »Europäisches Amt für Abrüstung und nichtmilitärische zivile Konfliktlösungs-Strategien«. Außerdem fordern wir eine strikte Einstellung von Rüstungsexporten, die immer wieder kriegerische Konflikte ermöglichen und anheizen.

Europa, und dabei insbesondere Deutschland, muss sich als Vorkämpfer für friedliche und zivile Konfliktlösungen unter den Nationen herausheben. Dazu gehören zu allererst, wie im EU-Verfassungsentwurf bereits formuliert wurde, die »Solidarität und Achtung unter den Völkern«, die Bekämpfung von Armut, Hunger und Not und die Erhaltung der Umwelt und der natürlichen Lebensgrundlagen durch eine nachhaltige Wirtschaftsordnung in »Verantwortung gegenüber den künftigen Generationen und der Erde«.

Die Sicherheit der Menschen in Europa ist nicht durch die Macht seiner militärischen Mittel zu gewährleisten. Europa muss der gegenwärtig bedrohlich zunehmenden Militarisierung der internationalen Beziehungen entgegentreten. Darin muss es eine Vorbildfunktion übernehmen. Es muss seine finanziellen und humanitären Potentiale für die Lösung der großen Menschheitsprobleme des Hungers, der extremen sozialen Polarisierung und des Klima- und Umweltschutzes einsetzen.

Atomwaffen abschaffen – bei uns anfangen

Immer noch bedrohen mehr als 40.000 Atomsprengköpfe weltweit die Menschheit. Die offiziellen (und auch die versteckten) Atommächte weigern sich, die atomare Abrüstung durchzuführen, zu der sie sich im Atomwaffensperrvertrag verpflichtet haben. Im Gegenteil. Neue Generationen von Atomwaffen werden gebaut und getestet. Gleichzeitig wird das Atomwaffenmonopol schamlos benutzt, um andere Länder zu erpressen und mit Krieg und sogar offen mit atomaren Erstschlägen zu drohen. Bereits die Drohung, nicht nur der Einsatz von Atomwaffen verstößt nach dem Rechtsgutachten des Internationalen Gerichtshofes vom 8.7.1996 grundsätzlich gegen das Völkerrecht und »insbesondere gegen die Regeln des humanitären Völkerrechts«.

»Raketenabwehr-Schilde«, die erwiesenermaßen gar nicht wirkungsvoll sind, wirken provokativ und können bislang nicht-nukleare Staaten dazu veranlassen, ein eigenes atomares Raketensystem aufzubauen. Dadurch wird eher ein neuer weltweiter Rüstungswettlauf ausgelöst. Nur durch eine radikale atomare Abrüstung kann die nukleare Nichtverbreitung gestärkt und können andere Staaten abgehalten werden, sich selbst Nuklearwaffen zuzulegen.

Die Göttinger 18 hatten sich mit ihrem Wissen um die Folgen eines Atomkrieges gegen die atomare Bewaffnung der Bundeswehr gestellt. Aber die Bundesluftwaffe übt im Rahmen der »nuklearen Teilhabe« mit NATO-Atomwaffen den potentiellen Einsatz atomarer Waffen. Dadurch wird das damals politisch akzeptierte Anliegen der Göttinger Atomwissenschaftler umgangen. Wir fordern im Sinne und in der Tradition der »Göttinger 18« den Verzicht auf die »nukleare Teilhabe«. Wir brauchen eine Welt frei von Atomwaffen. Wir treten ein für ein internationales Verbot und die Vernichtung aller ABC Waffen. Die Bundesrepublik muss damit beginnen und frei von Massenvernichtungswaffen werden.

Die »Göttinger 18« standen noch unter der verständlichen Betroffenheit über die Folgen von Hiroshima und Nagasaki. Daher sahen sie in der zivilen Nutzung der Atomenergie die friedliche Alternative. Wir wenden uns heute in Kenntnis der vielfältigen Gefahren (nicht nur Tschernobyl) und im Bewusstsein der Janusköpfigkeit der Atomtechnologie, der Weiterverbreitung und des militärischen Gebrauchs von Atomtechnologie auch gegen einen weiteren Ausbau der so genannten »friedlichen Nutzung der Atomenergie«.

Wir wenden uns darüber hinaus auch an alle Wissenschaftler/innen, sich nicht an Rüstungsprojekten zu beteiligen. Forschung und Lehre dürfen sich nur friedlichen und zivilen Zielen verpflichtet fühlen. Wissenschaftler/innen müssen außerdem über die Sinnlosigkeit und die zerstörerische Wirkung von Kriegen, insbesondere durch die neuen Waffensysteme aufklären.

Göttinger Wissenschaftler für Frieden und Abrüstung mit: Verein für Umwelt- und Konfliktforschung e.V. (VUK), Institut für Forschung und Bildung (IFB), Göttinger Friedensbüro, AG Friedensforschung der Universität Kassel (AGIF), Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW), Naturwissenschaftler-Initiative »Verantwortung für Frieden und Zukunftsfähigkeit«, Rosa-Luxemburg-Bildungswerk Nds. E.V., AG »Wissen und Kritik« an der TU Braunschweig.

„Der Aufstand gegen das Unerträgliche“

Robert Jungk zum Widerstand gegen Atomrüstung, Krieg und Gewalt und für eine humane Zukunft

„Der Aufstand gegen das Unerträgliche“

von Hans Holzinger und Robert Jungk

In Zusammenarbeit mit dem Arbeitskreis Atomwaffenfreies Europa und der Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen

Hans Holzinger: Vorwort

„Wer lange lebt, hat oft genug erfahren, daß sich zwar nicht alles, aber doch vieles mit der Zeit zum Besseren wenden kann. Das eigene Ende ist unvermeidlich, aber von jedem kreativen, aktiven Menschen geht ein Anstoß aus, der auf unvorhersehbare Weise in die Zukunft weitergeleitet wird.“ Mit diesen Sätzen beendet Robert Jungk seine Autobiographie »Trotzdem. Mein Leben für die Zukunft« (Hanser 1993). Sie lassen vielleicht erahnen, woraus der Ermutiger die Kraft für sein lebenslanges Engagement geschöpft hat.

Zu warnen vor dem blinden »Fortschritts«-Glauben des naturwissenschaftlich – technischen Zeitalters, das im Irrsinn des nuklearen Wettrüstens wohl seine (bislang) gefährlichste Zuspitzung erfahren hat; zu bekräftigen, daß Friede und Abrüstung »von unten«, von den vielen Menschen, die sich einmischen und wehren, erreicht werden müssen; sowie drittens die feste Überzeugung, daß das »Nein« immer auch ein »Ja« brauche, also die Suche nach einer humanen, von den Menschen selbst gestalteten und bestimmten Gesellschaft – so lassen sich die drei großen Ziele in Robert Jungks Wirken festmachen.

Es war schwierig und faszinierend zugleich, aus dem umfangreichen Werk, das Jungk uns hinterlassen hat, Textpassagen auszuwählen, die Aufschluß geben über sein Friedens-, Politik- und Zukunftsverständnis und seine Biographie als Autor, Wissenschaftskritiker und Mitstreiter der Friedens- und Anti-Atom-Bewegung widerspiegeln. Ich hoffe, daß der vorliegende Band seinem Ziel gerecht und seine Leserinnen und Leser finden wird. Die ausgewählten Texte bleiben notgedrungen fragmentarisch. Sie sollen nicht zuletzt jene, die Jungks Bücher noch nicht kennen, auf diese neugierig machen, und jene, die sie kennen, zum erneuten Lesen anregen. Es lohnt sich allemal.

»Der Aufstand gegen das Unerträgliche« – so lautet der Untertitel jenes Buches »Menschenbeben«, in dem Robert Jungk die weltweite Friedensbewegung der 80er Jahre gegen den Irrsinn des nuklearen Wettrüstens als Beteiligter und engagierter Beobachter sehr eindrucksvoll beschrieben hat. Er sei dieser Textsammlung als Motto vorangestellt.

Zu danken bleibt dem »Arbeitskreis Atomwaffenfreies Europa« für die Idee zu diesem Projekt und den aufgebrachten Mitteln zu seiner Realisierung.

Hans Holzinger, Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen
Salzburg, September 1995

Einleitung

Wir wollen Robert Jungk nicht vergessen. Als uns im letzten Jahr die Nachricht von seinem Tode erreichte, beschlossen wir im Arbeitskreis, durch eine Auswahl aus seinen wichtigsten friedenspolitischen Texten für unsere Mitglieder und die Leserinnen und Leser von W&F sein Andenken lebendig zu erhalten.

Und dies ist mehr als eine bloße Totenehrung. Lest, und ihr werdet seine vielfältig gegenwärtige Bedeutung erkennen. Auch dort, wo wir uns mit Jungk rückbesinnen auf die Anfänge der ungeheuerlichen atomaren Gefahr, hilft es uns, das Ausmaß und die Etappen des Kampfes uns wieder voll zu vergegenwärtigen – jenes Kampfes, denen auch unser Arbeitskreis seinen Namen und sein Wirken verdankt – jenes Kampfes, der durch die größenwahnsinnigen Atomtests des Herrn Chirac gerade in unseren Tagen sich leider wieder als noch völlig aktuell erweist.

Robert Jungk bleibt ein großes Vorbild der Friedensbewegung. Warum? Weil er in schlechthin vorbildlicher Weise die Arbeit des Forschers und des Publizisten mit dem unmittelbaren persönlichen Einsatz des Friedensbewegten verband. Wir haben auch in der Friedensbewegung nämlich viele, die nur lesen, reden und schreiben oder nur an Aktionen interessiert sind. Aber gerade heute, wo die Sachverhalte und die Lösungen komplizierter werden (siehe Jugoslawien!), wo Friedensarbeit mehr denn je mühsame Kleinarbeit ist und selbst Demos meist keine »Massendemonstrationen« mehr sind, ist von uns allen intellektuelle UND Aktionsarbeit gefordert – von jedem/r nach ihren/seinen Kräften.

Und deshalb bleibt Robert Jungk unser großes Vorbild. Er war immer mit dabei, ist immer und immer wieder an der Spitze unserer Demonstrationen mitgegangen, hat uns »einfachen« Bürgerinnen und Bürgern Mut gemacht durch sein Dabeisein, seine mutmachenden Reden, bei denen er kein Blatt vor den Mund nahm, sondern die Herrschaftsverhältnisse, die Rüstungsinteressen, die ideologischen Verharmlosungen des atomaren Abschreckungsdenkens beim Namen nannte.

Dabei war seine größte Leistung, die ihn von den meisten nur-kritischen Linken unterschied, daß er immer auch Wege nach vorn, Auswege, Fortschritte, positive Alternativen und Ansätze aufzeigte. Tief philosophisch verankert war sein Wissen: das bloße Aufzeigen der Misere, der destruktiven Mächte stumpft zuletzt ab, treibt in die Resignation; nur wenn wir auch den Blick und unsere Aktivität auf Ansätze einer humaneren Ordnung richten, bleiben wir wirksam, überzeugen auch andere. Daher erfand er die Methode der »Zukunftswerkstätten«, in denen Menschen sich systematisch bemühen, von der Kritik des Bestehenden zum Entwurf und Inangriffnehmen positiver Alternativen zu gelangen. (Und schon in seiner Emigrationszeit, in den USA, gründete er eine Zeitung, die »good news« verbreitete und damit dem fatalen Trend der Profitpresse entgegenzuwirken suchte, die von der Attraktivität der Horrormeldungen lebt und daher nach dem Prinzip handelt: »bad news are good news and good news are bad news!«)

Heute hätte er mit Emphase auf den weltweiten – nie zuvor so verbreiteten – Widerstand gegen die französischen Atomtests verwiesen und uns zugerufen: Seht den Pyrrussieg Chiracs – er ist in Wahrheit eine große internationale Niederlage Frankreichs!

Fritz Vilmar, Arbeitskreis Atomwaffenfreies Europa

Die Zukunft hat schon begonnen (1952)

Das reiche publizistische Schaffen und politische Wirken von Robert Jungk ist bestimmt vom »Anschreiben« gegen die nukleare Bedrohung sowie gegen die unbedachten Risiken des naturwissenschaftlich-technischen Fortschritts generell. Wenn Günther Anders als »der Philosoph des Atomzeitalters« zu bezeichnen ist, so war Jungk dessen engagiertester und kritischster Berichterstatter. Die Warnungen vor dem nuklearen Wettrüsten leiten auch Jungks Welterfolg als Autor ein. 1952 erscheint das erste Buch »Die Zukunft hat schon begonnen«. Diese Berichte aus amerikanischen Rüstungslaboratorien, über geheime Atomanlagen und Atombombentests erregen Aufsehen weit über den deutschen Sprachraum hinaus. Doch nicht nur der »Griff nach dem Atom«, sondern auch jener nach der Natur, dem Menschen und dem Weltraum ist Gegenstand dieser Abhandlungen, die vor den Gefahren blinder Technikgläubigkeit warnen, und die der Autor insbesondere im »Nachkriegsamerika« ausmacht.

So ist zur Zeit in den Vereinigten Staaten eine Welt im Entstehen, wie es sie nie zuvor gab. Es ist die von Menschen entworfene, im Höchstmaß vorausgeplante, kontrollierte und je nach dem Fortschrittsstand immer wieder »verbesserte« Schöpfung. Sie besitzt ihre besondere Art von Schönheit und von Schrecken. Denn obwohl die menschlichen Schöpfer sich bemüht haben, aus ihrer Kreation Schicksal, Zufall, Katastrophen, Unglück und Tod zu verbannen, so treten die Fortgewiesenen nun verkleidet nur noch viel eindringlicher auf: Kalkulationsfehler der Planstatistiker, Versagen der technischen Apparatur, Unfälle und Explosionen bringen ein Vielfaches an Leid.

Sogar die alten dunklen Mythen vom verschleierten Bild, dessen Vorhang niemand heben darf, von Geistern, Dämonen und verwunschenen Regionen, ja von der Hölle selbst, kommen in dieser scheinbar so genau ausgerechneten, rational entstandenen Welt zu neuer Geltung. Denn der Durchschnittsmensch bewegt sich in der zweiten, künstlich aus der Retorte gewonnenen Natur genauso unsicher wie seine prähistorischen Vorfahren in der primären Natur, weil nur die Spezialisten – und oft nicht einmal sie – die Wesen und Kräfte begreifen, die sie in die Welt gesetzt haben.

Diese »neueste Welt« ist keine ferne Utopie, kein Geschehen aus dem Jahre 1984 oder einem noch ferneren Jahrhundert. Wir sind nicht wie in den Zukunftsromanen von Wells, Huxley und Orwell durch den breiten Graben der Zeit von dem reißenden Tier Zukunft getrennt. Das Neue, Andere, Erschreckende lebt schon mitten unter uns. So ist es, wie alle historische Erfahrung zeigt, immer gewesen. Das Morgen ist schon im Heute vorhanden, aber es maskiert sich noch als harmlos, es tarnt und entlarvt sich hinter dem Gewohnten. Die Zukunft ist keine sauber von der jeweiligen Gegenwart abgelöste Utopie: Die Zukunft hat schon begonnen. Aber noch kann sie, wenn rechtzeitig erkannt, verändert werden.

In dieser zukunftsbezogenen »neuesten Welt« haben die Grenzen von Tag und Nacht, von Licht und Finsternis keine Gültigkeit mehr. Die Tat des ersten biblischen Schöpfungstages wird von den späten Nachkommen des Prometheus annulliert. Damit der moderne Produktionsprozeß keine Unterbrechung erleide, brennen in den Fabriken von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang die künstlichen »Sonnen« der elektrischen Scheinwerfer. In fast allen großen Städten Amerikas gibt es Markthallen und Drugstores, die verkünden: WIR SCHLIESSEN NIE! Es ist nur noch ein kurzer Schritt zu dem Augenblick, da der bereits in einem kalifornischen Laboratorium entwickelte künstliche »Nordlichteffekt« dem Himmel für immer sein Nachtgewand herunterreißt.

Und so geht es mit jedem einzelnen im heiligen Buche beschriebenen Schöpfungsakt. Der Mensch schafft künstliche Materie, er baut eigene Himmelskörper und bemüht sich dann, sie am Firmament über uns aufgehen zu lassen, er kreiert neue Pflanzen- und Tierarten, er setzt eigene, mit übermenschlichen Sinnesorganen ausgestattete mechanische Wesen, die Roboter, in die Welt.

Nur eines kann er nicht. Es ist ihm nicht gegeben, mit den Worten der Bibel auszurufen: „Und siehe da, es war sehr gut.“ Er darf niemals die Hände in den Schoß legen und sagen, daß seine Schöpfung vollendet sei. Rastlosigkeit und Unzufriedenheit bleiben mit ihm. „Denn hinter jeder Tür, die wir öffnen, liegt ein Gang mit vielen anderen Türen, die wir abermals aufschließen müssen, nur um dort dann wieder hinter jedem einzelnen Zugang weitere Pforten zu abermals neuen Toren zu finden“, sagte ein chemischer Forscher zu mir, einer der gottgleichen Schöpfer des künstlichen Universums. (…)

Es scheint, als sei hinfort der Sinn all dieses Schaffens nur wieder neues Schaffen. Produktion ruft nach immer mehr Produktion, jede Erfindung nach weiteren Erfindungen, die vor den Folgen der vorhergehenden Neuschöpfung schützen sollen. Der Mensch kommt nicht mehr zum Genuß der Welt. Er verzehrt sich in Angst und Sorge um sie. Kein Glücksgefühl und kein »Hosianna« begleiten den neuen Schöpfungsakt.

Diese Unzufriedenheit mit der menschengeschaffenen »neuesten Welt«, die heute in den Vereinigten Staaten oft schon so deutlich empfunden wird, daß sie zu einem Schwelgen in Furcht- und Untergangsphantasien ausartet, scheint mir eines der hoffnungsvollsten Zeichen für die Zukunft Amerikas. Zivilisationspessimismus ist nicht mehr nur die modische Pose eines kleinen Kreises von Künstlern und Intellektuellen, sondern der weitverbreitete Ausdruck tiefer Besorgnis und überall erwachender Kritik geworden.

Noch lebt allerdings dieser Zweifel meist in der gleichen Brust dicht neben dem alten maßlosen Geist eines übermütigen, vieles wagenden und alles erhoffenden Tätertums. Aber je lauter die Glückspropaganda wird, je provokanter das Lächeln der Zufriedenheit und der betonte Stolz auf den »höchsten Lebensstandard der Welt«, desto quälender werden auch die Bedenken.

Es gibt viele, die sich einfach ins Amüsement, in die Sexualität, den Alkohol oder die Neurose flüchten, um mit dem Unbehagen fertig zu werden, die sogenannten »escapists«. Es gibt andere, die resignieren, und einige wenige, die bewußt gegen die Entwicklung zu einem totalitären, inhumanen, technisierten Massenleben ankämpfen. Bestrebungen zur Vermenschlichung der Arbeit, zur Anpassung der Maschinen an die menschliche Psyche, zur Dezentralisierung und Humanisierung der großen Städte sind im Gang.

Aber all das hat vorläufig noch einen spielerischen oder sektiererischen Zug. Die große Geistesänderung, die sich durch Wiederanerkennung menschlicher Begrenzung und das Wiederfinden des Maßes ausdrücken müßte, ist bisher ausgeblieben. Da hilft kein messianisches Predigen, keine Ungeduld. Diese Wandlung kann wohl nur aus bitterster Erfahrung kommen. Erst wenn der krampfhafte Griff nach der Allmacht sich einmal löst, wenn die Hybris zusammenbricht und der Bescheidenheit Platz macht, dann wird Amerika von dem wiederentdeckt werden, den es vertrieben hat: Von Gott.

Aus: Die Zukunft hat schon begonnen. Amerikas Allmacht und Ohnmacht. Hier zit. n. Heyne-Neuausgabe, München 1990, S. 24-27.

Abdankung der Kultur (1955)

In seiner Kritik am naturwissenschaftlich-technischen Fortschrittsglauben war Robert Jungk wesentlich vom Denken Albert Schweitzers beeinflußt, über den er 1955 – was nur wenige wissen – eine Biographie verfaßte. Aufgrund der vertraglichen Bindung an den Verlag des ersten Bucherfolges »Die Zukunft hat schon begonnen« mußte diese unter Pseudonym – Jungk wählte den Namen Jean Pierhal – erscheinen. Im Vorwort, das er unter seinem richtigen Namen verfassen durfte, hebt Jungk Schweitzers Kritik am „Versagen der Philosophie“ und der „Abdankung der Kultur“ im naturwissenschaftlichen Zeitalter hervor, eine Kritik, die das Weltbild des Schweitzer-Biographen wohl nachhaltig geprägt hat.

(…) Um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, so stellt Schweitzer fest, habe die Abdankung der Kultur gegenüber der Wirklichkeit begonnen. Kampflos und lautlos habe sich dieses schicksalsschwere Ereignis vollzogen, und die meisten Zeitgenossen hätten es nicht einmal bemerkt. „Wie ging dies zu?“ fragt Schweitzer. Seine Anklage lautet klipp und klar: „Das Entscheidende war das Versagen der Philosophie.“

Nie hätte ich gedacht, daß der freundliche Professor mit dem etwas wirren vollen Haar und dem spitzbübischen Augenzwinkern eine so scharfe Klinge schlagen könnte. Schon um die Jahrhundertwende hatte er dem gedankenlosen Optimismus seiner Zeitgenossen nicht getraut, sondern tief beunruhigt die klaren Vorzeichen kommenden Unheils bemerkt. Der Erste Weltkrieg überraschte ihn darum nicht, sondern schien ihm nur die nun jedermann sichtbare Folge des fortschreitenden Kulturverfalls zu sein. Unmittelbar nach dem Kriege kündigte Schweitzer warnend eine zweite Katastrophe an. Die Selbstvernichtung der Kultur gehe weiter, erklärte er. Das, was von ihr noch stehe, sei nicht mehr sicher, ein neuer Erdrutsch könne es mitnehmen.

Und über drei Jahrzehnte später, als auch die zweite schmerzliche Prophezeiung sich erfüllt hat, stößt Albert Schweitzer dann zum dritten Male seine Warnung aus. Er steht, nun fast achtzig Jahre alt, schon sehr müde, aber doch immer noch aufrechterhalten vom Gefühl der Verantwortung für seine Mitmenschen, in der Aula der Universität Oslo und ruft aus:

„Wagen wir es, der Situation ins Gesicht zu sehen! Der Mensch ist zum Übermenschen geworden. Er ist nicht nur deshalb ein Übermensch, weil er über angeborene physische Kräfte verfügt, sondern weil er darüber hinaus, dank der Errungenschaften der Wissenschaft und Technik, die in der Natur schlummernden Kräfte beherrscht und zu nutzen versteht … Aber der Übermensch … hat sich nicht auf das Niveau übermenschlicher Vernunft erhoben, die dem Besitz übermenschlicher Kraft entsprechen sollte … Der Übermensch wird, im gleichen Maße wie seine Macht sich vergrößert, mehr und mehr ein armer, armer Mensch. Um sich nicht der Zerstörung, die von oben auf ihn herunterprasselt, völlig auszusetzen, muß er sich unter die Erde eingraben wie die Tiere des Feldes … Die wesentliche Tatsache, die unser Gewissen aufrütteln muß und der wir schon seit langer Zeit eingedenk sein sollten, ist, daß wir um so unmenschlicher werden, je mehr wir zu Übermenschen emporwachsen.“

Die Größe Albert Schweitzers zeigt sich nun darin, daß es ihm nicht genügte, seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts besorgt zu beobachten und zu diagnostizieren, sondern auch intensiv über Mittel zu ihrer Heilung nachzudenken. Woran lag es denn, daß die Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts ihre führende kulturgründende Stellung eingebüßt hatte? Wie hatte es kommen können, daß die Naturwissenschaften mit ihrem Riesenkind Technik unmenschlich wurden? Schweitzer glaubte die Ursache des Leidens in einer wichtigen Mangelerscheinung gefunden zu haben: dem Fehlen ethischer Ideen, ohne die keine lebensbejahende, lebenserhaltende und lebensfördernde Kultur gedeihen könne. Aus der Erkenntnis der Welt, wie sie wirklich ist – und um diese Erkenntnis haben sich bisher Philosophie wie Naturwissenschaften hauptsächlich bemüht – sei allerdings keine ethische Weltanschauung zu gewinnen. (…)

Aus: Vorwort zu: Albert Schweitzer. Biographie. Hier zit. n. Neuausgabe 1979, S.8f.

Heller als tausend Sonnen (1956)

Wohl als erster hat Robert Jungk die Geschichte der Atombombe und ihrer Träger beschrieben. Die aus intensiven Recherchen und zahlreichen persönlichen Gesprächen mit Atomforschern zusammengetragenen, 1956 unter dem Titel »Heller als tausend Sonnen« erschienenen Reportagen mach(t)en deutlich, daß sich NaturwissenschaftlerInnen nicht länger auf ihre »Grundlagenforschung« berufen können, sondern Verantwortung zu tragen haben für die technischen, sozialen und politischen Folgen ihres Tuns. »Heller als tausend Sonnen« schildert detailreich den Werdegang der Atomforschung von den ersten Kernspaltungsversuchen über den Bau der ersten Atombombe bis hin zur Entwicklung der amerikanischen Wasserstoffbombe, zu der Präsident Truman 1950 den Startschuß gab.

Drei Widerstände waren es, die ich in fast allen diesen Unterhaltungen zu überwinden hatte. Erstens die Befürchtung des Befragten, durch seine Äußerungen einen oder mehrere seiner noch lebenden Kollegen zu verletzen. (…) Ein zweiter Einwand, den ich hörte, war der, daß ich als jemand, der selbst der »Familie der Atomphysiker« nicht angehörte, unmöglich ihre wahre Geschichte erfassen könnte. Das mochte am Anfang meiner Recherchen wirklich so sein. Je weiter ich aber in die Materie eindrang, desto klarer wurden mir die persönlichen und historischen Bezogenheiten dieser Menschen, ja es stellte sich heraus, daß ich schließlich mehr Übersicht über den Gesamtablauf dieses Schicksals einer besonders wichtigen und einflußreichen Gruppe besaß als die meisten einzelnen, die mir ihre Erlebnisse und Ansichten anvertrauten. Denn sie hatten ja – abgesehen von ganz wenigen Ausnahmen – nur den eigenen Abschnitt des Geschehens sehen können, während der Chronist aus seiner Kenntnis zahlloser Einzelheiten die Verknüpfung der Ergebnisse und ihre, den Handelnden selbst meist unbekannte, wechselseitige Einwirkung aufeinander übersah. Oft blieb es daher nicht nur bei einer Unterhaltung mit den Befragten. Ich mußte, geleitet durch die Angaben eines zweiten und dritten, wieder zu meinem ersten Unterredner zurück, um Klarheit über gewisse Punkte zu erhalten, die er selbst aus seiner mangelnden Kenntnis des Gesamtbildes für unwichtig gehalten und daher gar nicht erwähnt hatte.

Eine dritte Schwierigkeit, der ich begegnete, war die bei zahllosen Wissenschaftlern vorherrschende Einstellung, die private, die menschliche Geschichte der Wissenschaftler sei doch unwichtig. Was zähle, sei nur ihre objektive Leistung. Hier zeigte sich eine Haltung, die recht eigentlich viele der in diesem Buche beschriebenen Gewissensqualen und Tragödien heraufbeschworen hat. Der Wissenschaftler, der meint, daß er – oder seine Kollegen – nichts anderes sei als ein »Werkzeug der Erkenntnis«, dessen persönlicher Charakter, dessen Ambitionen, Hoffnungen und Zweifel »nichts bedeuteten«, denkt in Wahrheit unwissenschaftlich. Denn er ignoriert einen wichtigen, vielleicht den ausschlaggebenden Teil des wissenschaftlichen Experimentes, nämlich sich selbst, oder glaubt, ihn willkürlich ausschalten zu können. Nur durch diese künstliche, erzwungene und unnatürliche Loslösung der wissenschaftlichen Forschungsarbeit von der Wirklichkeit des einzelnen Menschen konnten ja überhaupt Monstren wie die Atom- und Wasserstoffbomben entstehen. (…)

Viele Forscher denken heute nicht mehr so. Sie wissen, daß sie nicht nur »Gehirne«, sondern ganze Menschen mit ihren Schwächen, ihrer Größe und ihrer Verantwortung sind. Dieser großen Gewissenskrise in ihrer Entstehung, im Versuch ihrer Meisterung nachzuforschen und sie dann trotz vieler einander widersprechender Aussagen so wahrheitsgetreu wie möglich aufzuschreiben, das war mein Bemühen.

Aus: Heller als tausend Sonnen. Das Schicksal der Atomforscher. Hier zit. nach Heyne-Neuausgabe, München 1990, S. 20-22.

In einer Neuauflage dieses Buches in den 60er Jahren würdigt Jungk insbesondere auch jene, die sich nicht nur sehr bald von der militärischen Nutzung der Atomspaltung distanzierten, sondern vor deren Gefahren auch öffentlich warnten, etwa im Zusammenschluß der von Albert Einstein und Bertrand Russel gegründeten Pugwash-Bewegung.

Im Juli 1957 trafen also hier in diesem altertümlichen Nest an der Meeresenge von Northumberland zweiundzwanzig »Männer guten Willens aus Ost und West« ein, um unter sich, ohne zu starren Stundenplan und vor allem ohne Einsichtnahme der Öffentlichkeit, also ohne Furcht vor Beobachtung, alle möglichen Wege für eine Atomabrüstung zu debattieren. Ähnliche Konferenzen finden seither jährlich ein- bis zweimal statt. Es gab Treffen in Kanada, England, Österreich, aber auch in der Sowjetunion, in Jugoslawien und den USA. Allen war die verhältnismäßig kleine Anzahl von Eingeladenen und die bewußte Ausschaltung von Presseberichterstattern gemeinsam.

An den »Pugwash-Treffen« nahmen aber nicht nur Atomphysiker, sondern auch Biologen, Völkerrechtler, Militärwissenschaftler, Soziologen, Historiker teil. Auf diese Weise werden bei diesen Veranstaltungen nicht nur Brücken von der »offenen Welt des freien Westens« zu der »geschlossenen und dirigierten Welt des Ostens« geschlagen, sondern auch wichtige und fruchtbare Verbindungen zwischen hochspezialisierten Wissensgebieten. Ohne besondere Absicht dienen diese Veranstaltungen damit dem heute überall spürbar werdenden Zug zu einem neuen Universalismus, der den »Fachmann« nur noch als eine besonders überentwickelte Seite des »ganzen Menschen« gelten läßt.

Die Referate und ein Teil der Debatten werden jeweils in einem Band gesammelt, der jedoch nicht in Buchform veröffentlicht, sondern nur als vertrauliches Zirkular an die Regierungen der mit Atomfragen beschäftigten Länder gesandt wird. Dies mag manchen Leuten als ein etwas mageres Resultat erscheinen. Aber geistige Erleuchtung kann nun einmal nicht so geschwind »angeknipst« werden wie elektrisches Licht. Neue Gedanken, die der durch die Kernspaltung und ihre Konsequenzen geschaffenen »radikal veränderten Wirklichkeit« gerecht werden, können nur allmählich entstehen. Auch sie müssen erst sorgfältig auf dem Versuchsfeld der Diskussion »getestet« werden, auch sie haben erst durch eine lange Reihe von Experimenten zu gehen, ehe sich ihre Richtigkeit erweist.

Noch langsamer vielleicht bewegt sich der »Strom«, der in solchen geistigen Zentralen erzeugt wird, durch die »Drähte« der Mitteilung in Zeitung, Zeitschrift, Buch und Gespräch. Ganz allmählich und auf kaum wahrnehmbare Weise dringen Ideen überall ein, werden Allgemeingut, bestimmen die Handlungsweise derer, die an der Macht sind.

Man hat oft ein wenig mitleidig, ja geradezu spöttisch über die Bemühungen der Wissenschaftler gesprochen, die versuchten, den in ihren Laboratorien geborenen Dämon »Atomwaffe« wieder zu zähmen. Aber versuchen wir uns einmal vorzustellen, was geschehen wäre, wenn die Atomwissenschaftler nach 1945 über die erschütternde Natur ihrer Erfindung geschwiegen hätten oder wenn sie gar auf diese ihre Leistung stolz gewesen wären. Dann hätte die Öffentlichkeit vielleicht den Untergang von Hiroshima fast ebenso schnell vergessen wie den Untergang von Coventry, Hamburg und Dresden. Das Publikum hätte nicht einmal geahnt, in welch neue Ära der unerhörten Gefahren es eingetreten war. Dies aber hätte bedeuten können, daß die Regierungen, ungehindert durch eine erschreckte und daher vorsichtig gewordene öffentliche Meinung, der Versuchung, gewisse »gordische Knoten« der Politik mit atomaren Schwertstreichen zu durchschlagen, nachgegeben hätten. Gewiß, die Atomforscher haben ihr Ziel einer wirklichen Kriegsächtung nicht erreicht. Aber sie haben doch durch ihre wiederholten Warnungen mehr als einmal fatale Ereignisse, die in einen neuen großen Krieg hineinzuführen scheinen, bremsen helfen.

Aus: Heller als tausend Sonnen. Das Schicksal der Atomforscher. Hier zit. nach Heyne-Neuausgabe, München 1990, S. 376f.

Strahlen aus der Asche (1958)

„Strahlen aus der Asche«, der 1958 erschienene, in viele Sprachen übersetzte Bericht Robert Jungks über die Folgen der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki wird zum mahnenden Zeugnis wider den Irrsinn des nuklearen Wettrüstens. Über zahlreiche Gespräche mit Überlebenden, den »hibakusha«, rekonstruiert der Autor das von der US-Army lange Zeit beschönigte Ausmaß der Zerstörung und schildert insbesondere die Langzeitfolgen der radioaktiven Verstrahlung. Drei kurze Textausschnitte sollen Einblick geben in dieses wichtige, im Grunde – so ist aus der Autobiographie Jungks zu erfahren – als Beitrag gegen die Mitte der 50er Jahre einsetzenden Atomwaffenaspirationen Westdeutschlands und das »kollektive Wegschauen« der Bürger verfaßte Buch (Trotzdem, S. 305f.). Der ungeschminkten Beschreibung der »Katastrophe« folgen Reflexionen über die Bedeutung von »Hiroshima« für die Anti-Kriegsbewegung sowie für Jungks weiteres politisches Engagement.

(…) Fotoreporter Haruo Hioshyi von Hiroshimas bedeutendster Lokalzeitung »Chugoku Shimbun« ist damals mit seiner Kamera kreuz und quer durch die verwüstete Stadt gezogen, aber auf den Auslöser drückte er nur ganz selten. „Ich schämte mich, im Bilde festzuhalten, was meine Augen da sehen mußten“, hat er mir später erklärt.

Hätte er seine edle Scheu nur überwunden! Der Nachwelt wäre dann eine zutreffendere Vorstellung von der Wirkung der »neuen Waffe« vermittelt worden, als es jene vielverbreiteten Fotos vermögen, die das Hiroshima nach der Katastrophe fast immer als menschenleere Trümmerwüste zeigen. Denn es war kein schneller, kein totaler Tod, kein Massenherzschlag, kein plötzliches Ende mit Schrecken, dem diese Stadt verfiel. Solch gnadenvoll geschwindes Auslöschen, wie es selbst gemeinen Verbrechern zuteil wird, ist den Männern, Frauen und Kindern von Hiroshima nicht gewährt worden. Sie waren zu qualvoller Agonie, zu Verstümmelung, zu endlosem Siechtum verurteilt. Nein, Hiroshima war während der ersten Stunden und auch noch Tage »danach« kein stiller Friedhof, nicht stumme Anklage nur, wie es die irreführenden Ruinenbilder vermuten lassen, sondern eine Stätte hunderttausendfacher Bewegung, millionenfacher Marter, morgens, mittags, abends erfüllt von Geheul, Geschrei, Gewimmer und verstümmeltem Gewimmel. Alle, die noch laufen, gehen, humpeln oder auch nur kriechen konnten, suchten nach irgend etwas: nach ein paar Tropfen Wasser, nach etwas Nahrung, nach Medizin, nach einem Arzt, nach den jämmerlichen Resten ihrer Habe, nach einem Unterschlupf. Und nach den Unzähligen, die nun nicht mehr leiden mußten, nach den Toten. (…)

(…) Viele Bewohner von Hiroshima können jetzt von sich sagen, ihre »Taschen seien warm« vom frischverdienten Geld. Fast jeden Abend gehen die großen Flutlichtlampen über dem diamantförmigen neuen Baseballstadion strahlend auf, und dennoch sind die Tribünen bei Nachtspielen fast immer ausverkauft. Hiroshima ist mit seinen 51 Lichtspieltheatern die Stadt mit der zweitgrößten »Kinodichte« Japans.

Sollte man, so fragen sich einige der eifrigsten Förderer des »neuen Hiroshima«, nun nicht einmal einen Strich unter die Vergangenheit ziehen und versuchen, »jenen Tag« endlich ganz zu vergessen? Sie würden am liebsten sogar das Symbol des »Pikadon«, das kahle Gerüst der »Atomkuppel« (die bisher nicht unter Denkmalschutz steht) abreißen, damit der Anblick dieser Ruine die zukunftsfreudigen Neubürger Hiroshimas nicht länger auf traurige Gedanken bringe.

Doch eine solche »Zerstörung der Zerstörung« würde gerade in Hiroshima ihren beruhigenden Zweck nicht erreichen. Überall sonst auf der Welt können sie vielleicht so tun, als sei der letzte Krieg schon ein Stück Geschichte, und daher sogar die Möglichkeit eines neuen Krieges in ihre Kalküle einbeziehen. Aber hier in Hiroshima hat die Vergangenheit noch nicht aufgehört, hier bringt sie sich unaufhörlich, mit jedem Strahlenkranken, dessen Leiden nach jahrelanger Gnadenfrist neu aufflackert, wieder in Erinnerung.

Hiroshima mahnt zum Frieden, nicht etwa, weil es das Wort »Heiwa« (Frieden) wie ein Reklameetikett auf alles und jedes klebt, sondern weil es eine ganz schwache Ahnung davon gibt, wie diese unsere Erde nach einem Atomkrieg aussehen würde. Es bliebe vermutlich keine völlig ausgestorbene, menschenleere Wüste zurück, sondern ein einziges, riesiges Spital, eine Welt der Kranken und Versehrten. Noch Jahrzehnte, Jahrhunderte nach dem letzten Schuß müßten die Überlebenden an einem Streit zugrunde gehen, dessen Ursachen sie oder ihre Nachkommen dann vermutlich schon längst vergessen haben.

Nicht die monumentalen Repräsentationsbauten sind Hiroshimas Mahnmale, sondern die Überlebenden, in deren Haut, Blut und Keimzellen die Erinnerung an »jenen Tag« eingebrannt ist. Sie sind die ersten Opfer einer ganz neuen Art von Krieg, der niemals durch Waffenstillstands- oder Friedensverträge abgeschlossen werden kann, des »Krieges ohne Ende«, der, über seine Gegenwart hinausgreifend, auch die Zukunft in den Kreis der Zerstörung hineinzieht. (…)

(…) Der Autor muß bekennen, daß die Bemühung, die Nachkriegsgeschichte Hiroshimas kennenzulernen und aufzuschreiben, auch seinem eigenen Leben einen neuen Sinn gegeben hat. Als ich nach Hiroshima reiste, kam ich als Reporter, der die interessante Geschichte einer fremden Stadt aufschreiben wollte. Aber je länger ich mich mit dieser Story beschäftigte, um so klarer wurde mir, daß ich nicht außerhalb und über ihr stand, sondern ein Teil von ihr war.

Auch ich bin nämlich ein »Überlebender«, der, wenn es das Schicksal nicht zufällig anders gewollt hätte, in einem der Massenvernichtungslager des Dritten Reiches umgekommen wäre. Und nun suchte ich am anderen Ende der Welt, am Rande Ostasiens, Antwort auf eine Frage, die mir mein eigenes Leben gestellt hatte. Diese Frage heißt: „Was haben wir, die Überlebenden des Zweiten Weltkriegs, bisher getan, um unsere Rettung zu rechtfertigen?“ Ich hatte die Tatsache, verschont geblieben zu sein, jahrelang genauso gedankenlos hingenommen wie viele andere. Dann aber traf ich die Atomopfer von Hiroshima und erhielt durch sie eine Vorahnung des neuen Unheils, das auf uns zukommt. Seither weiß ich, daß wir, die Generation derer, die »noch einmal davongekommen sind«, unsere ganze Kraft darauf verwenden müssen, daß unsere Kinder nicht nur so zufällig überleben wie wir. Finde jeder seinen Weg, für die Bewahrung des Lebens zu kämpfen. Nur ernst muß es ihm sein.

Aus: Strahlen aus der Asche. Geschichte einer Wiedergeburt. Hier zit. nach Heyne-Neuausgabe München 1990, S. 30f., S.312f., S. 317.

Drei Kräfte im Kampf gegen die atomare Gefahr (1961)

Immer weniger hält es Jungk am Schreibtisch. Er beteiligt sich an Demonstrationen und Kundgebungen, etwa an der Ostermarsch-Bewegung gegen die Atomrüstung. In unzähligen Versammlungen warnt er vor der atomaren Gefahr und ruft zum Widerstand auf. Der folgende Textausschnitt, der einer in einer JUSO-Broschüre festgehaltenen Rede aus dem Jahr 1960 entnommen ist, argumentiert an einem Beispiel gegen die Resignation der BürgerInnen gegenüber den Herrschenden und ihrer Militärtechnokratie, ein Anliegen, das immer stärker Jungks Äußerungen bestimmt und bereits den »Zukunftsdenker« andeutet. Als die »drei Kräfte im Kampf gegen die atomare Gefahr« benennt er Wissen, Kritik und Widerstand sowie die Gestaltung von Zukunftsentwürfen.

Liebe Freunde, vor allen Dingen auch liebe Freunde aus dem Ausland!

Manchmal kommt man sich sehr alleine vor und dann geschieht so etwas wie heute Abend hier. Das ist einmal, daß Freunde aus dem Ausland hier mit einem sitzen und daß man merkt, daß man nicht so allein ist, daß man Teil eines Freundschaftskreises ist, eines Kreises von Menschen, die es in der ganzen Welt heute gibt, die vernünftig sind und die es wagen, gegen zwei Dinge anzugehen : Einmal gegen die Regierungen, die sie verketzern, zum zweiten aber, und das scheint mir das Wichtigere, gegen die Resignation. Ich glaube, mehr noch als die Atombombe gefährdet uns heute die Resignation. Die Resignation, die uns einflüstert, es hat doch alles keinen Zweck. Die Zukunft entwickelt sich mechanisch, sie entwickelt sich, ohne daß wir etwas dazu tun können, um sie zu gestalten. Sie geht, sie treibt wie ein führerloses, jedenfalls nicht von uns gelenktes Schiff, wie ein Zug, der ins Dunkle rast, einem Ende zu, und wir haben gar keine Macht darüber, wir können nichts tun.

Der Anti-Atomkampf ist erfolgreich

Ich stehe nun hier, weil ich glaube, wir können etwas tun. Es ist nicht einfach, aber wir müssen es versuchen. Und es ist keineswegs so, wie viele Leute glauben, daß die Anti-Atombewegung bisher keine Erfolge hatte. Gäbe es die Anti-Atombewegung in der ganzen Welt nicht, so wären die Dinge heute schon viel weiter auf die Spitze getrieben, so wären wir vielleicht heute schon nicht mehr am Leben. Das klingt wie eine Behauptung nur, und ich möchte Ihnen dazu eine Geschichte erzählen, ein historisches Ereignis, das viel zu wenig bekannt ist. Ich selbst verdanke diese Information dem englischen Nobelpreisträger Philipp Noel-Baker. Er hat sie mir vor zwei Jahren auf der sogenannten Pugwash-Konferenz in Kitzbühel erzählt. (…)

Im Indochchina-Krieg war die Festung Dien-Bhien-Phu von Kommunisten belagert, die französische Besatzung war eingeschlossen und stand vor der Kapitulation. Damals hieß es in der ganzen Welt, wenn diese Festung fällt, dann fällt ganz Süd-Ostasien an den Kommunismus. Man sprach davon (in der Zeitschrift »Times« z.B. ), daß diese Festung wie ein Pfropfen in einem bereits unter schwerem Wasserdruck stehenden Damm steckt und daß man alles tun müsse, um zu verhindern, daß dieser Pfropfen herausspringe. Denn dann würde der ganze Damm gegen den Kommunismus zerstört und die Kommunistische Flut würde sich über ganz Asien ergießen. (Das ist nicht der Fall gewesen. Man spricht heute von ähnlichen Dingen im Zusammenhang mit Berlin. Man möchte immer gern übertreiben und behaupten, diese eine Sache hätte den Untergang der freien Welt zur Folge.)

Ein Atomkrieg wurde verhindert

In dieser, von der eigenen Propaganda hochgespielten Situation, in dieser psychologischen Lage, verlangte der französische Oberbefehlshaber, General Ely, von den Amerikanern eine taktische Atombombe zur Entlastung der belagerten Festung. Er wollte sie einsetzen, um dann in die Bresche hineinzuspringen und die Front wieder herzustellen und die Kommunisten wieder zu vertreiben. Sein Vorgesetzter in der Befehlslinie war Admiral Redford, der Chief of Joint Staff. Dieser amerikanische Admiral, ein Heißporn, hat damals von sich aus gleichfalls den Einsatz der taktischen Atombombe empfohlen. Er mußte sich aber glücklicherweise an Präsident Eisenhower wenden, und Eisenhower, an dem man viel kritisieren kann, hat doch in diesem einen Fall gezeigt, daß er ein überlegender Mensch ist. Ich bin nicht sicher, daß Truman so ruhig geblieben wäre. Er war jemand, der zu sehr brüsken Entschlüssen fähig war und manchmal sehr unvernünftige Entscheidungen getroffen hatte. Eisenhower hat sich diese Sache überlegt und sich gesagt, ich muß fairerweise zunächst einmal meine englischen Verbündeten konsultieren. Er hat Eden gefragt, ob die Engländer einverstanden wären, daß eine solche taktische Atombombe in Indochina eingesetzt würde. Und jetzt kommt der Punkt, auf den ich hinaus will. Jetzt kommt das, wovon ich sprechen möchte und weshalb bereits Erfolge der Anti-Atombewegung erzielt worden sind. Eden hat damals dem Präsidenten Eisenhower erklärt: „Selbst wenn der Einsatz dieser taktischen Bombe unsere Situation in Asien retten würde, kann ich den Einsatz dieser Bombe vom englischen Standpunkt aus nicht erlauben. Unsere öffentliche Meinung würde den Einsatz dieser Waffe nicht gutheißen können, und ich kann infolgedessen meine Zustimmung nicht geben.“

Ich erzähle Ihnen das, um Ihnen zu zeigen, daß die Atomgegner durch ihren Protest, durch ihren sichtbaren Widerstand gegen die Atomrüstung erreicht haben, daß ein konservativer, also ein ihnen parteimäßig entgegengesetzter Ministerpräsident, nicht wagen konnte, im Namen des englischen Volkes dem Einsatz einer Atomwaffe zuzustimmen. Hätte Eden sich damals einverstanden erklärt, wäre diese Bombe geworfen worden, und wir wären sofort in den Atomkrieg hineingeschlittert.

Aus: Robert Jungk / Fritz Vilmar: In der Todeskurve. Eigenverlag, Frankfurt 1961, S. 5-7.

Den Frieden antizipieren (1970)

Unter Hinwendung zu der in den 60er Jahren an Bedeutung gewinnenden Zukunftsforschung – 1965 gründet Robert Jungk sein erstes Institut für Zukunftsfragen in Wien – fordert der unermüdliche Mahner vor den Gefahren des nuklearen Wettrüstens zivile Lookout-Institutionen und Zukunftsprogramme zur Sicherung des Weltfriedens. „Wer den Frieden will, muß den Frieden vorbereiten und nicht den Krieg“, heißt es in einem 1970 erscheinenden Aufsatz, in dem Jungk sechs, sein Politikverständnis treffend widerspiegelnde Prioritäten für eine weltweite Friedensgestaltung anführt und einen »aktiven Pazifismus« einfordert.

(…) Wer den Frieden will, muß den Frieden vorbereiten und nicht den Krieg. Das heißt, der Mensch hat die Reihenfolge der Prioritäten, in denen er auf Grund seiner neuen Weltkenntnis handeln könnte, zu verändern und antizipatorisch Zielmodelle einer besseren Welt sowie Strategien, die zu ihrer Verwirklichung führen können, zu entwickeln: nicht nur mit konstruktiver Phantasie, sondern auch mit einem mit Datendichte, Konkretheit und Präzision befähigten Apparat. Nur wenn derartige konkrete, wahrscheinliche, mögliche, durch Fakten gestützte Modelle als Gegenstücke zu den Modellen der Denkfabriken wie Rand u.a.m. von friedlichen Denkfabriken entwickelt werden, wird es möglich sein, die Vorherrschaft des militärisch-industriellen Denkens wirksam zu bekämpfen. Vergessen wir eines nicht: nur derjenige, der Modelle formt, der sie so genau, so präzise und mit einem solchen Maß an Wissen und Brillianz zu formulieren versteht, wie es die Wirtschafts- und Militärstäbe heute können, deren Fähigkeiten man gar nicht hoch genug einschätzen kann, wird Einfluß gewinnen können. Heute ist es so, daß auf der einen Seite hochentwickelte, in der Technik außerordentlich brilliante und vorwärtsweisende Arbeit getan wird und auf der anderen dem nichts vergleichbares gegenübersteht; dadurch ist es beinahe unausweichlich, daß die Welt in eine große Kaserne verwandelt wird, daß die Welt nichts anderes mehr antizipieren kann als Konflikte (…). Es fragt sich nur: Wo sind die Gegenmodelle, wo die Gegenauffassungen?

Ich möchte hier nur anführen, welche Modelle, welche Zielvorstellungen von zivilen Institutionen von der Art, wie ich sie vorschlage, zuerst erarbeitet werden müßten. Dabei möchte ich eine andere Reihenfolge der Prioritäten anführen, als sie bis jetzt gültig ist.

  1. Die Beseitigung der Armut und des Hungers in der Welt.
  2. Die Weiterentwicklung der dritten Welt.
  3. Die Fragen der wirtschaftlichen und politischen Mitbestimmung weiter Kreise.
  4. Die Möglichkeit einer Hebung des Bildungsniveaus und damit eine Hebung der Entscheidungsfähigkeit vieler.
  5. Die Entwicklung sinnvoller Arbeitsmöglichkeiten in einer Epoche der Automation.
  6. Die Erfindung neuer Methoden der internationalen Zusammenarbeit zur friedlichen Lösung von Interessenkonflikten.

Zu allen diesen Vorschlägen, die von friedlichen Denkgruppen erarbeitet werden sollten, ließen sich ganz konkrete Gedanken äußern. Gewiß wurde darüber schon viel gesprochen, doch was ich vorschlage, ist eine neue Methode, und zwar in folgender Richtung:

1. Die Debatte über diese Themen muß auf einem höheren Niveau der Informiertheit erfolgen als bisher; sie müßte durch Institutionen unterstützt werden, die wie die Planungsstäbe von Industrie und Militär über eigene Möglichkeiten der selbständigen Datenaufnahme und Datenverarbeitung verfügen. Derartige »Lookout«-Institutionen, die ausschließlich nicht-kriegerischen Aufgaben zu dienen hätten, sind die unentbehrliche Voraussetzung konkreter Friedensplanung; sie sind längst überfällig.

2. Bei der Vorbereitung solcher Friedensmodelle und Friedensstrategien dürfte sich die Phantasie nicht von der Fülle der Fakten erdrücken lassen. Das Abhängigkeitsverhältnis des sozialen Erfinders von den Fakten wäre mit der des Bildhauers von seinem Material zu vergleichen, aber nur bis zu einem gewissen Punkt: denn durch die Herausarbeitung, durch die Erfindung neuer Konzepte könnte sich Material zur Verwertung erst anbieten, das bisher überhaupt nicht betrachtet wurde. Ich meine, daß z.B. gewisse psychologische Probleme und psychische Fakten heute von denen, die sich mit der Zukunft befassen, nicht als Fakten anerkannt werden, das ist ihnen zu »luftig«, das nehmen sie noch nicht wahr, und sie sehen nicht, daß sie diese psychologischen Gegebenheiten in ihre Modelle hineinnehmen müßten.

Gerade bei diesem Erfinden, bei dieser Kombination von Phantasie und Fakten bietet sich die Möglichkeit an, radikale, interessante, wenn man will, auch »verrückte« Ideen durchzuspielen mit diesem neuen Apparat, mit all diesen neuen Techniken, mit denen man versucht, zukünftige Situationen heute schon im Spiel, im Studium oder mit Hilfe von neuen Geräten faktisch und nah vorzustellen.

(…)

Aus: Antizipation des Friedens. In: Oskar Schatz (Hg.): Der Friede im nuklearen Zeitalter. Eine Kontroverse zwischen Realisten und Utopisten. München 1970, S. 188-190.

Der Atomstaat (1977)

Die Erkenntnis, daß friedliche und militärische Nutzung der Atomenergie nicht von einander zu trennen sind, macht Jungk zum Fürsprecher auch jener Bewegung, die sich Mitte der 70er Jahre mit dem Widerstand gegen neue Atomkraftwerke in der BRD bildet und unter dem Motto »Atomkraft – Nein danke« den generellen Ausstieg aus der Atomindustrie fordert. Das 1977 erscheinende Buch »Der Atomstaat« – es wurde 1994 übrigens ins Tschechische übersetzt – thematisiert die Risiken von Atomkraftwerken, Wiederaufbereitungsanlagen und Uranlagerstätten sowie die Auswirkungen der notwendigen »Schutzmaßnahmen« auf die demokratische Gesellschaftsordnung. »Atome für den Frieden« unterscheiden sich prinzipiell nicht von »Atomen für den Krieg« heißt es im Vorwort zu diesem Buch, das nicht nur durch die sich häufenden Fälle des Schmuggels von waffenfähigem Plutonium seine Aktualität behalten hat.

Mit der technischen Nutzbarmachung der Kernspaltung wurde der Sprung in eine ganz neue Dimension der Gewalt gewagt. Zuerst richtete sie sich nur gegen militärische Gegner. Heute gefährdet sie die eigenen Bürger. Denn »Atome für den Frieden« unterscheiden sich prinzipiell nicht von »Atomen für den Krieg«. Die erklärte Absicht, sie nur zu konstruktiven Zwecken zu benutzen, ändert nichts an dem lebensfeindlichen Charakter der neuen Energie. Die Bemühungen, diese Risiken zu beherrschen, können die Gefährdungen nur zu einem Teil steuern. Selbst die Befürworter müssen zugeben, daß es niemals gelingen wird, sie ganz auszuschließen. Der je nach Einstellung als kleiner oder größer anzusehende Rest von Unsicherheit birgt unter Umständen solch immenses Unheil, daß jeder bis dahin vielleicht gewonnene Nutzen daneben verblassen muß.

Nicht nur würde eine durch technisches Versagen, menschliche Unzulänglichkeit oder böswillige Einwirkung hervorgerufene Atomkatastrophe unmittelbar größten Schaden stiften, sondern über Jahrzehnte, Jahrhunderte, unter Umständen sogar Jahrtausende weiterwirken. Dieser Griff in die Zukunft, die Angst vor den Folgeschäden der außer Kontrolle geratenen Kernkraft, wird zur größten denkbaren Belastung der Menschheit, sei es als Giftspur, die unauslöschlich bleibt, sei es auch nur als Schatten einer Sorge, die niemals weichen wird.

Solch dunkle Möglichkeiten müssen auch den Befürwortern der Atomindustrie bekannt sein. Sie sind allerdings überzeugt, sich und ihre Mitbürger schützen zu können, indem sie Sicherheitsmaßnahmen einführen, wie sie es nie zuvor gab. Müßte dieser Schutz nur technischer Natur sein, dann wäre er vor allem ein Problem der Ingenieure und – wegen seiner besonders hohen Kosten – der Ökonomen. Aber diese Erfindung der Menschen muß ja zudem so streng wie keine andere vor den Menschen selbst bewahrt werden: vor ihren Irrtümern, ihren Schwächen, ihrem Ärger, ihrer List, ihrer Machtgier, ihrem Haß. Wollte man versuchen, die Kernkraftanlagen dagegen völlig immun zu machen, so wäre die unausweichliche Folge ein Leben voll Verboten, Überprüfungen und Zwängen, die in der Größe der unbedingt zu vermeidenden Gefahren ihre Rechtfertigung suchen würden.

Diese Konsequenzen klarzustellen und über sie nachzudenken, ist sowohl für die Gesellschaft wie für jeden einzelnen dringlich, da die sozialen und politischen Wirkungen der Kernkraft bisher hinter dem Studium der biologischen und ökologischen Effekte zurückstanden. Die folgende Schrift will dazu den Anstoß geben. Sie ist in Angst und Zorn geschrieben. In Angst um den drohenden Verlust von Freiheit und Menschlichkeit. In Zorn gegen jene, die bereit sind, diese höchsten Güter für Gewinn und Konsum aufzugeben. Man wird mit Sicherheit den Einwand erheben, über diese Problematik müsse ohne Emotionen geschrieben und gesprochen werden. Das ist die heutige Version der biedermeierlichen Beschwichtigung: „Ruhe ist die erste Bürgerpflicht.“ Wer den Ungeheuerlichkeiten, die der Eintritt in die Plutoniumzukunft mit sich bringen muß, nur mit kühlem Verstand, ohne Mitgefühl, Furcht und Erregung begegnet, wirkt an ihrer Verharmlosung mit. Es gibt Situationen, in denen die Kraft der Gefühle mithelfen muß, eine Entwicklung zu steuern und das zu verhindern, was nüchterne, aber falsche Berechnung in Gang gesetzt hat.

Auf solch einer irrigen Kalkulation beruhte die Vorstellung, daß die zerstörerische Wirkung der Atombombe – wenn überhaupt – nur in Auseinandersetzungen zwischen Staaten ins Spiel gebracht würde. Seit kurzem aber müssen wir auf Grund eingehender Untersuchungen annehmen, daß auch innergesellschaftliche Konflikte die gefürchtete »nukleare Schwelle« einmal überschreiten könnten. Atomsabotage und Atomterror können nicht mehr ausgeschlossen werden, sobald die Menge der bei der Kernkraftproduktion anfallenden Spaltstoffe immer größer wird. Und das wird schon sehr bald der Fall sein. Besonders erschreckend ist die Einsicht, daß Gangster, Putschisten oder Terroristen mit einer solchen Waffe, wenn sie einmal in ihre Hände geriete, vermutlich viel skrupelloser umgehen würden als Staatsmänner und Generalstäbler. Die radikale Atomabrüstung, die unmittelbar nach den Schreckensstunden von Hiroshima und Nagasaki verlangt wurde, müßte daher jetzt, da die Ausweitung der »friedlichen Kernkraft« das Risiko von Atom-Bürgerkriegen näherbringt, mit noch weitaus berechtigterer Sorge gefordert werden.

Nur wer sich Illusionen über die nukleare Zukunft hingibt, kann alle Gefahren des Mißbrauchs ausschließen. Die Vision von der perfekten inneren Sicherheit ist ein pures Wunschgebilde. (…)

Aus: Der Atomstaat. Vom Fortschritt in die Unmenschlichkeit. Hier zit. nach rororo-TB-Ausgabe, Hamburg 1979, S. 9-11.

Die Sehnsucht nach Frieden (1981)

Frieden kann nur von unten geschaffen werden. Diese tiefe Überzeugung bezieht Robert Jungk insbesondere auf die Entspannung zwischen Ost und West sowie die Überwindung des Kalten Krieges. „Wenn es in den letzten 25 Jahren doch wenigsten Ansätze zu einer Entspannung und erste, wenn auch ganz ungenügende Kontroll- und Begrenzungsabkommen gegeben hat“, so führt er in einem von Stefan Hermlin einberufenen Treffen deutscher SchriftstellerInnen aus Ost und West im Jahr 1981 aus, „dann war dies weitgehend eine Folge all jener Kontakte, Initiativen, Gespräche und Konzepte, die von – und das ist wichtig – Nichtdiplomaten, von politischen Amateuren eingeleitet und fortgeführt wurden“. In seiner Rede bei diesem Treffen, das zu den Geburtsstunden der neuen Friedensbewegung der 80er Jahre zählt, weist Jungk auf die Notwendigkeit einer kritischen Gegenöffentlichkeit in Ost und West hin, er scheut dabei nicht, auch Kritik am Gastgeberland DDR zu üben. Im zweiten hier ausgewählten Ausschnitt der Rede warnt Jungk die Friedensbewegung davor, sich auf die Irrlogik des Raketenzählens der »Westentaschenstrategen« einzulassen.

(…) Die Menschen sind aufmerksamer geworden, sie sind klüger geworden, sie lassen sich nicht mehr irreleiten. Sie wissen, was geschieht, und sie haben Erfahrungen. Und es gibt heute fast niemanden mehr, der das nicht wüßte, der nicht erfahren hätte, daß ein Krieg, wenn er heute stattfinden würde, ein Krieg wäre, der nicht wie die früheren Kriege einmal wieder überwunden werden könnte, sondern dessen Folgen Jahrhunderte, Jahrtausende dauern, ja vielleicht das Ende der Geschichte bedeuten würde. All das wissen die Menschen heute. Und weshalb wissen sie es? Ich glaube, sie wissen es, weil doch in den letzten zehn, zwanzig Jahren eine ganze Reihe von Kommunikationsnetzen über die Erde gespannt worden sind. Es gibt die offiziellen Kommunikationsnetze des Radios und des Fernsehens, es gibt aber auch, und das halte ich für so wichtig, die vielen inoffiziellen Kommunikationsnetze. Es gibt die Kommunikationsnetze der Freunde in Ost und West, es gibt die unsichtbaren Kommunikationsnetze von einem Land zum anderen, in denen man sich zuflüstert, wie es wirklich aussieht.

Es hat sich im Westen – ich kann das nicht in bezug auf Ihr Land beurteilen, aber es wäre gut, wenn es das auch hier geben könnte – so etwas wie eine Gegenöffentlichkeit zu entwickeln begonnen, die dadurch, daß sie das sagt, was die offiziellen Kommunikationsnetze nicht wagen zu sagen, echtes Vertrauen bildet, weil sie die unterschlagene Wahrheit bekanntmacht. Wenn ich nämlich das Wort »Vertrauen« höre und gleichzeitig weiß, daß schon ein kritisches Wort bestraft werden kann, dann habe ich zu denjenigen, die ein solches kritisches Wort bestrafen, kein Vertrauen mehr, und das ist doch wohl verständlich. (…)

(…) Ich meine aber, wir würden zu wenig tun, wenn wir hier diese strategischen Spiele weiterspielen würden, wenn wir uns als Westentaschenstrategen verstehen würden. Ich meine, was wir hier entwickeln sollten, wäre doch etwas, was uns immanent fehlt. Es wäre humanistische Phantasie, und es wäre etwas, was in Diskussionen fast überhaupt nicht mehr vorkommt, nämlich Menschlichkeit. Menschlichkeit steckt nicht in Zahlen und Statistiken und Aufrechnungen, die man der einen oder anderen Seite macht. Menschlichkeit bedeutet Mitleid, bedeutet Zärtlichkeit, bedeutet die Beobachtung des Gesichts des Menschen, das bedeutet in der Vorstellung die Vorausnahme des schrecklichen Schicksals der Menschen, wenn wir diese Menschen aus Fleisch und Blut über den Waffen und über dem strategischen Kalkül vergessen. Im Mittelpunkt dieser Veranstaltung sollte der Mensch, sollten die Menschen und ihre Aktionen stehen. Und es tut mir eigentlich leid, daß in einem Land wie der DDR – bei diesem Treffen – es nicht auch zu einer Begegnung mit durchschnittlichen Menschen kommen kann, mit diesen Menschen, mit diesem Volk, das die schwersten Opfer tragen muß, wenn es zu einem Krieg kommt, mit diesem Volk, dessen Sehnsucht nach Frieden so stark ist und dessen Sehnsucht so wachsen muß, daß der Krieg vielleicht verhindert werden kann. (…)

Aus: Berliner Begegnungen zur Friedensförderung. Protokolle des Schriftstellertreffens vom 13./14. Dezember 1981. Hier zit. nach Zukunft zwischen Angst und Hoffnung. Heyne, München 1990, S. 246-249.

Menschenbeben (1983)

Vorne mit dabei ist Robert Jungk auch, als sich der Widerstand gegen die geplante Stationierung neuer atomarer »Mittelstreckenraketen« in ganz Westeuropa zur breiten Massenbewegung formiert. Er setzt große Hoffnungen in diese »Überlebensbewegung«, die sich in den Demonstrationen Hunderttausender in vielen europäischen Städten ebenso manifestiert wie in den gewaltfreien Blockadeaktionen an den Stationierungsorten wie Mutlangen, Greenham Common oder Comiso. »Menschenbeben« lautet der Titel jenes Buches, in dem Jungk sehr ergreifend diesen Widerstand als Beteiligter und engagierter Beobachter dokumentiert. In der Einleitung zu »Menschenbeben« weist Jungk auf das allmähliche Wanken der alten Festungen der Militärtechnokratien hin und hofft insbesondere auf die Abspringer, Umkehrer und Umdenker innerhalb der Herrschaftssysteme.

(…) Ich habe mich auf die Suche gemacht nach all jenen Orten, an denen sich der Protest am eindrucksvollsten manifestierte, wollte Menschen finden, die sich von den scheinbar erstarkten politischen und technischen Machtsystemen nicht länger einschüchtern ließen, hoffte, deutliche Anzeichen für eine mögliche Rettung aus der großen Not zu entdecken.

Jetzt, da ich diesen Erfahrungsbericht niederschreibe, bin ich trotz mancher Enttäuschungen zuversichtlicher als zu Beginn meiner »Expedition«. Die sich so stark geben, sind in Wahrheit schwächer als sie auftreten, und diejenigen, die meinen, sie seien zur Ohnmacht verurteilt, sind stärker als sie vermuten. Die Mächtigen von heute sind geplagt von inneren Widersprüchen, verwirrt durch Irrtümer, tief verunsichert von nagenden Zweifeln. Sie können keine anziehenden, glaubhaften Zukunftsbilder mehr entwerfen, weil sie nur noch so tun, als glaubten sie an ihre Schlagworte vom unversiegbaren Reichtum, an ihre Versprechung demokratischer Freiheit, die sie selber ständig verletzen.

Diese innere Gefährdung der Herrschaftsysteme nimmt in dem Maße zu, wie das tägliche Umfeld, in dem sie leben, ihnen feindlicher wird. Die zunehmende Ablehnung der Bevölkerung genügt zwar noch nicht, die Organisationen und Installationen, durch die sie sich gefährdet sieht, zu beseitigen. Aber sie reicht jetzt schon aus, die »weichen Bestandteile« dieser harten Apparate, nämlich ihre denkenden und manchmal auch fühlenden Mitarbeiter, zunehmend zu beeinflussen. Die Ministerien, Verwaltungsgebäude, Kasernen, Kraftwerke, Chemiefabriken, Startbahnen, Manövergelände, Arsenale, Testanlagen, Raketenstellungen, Sende- und Lauscheinrichtungen, Laboratorien und Deponien werden physisch immer stärker befestigt und isoliert. Doch die Insassen dieser heutigen Festungen und Sperrkreise können nicht so vollständig abgeschirmt werden, daß jeder Einfluß von ihnen ferngehalten wird.

Im Brüsseler Hauptquartier der NATO sah ich auffällige Warnplakate angeschlagen, in denen für einen zum internen Gebrauch hergestellten Walt-Disney-Film geworben wurde. Sein Thema: die eindringlichste Warnung an das Personal vor schädlichen Außeneinflüssen. Dieser Isolierungsversuch und viele andere sind ziemlich aussichtslos. Man kann Menschen vielleicht gegen feindliche Ideologien immun machen. Aber ihren Lebensinstinkt wird man nicht dauerhaft betäuben, ihren Überlebenswillen nicht für immer brechen können. (…)

„Eine von uns, die sich kompromißlos für den Frieden einsetzen kann, hat das Gewicht von mindestens zehntausend anderen Frauen, die nicht so weit gehen wollen“, sagte mir eine der Engländerinnen, die seit vielen Monaten den amerikanischen Luftstützpunkt Greenham Common belagern. Das klingt überheblich, aber sie brachte es mit so ruhiger Selbstverständlichkeit hervor, daß ich tief beeindruckt war.

Nicht nur Zerstörer leben unter uns, sondern auch Lebensretter. Wüchse ihre Zahl so sehr, daß sie die künftige Entwicklung entscheidend beeinflussen, dann könnte ihnen glücken, was Revolutionen bisher noch nie gelang: die Besserung der Verhältnisse durch die Besserung der Menschen. Ein großes Beben geht durch die ganze Welt. In immer neuen Stößen erschüttert es das Bestehende. Und wenn es auch vorübergehend zu verebben scheint, irgendwo und irgendwann hebt sich der Boden abermals. Die Angst, der Zorn und die Hoffnung der Bedrohten schaffen unaufhörlich Unruhe. Das ist ein andauerndes und weit umfassenderes Phänomen als die bisherigen Revolutionen. Ich nenne es »Menschenbeben«.

Aus: Menschenbeben. Der Aufstand gegen das Unerträgliche. Bertelsmann, München 1983, S. 12-14.

Es geht auch ohne Waffenproduktion (1984)

Die Verquickung von Rüstung und Wirtschaftsinteressen sind mehrfach Thema in Robert Jungks Stellungnahmen. So setzt er Hoffnungen in Rüstungskonversionsinitiativen, die nur durch die Einbindung der Arbeiterschaft und Gewerkschaften in die Friedensbewegung gelingen könnte. In einem Beitrag für den Fischer Öko-Almanach berichtet Jungk von ersten, konkreten Konversionsprojekten, zeigt aber auch die Schwierigkeiten der Umsetzung auf. Die Konversion der Waffen könne nur erfolgreich sein, wenn es zugleich zu einer grundlegenden »geistigen Konversion« komme, so der Tenor des folgenden Textausschnitts.

Es geht also bei der »Friedens-Konversion« um mehr als um Abrüstung. Auch um mehr als um wirtschaftliche Umverteilung, nämlich um eine viel umfassendere »Bekehrung« von einem harten an Quantität, Erfolg und Machtzuwachs orientierten Wirtschafts-(und Lebens-)stil zu einer allmählichen Verbesserung der Lebensqualität, die auf einer grundlegend anderen Haltung und Zielsetzung basierend einen Frieden anstrebt, in dem der Krieg des Menschen gegen die Natur, die Aggression des Stärkeren gegen den Schwächeren, die Macht der Wenigen über die Vielen abgebaut wird.

Rüstung wird in diesem Zusammenhang als die unaufhörlich weitergehende Zuspitzung eines in permanenter Unruhe lebenden Systems verstanden, das ohne Drohung, Druck und Zerstörung nicht existieren zu können meint. Solange diese periodisch wiederkehrenden Vernichtungsperioden noch neue Prosperität vorbereiteten und nachfolgende Epochen des Aufbaus und der Regeneration ermöglichten, wurden sie weitgehend hingenommen und nur von Minderheiten bekämpft. Die ganz andere neue und einzigartige Situation im Atom- und Raketenzeitalter ist darin zu sehen, daß nun bei einem größeren Konflikt mit großer Wahrscheinlichkeit unumkehrbare, nie wiedergutzumachende Schädigungen entstehen, so daß das gewohnte Wechselspiel von Krieg und Frieden dann nicht mehr weitergehen kann.

Diese besondere Lage muß bedacht werden, wenn man über die konkreten und praktischen Möglichkeiten der Rüstungskonversion spricht. Sie ist – darüber soll man sich nicht täuschen, darüber auch nicht verzweifeln – bisher noch nicht mehr als zweidimensionale »Wirklichkeit«. Denn sie existiert zwar in Entwürfen und Plänen, im Druck und auf Papier, als Vorstellung und immer häufiger auch als Wille. Wer aber nach greifbaren Resultaten Ausschau hält, das heißt nach einstigen Waffenschmieden, in denen tatsächlich schon Pflugscharen statt Schwerter hergestellt werden, der sucht vergeblich. All die hoffnungserregenden Konversionsmodelle, die in den Büchern, Artikeln und Debatten vorgestellt werden, sind bisher »Luftschlösser« geblieben. Es fehlte zu ihrer Verwirklichung an Geldmitteln, an entschlossenen Promotoren, an weitsichtigen Förderern, an opferbereiten Mitarbeitern. (…)

Ist »Rüstungskonversion« also vielleicht nichts anderes als eine der vielen utopischen Ideen, die an der Praxis scheitern müssen? Das könnte so ausgehen, muß aber nicht. Denn hier kommt den Vorkämpfern dieses Gedankens vielleicht nun die außerordentliche Weltsituation (…) zu Hilfe und zeitigt außergewöhnliche Entwicklungen. Denn die Aufklärungsarbeit der Friedensbewegung hat inzwischen sowohl Arbeitnehmer wie Arbeitgeber erfaßt. Die einen wie die anderen beginnen sich darüber klar zu werden, daß entweder die durch Rüstung, Nachrüstung, Nachnachrüstung, Nachnachnachrüstung usw. enorm gesteigerte Verschwendung von Geldmitteln und Ressourcen oder ein Versagen der Kontrollen zur Beherrschung der immer komplexeren und potenteren Waffensysteme uns alle – auch die Entscheidungsträger! – in Katastrophen von unerhörter Dimension und praktisch unbegrenzten Nachwirkungen hineinführen müssen. In dem Maße, wie diese dunklen Möglichkeiten immer wahrscheinlicher werden, setzt eine Konversion ganz anderer Art in den großen Herrschaftsapparaten der Arbeitnehmer wie der Arbeitgeber ein. Es handelt sich um eine geistige Konversion, wie sie oft bei einzelnen in besonders kritischen Situationen bei Todeskrankheit oder Todesgefahr plötzlich eintreten kann.

Eine solche »Umkehr« der Machteliten wäre so gut wie sicher, sobald das Furchtbare tatsächlich eintrete. Nur käme sie dann zu spät. Die Hoffnung, daß Einsichtige die Katastrophe antizipierend die »Sachzwänge«, in deren Griff sie zu sein meinen, plötzlich abschütteln, und mit ihren bisherigen Gewohnheiten brechend einen radikal anderen Weg einschlagen, darf nicht in routinierter Skepsis einfach als »unwahrscheinlich« abgetan werden. Vielmehr sollten diejenigen, die schon jetzt erkannt haben, daß es »unmöglich weitergehen kann«, sich besonders um die scheinbar Unbelehrbaren bemühen, wissend, daß auch in vielen von diesen äußerlich so sicher auftretenden heute schon Zweifel rumoren. Davon können ihre Psychiater berichten, weil sie gelegentlich Einsicht in das haben, was »hinter der Maske« vorgeht.

Eine Art Schrittmacherfunktion im Konversionsprozeß hat heute schon die Wirtschaftskrise. Sachverständige bei Unternehmern wie bei Arbeitgebern beginnen zu erkennen, daß Rüstung nicht Arbeitsplätze schafft, sondern vernichtet, weil sie einen wachsenden Teil des finanziellen und geistigen Kapitals der Gesellschaften der Wirtschaft und allen sozialen oder humanisierenden Bemühungen entzieht, um sie an eine letztlich unproduktive Aufgabe zu verschwenden. Wachsende Rationalisierung, die besonders in der Rüstungsindustrie vorangetrieben wird, ist eine der Folgen des Kapitalmangels und führt zu immer unerträglicher werdender struktureller Arbeitslosigkeit. Da die Mittel zur Unterstützung der gewaltig wachsenden Zahl von »Unproduktiven« auf die Dauer nicht ausreichen werden, muß dann endlich ernsthaft über neue »sozial nützliche« Arbeitsbeschaffung nachgedacht werden.

(…)

Eine »Garantie« dafür, daß ein solcher Umschlag tatsächlich eintritt, gibt es selbstverständlich nicht. Denkbar, ja sogar wahrscheinlicher ist die »erprobte Lösung« der Diktatur kleiner Machteliten, die mit der Verelendung und vielleicht sogar dem Untergang zahlloser Menschen in allen Teilen der Welt (UNO-Prognosen sprechen von einer Milliarde Arbeitslosen im Jahre 2000!) bezahlt werden müßte. Ein solcher »Technofaschismus« (im Westen wie im Osten) ist aufgrund der »Verbesserung« der nach innen gerichteten Waffen der Unterdrückung der »inneren Nachrüstung« also durchaus möglich und eine Weile haltbar. Nur dürfte er – wenn geschichtliche Erfahrungen und sozialpsychologische Erkenntnisse richtig sind – durch Konflikte an der Spitze sich dann doch früher oder später selbst ruinieren.

Damit es zu einer solchen Entwicklung nicht erst kommt, wird das von einer Friedensbewegung sich zu einer Überlebensbewegung und Erneuerungsbewegung hin entwickelnde »Menschenbeben« eine Stärke und Dauer entwickeln müssen, die der Größe und Einzigartigkeit der alle heute und in Zukunft Lebenden bedrängenden Gefahren entsprechen sollte. Auch hier müßte eine »Konversion« eintreten, die resignierte, passiv gewordene, verwöhnte, egoistisch, kurzfristig denkende Zeitgenossen so wandelt, daß sie die Prüfungen der Zukunft nicht nur ertragen lernen, sondern hoffend auf Geburtswehen einer menschlicheren Gesellschaft verstehen und durchstehen.

Aus: Es geht auch ohne Waffenproduktion. In: Fischer Öko-Almanach 84/85. Frankfurt 1984, S. 353-359.

40 Jahre Hiroshima (1985)

Mit Recht wird Robert Jungk als Mitbegründer des kritischen Wissenschaftsjournalismus im deutschsprachigen Raum bezeichnet. Einen eindrucksvollen Eindruck in sein Denken geben die Kolumnen, die er seit 1972 regelmäßig für die Zeitschrift »bild der wissenschaft« verfaßt, bis ihm 1987 aufgrund seiner kritischen Beiträge auch gegen die sogenannte »friedliche« Nutzung der Atomenergie die Zusammenarbeit aufgekündigt wird. Stellvertretend für die vielen, unter dem Titel »Und Wasser bricht den Stein« 1986 gesammelt herausgegebenen Berichte und Kommentare, die immer wieder auch zu Rüstungsfragen Stellung nehmen, sind Ausschnitte aus seinen Reflexionen zu »40 Jahre Hiroshima« vorgestellt, in denen Jungk u.a. die sozialpsychologischen Aspekte der Atombombe und ihrer Erbauer analysiert und zugleich eine neue, lebensbejahende Forschung und Technik einfordert.

(…) Von den zahlreichen Büchern, die sich mit den Atomphysikern beschäftigt haben, hat mir das Werk des an der University of Sussex lehrenden Physikers und Psychologen Brian Easlea mit dem Titel »Fathering the Unthinkable« die überraschendste Aufklärung vermittelt. Der Autor, dessen Arbeit von seinen Berufskollegen als »peinlich« verketzert wurde, versucht darin nachzuweisen, daß die Atombombe das Endprodukt des Männlichkeitswahns sei, der sich aus Neid und Schwäche die weibliche Natur unterwerfen wolle. Er zeigt an der Ausdruckswiese der Forscher, die voller sexueller Anspielungen ist, wie sehr ihre ganz privaten Probleme zur Antriebskraft ihrer grandiosen und zugleich monströsen Leistungen wurden.

So ist es für ihn kein Zufall, daß Oppenheimer und Teller als die »Väter« der Atom- und Wasserstoffbombe bezeichnet werden, daß die Hiroshimabombe »Little Boy« getauft wurde und Teller auch die erste erfolgreiche Zündung der H-Bombe mit dem Jubeltelegramm „It's a boy“ („Es ist ein Knabe“) meldete.

Es war also eine Art Geburtstagsfest, das vor vierzig Jahren in Los Alamos gefeiert wurde, und nur wenige unter den Teilnehmern ahnten damals schon, daß letztlich auch sie selber Opfer ihrer ohne weibliche Hilfe zustandegekommenen »Geschöpfe« werden würden. Zunächst allerdings durften sie ihren Triumph, ihren frischen Ruhm, ihre neugewonnene Stellung in der Gesellschaft genießen. Sie wurden gefeiert, umworben, als Angehörige des plötzlich wichtigsten, einflußreichsten Berufsstandes beneidet. Erst nach und nach entdeckten sie, daß man sie auch fürchtete, ja sogar haßte, und daß man ihnen nur schmeichelte, um sich ihrer zu bedienen.

Die Vorstellung einiger der hervorragendsten Rüstungsforscher, daß sie nun nach dieser kriegerischen Episode wieder zu ihrer ruhigen selbstbestimmten Wahrheitssuche zurückkehren könnten, erwies sich sehr schnell als Illusion. Denn der so erfolgreiche neue Forschungsstil, den sie geschaffen hatten, nahm ihnen die alte Freiheit. Individuelle Forschung mit »Wachs und Bindfaden« – das war nicht mehr »in« und nun kaum mehr möglich. Die in den Rüstungslaboratorien entstandenen »Projektwissenschaften« mit ihrem Teamwork, ihren kostspieligen Instrumenten, ihrer straffen Organisation waren ohne staatliche Mittel nicht lebensfähig. Damit aber mußte der Einfluß von Instanzen wachsen, denen es in erster Linie nicht um Wahrheit, sondern um Macht ging, nicht um Erkenntnisse, sondern Erzeugnisse. Für die Freiheit angetreten, hatten die Forscher ihre Freiheit verloren.

Das »Manhattan Project«, dessen erfolgreicher Abschluß die meilenhohen Rauchpilze und Menschenhetakomben von Hiroshima und Nagasaki waren, hatte gezeigt, daß bei gezieltem Einsatz von genügend intelligenten Köpfen, Instrumenten und Geldmitteln Erfindungen in beschleunigtem Tempo erzwungen werden konnten. Diese Einsicht war fast so wichtig – manche meinten, sogar noch wichtiger – wie das Produkt, die neue Superwaffe. Denn diese Entwicklung schien zu verheißen, daß der wissenschaftlich-technische Fortschritt in Zukunft keinem glücklichen Zufall mehr überlassen werden müsse, sondern systematisch erzeugbar sei.

In einer Gesellschaft, deren Entscheidungsträger gewillt wären, diese neue gesellschaftliche Antriebskraft für lebenserhaltende Ziele einzusetzen, könne eine solche geplante und organisierte Kollektivforschung allgemeinen Wohlstand und Frieden bringen – so sah der Traum der Projektforscher in West und Ost aus. Aber sie rechneten in ihrer politischen Unerfahrenheit nicht damit, daß diese perfektionierten »Fortschrittsmaschinen« in ganz andere Richtungen gelenkt würden, nämlich zu jenen Bestimmungen, denen sie ihr Entstehen und ihre ersten Bewährungsproben verdankten: der Herstellung von militärischer, staatlicher, wirtschaftlicher Macht.

So ist vierzig Jahre nach Hiroshima die große Mehrheit derer, die sich der Forschung und Entwicklung widmen, unmittelbar auch in zahlreichen mittleren oder kleineren aus öffentlichen oder industriellen Quellen unterstützten Laboratorien, zu Mitarbeitern an Vorhaben geworden, die sie persönlich nicht gutheißen können. Aber es bleibt ihnen, wenn sie nicht »Aussteiger« oder »Eigenbrötler« werden wollen, nichts anderes übrig, als an Arbeiten mitzuwirken, auf deren Nutzung sie wenig oder gar keinen Einfluß haben, ja deren Zielsetzung sie oft nicht einmal kennen. (…)

Der nukleare Rüstungswettlauf, dessen dröhnendes Startsignal die Katastrophe vom 6. August 1945 war, hat inzwischen ungleich weitergreifende, noch radikaler wirkende Massenzerstörungsmittel hervorgebracht als den »kleinen Jungen« von damals: bösartige Riesen, reißende Ungeheuer, Heuschreckenschwärme und Vernichtung. (…)

Die »Bombe« – und das ist wohl ihre tiefste Wirkung – hat die Menschen so sehr verunsichert wie nichts zuvor. Die Zukunft – seit jeher als Zeit der Hoffnung empfunden – ist nun mit Furcht und Schrecken besetzt. Diese dunkle Wolke am Horizont einer jeden bewußten Existenz kann, ja muß immer wieder zeitweilig vergessen werden. Verschwinden könnte sie nur, wenn etwas ähnlich Einmaliges und Unerhörtes geschähe wie die Entdeckung der Atomkernspaltung und die dann daraus folgende Entwicklung von »endgültigen Waffen«.

Es ist aus solcher Überlegung heraus in Forscherkreisen immer häufiger von einem großen »Projekt« die Rede, das durch eine Zusammenführung von Wissenschaftlern vieler Disziplinen und Nationen in einem »crash program« überzeugende Lösungen zur Verhütung des atomaren Holocaust entwickeln sollte.

Doch halt: Ist dies nicht einmal mehr der Ausdruck jenes Geistes, der alles für machbar hält? Kommt da nicht wiederum jener typisch maskuline Hochmut zum Ausdruck, den Brian Easlea als eine Art »Erbsünde« der neuzeitlichen Wissenschaft ansieht? Ein solches »Anti-Hiroshima-Programm« wird trotz derartiger Bedenken vermutlich nicht in allzu ferner Zukunft versucht werden. Es entspricht eben einer Mentalität, die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts begonnen hat. Und sie hat in der Tat erstaunliche, im letzten halben Jahrhundert allerdings auch immer öfter abscheuliche Resultate gezeitigt.

Kann man denn Geschichte »machen«? Ist das Schicksal beherrschbar? Wird man es beeinflussen, ja sogar steuern können? Ganz auszuschließen ist das nicht. Und wenn die vielfachen Krisen, die unsere »p.h. (post Hiroshima) Welt« erschüttern, als Folge verantwortungslosen Drauflosforschens und ungenügend durchdachten technischen Handelns sich noch weiter verschärfen, werden für einen globalen Krisenstab vielleicht auch die notwendigen Mittel und Vollmachten erteilt.

Wichtiger und wohl letztlich erfolgversprechender wäre es, wenn die zu erwartenden vertieften und vermehrten Krisen nicht nur wissenschaftliche Superprojekte und gewaltige Aktionsprogramme gebären würden, sondern ein grundsätzlich anderes Denken.

Ansätze dazu sind heute schon hier und dort zu finden. Die »Ökophilosophie« des Norwegers Arne Naess (Oslo) und des aus Polen stammenden Engländers Henryk Skolimovski (Oxford) weist, ähnlich wie schon Erich Fromm und vor ihm bereits Albert Schweitzer, darauf hin, daß nur eine ganz entschiedene Abkehr von allen Formen todbringenden Denkens und Handelns Rettung bringen kann.

Es wird das dringendste Projekt einer neuen Generation von Denkern und Forschern sein, solche Ideen im Kontext der heutigen Möglichkeiten weiterzudenken und in Zusammenarbeit mit ihren Zeitgenossen zu konkretisieren. Welch faszinierende Aufgabe! Neben ihr löst sich die »süße Technik« der Gewalt, von deren Verführungskraft Oppenheimer sprach, in eine stinkende, giftige Wolke auf, die dann auf immer verschwinden sollte.

Aus: bild der wissenschaft, Juli 1985; hier zit. nach Und Wasser bricht den Stein. Freiburg 1986, S. 220-223.

Die innere Aufrüstung (1987)

Scharfe Töne gegen die Rüstungsforscher schlägt Jungk angesichts des Bekanntwerdens des Star-War-Programms SDI an, das nicht nur für ihn eine weitere, gefährliche Eskalation des Wettrüstens bedeutet. In einem Vortrag an der Technischen Hochschule in Zürich prangert er die »Todeswissenschaften« und ihre Helfershelfer an, warnt aber zugleich vor der »inneren Aufrüstung« gegen jene, die Widerstand leisten. Der ausgewählte Textabschnitt endet – einmal mehr – mit der Aufforderung, dem »Nein« ein »Ja« folgen zu lassen. Mit seinem Freund Hans-Peter Dürr spricht Robert Jungk von einer »World Peace Initiative« (WPI), die dem SDI-Programm entgegengestetzt werden sollte.

Es ist heute so, daß die Militärs bis in die Grundlagenforschung hinein immer mehr Kontrolle zugestanden bekommen, sie immer mehr benutzen. Auch die offene internationale Grundlagenforschung wird mittlerweile für militärische Zwecke, meist ohne Wissen der Wissenschaftler benutzt. (…)

Wir sollten hier nicht nur über Megatonnen sprechen, nicht nur über die mögliche Zerstörungsstärke, sondern auch fragen: Welche ökonomischen, welche machtpolitischen und welche karrierepsychologischen Motive und Personen treiben den Rüstungswettlauf an? Es wird meiner Ansicht nach zuwenig gefragt: „Wer steckt dahinter, wer will da die Geschäfte machen, welche machtpolitischen Ziele werden damit verfolgt?“ Es ist ja nicht so, daß Herr Reagan oder Herr Gorbatschow wirklich wollen, daß diese Bomben wirklich explodieren, daß ihre Waffen wirklich angewendet werden. Sondern man will das Geschäft immer weiter machen, weil es nichts gibt, was schneller veraltet als diese kostspieligen Waffen, weil es nichts gibt, womit man so schnell und sicher so viel Geld verdienen kann. Und das ist es, was sie wirklich wollen: Sie wollen machtpsychologisch auf diese Art und Weise Druck ausüben auf den Rest der Welt.

Sie rüsten aber nicht nur nach außen, sondern auch nach innen auf. Es wird viel zu wenig gesehen, daß als Parallelentwicklung zur äußeren Aufrüstung in unseren Gesellschaften eine immer stärkere innere Aufrüstung auftritt: Daß man (um die Unbequemen, die diesen Kurs nicht mitmachen wollen, zu überwachen und um diese Leute jederzeit im Griff zu haben), eine ganz neue Technologieentwicklung in Gang bringt. Das eröffnet der Industrie wiederum einen neuen Markt und kann nur gestoppt werden, wenn man das ganze Wettrennen als Fehler erkennt, als Fehlentwicklung der Geschichte. Wenn man fordert, daß das alles endlich aufhört.

Nun meine ich, es genügt nicht nur, nein zu sagen. Der zweite unentbehrliche Schritt ist der Kampf für ein »ja« zu einer ganz anderen Zukunft. Wir müßten einen Wettlauf in die andere Richtung starten, nämlich einen Wettlauf auf eine menschlichere, umweltfreundlichere Welt hin. Man sollte sich zusammensetzen, um unter Mitwirkung von Wissenschaftlern und Technikern große, konstruktive Gegenprojekte zu beginnen und sich zu überlegen: Welches sind die vierzig, fünfzig Probleme der Menschheit, die in die größte Krise der Geschichte geraten ist (z. B. Hunger, Umwelt, menschliche Beziehungen)? Da muß gemeinsame Forschungsarbeit auf nationaler wie internationaler Ebene geleistet werden, um dem SDI eine WPI – eine (»World Peace Initiative«) entgegenzusetzen. Oder zumindest eine EPI – eine »European Peace Initiative«. Denn ich frage mich, wie viele meiner Freunde in Frankreich, Italien, Skandinavien usw., ob es sinnvoll ist, daß Europa den Amerikanern und Japanern weiterhin hinterherläuft, anstatt einen eigenen Weg mit Hilfe einer umwelt- und menschenfreundlicheren Wissenschaft und Technologie zu gehen?

Ich meine also, man sollte nicht ausschließlich von Waffen und ihren Wirkungen sprechen, sondern auch vom Herzen oder vom Gehirn und von der Frage, ob das Herz oder das Gehirn unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Systemen und Zwängen überhaupt noch so funktionieren können. Denn was geschieht mit denen, die sich dem Rüstungswahnsinn entziehen wollen, die noch ein Herz, die noch einen Kopf haben? Sie werden einfach hineingezwungen in die Drohsysteme, sie müssen entweder schizophren sein, indem sie sagen: „Ich mach in diesem System zwar äußerlich mit, versuche aber dennoch im Geheimen oder privat, meinen eigenen Weg zu gehen“, oder aber sie resignieren und machen ganz im System mit. Ich meine, sie sollten Widerstand riskieren und keine Kompromisse machen. Denn die führen nicht weit: Wir haben seit vierzig Jahren gesehen, daß all die kleinen Versuche, die Welt ein bißchen besser zu machen, gar nicht dazu führten, sondern von denjenigen, die die alte Richtung weiter verfolgen, als Entschuldigung benutzt wurden mit dem Argument: „Wir erlauben das ja auch, wir erlauben so ein bißchen Widerstand, wir erlauben so ein bißchen Dissidenz. Wir sind frei, wir sind offen.“ Und so können die Promotoren der Großtechnologie und der Machttechnologie ihr System weiter vorantreiben. Ich bitte alle: Lassen Sie es nicht bei den Worten, sondern handeln Sie!

Aus: Die innere Aufrüstung. In: Paul Feyerabend u.a. (Hg.): Leben mit den acht Todsünden der zivilisierten Menschen? Verlag der Fachvereine, Zürich 1987, S. 207-212.

Zukunftsbezogene Friedensarbeit (1989)

In einem Vortrag vor Mitgliedern der Deutschen Friedensgesellschaft/Vereinigte Kriegsdienstgegner aus dem Jahr 1989 betont Jungk ebenfalls die Notwendigkeit, der Friedensbewegung eine »Zukunftspolitik« zur Seite zu stellen.

Wir sollten ruhig ein bißchen stolz auf unsere heutigen Erfolge sein und uns nicht immer selber einreden, was wir gemacht haben, sei unwichtig. Wir haben Sand in die Maschinerie geworfen. Wir haben Bewußtsein verändert. Das ist wichtig genug.

Aber noch ist die Friedensbewegung eine Bewegung, die keine Horizonte eröffnet und Zukunftsperspektive gibt, sondern bestenfalls die Perspektive, wir wollen etwas verhindern. Wir wollen etwas aufhalten. Das genügt nicht mehr. Nein, es geht eigentlich um viel mehr. Das ist eben anders als seinerzeit, als ich 1929 mit 16 Jahren Pazifist geworden bin. Da konnte man nur gegen Krieg sein. Heute geht es darum: Haben wir eine Zukunft oder haben wir keine Zukunft? Und wie soll diese Zukunft aussehen?

Das ist die Grundfrage: Wie können wir neben unserem Nein, das so stark sein soll wie immer und sich noch verstärken soll, auch ein Ja entwickeln? Wie können wir erreichen, daß die friedliche Welt so anziehend ist wie das, womit junge Menschen sich heute beschäftigen und begeistern? Zum Beispiel wie Weltraumfahrt, Fußball, technische Spielereien und Computer.

Wir müssen es fertigbringen, den Militaristen und ihren stillschweigenden Anhängern das Monopol auf den Enthusiasmus, das Monopol auf die Zukunftsfreude und die Zukunftsplanung zu nehmen. Wir müssen ganz konkret eine Zukunftspolitik entwickeln. (…)

Wo, wie, was wären die konkreten Ziele einer zukunftsbezogenen Friedensarbeit? Da wäre die Frage nach der Architektur, nach den Ansätzen einer sanften, statt der gigantischen, brutalen Technik; die Versuche Energie zu schaffen, die der Umwelt und den Menschen nicht schadet; andere Energietechnik, Solartechnik, Windtechnik und Biomasse. Das sind gemeinsame Versuche, wo man miteinander arbeiten und basteln kann. In Dänemark können Arbeitslose, die sich für die Entwicklung der Windenergieprogramme einsetzen wollen, zu ihrer Arbeitslosenunterstützung zusätzlich etwas verdienen, weil sie als Pioniere neuer Energieformen nicht mehr als »Rest der Gesellschaft« behandelt werden.

Ich frage mich, ob wir diejenigen, denen man die Arbeit genommen hat, nicht einfach als Reservearmee des Kapitalismus versorgen, sondern als Pioniere in Experimenten neuer Art einsetzten sollten. Ich könnte mir vorstellen, daß aus Arbeitslosen Andersarbeitende werden könnten. Vorläufer einer anderen, humaneren Gesellschaft. Auch das ist eine Frage, mit der sich die Friedensbewegung beschäftigen muß.

Schließlich meine ich, daß die Friedensbewegung in einer ganz anderen Weise als bisher versuchen müßte, auf die Medien Einfluß zu nehmen. Nun werden manche sagen: wir kommen nicht an die Rundfunkanstalten ran und können nicht mit unseren Vorstellungen in die Medienwelt eindringen. Ich glaube, daß das eine Entschuldigung, eine Ausrede ist. Es gibt heute den Anfang von nichtstaatlichem Rundfunk, der bisher ausschließlich vom Kommerz genutzt wird. Es muß möglich sein, daß man in »Offenen Kanälen« mit eigenen Sendern, mit eigenen Videoproduktionen Friedensthemen an die Öffentlichkeit bringt. Wir müssen die Medienfrage ernst nehmen (…).

Wir müssen hier eine Art von Pionierstellung haben. Die Sorge um die Zukunft der Welt besteht auch darin, daß wir Lehrer werden für die, die nicht wissen, wohin sie sich wenden sollen. Das ist eine große und wichtige Aufgabe und nicht etwa Arroganz und Anmaßung, wenn wir das versuchen. Es sind einfach zuwenig Menschen, die das tun. (…)

Aus: Damit wir nicht untergehen. Texte von Robert Jungk, ausgewählt von Matthias Reichl. Edition Sandkorn, Linz 1991, S. 40-42.

Hoffnung auf Volksdiplomatie (1990)

In einem gemeinsam mit der Bibliothek für Zukunftsfragen herausgegebenen »Katalog der Hoffnung« begrüßt Jungk die beginnenden Reformbestrebungen in den staatssozialistischen Ländern als großen Schritt in Richtung Überwindung des Kalten Krieges, plädiert aber zugleich für die Intensivierung der »Volksdiplomatie«, die allein den Entspannungsprozeß unumkehrbar machen könne.

In einigen Ländern des Ostens haben politische Entwicklungen begonnen, die man vor kurzer Zeit noch für undenkbar gehalten hätte. Die Reformen von oben, wie sie in der UdSSR, in Polen, in Ungarn und nun auch in der DDR begonnen haben, beschleunigen die sozialen Bewegungen in diesen Ländern, vor allem auch in den Teilrepubliken der Sowjetunion, und es will scheinen, als habe die jeweilige Staats- und Zentralmacht alle Mühe, diesen Bewegungen hinterherzukommen. Der Prozeß ist völlig offen, was heute zu beschreiben und zu analysieren ist, kann morgen schon überholt sein, im Guten wie im Bösen. Dennoch erfüllen die Vorgänge Menschen in aller Welt mit Hoffnungen. Dabei scheint uns die Frage, ob das große Zukunftsmodell des Sozialismus »am Ende« ist und »abgewirtschaftet« hat, gar nicht die entscheidende zu sein. Wichtiger ist wohl, daß sich die Reformbewegung »von oben« gar nicht anders erklären läßt, als im Wechselspiel mit den Bewegungen »von unten« – allerdings wissen wir von diesen Bewegungen viel zu wenig. Man kann (und konnte) das Leben auf der anderen Seite des »Eisernen Vorhangs« nicht wirklich kennenlernen durch Urlaubsreisen und während einer Einkaufsfahrt, wie sie über die östereichisch-ungarische Grenze seit einiger Zeit möglich ist. Es sind persönliche Begegnungen notwendig, Aufenthalte in Familien, Schüleraustausch, Begegnungen von Sportlern, Studenten, Schriftstellern und Künstlern, von Pfarrgemeinden oder Betriebsgruppen. Erst solche Begegnungen ermöglichen es, die Vorgänge in den sozialistischen Ländern wirklich zu beurteilen und genauer zu erfahren, welche Triebkräfte und welche Gefährdungen in den gegenwärtigen Öffnungs- und Entspannungsprozessen wirksam sind. Und hinzu kommt, daß nur solche Begegnungen es erlauben, wechselseitige Feindbilder abzubauen, Vorurteile und falsche Vorstellungen über das Leben und die Menschen im jeweils anderen Teil der Welt zu korrigieren. Daran läßt sich die Hoffnung knüpfen, daß auch im Prozeß der globalen »Entspannung« zwischen den Machtblöcken ein Wechselspiel zwischen offiziell-diplomatischen Prozessen und einer sozialen Bewegung in den jeweiligen Völkern entsteht, das die immer wieder stockenden, immer von Stillstand und Abbruch bedrohten Verhandlungsrunden der Diplomaten und Minister, der Militärs und Bürokraten vorantreibt. Hoffnung besteht auch, daß in solchen direkten Begegnungen der »Volksdiplomatie« etwas Bleibendes geschaffen wird, Erfahrungen, die eine Neu- und Wiederauflage des »Kalten Krieges« zumindest erschweren werden, sollten die Reformprozesse umschlagen.

Begriffe wie »Volksdiplomatie« und »Entspannung von unten« sind zunächst in bezug auf die Ost-West-Beziehungen geprägt worden. Doch gibt es tief eingefressene Feindbilder auch bei Menschen, die im gleichen Land leben, die einander täglich begegnen können: bei Juden und Arabern in Israel, bei Katholiken und Protestanten in Irland, bei Weißen und Schwarzen in Südafrika. Auch da ist »Entspannung von unten« bitter notwendig; und es gibt Initiativen, die hier Zeichen setzen.

Aus: Katalog der Hoffnung. 51 Modelle für die Zukunft. Luchterhand, Berlin 1990, S. 143f.

Rede gegen den Krieg. Stellungnahme zum Golfkrieg (1991)

Der Golfkrieg war für Robert Jungk die »bisher gefährlichste Episode« im Konflikt zwischen reichem Norden und armem Süden. Während andere über die Rechtmäßigkeit der Militärintervention gegen den Irak debattierten, erinnerte er die Friedensbewegungen daran, sich des größeren Zieles eines weltweiten Verbots der Rüstungsproduktion sowie des Engagements für konstruktive Friedensideen zu besinnen. Die im folgenden wiedergegebene Rede hielt Jungk am 2. Februar 1991 in Wien. Ihr angeschlossen ist eine nachdenkliche Tagebuchnotiz des 78-Jährigen über das Dilemma des ständigen »Zupät-Kommens« von Antikriegsbewegungen wie jener gegen den Golfkrieg.

Acht Thesen

Erste These: Ein hundertjähriger weltweiter Konflikt hat begonnen.

Der Golfkrieg ist die bisher gefährlichste Episode in einem fünfzig-, vielleicht sogar hundertjährigen Konflikt zwischen der armen Mehrheit und der reichen Minderheit einer rapide anwachsenden Weltbevölkerung.

Zweite These: Geduld und politische Phantasie gegen sture Gewalt.

Nur mit sehr viel Geduld, Scharfsinn und politischer Phantasie kann diese weltweite Auseinandersetzung zwischen Süden und Norden gedämpft und einer großen Anzahl von notwendigen Lösungen nähergebracht werden.

Dritte These: Die Friedensbewegung als »dritte Macht“.

In der Friedensbewegung findet sowohl die Angst der Völker wie ihre Sehnsucht nach einer humanen Zukunft ihren Ausdruck. Sie ist nicht nur eine »Anti«-Bewegung, sondern auch eine »Pro«-Bewegung. »Wir sind das Volk« – mit dieser Parole protestierten Millionen.

Vierte These: Waffen und Heere können keinen Frieden gründen.

Nach zwei Weltkriegen, in denen Millionen starben, sind wir nun in den dritten großen Krieg hineingeraten. Solange es Waffen und Streitkräfte gibt, wird eine gute Zukunft nicht möglich sein. Daher ist das Verbot der Rüstungsproduktion und die Kontrolle aller Rüstungen das erste und dringendste Ziel der Friedensbewegungen.

Fünfte These: 1991 ist nicht 1939.

Gegen Hitler hatte der Einsatz von Waffen noch einen politischen Sinn. Aber in den seither vergangenen fünf Jahrzehnten haben sich die Waffen zu Massenvernichtungsmitteln entwickelt, die einen »Sieg« unmöglich machen, sondern eskalierend zu einer Bedrohung der Menschheit und ihrer natürlichen Lebensgrundlagen werden müssen.

Sechste These: Die Friedensbewegten als Verteidiger der Zukunft.

Die neuen sozialen Bewegungen (Ökobewegung, Frauenbewegung, Bürgerinitiativen und Friedensbewegung) fühlen sich durch ihre Regierungen nicht mehr vertreten. Sie nehmen ihr Schicksal mehr und mehr in die eigenen Hände. Allein in der Dritten Welt gibt es seit Anfang der siebziger Jahre tausende regionale und lokale Bewegungen, die sich von den zentralen, meist militärisch dirigierten Gewalten ihrer Länder losgesagt haben. Immer mehr Menschen in allen fünf Erdteilen erleben sich als Gestalter einer anderen, lebensfreundlicheren Gegenwart und als Bewahrer der Zukunft.

Siebente These: Österreichs Rolle als Friedensstifter.

In diesen großen Konflikt haben Gemeinden, Regionen und kleine Länder eine besondere Rolle zu spielen. Ihre größere Menschennähe und Überschaubarkeit kann bewirken, daß sie die wirklichen Bedürfnisse und Wünsche der Menschen besser kennen als die Großmächte. Österreich, das sich wie andere westliche Nationen durch Waffenexporte mitschuldig am Ausbruch des Golfkrieges gemacht hat, muß durch Rückkehr zur integralen Neutralität und das Setzen immer neuer Friedensbeispiele die Schuld seiner skrupellosen Wirtschaftsverbrecher wiedergutzumachen versuchen.

Achte These: Das neue Jahrtausend wird eine neue Zivilisation gründen.

Wir – besonders die jungen Menschen – brauchen begeisternde Ziele. Wir sollten heute schon im Zusammenwirken vieler Bürger und aller Völker gedanklich und experimentell eine neue Zivilisation vorbereiten, die auf Solidarität, Humanität und Kreativität gegründet ist. Dieser Traum kann der Wirklichkeit näherkommen, wenn wir nicht resignieren, wenn wir nicht aufgeben.

Mit „Gebt nicht, gebt niemals auf!“ enden meine Ausführungen.

Tagebuchaufzeichnung 4. Februar l99l:

Die Friedensbewegung ist wieder da, das war der entscheidende Satz der Rede, die ich eine Woche vor Ablauf des Ultimatums vor Tausenden Demonstrationsteilnehmern am Marienplatz vor dem Münchner Rathaus wagte.

Daß diese Behauptung stimmt, haben seither Hunderte Ereignisse in allen Städten der »ersten Welt« bewiesen. Aber die vorgestrige »Großveranstaltung« am Heldenplatz in Wien war nur durchschnittlich besucht. Und fast überall beginnt der spontane Protest wieder abzuflauen.

Wie kann der Einfluß der vielen, die entsetzt sind über die unintelligente Gewaltpolitik ihrer Regierungen, zu einem stetigeren und verläßlicheren Faktor werden? Oder soll man die Gangart des sporadischen empörten Aufwallens als die echtere, weil nicht gesteuerte Antwort akzeptieren? Mit dieser Frage habe ich mich in der vergangenen Nacht herumgequält und noch keine Antwort gefunden. Da sind auf der einen Seite die »professionals« des Verderbens, die festangestellt unermüdlich »ihre Pflicht tun«. Auf der anderen Seite die vielen Betroffenen, die – fast immer schon zu spät – auf die Straße gehen und dann nach ein paar Wochen schon fast alle zu Hause bleiben. Können sie, können wir diesen Konflikt je für uns entscheiden?

Rede bei einer Veranstaltung in Wien, Heldenplatz, 2.2.1991. Aus: Ich will reden von der Angst meines Herzens. Autorinnen und Autoren zum Golfkrieg. Luchterhand-Literaturverlag, Frankfurt 1991.

Schafft Friedensinseln, schafft Friedensschauplätze (1991)

Vielleicht wie eine Antwort auf die Ohnmacht der Proteste gegen den Golfkrieg zu lesen ist der folgende, die Utopie einer weltweiten Arbeit für den Frieden formulierende Text, den Jungk für die Schweizer Zeitschrift »Constructiv« verfaßt hat. Er belegt einmal mehr die Überzeugung des Zukunftsdenkers, daß wir es uns nicht leisten können, im Kritisieren zu verharren, sondern daß es gilt, konstruktive Ideen zu entwickeln und für diese Verbündete zu suchen.

Wir werden überschüttet mit verfälschten Berichten von Kriegsschauplätzen im Nahen Osten. Was können wir gegen Verzweiflung und Resignation setzen? Wie gelingt es uns mit unserer Ohnmacht fertigzuwerden? Mit Protest! Gewiß, aber genügt das? Jetzt schon bereiten sie einen »Frieden« vor, der wiederum auf Waffen und die langdauernde Präsenz fremder Truppenverbände gegründet sein soll.

Wir sollten uns, wo immer es geht, zusammenfinden und als Gegengewicht jetzt schon Umrisse künftiger friedlicher Zusammenarbeit mit den Menschen im Nahen Osten und darüber hinaus in anderen Ländern der Dritten Welt entwerfen. Von solchen Friedensschauplätzen müßten wir Nachrichten an die vielen Menschen schicken, die nur noch Verbrechen und Unheil von der Zukunft erwarten.

Wir stehen erst am Anfang eines Konfliktes, der Jahrzehnte, vielleicht sogar ein Jahrhundert dauern kann. Konflikt muß aber nicht Krieg bedeuten, sondern kann eine gemeinsame Anstrengung sein, die Gerechtigkeit anstrebt und im Geiste einer Schicksalsgemeinschaft vor sich geht, die weiß, daß die Eskalation der Gewalt den Untergang aller bedeuten muß.

Unter uns und mit uns leben viele Menschen aus anderen Ländern und Erdteilen. Wir sollten sie nicht als Last ansehen, sondern als Helfer zum Verständnis einer kommenden Zeit, in der die Zahl der Afrikaner, Asiaten und Lateinamerikaner die der Europäer und Amerikaner um ein Vielfaches übersteigen wird.Mit ihnen sollten wir auf unseren Friedensinseln möglichst konkrete Konzepte entwerfen:

  • für Zukünfte ohne Hunger und Entbehrungen;
  • für Zukünfte, in denen wir unsere Kräfte zur Regeneration der zerstörten Landschaften und Siedlungen zusammenspannen, statt uns gegenseitig aufzureiben;
  • für Zukünfte, in denen nicht nur einige Wenige, sondern möglichst viele mitbestimmen können;
  • für Zukünfte, die dem Leben und der Gesundheit gewidmet, nicht länger von Untergangsangst überschattet sind.

Auch wenn wir mitten in düsterer Gegenwart das zunächst nur sagen und aufschreiben, können doch von solcher friedlicher auf eine gute Zukunft gerichteten gedanklichen Zusammenarbeit Einflüsse ausgehen, die das Handeln vieler, die jetzt noch passiv bleiben, beeinflussen und derart radikal andere Wirklichkeiten vorbereiten.

Solche »Friedensinseln« sind Experimente, die Hoffnung schaffen und damit erste Schritte in eine neue Welt von morgen wagen. Es lohnt sich, gemeinsam diese Versuche zu beginnen, statt in Traurigkeit zu versinken oder sich in ohnmächtiger Wut zu verzehren.

Aus: Damit wir nicht untergehen. Texte von Robert Jungk. Ausgewählt von Matthias Reichl. Edition Sandkorn, Linz 1991, S. 48f.

Gemütsfaschismus und Technofaschismus (1991)

Den gefallenen Mauern zwischen Ost und West folgten neue. Wachsende Ausländerfeindlichkeit, zunehmender Rassismus, verschärfte Asylgesetze – und zuletzt – Mordanschläge auf Ausländer und Asylwerber sind traurige Facetten des kalten Friedens nach der großen Wende. In einer Analyse der neuen rechtspopulistischen Bewegungen mit Führern wie Schönhuber oder Le Pen stellt Robert Jungk Bezüge her zwischen unserer kalten, der einseitigen Rationalität verpflichteten Gesellschaft, in der alle »funktionieren« müssen, und einem neuen – sozusagen als Ventil fungierenden – »Gemütsfaschismus«, der von den neuen Rechten salonfähig gemacht werde. Wirksamer Antifaschismus müsse daher, so Jungks Warnung, die Gefühle und Sehnsüchte der Menschen ernst nehmen und diesen konstruktive Artikulationsmöglichkeiten schaffen.

Es ist eines der großen Verdienste des Seelenforschers Wilhelm Reich, daß er 1934 angesichts der Machtergreifung des Nationalsozialismus nicht nur wirtschaftliche und nationale Bedrängnisse für den Erfolg des »Führers« verantwortlich machte, sondern auch seelische Defizite, die der »Retter« Adolf Hitler auszugleichen versprach.

Wenn heute im Zeichen ökonomischer Hochkonjunktur Vertreter faschistischer oder faschistisch beeinflußter Programme Zulauf erhalten, dann sollte man sich an diese – vor allem von der Linken – zu wenig beachteten Erkenntnisse über die »Massenpychologie des Faschismus« erinnern. Weiter verbreitet noch als die durch Rationalisierung und rücksichtslose Strukturveränderungen bewirkte materielle Arbeitslosigkeit ist meiner Ansicht nach die »seelische Arbeitslosigkeit« von Millionen, die in der von Technokraten verwalteten Konsumgesellschaft weder Lebenssinn noch Möglichkeiten eines sie erfüllenden Engagements entdecken. Desillusion und Resignation beherrschen die Stunde. Wer auf überzeugende Weise dem entgegenarbeitet, indem er an Selbstbewußtsein, unterdrückte Wut und so etwas wie einen Gemeinschaftsgeist appelliert, gewinnt Anhänger. Sie brauchen Begeisterung, sei sie auch irregeleitet, dringender als Brot. (…)

Wer je eine Versammlung der Anhänger Le Pens, eine der biergeschwängerten Massenversammlungen zu Füßen von Franz Josef Strauß oder dem »neuen Franz« Schönhuber erlebt hat, weiß, wie hoch da die Gefühle gingen und gehen. Da fühlt sich niemand mehr einsam, unterdrückt, zum vernünftigen Tun vergattert, sondern als Teil einer singenden, brüllenden, klatschenden Gemeinschaft von Patrioten, die ihren »Mann« stellen und von einer weisungsgebenden Figur auf den Heilsweg geführt werden.

Und am nächsten Tag? Da werden sie wieder zu grauen Mäusen, zu gehorsamen Bürokraten, folgsamen Angestellten, fleißigen Lohnbeziehern. Genau wie das Management sich seine Hand- und Kopflanger wünscht. Der Gemütsfaschismus, den die Neuen Rechten zum politisch ernstzunehmenden Faktor gemacht haben, korrespondiert exakt mit dem Technofaschismus der Industriegesellschaft, indem er kompensatorisch befriedigt, was im kalten, rationalen, entfremdeten Alltag der Produktionsuntertanen und ihrer anonymen Manager vernachlässigt wird. (…)

Gegen diese Entwicklung, die dem einzelnen immer weniger Möglichkeit gibt, seine individuelle Persönlichkeit durchzusetzen, und ihn zum Mitmacher, ja zum Mitschuldigen an einer auf künftige Katastrophen hinsteuernden Entwicklung macht, haben die neuen sozialen Bewegungen der letzten zwanzig Jahre gekämpft und zunehmend Anhänger gewonnen. Ihre zunehmend techno-kritische, antikapitalistische Haltung muß den Technokraten Sorgen bereiten. Nachdem sie die Arbeiterbewegung durch Beteiligung an der ökologischen und imperialistischen Ausbeutung der Welt korrumpiert und weitgehend ruhiggestellt hatten, mußten sie gegen die Herausforderungen der Studentenbewegung, Ökobewegung, Friedensbewegung, Frauenbewegung, Arbeitslosenbewegung eine politische Bewegung finden, die nicht nur den Wirtschaftsinteressen nutzen, sondern auch die Gemüter der von Zweifeln, Angst, Unsicherheit Bedrängten gefangennehmen könnte.

In den neuen faschistischen Bewegungen haben sie nun so etwas entdeckt, und es steht zu erwarten, daß die Mächtigen nach anfänglichen Zweifeln (wie sie übrigens zunächst auch gegen die Nazis bestanden) den neuen »Führern« genügende Finanzmittel zur Verfügung stellen werden, damit sie die vom Technofaschismus um ihre Persönlichkeitskräfte Gebrachten über den Gemütsfaschismus erneut gleichschalten. Während sie selbst, die wahren »Führer«, anonym bleiben, dürfen populäre Massenredner und Agitatoren deutlich hervortreten, Sympathien gewinnen und die Bürger von ihren wirklichen Interessen ablenken.

Ein wirksamer Kampf gegen den Gemütsfaschismus verlangt die kritische Aufdeckung der Macht, die der Technofaschismus heute schon in Arbeits- und Konsumwelt übt. Doch dazu müßte noch etwas Wichtigeres kommen: Die Gegner des Technofaschismus, die Grünen und die Linken, müssen sich darum bemühen, den Bürgern nicht nur materielle oder ökologische Verbesserungen anzubieten, sondern die Visionen einer humanen Gesellschaft, für die sich die Menschen begeistern können. Mit „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“ hat die Arbeiterbewegung Millionen in Bewegung gebracht. Mit Tarif- und Lohnkämpfen allein können die Herzen der Menschen nicht gewonnen werden. Wer den »Wärmestrom« des Sozialismus versiegen läßt, kann nicht hoffen, denen, die mit der »heißen Luft« eines verquasten Patriotismus falsche Wärme vortäuschen, erfolgreich Widerstand zu leisten.

Erfolgversprechender Antifaschismus darf die Emotionen der Menschen nicht vernachlässigen. Sie auf ernstzunehmende und ehrliche Weise anzusprechen und politisch einzusetzen, ist die Aufgabe einer nicht nur soziologisch, sondern auch psychologisch denkenden neuen politischen Generation, die lesen und diskutieren, aber auch zuhören und mit den Menschen sprechen kann. Nur so werden wir dem neuen Faschismus widerstehen und ihn überwinden.

Aus: Martin Kirfel und Walter Oswalt (Hg.): Die Rückkehr der Führer. Modernisierter Rechtsradikalismus in Westeuropa. Europa-Verlag, Wien 1991, S. 6-7.

Ausgewählt und kommentiert von M.A. Hans Holzinger.
Er ist wiss. Mitarbeiter der Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen (Imbergstr. 2, A-5020 Salzburg. Tel. (00 43-06 62) 87 32 06, Fax: 87 12 96) und seit vielen Jahren in der Friedensbewegung engagiert.

40 Jahre Göttinger Erklärung Jetzt endlich Atomwaffen abschaffen

40 Jahre Göttinger Erklärung Jetzt endlich Atomwaffen abschaffen

von Wolfgang Liebert, Corinna Hauswedell, Otfried Nassauer, Xanthe Hall, Jürgen Scheffran, Martin B. Kalinowski

in Zusammenarbeit mit der Naturwissenschaftler-Initiative »Verantwortung für den Frieden« e. V.,
der Deutschen Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges / Ärzte in sozialer Verantwortung (IPPNW) und
dem Arbeitskreis für Friedenspolitik – atomwaffenfreies Europa (AKF)

zum Anfang | Atomwaffen abschaffen!

von Wolfgang Liebert

Hoffnung auf nukleare Abrüstung hat gute Gründe. Der alte Ost-West-Konflikt mit seiner nuklearen Aufrüstungsspirale ist beendet. Die Tür zu einer anderen Zukunft ist im Prinzip bereits geöffnet: die Überwindung der nuklearen Bedrohung, die die Welt in Atem gehalten hat, und das Zurückdrehen der Rüstungsspirale ist eine reale Utopie geworden. Die Idee der atomwaffenfreien Welt muß heute von allen ernst genommen werden, denn die grundlegenden Bedingungen für die angebliche Rationalität des Kernwaffenbesitzes haben sich radikal verändert.1

Die Atempause, die sich der reichere Teil der Welt für fünf Jahrzehnte nach dem letzten Weltkrieg unter Existenz der Atomwaffe verschafft hat, könnte bald ausgeschöpft sein. Das Vertrauen auf die nukleare Abschreckung war schon immer Laufen über dünnes Eis.2 Die alte Wurzel der Abschreckungsdoktrin war die Drohung mit dem Gebrauch von Atomwaffen, um die »andere Seite« vor dem möglichen Atomwaffeneinsatz abzuschrecken. Es ging dabei bald nicht nur um Abschreckung zwischen Atomwaffenbesitzern, sondern ebenso um den »Schutz« von Verbündeten und Sicherheitsgarantien, ausgesprochen gegenüber Dritten. Nach Ende der Konkurrenz der Systeme ist es höchste Zeit, diese Drohung mit der »wechselseitigen Vernichtung« endgültig in Frage zu stellen. Keiner weiß, ob die nukleare Abschreckung wirklich geeignet ist, den Ausbruch eines mit Kernwaffen ausgetragenen Konfliktes zu vermeiden. Zu oft stand die Welt knapp vor dem nuklearen Holocaust. Auch die Behauptung, nur die Existenz von Kernwaffen würden den Ausbruch eines größeren konventionellen Krieges zwischen industriell hochentwickelten – und damit gegen Störungen der Infrastruktur besonders anfälligen – Staaten glaubhaft ausschließen können, ist durch nichts zu beweisen. Die Wahrscheinlichkeit eines nuklearen Desasters quasi aus Versehen, ausgelöst durch die inhärenten Instabilitäten und Unsicherheiten eines im Prinzip anfälligen C3I-Systems sind in der Zeit der nuklearen Hochrüstung ausreichend thematisiert worden. Diese Gefahr besteht fort.

Die NATO-Doktrin der »flexiblen Antwort« (Flexible Response), die von der Drohung mit dem Ersteinsatz von Atomwaffen gegen einen konventionell überlegenen Gegner lebte, ist immer noch gültig. Auch die teilweise bekannt gewordene neue russische Nukleardoktrin ist nun auf diese erweiterte Abschreckungsdoktrin eingeschwenkt. Die fehlende Logik solcher Sicherheitskonzeptionen ist offensichtlich: Kann man wirklich das eigene Land verteidigen durch Einsatz von Nuklearwaffen (möglicherweise sogar innerhalb des eigenen Territoriums), wobei ein massiver nuklearer Vergeltungsschlag zu gewärtigen ist? Wer sich so verteidigen will, nimmt die Vernichtung des eigenen Landes und weiter Landstriche der Erde (oder sogar den Weltenbrand) in Kauf.

In Bezug auf den Atomwaffenbesitz stellt sich die Situation heute so dar: Wer glaubt vorbringen zu können, der Besitz von Nuklearwaffen oder die Einbettung in eine Strategie, die den Atomwaffenbesitz auf dem eigenen Territorien erlaubt oder erfordert, diene dem Erhalt der eigenen Souveränität, muß zugestehen, daß diese Argumentation auch von anderen Staaten, die nicht den Status einer offiziellen Atommacht haben, mit demselben Recht übernommen werden kann. Eine Globalisierung dieser fatalen Argumentationsweise wäre auf die Dauer kaum aufzuhalten. Dies wäre das Ende jeder Bemühung um die Nichtweiterverbreitung der Atomwaffen. Ein Ausweg aus dem Dilemma besteht im Grunde nur in einer Reduktion der Atomwaffenarsenale auf Null, auch wenn man für die Übergangsphase dorthin möglicherweise zugestehen mag, daß eine einseitige Existenz von Kernwaffen eine noch instabilere Situation herbeiführen mag.

Die atomare Bedrohung besteht fort

Aber noch immer sind rund 40.000 intakte atomare Sprengköpfe mit einer Sprengkraft von mehr als einer Million Hiroshimabomben in der Welt. Mehr als 20.000 davon befinden sich zur Zeit offiziell in den Arsenalen der Atomwaffenmächte – der Löwenanteil davon in Rußland und den USA. Die weiteren offiziellen Atommächte Frankreich, China und Großbritannien besitzen jeweils weniger als 500 Atomsprengköpfe. Israel könnte bereits 100-200 Atomwaffen produziert haben. Aus einer Abschätzung des produzierten Waffenstoffes ergeben sich für Indien und Pakistan mögliche Arsenale von je 40-80 bzw. 10-30 Kernwaffen. Auch in Deutschland sind immer noch Atomwaffen stationiert.

Der nukleare Abrüstungsprozeß zwischen den USA und Rußland ist in der Endphase des Kalten Krieges in Gang gekommen und wird trotz immer neuer Gefährdungen bislang durchgehalten. Die akute Gefahr des nuklearen Weltbrandes ist reduziert worden, u.a. durch die Verbannung der landgestützten Mittelstreckenwaffen, den Rückzug von Atomwaffen von Oberwasserschiffen oder verschiedenste Maßnahmen zur teilweisen Beendigung der Alarmbereitschaft.

Allerdings wurden bis vor kurzem im Bereich der strategischen Arsenale die Zielzahlen des START-II-Vertrages, der immer noch nicht von beiden »Supermächten« ratifiziert ist, als vorläufiger Endpunkt angesehen. Falls der START-II-Vertrag umgesetzt wird, ist mit insgesamt etwa 10.000 nuklearen Sprengköpfen in den offiziellen strategischen und nicht-strategischen Arsenalen Rußlands und der USA im Jahre 2003 zu rechnen. Die strategischen Nuklearstreitmächte von je 3.000 bis 3.500 Sprengköpfen werden dann jeweils zur Hälfte auf Unterseebooten stationiert sein. Die andere Hälfte soll zum größeren Teil in Cruise Missiles für die Bomberflotten und zum kleineren Teil auf landgestützten Interkontinentalraketen bereitgehalten werden. So wird vielleicht im Jahr 2003 wieder in etwa das zahlenmäßige Niveau erreicht sein wie im Jahr 1970, als der Nichtverbreitungsvertrag für Kernwaffen, der sogenannte Atomwaffensperrvertrag, in Kraft trat. Atomwaffenarsenale mit einem mehrfachen Overkill werden weiter die Welt bedrohen.

Ein Abrüstungsprozeß in Richtung Null ist dies keineswegs. Im Gegenteil: Nach dem Willen der Atommächte und ihrer Verbündeten sollen uns die Atomwaffen und die atomare Bedrohung auf Dauer erhalten bleiben. Dementsprechend gehen auch die Bemühungen kleinerer oder weniger einflußreicher Staaten weiter, in den Besitz der Bombe zu kommen, oder ihre schon vorhandenen, noch sehr bescheidenen Arsenale zu vermehren.

Gefahren der Weiterverbreitung

Wer Atomwaffen produzieren will, braucht geeignete Waffenstoffe. Für einen »Neuling« ist dies die entscheidende Hürde; der volle Waffentest spielt zunächst eher eine untergeordnete Rolle. Wer nuklearen Spaltstoff oder zusätzlich fusionsfähigen superschweren Wasserstoff (Tritium) besitzt, kann im Prinzip Atomwaffen bauen. Wer Waffenstoff produzieren will, der braucht Atomtechnologie: Urananreicherungstechnologie oder Reaktoren in Verbindung mit Wiederaufarbeitungstechnologie zur Abtrennung von Plutonium.

Eine ganze Reihe von Ländern haben bereits Zugriff auf mindestens eine dieser beiden Technologiebereiche. In der Liste dieser Länder finden sich alle offiziellen und inoffiziellen Atomwaffenstaaten wieder, daneben Staaten, die früher Waffenprogramme betrieben, wie Brasilien oder der Irak und Südafrika, das tatsächlich über lange Jahre eigene Atomwaffen besaß. Weiterhin haben eine Reihe von industrialisierten Ländern wie Japan, Deutschland, Belgien, die Niederlande und in einem gewissen Maße auch Kanada, Italien und Spanien durch die Beherrschung von sensitiven Nukleartechnologien, die zur Produktion von Waffenstoffen geeignet sind, eine prinzipielle Atomwaffenfähigkeit erlangt. Argentinien und Nordkorea (in der Vergangenheit auch Taiwan und Schweden) bemühten sich ebenfalls – teilweise erfolgreich –, diesen technologischen Stand zu erreichen.

Die weltweit angehäuften Mengen an Waffenstoff sind enorm: über 2.000 Tonnen hochangereicherten Urans (HEU) und etwa 270 Tonnen Plutonium im militärischen Bereich. Diese Zahlen sind im Vergleich zu sehen mit der für eine einfache Atomwaffe benötigten Menge: 10-20 Kilogramm HEU oder einige Kilogramm Plutonium.

Die einzigen zivilen Nutzer von waffenfähigem HEU sind heute nur noch eine Reihe von Forschungsreaktoren. Durch Umstellung (fast) aller Reaktoren auf schwach angereicherten Brennstoff besteht Hoffnung auf eine weitere Reduktion des Bedarfs bis auf Null und damit einer Eliminierung der Umnutzungsgefahr für Waffenzwecke. Eine gefährliche Ausnahme von diesen international koordinierten Bemühungen stellt der in Bau befindliche Garchinger Forschungsreaktor dar.3

Mindestens 1.000 Tonnen Plutonium liegen bereits im zivilen Bereich auf Halde, zum überwiegenden Teil noch eingebettet in den abgebrannten Reaktorbrennstoff, der so eine radiologische Barriere darstellt, die nur durch Formen der technischen Wiederaufarbeitung überwunden werden kann. 130 Tonnen werden aber bereits in abgetrennter Form im zivilen Bereich gelagert. Der größte Teil davon könnte ohne große technische Schwierigkeiten jederzeit auch für Waffen Verwendung finden. Die Wiederverwertung des Plutoniums als Reaktorbrennstoff wird – auch schlicht aus ökonomischen Gründen – nur sehr zögernd betrieben, so daß die Produktion und Verwertung von Uran-Plutonium-Mischoxidbrennelementen (MOX) mit der wachsenden Wiederaufarbeitungsrate nicht Schritt halten kann. Im Jahr 2010 könnten die im zivilen Bereich gelagerten abgetrennten Putoniummengen die für militärische Zwecke produzierten Mengen bereits deutlich übersteigen.

Es gibt keine absolute Sicherheit, daß die vorhandenen gigantischen Mengen an Waffenstoff nicht militärisch genutzt oder immer vollständig in der Hand der jetzigen Besitzerstaaten bleiben werden. Schon ein Hundertausendstel dieser Mengen in den Händen von terroristischen Gruppen oder machtgierigen Staatenlenkern in anderen Ländern würden erhebliche Gefahren heraufbeschwören. Ebenso ist die Abzweigung von Waffenstoff aus zivilen Programmen für Atomwaffenprogramme eine durchaus ernst zu nehmende Gefahr. Im Irak ist in den achtziger Jahren genau ein solch zivil-militärisch angelegter Doppelpfad Richtung Atomwaffe verfolgt worden. In Brasilien wurde über viele Jahre ein ziviles Atomprogramm mit deutscher technologischer Unterstützung bei gleichzeitiger Verfolgung eines militärischen, sogenannten »Parallelprogrammes« durchgeführt. Es scheint so zu sein, daß in der Frühzeit der meisten Atomprogramme mit zivilen Deckmänteln und der Parallelverfolgung von offen betriebenen zivilen und geheimgehaltenen militärischen Programmen operiert wurde. In einer Reihe von Fällen läßt sich heute nachweisen, daß die unausgesprochenen militärischen Zielsetzungen die zivile Entwicklung maßgeblich beeinflußt haben.4

Wenn wir die nukleare Proliferationsgefahr ernst nehmen, stehen wir mithin nicht nur vor dem medienwirksam inszenierten Problem, wie mit nuklearen Ambitionen finsterer Diktatoren umzugehen ist, sondern wir sind damit konfrontiert, daß augenscheinlich die angeblich rein zivile Entfaltung von Wissenschaft, Technik und Industrie im Nuklearbereich selbst im Kern des Problems steht.5 Politisch definierte nukleare Optionen können entstehen und vergehen und sind dem raschen historischen Wandel unterworfen. Für einmal geschaffene technische Optionen mit Relevanz für die Atomwaffe gilt dies in der Regel nicht.

Das nukleare Nichtverbreitungsregime, in dessen Kern der Nichtverbreitungsvertrag (NVV) steht, der im Mai 1995 nach 25-jähriger Laufzeit auf unbegrenzte Zeit verlängert wurde, bietet nicht die Lösung für dieses Problem. Das Vertragswerk ist mit einigen entscheidenden Mängeln behaftet. Dazu gehört, daß der zivil-militärischen Ambivalenz wesentlicher Nukleartechnologien zu wenig Beachtung geschenkt wird. Man hofft lediglich darauf, daß durch die Sicherungsmaßnahmen der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) die Abzweigung von Spaltstoffen für Waffenzwecke frühzeitig entdeckt werden kann. Kann man einem solchen System von Maßnahmen – unterhalb der Schwelle einer echten Kontrolle – Vertrauen schenken? Das ohnehin schwach ausgebildete System von Verfahren technischer Überwachung muß prinzipiell lückenhaft bleiben und kann daher keine wirkliche Gewähr dafür bieten, daß eine sichere Abgrenzung ziviler Programme von möglicher militärischer Nutzung erfolgt.6

Weg in die atomwaffenfreie Welt

Was sind die Ingredienzien einer atomwaffenfreien Welt?

  • Erstens werden alle Atomwaffen demontiert und die darin enthaltenen Waffenstoffe zunächst sicher verwahrt. In längerfristigerer Perspektive müßten sie dann nicht rückholbar beseitigt werden.
  • Zweitens darf es keine schnelle Möglichkeit zum Wiederaufbau von Arsenalen durch vorhandene Technologien und Infrastruktur geben. Verifikationsmaßmahmen werden eingeführt, um den Weg zum erneuten oder erstmaligen Atomwaffenbesitz – insbesondere durch Verlängerung und Verteuerung des Weges dorthin – empfindlich zu erschweren und entdeckbar zu machen.
  • Drittens muß eine stabile Weltfriedensordnung etabliert werden, die das Sicherheitsinteresse aller Staaten sowie aller Bürgerinnen und Bürger gleichermaßen befriedigt.
  • Viertens muß die Wissenschafts- und Technikentwicklung auf deutliche und ständig reflektierte Distanz zu atomwaffenrelevanten Bemühungen gehen, um zu vermeiden, daß alte Schleichwege oder neue Schlupflöcher zum Atomwaffenbesitz eröffnet werden.
  • Fünftens muß der zivile technologische und industrielle Bereich so gestaltet werden, daß jegliche Optionen auf Atomwaffenbesitz (latente Proliferation) nachhaltig und eindeutig vermieden werden können.

Es ist kaum vorstellbar das Ende der Weiterverbreitung von Atomwaffen und eine unumkehrbare nukleare Abrüstung auf Null innerhalb des existierenden Systems der Nicht(weiter)verbreitung von Kernwaffen zu erreichen. Die Weiterverbreitung von Kernwaffen kann auf die Dauer nur gestoppt und zurückgenommen werden, wenn ein globaler Verzicht auf Atomwaffen verwirklicht wird. Denn solange der Besitz von Kernwaffen oder nuklearen Waffenmaterialien in der Hand einiger weniger als legitim angesehen wird, schafft dies Begehrlichkeiten bei anderen. Für den Stopp der Weiterverbreitung wie den unumkehrbaren Weg in die atomwaffenfreie Welt ist auf längere Sicht entscheidend, daß auch im zivilen Bereich die Aufrechterhaltung von wissenschaftlich-technischen Voraussetzungen für Atomwaffenprogramme vermieden wird. Dies betrifft insbesondere die Rolle von waffengrädigen Nuklearmaterialien und entsprechenden Produktionstechnologien in zivilen Nuklearprogrammen. Regelungen, die für alle Staaten gleichermaßen verbindlich sind, müssen gefunden werden.

Die Transformation des Nichtweiterverbreitungregimes zur atomwaffenfreien Welt steht an. Im Zentrum dieses neuen Regimes muß eine Nuklearwaffenkonvention stehen, die wie im Bereich biologischer und chemischer Kampfstoffe bereits geschehen, ein vollständiges Verbot international verbindlich kodifiziert.7

Die Mächtigen der Welt wollen sich bislang nicht auf einen solchen Weg zur Beendigung der atomaren Bedrohung einlassen. Die Bemühungen zur nuklearen Abrüstung in den Gremien der Vereinten Nationen sind momentan blockiert durch die Weigerung der Atomwaffenbesitzer und ihrer Verbündeten, ernsthaft über den Verzicht auf diese ultimative Waffe zu verhandlen.

Dennoch wächst der weltweite Druck, die alten Versprechungen zur nuklearen Abrüstung endlich in die Tat umzusetzen. Von wissenschaftlicher Seite ist die Möglichkeit und der Weg zur Atomwaffenfreiheit durchdacht und es sind entsprechende Vorschläge für die Politik erarbeitet worden.8 Weltweit vernetzte Nichtregierungsorganisationen (NGO) von Medizinern, Wissenschaftlern, Juristen, Bürgerinnen und Bürgern versuchen die öffentliche Debatte und die zähen Bemühungen auf dem internationalen diplomatischen Parkett durch gezielte Aktivitäten voranzubringen.

Nur wenn die Menschen weltweit deutlich machen, daß sie die atomare Bedrohung endlich abschütteln wollen, besteht eine Chance, daß auch die Regierungen aktiv den Weg in die atomwaffenfreie Welt gestalten.

Literatur

Hussein, Bernadette 1997a. Mururoa – the untold story, in: Pacific Islands Monthly, January, 17-18.

Hussein, Bernadette 1997b. Checking the damage, in: Pacific Islands Monthly, January, 14-16.

Grimmel, Eckhard 1985. Die Folgen der französischen Atomtests im Südpazifik (Auszüge), in: Frieden und Abrüstung; Informationen und Dokumente aus der internationalen Friedensdiskussion, hrsg. v. d. Initiative für Frieden, internationalen Ausgleich und Sicherheit (IFIAS) (Bonn), S.10-14

IPPNW 1995. Radioaktive Verseuchung von Himmel und Erde; Atomtests unter, auf und über der Erde: Auswirkungen auf Gesundheit und Umwelt; Ein Bericht der „Internatonalen IPPNW-Kommission zur Untersuchung der Auswirkungen der Atomwaffenproduktion auf Gesundheit und Umwelt“ sowie des „Instituts für Energie- und Umweltforschung (IEER)“ (Berlin: IPPNW), 2. Auflage.

Worm, Thomas 1995. Muroroas strahlendes Geheimnis, in: die tageszeitung, 12.7.

Dr. Wolfgang Liebert ist wissenschaftlicher Mitarbeiter bei IANUS an der TH Darmstadt.

zum Anfang | Die »Göttinger 18« und das friedenspolitische Engagement von Wissenschaftlern heute

von Corinna Hauswedell

Mit ihrem öffentlichen Protest gegen die atomare Bewaffnung der Bundeswehr im Jahre 1957 konstituierten die als »Göttinger 18« bekannt gewordenen westdeutschen Physiker einige typische Merkmale für das künftige friedenspolitische Engagement von (Natur)Wissenschaftlern: Ihr inhaltlicher Fokus der »taktischen Atomwaffen« ermöglichte ein Eingreifen in eine aktuelle sicherheitspolitische Auseinandersetzung, ihr verantwortungsethisches Anliegen richtet sich bereits damals auf die allgemeinen Gefahren der Technikentwicklung im Atomzeitalter (obschon die »Göttinger« in ihrer Erklärung die Bedeutung der „friedlichen Verwendung der Atomenergie“ besonders unterstrichen). Vor allem aber signalisierte ihr Wirkungsinteresse, als »Nichtpolitiker« Fachwissen an die Öffentlichkeit und die politischen Entscheidungsinstanzen heranzutragen, das Auftreten einer neuen Art von (Gegen)Experten in der sicherheitspolitischen Arena des Kalten Krieges.

Im ideologischen Streit jener Zeit, der auch die »Göttinger Erklärung« begleitete, sah sich einer ihrer Unterzeichner, Carl Friedrich von Weizsäcker genötigt, gegen den Vorwurf des Vaterlandsverrats und der Inkompetenz, der den Wissenschaftlern seitens der damaligen Bundesregierung entgegengebracht wurde, die Ziele der Gruppe zu erläutern:

Erstens: Der Westen schützt seine Freiheit und den Weltfrieden durch die atomare Drohung auf die Dauer nicht; diese Rüstung zu vermeiden, ist in seinem Interesse ebenso wie in dem des Ostens.

Zweitens: Die Mittel der Diplomatie und des politischen Kalküls reichen offenbar nicht aus, dieser Wahrheit Geltung zu verschaffen, deshalb müssen auch wir Wissenschaftler reden und sollen die Völker selbst ihren Willen bekunden.

Drittens: Wer glaubwürdig zur atomaren Abrüstung raten soll, muß überzeugt dartun, daß er die Atombombe nicht will.

Nur dieser dritte Satz bedarf noch eines weiteren Kommentars. In der Schrecksekunde nach der Veröffentlichung unserer Erklärung wurde uns von prominenter Seite vorgeworfen, wir hätten uns an die falsche Adresse gewandt, wir hätten unseren Appell an unsere Kollegen in der ganzen Welt richten sollen. Diesen Vorwurf halte ich für ein Mißverständnis. Daß die große Welt nicht auf Appelle abrüstet, haben wir erlebt. Wir hatten uns dorthin zu wenden, wo wir eine direkte bürgerliche Verantwortung haben, nämlich an unser eigenes Land…“9

So markierte die »Göttinger Erklärung« auch den Weg vom individuellen Protest zum Gruppenprotest, von der Verweigerung der Mitarbeit einzelner an der Entwicklung von Massenvernichtungswaffen zu einer politischen Einflußnahme zugunsten von Rüstungskontrolle und Abrüstung.

Im Verlauf der folgenden Jahrzehnte fanden sich diese Merkmale friedenspolitischer Expertise in einem zunehmend internationalen Engagement verschiedener Gruppen von »political« scientists wieder.

Die 1957 im gleichnamigen kanadischen Ort initiierten »Pugwash-Konferenzen« einer zunächst kleinen Gruppe US-amerikanischer und sowjetischer Atomwissenschaftler übernahmen eine vetrauensbildende Beratungsfunktion zwischen den Supermächten, im Hintergrund der ersten Rüstungskontrollabkommen (Atomteststop-Vertrag 1963, Nichtweiterverbreitungsvertrag 1968, ABM-Vertrag 1972), sodann bei den biologischen und chemischen Waffen sowie bei der konventionellen Rüstung. Die jeweilige Fokussierung der Pugwash-Arbeit auf einzelne Rüstungsvorhaben (später kamen auch nichtmilitärische globale Konfliktursachen hinzu) half, Bedrohungsvorstellungen der anderen Seite im Ost-West-Konflikt zu relativieren. Es waren vor allem die der »international scientific community« entlehnten Arbeits- und Kommunikationsstrukturen der Pugwash-Gruppe, die dazu beitrugen, in den Köpfen auch der politischen Eliten neben der Abschreckungslogik Platz zu machen für die Rationalität der Rüstungsbegrenzung. Neuere Untersuchungen vollziehen die Wege nach, auf denen die Pugwash-Gruppe und andere friedenspolitisch engagierte Wissenschaftler Einfluß auf die sowjetische Außenpolitik der sechziger und der frühen siebziger Jahre gewannen (mit Rückwirkungen auf die US-Politik) und dann in neuem Umfang in den achtziger Jahren auf das »Neue Denken« in der Sowjetunion unter Michael Gorbatschow.10

Die stärker sozialwissenschaftlich geprägte »Kritische Friedensforschung« in der Bundesrepublik, die spät (1969/70) und auch in Auseinandersetzung mit den US-amerikanischen »arms-control«-Schulen entstanden war, hatte sich ebenfalls im schwierigen Spannungsfeld zwischen radikaler Abschreckungskritik (»Pathologie des Rüstungswettlaufs«), umfassender Konfliktursachenforschung und Policy-Orientierung für die beginnende Ost-West-Entspannung zu bewegen. Anfänglich beteiligte Naturwissenschaftler traten bald in den Hintergrund. Eine von vielen gewollte transdisziplinäre Zusammenarbeit rieb sich in der Praxis an den traditionellen Fächergrenzen und den Herausforderungen normativer Wissenschaftsansprüche. Dabei spielten auch die unterschiedlichen akademischen Traditionen und Selbstverständnisse der »zwei Kulturen« in den Natur- und Gesellschaftswissenschaften eine gewisse Rolle. Es war nicht leicht, einen gemeinsamen Themen- und Methodenkanon für die »harten« und die »weichen« Felder der jungen Friedenswissenschaft zu entwickeln.

Mit der moralischen Ausstrahlungskraft der (naturwissenschaftlichen) Anti-Atomethik wurde nicht nur die Friedensforschung in den frühen achtziger Jahren erneut konfrontiert, als die Ost-West-Entspannung unter die Räder der Nuklearkriegsdebatte, der Stationierung neuer Mittelstreckenwaffen in Europa und des US-Weltraumprogramms SDI zu geraten drohte.

Die im Kontext der Friedensbewegung der achtziger Jahre etablierten neuen Wissenschaftlerinitiativen vor allem aus den Reihen der Natur-, Ingenieur- und Informationswissenschaften sowie der Medizin (die internationale Ärzteorganisation IPPNW erhielt 1985 den Friedensnobelpreis) eröffneten mit ihrer militärkritischen Analyse und Expertise und durch die Art ihres bürgernahen Engagements einen großen öffentlichen Wirkungsradius – im nationalen wie im internationalen Rahmen.11 Sie knüpften in ihrem aufklärerischen Anspruch auch an die atompazifistischen Traditionen der fünfziger Jahre an; die Bildung eigener (Vereins)Strukturen – die Naturwissenschaftler Initiative »Verantwortung für den Frieden« gewann über 1.000 Mitglieder unter Hochschullehrern und Studenten –, ihre kontinuierliche Kongreß- und Publikationstätigkeit sowie die Initiierung von naturwissenschaftlichen Projekten der Abrüstungsforschung an bundesdeutschen Hochschulen wiesen jedoch über den appellativen Ansatz der »Göttinger 18« hinaus.

Während Friedensforscher durch ihre Arbeit an Konzepten einer »Gemeinsamen Sicherheit« neue sicherheitspolitische Rahmenbedingungen für Europa entwarfen, die auch im Osten auf Resonanz stießen, verstärkten friedensengagierte Naturwissenschaftler und Mediziner ihrerseits durch internationale Kommunikation den neuen Spielraum in der Sowjetunion in den achtziger Jahren: Durch Arbeiten an defensiven Verteidigungskonzepten, durch ihre Argumente gegen SDI und die Betonung globaler Überlebensinteressen jenseits der Blockkonstellation förderten sie die Bereitschaft für einseitige Schritte aus dem Rüstungswettlauf.

Mit dem Ende des Kalten Krieges haben sich Veränderungen vollzogen, auf die sich ein zeitgemäßes friedenswissenschaftliches Engagement einstellen muß:

  • Die neue Themenvielfalt von Abrüstungsmanagment bis Konfliktpräventation, von Friedensursachenforschung bis Friedenskonsolidierung erschwert zunächst eine politisch wirksame Konsensbildung und Fokussierung kritischer Expertise.
  • An die Stelle einer ideologisierten Nukleardiskussion ist die pragmatische Arroganz der Atomwaffen besitzenden Staaten getreten, die es den Schwellenländern nicht erleichtern, auf dieses (alte und neue) Symbol nationalstaatlicher Macht zu verzichten. Friedenswissenschaftler müssen ein neues strategisches Design entwerfen, in dem gemeinsame Interessen an nuklearer Abrüstung im nationalen und internationalen Rahmen identifiziert werden.
  • Neue diffuse Feindbildkonstellationen behindern die Entwicklung wirksamer Kontrollregime im Bereich der nuklearen und anderen Massenvernichtungswaffen.
  • Als negative Begleiterscheinung des begonnenen Abrüstungsprozesses ist in den letzten Jahren eine deutliche Zunahme des weltweiten Handels mit »überschüssigen« Waffen zu verzeichnen – besonders mit Kleinwaffen für die Krisenherde der Dritten Welt. Die UN werden auf diesem prekären Gebiet ohne kompetente unabhängige Politikberatung nicht handlungsfähig werden.
  • Immer schwieriger wird es, militärische und zivile Forschung und Entwicklung von einander abzugrenzen, »Dual-use« erscheint als Allheilmittel bei der Restrukturierung der übergroßen Rüstungs-High-Tech-Komplexe, vor allem in den USA. Das Hereinreichen militärischer Dimensionen in zivile Fragen der Technikfolgenbewältigung könnte eine neue sinnvolle Kooperation von Natur- und Gesellschaftswissenschaften begründen.

Politisches Engagement von (Natur)Wissenschaftlern ist seit den »Göttinger 18« – mit einem deutlichen Schub in den achtziger Jahren – selbstverständlicher geworden. Der politisch-moralische und fachliche Impuls der »Göttinger 18« und anderer engagierter Naturwissenschafter haben dazu beigetragen, daß das nüchterne, auf behauptete Wertfreiheit basierende Image dieser Disziplinen zu erodieren begann. Pugwash und ihrem Präsidenten Joseph Rotblat ist mit der Verleihung des Friedensnobelpreises 1995 eine späte Würdigung ihrer friedenspolitischen Beiträge zu Teil geworden.

Epistemische Gemeinschaften mit einem erklärten Normen- und Methodenkonsens haben sich anhand zentraler Problemfelder, z.B. in der Ökologie oder der Gentechnik, gebildet. Als wichtige Faktoren für eine erfolgreiche Thematisierung globaler militärischer und nichtmilitärischer Gefahren können heute die Frühwarnfunktion kritischer Expertise, der Aufbau internationaler Netzwerke und die Arbeit an strategischen Konzepten, die Ad-hoc-Forderungen und längerfristige Perspektive verbinden, gelten.

Dr. Corinna Hauswedell, Historikerin, arbeitet am Bonn International Center for Conversion (BICC) und ist Vorsitzende der Informationsstelle Wissenschaft und Frieden (IWIF)

zum Anfang | Die „Göttinger Erklärung“ der achtzehn Atomwissenschaftler (12.4.1957)

Die Pläne einer atomaren Bewaffnung der Bundeswehr erfüllen die unterzeichneten Atomforscher mit tiefer Sorge. Einige von ihnen haben den zuständigen Bundesministern ihre Bedenken schon vor mehreren Monaten mitgeteilt. Heute ist eine Debatte über diese Frage allgemein geworden. Die Unterzeichneten fühlen sich daher verpflichtet, öffentlich auf einige Tatsachen hinzuweisen, die alle Fachleute wissen, die aber der Öffentlichkeit noch nicht hinreichend bekannt zu sein scheinen.

1. Taktische Atomwaffen haben die zerstörende Wirkung normaler Atombomben. Als „taktisch“ bezeichnet man sie, um auszudrücken, daß sie nicht nur gegen menschliche Siedlungen, sondern auch gegen Truppen im Erdkampf eingesetzt werden sollen. Jede einzelne taktische Atombombe oder -granate hat eine ähnliche Wirkung wie die erste Atombombe, die Hiroshima zerstört hat. Da die taktischen Atomwaffen heute in großer Zahl vorhanden sind, würde ihre zerstörende Wirkung im ganzen sehr viel größer sein. Als „klein“ bezeichnet man diese Bomben nur im Vergleich zur Wirkung der inzwischen entwickelten „strategischen“ Bomben, vor allem der Wasserstoffbomben.

2. Für die Entwicklungsmöglichkeit der lebensausrottenden Wirkung der strategischen Atomwaffen ist keine natürliche Grenze bekannt. Heute kann eine taktische Atombombe eine kleinere Stadt zerstören, eine Wasserstoffbombe aber einen Landstrich von der Größe des Ruhrgebiets zeitweilig unbewohnbar machen. Durch Verbreitung von Radioaktivität könnte man mit Wasserstoffbomben die Bevölkerung der Bundesrepublik wahrscheinlich heute schon ausrotten. Wir kennen keine technische Möglichkeit, große Bevölkerungsmengen vor dieser Gefahr sicher zu schützen.

Wir wissen, wie schwer es ist, aus diesen Tatsachen die politischen Konsequenzen zu ziehen. Uns als Nichtpolitikern wird man die Berechtigung dazu abstreiten wollen; unsere Tätigkeit, die der reinen Wissenschaft und ihrer Anwendung gilt und bei der wir viele junge Menschen unserem Gebiet zuführen, beläd uns aber mit einer Verantwortung für die möglichen Folgen dieser Tätigkeit. Deshalb können wir nicht zu allen politischen Fragen schweigen. Wir bekennen uns zur Freiheit, wie sie heute die westliche Welt gegen den Kommunismus vertritt. Wir leugnen nicht, daß die gegenseitige Angst vor den Wasserstoffbomben heute einen wesentlichen Beitrag zur Erhaltung des Friedens in der ganzen Welt und der Freiheit in einem Teil der Welt leistet. Wir halten aber diese Art, den Frieden und die Freiheit zu sichern, auf die Dauer für unzuverlässig, und wir halten die Gefahr im Falle des Versagens für tödlich.

Wir fühlen keine Kompetenz, konkrete Vorschläge für die Politik der Großmächte zu machen. Für ein kleines Land wie die Bundesrepublik glauben wir, daß es sich heute noch am besten schützt und den Weltfrieden noch am ehesten fördert, wenn es ausdrücklich und freiwillig auf den Besitz von Atomwaffen jeder Art verzichtet. Jedenfalls wäre keiner der Unterzeichneten bereit, sich an der Herstellung, der Erprobung oder dem Einsatz von Atomwaffen in irgendeiner Weise zu beteiligen.

Gleichzeitig betonen wir, daß es äußerst wichtig ist, die friedliche Verwendung der Atomenergie mit allen Mitteln zu fördern, und wir wollen an dieser Aufgabe wie bisher mitwirken.

Fritz Bopp • Max Born • Rudolf Fleischmann • Walther Gerlach • Otto Hahn • Otto Haxel • Werner Heisenberg • Hans Kopfermann • Max v. Laue • Heinz Maier-Leibnitz • Josef Mattauch • Friedrich-Adolf Paneth • Wolfgang Paul • Wolfgang Riezler • Fritz Strassmann • Wilhelm Walcher • Carl Friedrich Frhr. v. Weizsäcker • Karl Wirtz

zum Anfang | Zur Rolle nuklearer Waffen in der russischen Politik

von Otfried Nassauer

Braucht Rußland heute und morgen Nuklearwaffen? In dieser Frage gibt es nationalen Konsens. Alle – militärische Experten, zivile Forscher und Politiker – fordern einstimmig: Rußland braucht nukleare Waffen – heute so sehr wie in der Zukunft.“ Starke Worte in einer Studie der Russisch-Amerikanischen Universität (RAU), angefertigt im vergangenen Jahr für die russische Duma. Die atomwaffenfreie Welt im Jahre 2000 – für Michail Gorbatschow mag sie ganz oben auf der Tagesordnung gestanden haben, unter Boris Jelzin hat sie kaum Priorität. Die Duma zeigt sich wenig geneigt, den START-II-Vertrag zu ratifizieren; mit der Abrüstung taktischer Atomwaffen geht es langsamer voran als vorgesehen. Der so hoffnungsvoll Geschwindigkeit gewinnende atomare Abrüstungszug droht zum Stillstand zu kommen.

Der Gründe gibt es viele. Die geplante Ausdehnung der NATO nach Osten droht zu einer grundsätzlichen Neubewertung atomarer Waffen für die Sicherheit Rußlands zu führen. Dies gilt für strategische wie für taktische Atomwaffen. Nuklearwaffen, so glauben viele in Rußland, sind die letzte Garantie für den Status der Nation als Großmacht. Sie zwingen den Westen, sich gegenüber Rußland kooperativ zu verhalten. Andere betonen, daß atomare Waffen angesichts der wirtschaftlichen Lage die billigste Form der Abschreckung darstellen – auch gegen einen konventionellen Angriff der NATO mit überlegenen Kräften. So gewinnen Nuklearwaffen angesichts der gegenwärtigen »Schwäche« Rußlands eine neue Legitimation, die weltweit die weitere atomare Abrüstung blockieren kann.

Die russische Opposition gegen START-II

In der russischen Diskussion über die strategischen Atomwaffen dominieren folgende Positionen:

  • Der START-II-Vertrag ist auf Dauer nicht im Interesse Rußlands, da Rußland, wollte es die ihm in diesem Vertrag zugestandenen Höchstgrenzen an Nuklearwaffen auf den jeweils zulässigen Trägersysteme dauerhaft ausschöpfen, bis zu 690 landgestützte Interkontinentalraketen mit je einem Sprengkopf neu bauen, beschaffen und bezahlen müßte. Für die USA bestehe keine vergleichbare Notwendigkeit zur Umstrukturierung ihrer Triade aus land-, see- und luftgestützten Atomstreitkräften. Die Alternative, mittelfristig eine deutliche nukleare Unterlegenheit gegenüber den USA in Kauf zu nehmen oder aber erhebliche finanzielle Ressourcen, die anderweitig viel dringender benötigt werden, in die Aufrechterhaltung nuklearer Parität zu investieren, sei für Rußland unvorteilhaft. Die unter START-II gemachten Zeitvorgaben für die weitere Abrüstung seien für Rußland aus wirtschaftlichen Gründen kaum einhaltbar.
  • Der Vertrag gestatte es sowohl den USA als auch Rußland im Falle eines Ausscherens aus den Vereinbarungen, die Zahl ihrer strategischen Atomwaffen wieder zu vergrößern. Für Rußland sei nachteilig, daß START-II den USA eine viel raschere und umfangreichere Vergrößerung ihres Potentials ermögliche.
  • Das Rußland durch den Vertrag erlaubte Atomwaffenpotential sei erheblich verwundbarer als das amerikanische. Rußlands U-Boote und die kleine Bomberflotte seien technologisch unterlegen und die landgestützten strategischen Interkontinentalraketen seien künftig bei einem Angriff erheblich leichter zu dezimieren.
  • Die Erweiterung der NATO verschlimmere die Lage im Verein mit neuen technischen Entwicklungen erheblich. Zum einen könnten die USA taktische luftgestützte Nuklearwaffen künftig in einer Krise geographisch näher an den russischen Grenzen und den russischen strategischen Atomwaffen stationieren. Den taktischen Atomwaffen der USA komme damit für Rußland künftig strategische Bedeutung zu.12 Zum anderen führe die zunehmende Ausstattung der NATO-Streitkräfte mit konventionellen, luftgestützten präzisionsgelenkten Abstandswaffen dazu, daß auch diese zu einer erheblichen Gefährdung des strategisch-nuklearen Potentials Rußlands werden.
  • Schließlich sei der Versuch konservativer Kräfte in den USA, den ABM-Vertrag auszuhebeln und ab 2003 ein nationales Raketenabwehrsystem zu stationieren, auf eine Reduzierung und späte Ausschaltung der russischen Zweitschlagsmöglichkeit gerichtet.

NATO-Erweiterung, KSE-Vertrag und die Rolle nuklearer Waffen

Große Sorgen macht der russischen Politik darüberhinaus der Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE). Der Vertrag kann als letztes rüstungskontrollpolitisches Kind des Kalten Krieges gelten. In ihm werden für eine der NATO entsprechende westliche Staatengruppe und eine dem ehemaligen Warschauer Pakt entsprechende östliche Staatengruppe Obergrenzen für konventionelle Großwaffensysteme wie Panzer, Geschütze, Kampfhubschrauber und Flugzeuge festgelegt. Die Auflösung des Warschauer Paktes und später der Sowjetunion haben aber die sicherheitspolitische Landkarte Europas weitgehend verändert, so daß die Regelungen des KSE-Vertrages angepaßt werden müssen.

Russische Politiker und Militärs betonen immer wieder, daß durch die NATO-Erweiterung eine konventionelle Überlegenheit der NATO in der Größenordnung von drei oder gar vier zu eins entstehe.13 Überlegenheit in dieser Größenordnung schafft – so die Theorie militärischen Denkens – die Gelegenheit, erfolgversprechend Angriffe durchzuführen. Da die NATO zudem – der Golfkrieg gilt in Rußland vielen als Beleg – über qualitativ bessere Waffen verfüge, verschärfe sich aus russicher Sicht das Problem. Rußland könne ohne Ausscheren aus dem KSE-Vertrag und ohne enorme finanzielle Aufwendungen seine konventionelle Unterlegenheit nicht ausgleichen. Taktische Atomwaffen seien deshalb eine relativ preiswerte Alternative zu konventioneller Aufrüstung und Vertragsbruch. Der russische Atomminister Michailov wurde im September letzten Jahres deutlich: Rußland könne, so spekulierte er, auf die Erweiterung der NATO mit dem Bau einer neuen Generation taktischer Atomwaffen kleinster Sprengkraft reagieren und diese bei der Rohr- und Raketenartillerie sowie bei der Luftwaffe stationieren. 10.000 solcher neuen Sprengköpfe, gebaut aus dem recycelten Bombenstoff der zur Abrüstung anstehenden alten Atomwaffen, seien realisierbar. Der Teststopp-Vertrag müsse dafür nicht verletzt werden – lediglich über eine Kündigung des INF-Vertrages müsse vielleicht nachgedacht werden.

Auch wenn Michailov im Kreml für diese Arbeitsbeschaffungsmaßnahme Zustimmung finden dürfte: Viele der russischen Argumente sind gute alte Bekannte. Es sind die Argumente der NATO aus den siebziger und achtziger Jahren. Sie prägten die NATO-Strategie der flexiblen Antwort und das Denken in militärischen Kräftebalancen. Es sind – unter umgekehrten Vorzeichen – die Argumente aus einem gespaltenen Europa. Die Erweiterung der NATO – so wird es von dem größten Teil der russischen Eliten gesehen – wird eine neue Spaltung Europas, neue Trennlinien durch den alten Kontinent hervorrufen.

Nuklearwaffen in der russischen Militärdoktrin

Eine mögliche Neubewertung der atomaren Waffen hatte sich in Rußland bereits 1993 angedeutet. Damals wurde ein Dokument über »Die Grundzüge der Militärdoktrin« durch den Sicherheitsrat der Russischen Föderation gebilligt und veröffentlicht.

Das Dokument weist den Nuklearwaffen im Kern fünf Aufgaben zu: Die Abschreckung gegenüber dem US-Nuklearpotential, die Abschreckung gegenüber den Atomwaffen der anderen erklärten Atommächte, die Abschreckung eines konventionellen Angriffs auf das atomare Potential Rußlands und dessen wesentliche Infrastruktur, die Abschreckung eines großen konventionellen Angriffs sowie die Rückversicherung gegenüber Risiken aus der Proliferation. Detailliertere Forderungen hinsichtlich des erforderlichen Atomwaffenpotentials oder Beschreibungen der Einsatzstrategie sind nicht enthalten. Ebensowenig fordert das Dokument die Fähigkeit, mit Nuklearwaffen einen Krieg führen und gewinnen zu können. Abschreckung mit dem Ziel, einem „Agressor den intendierten Schaden garantiert zufügen“ zu können, steht im Zentrum.

Allerdings wiederholt das Dokument den seit 1982 gültigen deklaratorischen Verzicht der Sowjetunion auf einen Ersteinsatz von Atomwaffen nicht länger, sondern formuliert vier Ausnahmen, in denen Rußland auch auf einen Ersteinsatz zurückgreifen könnte: gegenüber einer nuklearen Macht, Verbündeten einer Atommacht, die sich an einem Angriff auf Rußland beteiligen, gegenüber anderen Staaten, die sich einem solchen Angriff anschließen und gegenüber Staaten, die dem NPT nicht beigetreten sind.

Implizit werden bereits zu diesem Zeitpunkt die mittel- und osteuropäischen Staaten gewarnt: Die Mitgliedschaft in der NATO oder die Beteiligung an militärischen Aktivitäten gegen Rußland werde sie der russischen Drohung mit dem Ersteinsatz atomarer Waffen aussetzen.

Die Interpretierbarkeit der »Grundzüge der Militärdoktrin« dürfte gewollt sein. Die russische Politik will sich ihre endgültige Entscheidung über Umfang und Funktion ihres Nuklearpotentials offenhalten, bis die grundlegenden Entscheidungen über die künftigen Strukturen europäischer Sicherheit gefallen sind.

Diese Entscheidungen stehen in den kommenden zweieinhalb Jahren an. Ihre Grundlinien sollen – unter dem Druck des NATO-Zeitplans für die Aufnahme neuer Mitglieder – noch bis zum NATO-Gipfel im Juli 1997 festgelegt sein.

Neue Kompromißlinien – neue Abrüstungschancen?

Seit Ende letzten Jahres reagieren die NATO-Staaten erstmals mit signifikanten Veränderungen ihrer Positionen auf die veränderte Diskussion in Rußland. Die hohe Priorität, die Washington und Brüssel der politischen Durchsetzung der Osterweiterung der Allianz zumessen, fordert rüstungskontrollpolitische Kompromisse.

Der damalige US-Verteidigungsminister William Perry signalisierte, über ein START-III Rahmenabkommen könne verhandelt werden, ohne daß Rußland zuvor den START-II-Vertrag ratifiziere. Die Möglichkeit eines solchen Vorgehens wird mittlerweile in bilateralen Gesprächen auf hoher Ebene ausgelotet. Dabei zeigte sich, daß letztlich auch im Bereich der atomaren Gefechtsfeldwaffen in Europa neue Bewegung enstehen könnte.

Um russischen Befürchtungen entgegenzutreten, die NATO werde taktische Nuklearwaffen auf dem Boden der neuen Mitgliedsstaaten und damit erheblich näher an Rußland und dessen strategischen Atomwaffen stationieren, erklärte der NATO-Rat im Dezember 1996: „die NATO-Länder (haben) nicht die Absicht, keine Pläne und auch keinen Anlaß, nukleare Waffen auf dem Hoheitsgebiet neuer Mitglieder zu stationieren (… – und wir sehen dazu auch in Zukunft keine Notwendigkeit.“

Aus russischer Sicht ist dies ein erster Schritt in die richtige Richtung, allerdings kein hinreichender. Zum einen will Rußland, daß die NATO auch in Krise oder Krieg keine Atomwaffen in den neuen Mitgliedsstaaten stationiert. Indirekt wird damit auch ein Verzicht auf den Aufbau einer Infrastruktur zur Lagerung von Atomwaffen für den Krisenfall gefordert. Zum anderen möchte Rußland den Verzicht der NATO rechtlich bindend verankert wissen. Als Präzedenzfall gilt Rußland dabei der 2+4-Vertrag.

Die letzte Forderung bringt die NATO in eine Zwickmühle. Kann das Bündnis rechtlich verbindlich auf die Stationierung nuklearer Waffen auf dem Territorium von Staaten verzichten, die sich das Recht auf eine solche Stationierung und die Mitwirkung an der nuklearen Teilhabe der NATO für die Zukunft vorbehalten wollen? Würde die NATO nicht zwei Klassen von Bündnismitgliedern unterschiedlicher Rechte und Pflichten schaffen?

Auch hier deutet sich ein möglicher Ausweg an: Alle nuklearen Gefechtsfeldwaffen, die in den neuen Mitgliedsstaaten der Allianz stationiert werden könnten, gehören den USA. Als Nationalstaat können die USA eine bindende Zusage abgeben, auf die Stationierung atomarer Gefechtsfeldwaffen in den neu aufzunehmenden NATO-Staaten zu verzichten. In bilateralen amerikanisch-russischen Gesprächen wird deshalb ventiliert, ob eine für Rußland hinlängliche Zusage in den Kontext einer Rahmenvereinbarung über START-III aufgenommen werden kann.

Manche Überlegungen gehen noch einen Schritt weiter. Wird im Rahmen von START-III erst einmal über taktische Atomwaffen geredet, so könnten dort (oder in entsprechenden Zusatzprotokollen) auch weitere Abrüstungsvereinbarungen über atomare Gefechtsfeldwaffen in Europa und anderswo aufgenommen werden. Damit könnte ein einheitlicher Rahmen für alle nuklearen Abrüstungsbemühungen und einheitliche Obergrenzen für taktische und strategische, aktive und inaktive Atomsprengköpfe entstehen. Auch Zahlen wurden in diesem Zusammenhang bereits genannt: Zwischen 1.000 und 2.500 Atomsprengköpfe würde jede der beiden Seiten behalten.14

Ein solches Vorgehen weist auch aus NATO-Sicht erhebliche Vorteile auf. In Brüssel hegt man seit geraumer Zeit Befürchtungen, daß Rußland die 1991 einseitig versprochenen Reduzierungen und Außerdienststellungen taktisch-nuklearer Gefechtsfeldwaffen bis heute nicht vollständig umgesetzt hat. In Rußland seien – so die NATO – wahrscheinlich weiterhin Tausende, wenn nicht mehr als zehntausend taktische atomare Gefechtsfeldwaffen vorhanden. Gleichgültig, ob Rußland seine zugesagten Reduzierungen aus finanziellen Gründen oder aus Mangel an geeigneten Delaborierungskapazitäten nicht umsetzen konnte oder ob die russische Administration diese Selbstverpflichtungen aus außen- oder innenpolitischen Gründen nicht vollständig umsetzen wollte: Auf diese Waffen wollen jene russischen Militärs zurückgreifen, die mit einer russischen Kopie der NATO-Strategie der flexiblen Antwort auf die konventionelle Überlegenheit der NATO antworten wollen. Sie verweisen damit auch auf ein weiteres Problem: Rußland wird weitreichenden nuklearen Abrüstungsschritten nur dann zustimmen können, wenn die NATO ihm auch bei KSE-2, der konventionellen Abrüstung, deutlich weiter als bisher entgegenkommt.15

Die äußerst enge Verzahnung der Problembereiche NATO-Erweiterung, Aktualisierung des KSE-Vertrages, START-III und NATO-Rußland Verhältnis wird deutlich: Solange die NATO ihr Versprechen einer strategischen Partnerschaft mit Rußland nicht auch aus russischer Sicht erfüllt und solange in Rußland Befürchtungen existieren, die NATO könne sich erneut als Gegner erweisen, solange blockiert die NATO-Erweiterung sowohl die konventionelle als auch die nukleare Rüstungskontrolle. Sicherheit in Europa kann nur mit Rußland, nicht aber gegen Rußland gestaltet werden.

Otfried Nassauer leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS)

zum Anfang | IPPNW-Bericht über primitive Kernwaffen

Erneut haben die Internationalen Ärzte zur Verhütung des Atomkriegs (IPPNW) vor dem Risiko nuklearer Erpressung durch terroristische Gruppen gewarnt, da seit dem Ende des Kalten Kriegs Atommaterial immer leichter zu beschaffen sei und aufgrund des ohnehin problemlosen Zugangs zu den für den Bau eines einfachen Kernsprengsatzes erforderlichen Informationen.

Der von der IPPNW vorgestellte Bericht »Crude Nuclear Weapons: Proliferation and Terrorist Threat« analysiert eingehend die Bestandteile und das technische Know-how, die für den Bau der drei Typen von »Mini-Nukes« erforderlich sind, die am leichtesten in die Hand von Terroristen fallen können. Diese Typen wären:

  • Sprengsätze vom Hiroshima-Typ (gun type), die die geringsten Konstruktionsprobleme bereiten, aber große Mengen an hochangereichertem Uran erfordern würden – ein Material, das sich nach wie vor unter strenger militärischer Kontrolle befindet.
  • Implosionsgezündete Sprengsätze nach Art der 1945 über Nagasaki abgeworfenen Bombe wären schwieriger zu konstruieren, und ihre Herstellung wäre mit größeren Risiken verbunden. Man würde für sie jedoch nur umgewandeltes Reaktorplutonium benötigen. Eine Waffe dieser Art herzustellen, so die Einschätzung der Autoren, läge durchaus im Rahmen der Möglichkeiten einer kleinen Gruppe, die über größere finanzielle Mittel verfügt.
  • Der dritte Typ ist ebenfalls ein implosionsgezündeter Sprengsatz, für den jedoch leichter zu beschaffendes Plutoniumoxid verwendet wird. Er wäre am leichtesten zu konstruieren. Doch seine Sprengkraft sei nur schlecht kalkulierbar. Andererseits könnte er gerade durch seine Fähigkeit, weite Flächen mit Plutonium und anderem radioaktivem Material zu kontaminieren, für terroristische Organisationen besonders attraktiv werden.

Die Autoren kommen zu dem Ergebnis, daß eine terroristische Gruppe, die entschlossen genug ist, sich 55-60 Kilogramm hoch angereichertes Uran oder kleinere Mengen Plutonium oder Plutoniumoxid zu verschaffen, eine primitive Kernwaffe bauen könnte. Die Maßnahmen der Staaten zur Sicherung spaltbaren Materials (u.a. des bei der Verschrottung von Atomwaffen angefallenen) seien „chaotisch und ineffizient“. In Rußland würden Maßnahmen, die das kriminelle Abzweigen von Atommaterial ausschlössen, durch die dortigen politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse zusätzlich erschwert. Und es sei nicht unwahrscheinlich, daß einige terroristische Gruppen einen Kernsprengsatz bauen würden, falls sich ihnen die Gelegenheit dazu bietet.

In der Zusammenfassung ihres Berichts fordert die IPPNW:

  • Die internationale Kontrolle spaltbaren Materials zu verschärfen und Schritte zu seiner Endlagerung in die Wege zu leiten;
  • das Problem der weltweiten Nachfrage nach spaltbarem Material, sei es ziviler oder militärischer Herkunft, bei seinen Wurzeln anzugehen;
  • internationale Lösungen für die Probleme der Atomproliferation und eines möglichen Atomterrorismus zu entwickeln, die über die eng definierten »nationalen Sicherheitsinteressen« der USA, Rußlands und anderer Atomwaffenstaaten hinausgehen;
  • anzuerkennen, daß die endgültige Abschaffung der Atomwaffen die einzige sinnvolle Möglichkeit ist, langfristig den Gefahren zu begegnen, die von einem möglichen Atomterrorismus ausgehen.

Kein Erpressungsversuch wäre durchschlagender, als wenn es einem Terroristen gelänge, eine ganze Stadt zur Geisel zu nehmen“, meint Bernard Lown, der Mitbegründer und langjährige Co-Präsident der IPPNW in seinem Vorwort. „Kein anderes Zerstörungsinstrument kann einem Gemeinwesen größere Verheerungen zufügen oder einer größeren Zahl von Menschen das Leben kosten. Nur zu bald könnten Terroristen auf den Gedanken kommen, nicht nur ein einzelnes Gebäude in Schutt und Asche zu legen, sondern eine ganze Großstadt zusammen mit ihrem Einzugsgebiet mittels einer Kernwaffe in ein atomares Inferno zu verwandeln.“

(Geschrieben wurde »Crude Nuclear Weapons« von dem Geschäftsführer von IPPNW International, Gururaj Mutalik, dem Kernphysiker und Abrüstungsexperten Frank Barnaby und den wissenschaftlichen Beratern Peter Taylor und David Summer. Der Bericht ist der erste einer neuen Serie von IPPNW-Publikationen mit dem Titel »Global Health Watch Reports«.)

John Loretz, Redaktion Medicine And Global Survival
Übersetzung: Sebastian Scholz
Dieser Artikel wurde erst in „Arzt und Umwelt/Medizin und Globales Überleben“, 1/97 veröffentlicht.
Die volle Studie in englischer Sprache (70 Seiten) oder eine Zusammenfassung auf deutsch (20 Seiten) sind von der IPPNW-Geschäftstelle, Körtestr. 10, 10967 Berlin, zu beziehen.

zum Anfang | Folgen der französischen Atomtests im Südpazifik

von Steffen Rogalski

Bei der Untersuchung geologischer Folgen und Risiken der französischen Atomtests in Polynesien geht es zum einem um die Folgen von atomaren Explosionen in vulkanischen Atollen generell und zum anderen um die speziellen Folgen für Mururoa und Fangataufa. Dabei ist interessant zu wissen, daß die USA ihre Tests auf pazifischen Inseln unter anderem wegen deren ungünstiger geologischer Strukur einstellten.16 Auch die Untersuchungen des Instituts für Ozeanographische Wissenschaften in South Hampton auf ähnlichen vulkanischen Inseln (Hawaii und Kanaren) bestätigten die besonderen Risiken.17

Bereits 1979 waren die Schäden an der 24 Kilometer langen Riffkrone Mururoas erheblich. In französischen Militärkarten aus dem Jahre 1980 ist eine 3,50 Meter breite und mehrere Kilometer lange Spalte verzeichnet, ebenso wie mehrere Spalten längs und seitwärts. Deswegen warnten bereits 1981 auf dem Atoll arbeitende Ingenieure vor einem weiteren Absinken der Insel. 1987 besuchte der französische Meeresforscher Jacques Cousteau Mururoa. Seine Aufnahmen von meterbreiten Rissen in den Inselflanken unter Wasser, die von einem Forschungs-U-Boot in 200 Meter Tiefe aufgenommen wurden, wanderten um die ganze Welt. Außerdem stellte Cousteau hohe Konzentrationen von radioaktivem Jod 131 im Sediment der Lagune und im Plankton fest. Wegen der geringen Halbwertzeit dieses Stoffes (acht Tage) konnte dies kein Überbleibsel vergangener Atomtests in der Atmosphäre sein, sondern mußte von unterirdischen Explosionen stammen. Cousteau machte sich aber damals die nie offiziel belegte Erklärung zu eigen, daß das Jod 131 durch die defekte Ventilklappe eines Testbohrlochs an die Oberfläche gelangt sei und nicht durch Gesteinsrisse. Das Cousteau-Team wollte diese These allerdings nicht bestätigen. (IPPNW 1995, S. 116)

Die Brüchigkeit des Mururoa-Atolls veranlaßte aber offensichtlich die französischen Militärs dazu, einerseits die Tests aus dem Atollring in den Lagunenboden zu verlagern und andererseits Tests mit größerer Sprengkraft auf Fangataufa durchzuführen.

Am 12. Juli 1995 berichtete die »tageszeitung« über Spalten und Risse in den Atollen und erläuterte die Ergebnisse mehrerer Untersuchungen. Untersuchungen, die unvollständig blieben, da die unabhängigen Experten nicht länger als ein paar Tage auf den Inseln bleiben durften und ihre Experimente teilweise reglementiert wurden. Der populäre Vulkanologe Haroun Tazieff z.B. weilte ganze drei Tage auf Mururoa. Er kam trotz der Kürze der Zeit zu der Einschätzung, daß bei einer Explosion im Sommer 1979, bei dem ein Sprengsatz in nur 400 Meter Tiefe gezündet wurde, ein eine Million Kubikmeter großer Brocken vom Atollring abgesprengt wurde.

Die Pariser Zeitung Le Monde veröffentlichte am 3. Oktober 1995 eine Skizze des Mururoa-Atolls, die offensichtlich nur für den internen Dienstgebrauch der militärischen Befehlshaber des Versuchszentrums bestimmt war. Danach gab es schon Anfang der achtziger Jahre auf dem Atoll Risse, die sich in Quer- und Längsrichtung bis zu 8,5 Kilometer weit erstreckten. Die Risse, die später mit Zement geschlossen wurden, wurden zu einer Zeit festgestellt, als auf der Insel »nur« etwa 30 unterirdische Atomtests stattgefunden hatten; danach folgten noch etwa 100. Die Direktion des Versuchszentrums bestätigte, daß sich um die Explosionsherde herum immer wieder Risse bildeten, diese würden aber die Haltbarkeit des Atolls nicht tangieren. Die radioaktiven Rückstände blieben bis zu 99 Prozent in dem (in 500 bis 1.000 Meter Tiefe) durch die Hitzeentwicklung der Explosion zugeschmolzenen Hohlraum eingeschlossen.18

Demgegenüber steht unter anderem die Erfahrung von Grenpeace. Die Umweltschutzorganisation stellte im Jahre 1990 außerhalb der Zwölf-Meilen-Sperrzone rund ums Mururoa-Atoll bei Planktonproben eine erhöhte Konzentration des Cäsiumisotops 134 fest. Da dieses Isotop nicht im Fallout von atmosphärischen Atomtests vorkommt, kann es nur aus den unterirdischen Versuchen stammen. Mururoa gibt also heute schon radioaktive Substanzen aus unterirdischen Tests ab.

Über eine zusätzliche Verseuchung der Landfläche von Mururoa durch radioaktiven Müll berichtet eine internationale IPPNW Kommision. Dort heißt es: „Dank dieser Praktiken im Umgang mit Atommüll (auf Mururoa) befinden sich auf dem Grund der Lagune schätzungsweise 20 Kilogramm Plutonium 239. Das Team aus Australien, Neuseeland und Papua-Neuguinea schätzte, daß jährlich 20 Gigabequerel Plutonium 239 aus der Lagune ins Meer gelangen. Diese Aussage stimmt überein mit der Entdeckung des Cousteau-Teams, daß die Konzentration von Plutonium 239 an der Einfahrt der Lagune zehnmal höher ist als in der Lagune selbst. Sie wiesen auch darauf hin, daß die festgestellten Konzentrationen in der Grundschicht der Lagune und im Wasser viel zu hoch sind, um dem globalen atmosphärischen Fallout zugeschrieben werden zu können, und daher lokalen Ursprungs und auf die Remobilisierung sedimentärer Ablagerungen zurückzuführen sind.“ (IPPNW 1995, S.118f)

Beängstigend sind auch zahlreiche Prognosen. Nach einem geothermischen Computermodell (Simulationsprogramm) der Professoren Hochstein und O'Sullivan19 von der neuseeländischen Universität Auckland von 1985 setzt das von Seewasser getränkte Gestein, in dem die Atombombe explodierte, ein künstliches geothermisches System in Gang. Die extrem aufgeheizte Explosionskammer steigt demnach wie in einem Kamin nach oben, und zwar mit einer Geschwindigkeit von zehn Metern pro Jahr. Bei einer Sprengtiefe von 500 Metern würden die Radionuklide nach dieser Studie innerhalb von 50 Jahren die Erdoberfläche erreichen und nicht erst nach einem Jahrtausend, wie französische Behörden verlauten ließen.20

Jahrelang wurden Untersuchungen unabhängiger Wissenschaftler zu den Folgen der Atomtests auf den Pazifikinseln be- oder auch verhindert. Selbst ein Untersuchungsteam der EU durfte nach den letzten Explosionen Teile des Mururoa-Atolls und Fangataufa nicht inspizieren.21

Jetzt soll unter der Federführung des Beratungsausschusses der Internationalen Atomenergieorganisation eine Studie über die radiologische Situation der ehemaligen Atomtestgebiete Mururoa und Fangataufa erstellt werden. Eingeladen sind über 75 Wissenschaftler aus 20 Ländern. Die Studie soll allgemein die mögliche Betroffenenheit von Menschen durch das Freiwerden radioaktiver Stoffe und die geologische Situation der Atolle untersuchen, weiter sollen die Wissenschaftler Empfehlungen erarbeiten über die Form, das Ausmaß und die Dauer einer weiteren Beobachtung. Eine Untersuchung der Atomtestfolgen auf den Menschen ist im Rahmen dieser Studie nicht vorgesehen.

Dabei liegt auch die Notwendigkeit einer solchen Untersuchung auf der Hand. Nach Gabriel Tetiarahi, Koordinator der tahitianischen Nichtregierungsorganisation Hiti Tau leiden ungefähr 90 Prozent von 1.000 interviewten Arbeitern, die auf den Testgeländen beschäftigt waren, an verschiedenen Arten von Krebs (Hussein 1997a, 14). Die UNO schätzte die Anzahl der Strahlentoten infolge der ober- und unterirdischen Atomtests im Pazifik allein bis 1980 auf 15.000 Menschen. (Worm 1995).Doch die Vergangenheit scheint nicht zu interessieren in Französisch-Polynesien, wo in den Statistiken ohnehin nur 60 Prozent der Todesursachen erfaßt wurden.

Steffen Rogalski, Diplompolitologe, Vorsitzender des Arbeitskreises für Friedenspolitik – Atomwaffenfreies Europa

zum Anfang | Atomwaffenfreie Zonen – Beispiel für Europa

von Xanthe Hall

Vertraglich abgesicherte, atomwaffenfreie Zonen überziehen fast die gesamte südliche Welthemisphäre. Afrika, Lateinamerika, Antarktis, Südostasien und der Südpazifik zeigen uns damit den juristisch und ethisch einwandfreien Weg zu einer atomwaffenfreien Welt. Die dort abgeschlossenen Abkommen sind über viele Jahre verhandelt worden. Zur Zeit werden weitere derartige Zonen in Südasien, im Nahen Osten und in Ostasien offiziell ins Auge gefaßt. Warum, so bleibt angesichts dieser Entwicklungen zu fragen, sollten nicht auch in Europa atomwaffenfreie Zonen gebildet werden? Es wäre nicht zuletzt auch eine vertrauensbildende Maßnahme zwischen der NATO und Russland.

Seit 1959, als der Antarktis-Vertrag zur Unterschrift freigegeben wurde, sind insgesamt fünf Verträge über atomwaffenfreie Zonen abgeschlossen worden. Letztes Jahr unterschrieben 43 Staaten Afrikas den Pelindaba-Vertrag; ein Jahr davor wurde Südostasien (SEANWFZ) atomwaffenfrei. 1986, mitten im Kalten Krieg, erklärten sich alle Inseln des Südpazifiks, samt Australien und Neuseeland und einschließlich ihrer Meere, für atomwaffenfrei (Raratonga-Vertrag). Die Länder Lateinamerikas mit ihren Gewässern waren die ersten, nach der Antarktis, die 1967 einen Vertrag über Atomwaffenfreiheit abgeschlossen haben, der allerdings erst jetzt in Kraft tritt (Tlateloco-Vertrag).

Das Enstehen und die Verpflichtungen der Zonen

Atomwaffenfreie Zone, das bedeutet nicht nur, daß keine Atomwaffen in der definierten Zone stationiert werden dürfen. Meistens wird vertraglich eine Verpflichtung mit den atomwaffenbesitzenden Staaten vereinbart, Atomwaffen nicht gegen die Staaten in dieser Region einzusetzen oder gar damit zu drohen, sowie keine Atomtests in der Region durchzuführen. (Frankreich hat deshalb auch den Raratonga-Vertrag erst 1996, nach seiner letzten Atomtestreihe, unterzeichnet).

Die fünf Verträge sind vor einem unterschiedlichen Hintergrund entstanden und unterscheiden sich dementsprechend in vielen Punkten voneinander. Der Pelindaba-Vertrag z.B. schließt Afrikas Gewässer nicht ein. Mit dem Vertrag wollten die afrikanischen Staaten den Atomwaffenverzicht der Republik Südafrika absichern. Deshalb beinhaltet er ein Verbot auf Atomwaffenforschung und eine Verpflichtung, alle aus der Zeit vor dem Vertrag existierenden Atomwaffen zu zerstören. Der Raratonga-Vertrag ist aus dem Protest gegen französische Atomtests entstanden. Im Mittelpunkt steht deshalb das Verbot des Testens von Atomwaffen und der Deponierung von Atommüll im Meer. Tlateloco war eine Reaktion auf die Kuba-Krise 1962, nach Hiroshima und Nagasaki sicher der Zeitpunkt, zu dem die Gefahr eines Einsatzes von Atomwaffen am größten war. Kuba unterzeichnete den Vertrag übrigens erst 1995.

Atomwaffenfreie Zonen sind vor allem vertrauensbildende Maßnahmen. Sie können helfen, die Spannung in einer Konfliktsituation zu reduzieren und die Unbeteiligten zwischen den Konfliktparteien zu schützen. In Südostasien wollen die Vertragsparteien insbesondere Sicherheitsgarantien von China. Es geht ihnen um die völkerrechtlich verbindliche Zusicherung, daß China nie Atomwaffen gegen sie einsetzen wird. Die SEANWF-Zone gibt gleichzeitig ein Signal an Indien und Pakistan, die beide immer stärker unter Druck geraten, ihre Atomwaffenstrategie zu erklären und aufzugeben.

Die Konferenz der Vertragsparteien des Atomwaffensperrvertrags diskutiert atomwaffenfreie Zonen seit langem als Teil eines Nichtweiterverbreitungs-Regimes. In den letzten Jahren sind u.a. der Nahe Osten, Mittelasien, Südasien, die koreanische Halbinsel und Zentral- und Osteuropa als mögliche neue atomwaffenfreie Zonen ins Gespräch gekommen.23 Ich möchte auf das letztere fokussieren: Warum eine atomwaffenfreie Zone in Zentral- und Osteuropa bilden?

NATO-Osterweiterung

Die geplante Osterweiterung der NATO hat sowohl in der russischen Bevölkerung als auch bei Regierungs- und Parlamentsvertretern in Moskau für Verstimmung, teilweise sogar für neue Vorbehalte gegenüber dem Westen gesorgt. Dies berichteten Kollegen unserer russischen Sektion der »Ärzte gegen Atomkrieg« (IPPNW) schon 1995 während eines internationalen Workshops in Berlin.

Die Befürchtung der Russen wird genährt durch die Tatsache, daß NATO-Mitgliedsstaaten in aller Regel verpflichtet sind, die Stationierung von Atomwaffen auf ihrem Territorium zu akzeptieren. Aus diesem Grund könnten neue Mitgliedsstaaten der westlichen Verteidigungsallianz dazu benutzt werden, nukleare Sprengköpfe aus westlichen Arsenalen dichter an die Grenzen Rußlands heranzuführen.

Vor dem Hintergrund dieses bedrohlichen Szenarios entschieden die Teilnehmer des Berliner Workshops, sich in der Öffentlichkeit massiv für eine atomwaffenfreie Zone in Zentral- und Osteuropa einzusetzen und damit präventiv gegen die Stationierung westlicher Atomprojektile an Rußlands Grenzen anzugehen. Seitdem haben viele Friedensorganisationen, Forschungsinstitute sowie Vertreter der russischen, weißrussischen und ukrainischen Regierung dazu aufgerufen, diese Initiative zu unterstützen.

Vom Schwarzen Meer bis zur Ostsee

Der Vorschlag, eine atomwaffenfreie Zone in der Region zwischen Ostsee und Schwarzem Meer einzurichten, ist nicht neu.24 Er reicht zurück in die fünfziger Jahre und wurde 1990 von Weißrußland wiederaufgegriffen. Die Initiative wurde seitdem wiederholt bei internationalen Treffen thematisiert.25 Aber ausgerechnet die Staaten, die zum Kernland einer solchen atomwaffenfreien Zone gehören müßten, die geplanten neuen NATO-Mitgliedsländer Polen, Tschechien26 und Ungarn, erklärten sich öffentlich bereit, die Stationierung von Atomwaffen auf ihrem Territorium zu akzeptieren.

Die NATO hingegen hat in dieser Frage bisher keine eindeutige Position erkennen lassen. Es gebe, wie es heißt „keine a-priori-Pläne für eine Stationierung von Atomwaffen in den neuen Mitgliedsländern“. Für die Zukunft läßt das westliche Verteidigungsbündnis diese Option allerdings offen und besteht darauf, daß die mittel- und osteuropäischen Staaten mit NATO-Affinität ausdrücklich Bereitschaft zur Stationierung von Atomwaffen signalisieren.27

Als Folge dieser neuen Sicherheitslage drohte Rußland mit allen möglichen Sanktionen, einschließlich einer Neubewertung bereits abgeschlossener Abrüstungsabkommen, wie des START-II- und des ABM-Vertrages, falls die NATO die Osterweiterung in die Tat umsetzt.28 Sogar Weißrußland zog noch einen Pfeil aus dem Köcher, indem es wegen der atomaren Stationierungspläne der NATO die bereits angelaufene Verschrottung weißrussischer Arsenale wieder stoppen wollte.

In dieser aufgeheizten Atmosphäre besuchte im Mai 1996 eine internationale IPPNW-Delegation das NATO-Hauptquartier in Brüssel. Gegenüber den IPPNW-Emissären bestätigte Botschafter von Moltke, daß die NATO weder eine atomwaffenfreie Zone unterstütze, noch Atomwaffenfreiheit für die neuen Mitgliedsstaaten garantieren würde. Und dies, obwohl im Bündnis bereits Präzedenzfälle existieren: Die NATO-Mitglieder Norwegen29, Island und Dänemark haben sich vorbehalten zumindest in Friedenszeiten atomwaffenfrei zu bleiben, auch wurde vertraglich festgelegt, daß die ehemalige DDR nach der Wiedervereinigung atomwaffenfrei bleiben muß.30

Auf Anregung von NGO- und IPPNW-Vertretern befürwortete die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) im Juli 1996 bei einem Treffen in Stockholm die Einrichtung atomwaffenfreier Zonen in Europa. Erst durch Initiativen dieser Art war es möglich, daß die NATO während des OSZE-Gipfels vom Dezember vergangenen Jahres in Lissabon ihren Verzicht auf die Stationierung von Atomwaffen in den neuen Mitgliedsstaaten erklärte. Diese Erklärung kann einen völkerrechtlich bindenden Vertrag allerdings nicht ersetzen.

Schlußfolgerungen

Ein Großteil Europas muß, ähnlich wie der Nahe Osten oder Südasien, in denen Regierungen mittlerweile Abkommen über atomwaffenfreie Zonen einfordern, zu einer dauerhaft nuklearwaffenfreien Zone werden. Verträge, die die Zahl der Kernsprengköpfe in bestimmten Gebieten auf Null herunterschrauben, können insgesamt auch zur dauerhaften Reduktion der weltweiten Atomarsenale führen und den »Druck« zur Modernisierung der veralteten Systeme auf diese Weise reduzieren. Atomwaffenfreie Zonen sind insofern ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer Welt ohne nukleare Schreckensszenarien.

Rußland kann in diesem technologischen Waffenwettbewerb ohnehin kaum mehr Schritt halten. Es könnte sich allerdings bei einer Stationierung von NATO-Atomwaffen auf den Territorien seiner Nachbarländer veranlaßt sehen, das eigene Kernwaffenarsenal unter größten finanziellen Kraftanstrengungen beizubehalten und zu modernisieren. Vor diesem Hintergrund wäre eine atomwaffenfreie Zone in Mittel-und Osteuropa genau das richtige politische Signal, um die gespannte Atmosphäre im Verhältnis zwischen Rußland und dem westlichen Verteidigungsbündnis zu entkrampfen. Mit einem entsprechenden Abkommen wären sowohl die Länder West- als auch Osteuropas in der Lage, eine wirklich neue Sicherheitspartnerschaft – ohne Bauchschmerzen wegen atomarer Altlasten – einzuleiten.

Xanthe Hall arbeitet in der deutschen Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges / Ärzte in sozialer Verantwortung (IPPNW) in der Geschäftsführung mit Schwerpunkt Kampagnen.

zum Anfang | Mit Recht für eine atomwaffenfreie Welt. Vom Weltgerichtshof zur Nuklearwaffenkonvention

von Jürgen Scheffran

Am 8. Juli 1996 erklärte der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag, daß „die Drohung und der Einsatz von Atomwaffen generell in Widerspruch steht zu den Regeln des Kriegsvölkerrechts und insbesondere zu den Prinzipien und Regeln der Menschenrechte“. Am 10. Dezember stimmten mehr als zwei Drittel der Staaten in der UNO-Generalversammlung für eine Resolution, in der die im IGH-Rechtsgutachten festgestellte Verpflichtung zur nuklearen Abrüstung zum Anlaß genommen wird, unverzüglich Verhandlungen über eine Konvention zur Ächtung und Abschaffung der Kernwaffen (Nuklearwaffenkonvention) zu fordern. Damit erhöht sich der Druck auf die Kernwaffenstaaten, die in Artikel VI des nuklearen Nichtverbreitungsvertrages (NVV) eingegangenen Abrüstungsverpflichtungen einzulösen.

Nukleare Abrüstung stand bei den Vereinten Nationen schon seit ihrer Gründung ganz oben auf der Tagesordnung. In der ersten Resolution der UNO-Generalversammlung von 1946 trat die Staatengemeinschaft einmütig ein für „die Beseitigung von Atomwaffen aus den nationalen Waffenarsenalen“. In den folgenden fünf Jahrzehnten des Kalten Krieges konnte, abgesehen vom NVV und bilateralen Verträgen zwischen den beiden Supermächten, dieses Ziel nicht weiter konkretisiert werden. Ein erster Durchbruch wurde mit der UNO-Resolution 50/70 P vom 12. Dezember 1995 erzielt, in der Verhandlungen über die Abschaffung von Kernwaffen innerhalb eines vorgegebenen Zeitrahmens gefordert werden.

Noch weiter gehen die drei 1996 verabschiedeten UN-Resolutionen. Die schon 1995 vorgelegte Resolution wurde mit 110 Ja-Stimmen erneut angenommen, diesmal jedoch mit dem Vorschlag eines „zeitlich gebundenen Rahmens durch eine Nuklearwaffenkonvention“. Auch eine von Indien vorgelegte Resolution für das Verbot des Einsatzes von Kernwaffen wurde erneut angenommen, ebenfalls mit der zusätzlichen Forderung nach einer Nuklearwaffenkonvention.

Die Zusätze in beiden Resolution sind zurückzuführen auf die von Malaysia vorgelegte Resolution 51/45M »International Court of Justice Advisory Opinion on the Legality of the Threat or Use of Nuclear Weapons«, die schon am 14. November bei der Vorabstimmung im First Committee der UNO-Generalversammlung eine deutliche Mehrheit erzielt hatte und bei der Endabstimmung am 10.12. von allen Resolutionen die größte Unterstützung fand (115 Staaten dafür, 22 dagegen, 32 Enthaltungen). Der Erfolg ist zum Teil zurückzuführen auf die Verbindung zwischen IGH-Rechtsgutachten und Nuklearwaffenkonvention (NWK), die in zwei Paragraphen zum Ausdruck kommt:

Paragraph 3: Die Schlußfolgerung des Internationalen Gerichtshofs wird unterstützt: „Es gibt eine Verpflichtung, in gutem Vertrauen Verhandlungen durchzuführen und zu einem Abschluß zu bringen, die zur nuklearen Abrüstung in all ihren Aspekten unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle führen.“

Paragraph 4: Es werden alle Staaten aufgerufen, „ihre Verpflichtungen sofort wahrzunehmen durch die Aufnahme von multilateralen Verhandlungen im Jahr 1997, die zu einem frühen Abschluß einer Nuklearwaffenkonvention führen, die Entwicklung, Produktion, Erprobung, Stationierung, Lagerung, Transfer, Einsatzandrohung oder den Einsatz von Kernwaffen verbietet und ihre Abschaffung durchführt“.

Aufgrund der Autorität des IGH konnte die Resolution und damit auch die weitreichende Forderung nach einer NWK nicht nur bei fast allen Entwicklungsländern Unterstützung finden, darunter auch der Kernwaffenstaat China und inoffizielle Kernwaffenstaaten wie Indien und Pakistan (Israel enthielt sich der Stimme). Auch einige westliche Staaten votierten für die Resolution (Schweden, Irland, San Marino), und die NATO-Staaten Island, Dänemark und Norwegen enthielten sich immerhin der Stimme. Damit wurden Widersprüche im zuvor homogenen westlichen Block erkennbar, die bis in die NATO hineinreichen.

Bemerkenswert war auch die Rolle von Nicht-Regierungs-Organisationen (NGOs) beim Zustandekommen der Resolution. Dies betrifft zum einen das IGH-Urteil, das seit mehreren Jahren vom World Court Project initiiert und vorbereitet worden war. Zum zweiten war die Konzeption einer NWK seit Ende 1993 durch das International Network of Engineers and Scientists Against Proliferation (INESAP) in die öffentliche Diskussion getragen worden. Im April 1995 wurde die Forderung nach einer NWK während der New Yorker NVV-Konferenz in das Gründungsdokument des globalen Netzwerks für die Abschaffung der Atomwaffen »Abolition 2000« übernommen, das nunmehr von fast 700 Organisationen weltweit unterstützt wird. Schließlich basiert die Resolution Malaysias auf einem Vorschlag des New Yorker Lawyers Committee on Nuclear Policy (LCNP), der in der NWK-Arbeitsgruppe von Abolition 2000 angeregt worden war.

In Deutschland konnten die im Trägerkreis »Atomwaffen Abschaffen« zusammengefaßten Friedensorganisationen die NWK auf die politische Tagesordnung bringen. In einer Erklärung vom 15. November 1996 wurde die Vorabstimmung im First Committee der UNO begrüßt und die Bundesregierung zur Unterstützung der Malaysia-Resolution aufgefordert. Am 22.11.1996 schrieb der abrüstungspolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, Friedbert Pflüger, in »Die Zeit«, daß die Idee einer Konvention zur Abschaffung der Atomwaffen ernsthaft in Erwägung gezogen müsse. Von derartigen Erwägungen war jedoch in der von der PDS-Fraktion initiierten Bundestagsdebatte vom 5. Dezember 1996 nichts mehr zu hören. Pflüger nannte dort eine Welt ohne Atomwaffen unter heutigen Bedingungen utopisch, während der FDP-Sprecher Günther Friedrich Nolting die derzeitige NATO-Strategie als vereinbar mit internationalem Recht ansah, trotz des IGH-Rechtsgutachtens. Angelika Beer (Bündnis 90 / Die Grünen) und Manfred Müller (PDS) sprachen sich dagegen für die Abschaffung der Atomwaffen durch eine Nuklearwaffenkonvention aus, während Gernot Erler (SPD) einem schrittweisen Vorgehen zum letztlichen Ziel der atomwaffenfreien Welt den Vorzug gab. Helmut Schäfer, Staatsminister im Auswärtigen Amt, unterschied zwischen der Zustimmung der Bundesregierung zum Paragraphen 3 der UN-Resolution, womit das IGH-Rechtsgutachten weitgehend akzeptiert wurde, und der Zurückweisung der Forderung nach NWK-Verhandlungen in Paragraph 4.

Umfassend oder schrittweise zur nuklearen Abrüstung?

Ob das Konzept einer NWK weitere Unterstützung findet, hängt maßgeblich davon ab, ob die nach der NVV-Konferenz eingesetzte politische Kettenreaktion für die Abschaffung der Kernwaffen anhält. Ausdruck der gewachsenen politischen Basis ist, neben dem IGH-Urteil, dem Netzwerk »Abolition 2000« und den UNO-Resolutionen, der Bericht der Canberra-Komission sowie eine Erklärung von fast 60 Generälen und Admirälen vom 4. Dezember 1996, die sich für eine Welt ohne Kernwaffen einsetzen (siehe Seite 19).

Die von Australiens Regierung eingerichtete Canberra-Kommission schlägt in ihrem Bericht vom 14. August 1996 eine Reihe konkreter Schritte zur nuklearen Abrüstung vor, läßt aber offen, ob die atomwaffenfreie Welt besser zu erreichen sei durch einen „inkrementellen Ansatz einer Reihe separater Rechtsmittel oder durch einen umfassenden Ansatz, der alle relevanten Rechtsmittel in einem einzigen völkerrechtlichen Instrument zusammenfaßt, einer Nuklearwaffenkonvention“.

Der schrittweise Ansatz baut auf existierenden Verträgen auf und ergänzt diese um weitere Einzelmaßnahmen nuklearer Abrüstung, Rüstungkontrolle und Nichtverbreitung. Der umfassende Ansatz fordert Verhandlungen über eine Konvention zum vollständigen Verbot und zur Beseitigung der Kernwaffen.

Jedes der Konzepte in seiner »reinen« Form hat Vor- und Nachteile. Für Anhänger des inkrementellen Ansatzes ist der umfassende Ansatz politisch unrealistisch oder sogar schädlich. Kritisiert wird, daß der umfassende Ansatz realistische Schritte verhindern oder hinauszögern könnte, die schon vor einer Konvention politisch möglich wären. Für Befürworter des umfassenden Ansatzes bieten Verhandlungen über Einzelschritte keinerlei Garantien, daß das Ziel der atomwaffenfreien Welt jemals erreicht wird und daß sich die einzelnen Puzzlesteine zu einem Gesamtbild zusammenfügen. Die Defizite des schrittweisen Ansatzes sind ein wesentlicher Grund für Indien, den Teststopp-Vertrag nicht zu unterzeichnen, da er keine Abrüstungsverpflichtungen der Kernwaffenmächte enthalte und diesen sogar weitere Kernwaffenentwicklungen erlaube. Ähnliche Probleme und Asymmetrien sind derzeit für den Stillstand bei den Genfer Abrüstungsverhandlungen über ein Produktionsverbot für Spaltmaterialien mitverantwortlich.

Schrittweise und umfassende Ansätze sind jedoch keine unversönlichen Gegensätze, sondern können sich sinnvoll ergänzen. Ein schrittweise-umfassender Ansatz behält die Abschaffung der Kernwaffen im Blick und formuliert ein Konzept aus abgestimmten Einzelschritten zu diesem Ziel, die in verschiedenen Foren ausgehandelt werden können. Solche Schritte wären etwa ein Verbot der Herstellung und Nutzung von Kernwaffenmaterialien (Cut-Off), ein Abkommen über den Nicht-(Erst-)Einsatz von Kernwaffen, die Trennung der Trägersysteme von den Sprengköpfen oder die Schaffung weiterer kernwaffenfreier Zonen. Eine integrierte Strategie würde einseitige Maßnahmen und Erklärungen, bilaterale Verhandlungen zwischen USA und Rußland und multilaterale Verhandlungen zwischen den fünf Atommächten, in der Genfer CD oder im NVV-Überprüfungsprozeß kombinieren, alles jedoch unter dem Dach der NWK-Rahmenverhandlungen. Mit der Realisierung jedes Einzelschritts werden die noch zu lösenden Aufgaben und Probleme immer weiter eingegrenzt, der gesamte Verhandlungsprozeß gestärkt und die Schwelle für die Vollendung der umfassenden Konvention gesenkt.

Auch wenn die Staaten sich vor Beginn der Verhandlungen nicht auf einen zeitlichen Rahmen für die Beseitigung der Kernwaffen einigen können, darf dies kein Grund sein, den Beginn von Verhandlungen über eine NWK zu verzögern. Die meisten Abrüstungsabkommen enthielten zeitliche Vorgaben, und die Frage des Zeitplans für die nukleare Abrüstung wird unweigerlich auf die Tagesordnung der NWK-Verhandlungen kommen. Ein Beispiel für einen Dreistufenplan zur atomwaffenfreien Welt wurde von den blockfreien Staaten (G-21) im August 1996 bei der CD in Genf vorgelegt.

Ein so beschriebenes inkrementell-umfassendes Konzept für die NWK-Verhandlungen könnte einen Beitrag dazu leisten, die derzeitige Krise der CD zu überwinden und die notwendige Transformation des unbefriedigenden nuklearen Nichtverbreitungsregimes in ein Abrüstungsregime zu erreichen.

Der Modellentwurf einer Nuklearwaffenkonvention

Seit März 1996 wird von einem durch LCNP organisierten Komitee aus JuristInnen, NaturwissenschaftlerInnen, AbrüstungsexpertInnen und FriedensaktivistInnen ein Modellentwurf für eine Nuklearwaffenkonvention ausgearbeitet, nach dem Vorbild der Chemiewaffenkonvention (Arbeitstreffen fanden in New York und Darmstadt statt). Ein erster Diskussionsentwurf lag bis September 1996 vor, ein öffentlicher Modellentwurf wird anläßlich der Überprüfungskonferenz zum NVV am 7. April in New York präsentiert.

Der derzeitige Modellentwurf (März 1997) umfaßt 26 Artikel und zwölf Anhänge, die zusammen über 100 Seiten ausmachen. Artikel I enthält allgemeine Verpflichtungen, keine Kernwaffen zu entwickeln, erproben, produzieren, erwerben, stationieren oder zu behalten sowie Atomwaffen nicht einzusetzen und dies auch nicht anzudrohen. Forschung mit dem Ziel der Kernwaffenentwicklung ist untersagt, nicht jedoch für Abrüstung erforderliche Forschung oder die Nutzung von Wissen für die Aufklärung über die Gefahren von Kernwaffen. Die Beschränkungen gelten auch für Komponenten und Infrastruktur von Kernwaffen, insbesondere für kernwaffenfähige Materialien (hochangereichertes Uran, Uran-233, Plutonium, Tritium), für Trägersysteme sowie Befehls- und Kommunikationsanlagen (C3I) für Kernwaffen. Damit verbundene Kapazitäten sind irreversibel zu beseitigen oder zu konvertieren.

Andere Artikel betreffen die Ausführung dieser Verpflichtungen, insbesondere Definitionen, Deklarationen, den Zeitplan für Abrüstung, die Verifikation, die nationale Implementierung, die internationale Agentur, nukleare Materialien und Anlagen, Trägersysteme und C3I, Ratifizierung, Kooperation und Streitschlichtung. Die Anhänge vertiefen u.a. Verifikationsmaßnahmen und Verfahren zur Kernwaffenzerstörung.

Von kritischer Bedeutung für die Wirksamkeit der Konvention ist die Ausarbeitung spezifischer Verifikationsvorschläge, insbesondere für spezielle kernwaffenfähige Nuklearmaterialien, wobei über die Safeguards der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) hinausgegangen werden muß und auch zivile Materialien in die Überprüfung einzubeziehen sind. Ein internationales Registrierungs- und Überwachungssystem umfaßt Inspektionen sowie zerstörungsfreie Meßverfahren, vor Ort installierte Sensoren, Fernsensoren und die Entdeckung von charakteristischen Radionukliden in der Umwelt. Inspektionen vor Ort würden systematische und Verdachtsinspektionen umfassen, die jederzeit und an jedem Ort durchführbar sein müssen. Durch Markierungstechniken ist eine eindeutige Identifizierung (»Fingerabdruck«) von Objekten möglich.

Eine Internationale Kontrollagentur, analog zur Chemiewaffenkonvention, hätte für die Implementierung der Konvention zu sorgen, einschließlich Verifikation und Einhaltung des Vertrages, Konsultation, Kooperation und Streitbeilegung zwischen den Vertragsstaaten. Die Konferenz der Vertragsstaaten würde auf regelmäßigen oder außerordentlichen Sitzungen die wesentlichen Entscheidungen treffen, während das »Executive Council« für die Implementierung und Durchführung der Konvention zuständig wäre. Das »Technical Secretariat« schließlich würde das Executive Council bei speziellen Aufgaben der Implementierung und Verifikation unterstützen.

Aufgrund der Komplexität des Übergangs zur kernwaffenfreien Welt ist eine koordinierte Zusammenarbeit zwischen Regierungen, Industrien und NGOs über Ländergrenzen hinweg erforderlich. Der NWK-Entwurf selbst schlägt entsprechende Mechanismen und Institutionen vor und knüpft an bestehende Regime an. Diese betreffen die nationale Implementation ebenso wie die soziale Verifikation, kollektive Maßnahmen der Vertragseinhaltung, Anreize zur Teilnahme am Regime, Forschung und Entwicklung für die Abschaffung von Kernwaffen und Nuklearmaterialien oder Vorschriften zur Minimierung heimlicher Aktivitäten.

Zur Ausgestaltung dieser und anderer Aufgaben sind noch viel Detailarbeit und wissenschaftliche Untersuchungen zu leisten. Auf alle Fragen hat der Modellentwurf keine Antwort; er möchte im Gegenteil eher die wesentlichen Fragen bewußt machen. Daher ist der aktuelle Entwurf nur als ein Zwischenergebnis in einem längerfristigen Prozeß anzusehen, der nach Bedarf und aktuellem Kenntnisstand modifiziert werden soll.

Literaturauswahl zur NWK

Liebert, W./Scheffran, J./Kalinowski, M. (1997): Vom Urteil des Weltgerichtshofs zur Nuklearwaffenkonvention: Verhandlungen zur Abschaffung der Kernwaffen beginnen, erscheint in einem von D. Deiseroth und P. Becker herausgegebenen Buch zum IGH-Urteil im agenda-Verlag, Münster.

Datan, M./Ware, A./Scheffran, J. (1996): Nuclear Weapons Convention on Track, INESAP Bulletin No.11, December 1996, S. 4-8.

Scheffran, J./Datan, M./Ware, A. (1997): Working Toward a Nuclear Weapons Convention, Vital Signs, 1/97.

Liebert, W. (1996): Nuklearwaffenkonvention aushandeln, in: Schindler-Saefkow, B./Strutynski, P. (Hg.): Kriege beenden, Gewalt verhüten, Frieden gestalten, Kassel, S. 104-110.

INESAP-Studie (1995): Beyond the NPT, A Nuclear-Weapon-Free World, INESAP-Study-Group-Report, April 25, New York, Darmstadt.

Dr. Jürgen Scheffran ist wissenschaftlicher Assistent bei IANUS an der TH Darmstadt

zum Anfang | Es gibt keine Alternative zu einer kernwaffenfreien Welt

Auszüge aus einer öffentlichen Erklärung von 57 Generälen und Admirälen aus 17 Ländern:

(…) Aufgrund unserer Berufserfahrung mit Waffen und Kriegen in den Streitkräften vieler Nationen haben wir uns eine eingehende, vielleicht sogar einzigartige Kenntnis der gegenwärtigen Sicherheits- bzw. Unsicherheitslage unserer Länder und Völker erworben. (…)

Das Ende des Kalten Krieges hat Bedingungen geschaffen, die eine Abrüstung der Kernwaffen begünstigen. (…) Die unbeschränkte Verlängerung des Vertrages über die Nichtverbreitung von Kernwaffen im Jahre 1995 sowie die Annahme des Vertrages über ein umfassendes Verbot von Kernwaffenversuchen durch die Vollversammlung der Vereinten Nationen im Jahr 1996 bilden (…) wichtige Fortschritte auf dem Weg zu einer kernwaffenfreien Welt. (…)

Unglücklicherweise ist jedoch eine echte Kernwaffenabrüstung trotz der erwähnten positiven Schritte nicht erreicht worden. Die Verträge schreiben lediglich die Vernichtung der Trägersysteme, nicht jedoch der Kernsprengköpfe vor. (…)

Wir sind zutiefst davon überzeugt, daß die folgenden Maßnahmen dringend notwendig sind und jetzt eingeleitet werden müssen:

Erstens, die bereits vorhandenen und die in der Planung vorgesehenen Kernwaffenvorräte sind bei weitem zu groß und sollten einschneidend reduziert werden.

Zweitens, die dann noch verbleibenden Kernwaffen sollten stufenweise und in voller Transparenz aus der Alarmbereitschaft herausgenommen sowie ihre Einsatzbereitschaft wesentlich verringert werden, sowohl in den offiziellen als auch in den De-facto-Kernwaffenstaaten.

Drittens, die langfristige Nuklearpolitik muß auf dem erklärten Grundsatz beruhen, Kernwaffen kontinuierlich, vollständig und unwiderruflich abzuschaffen.

Die Vereinigten Staaten und Rußland sollten – ohne jegliche Herabsetzung ihrer militärischen Sicherheit – den von START bereits begonnenen Reduktionsprozeß vorantreiben. (…) Die Verteidigung der territorialen Integrität einzelner Länder ist mit dem Fortschritt auf dem Weg zur Abschaffung der Kernwaffen durchaus vereinbar.

Man kann heute die genauen Umstände und Bedingungen für die endgültige Abschaffung dieser Waffen nicht vorhersehen oder vorschreiben. Eine Voraussetzung wäre zweifellos ein weltweites Programm der Überwachung und Inspektion, das Maßnahmen zur Buchführung und Kontrolle des Inventars an Kernwaffenmaterial einschließt. (…) Wesentlich ist auch ein abgesprochenes Vorgehen, um – wenn nötig – zwangsweise international intervenieren und geheime Aktivitäten zuverlässig und rechtzeitig unterbinden zu können.

Desweiteren ist es wichtig, kernwaffenfreie Zonen in verschiedenen Teilen der Welt zu schaffen, sowie Maßnahmen der Vertrauensbildung und der Transparenz auf dem Gebiet der Verteidigung im allgemeinen zu ergreifen. Schließlich ist es äußerst wichtig, alle Abrüstungs- und Rüstungskontrollverträge strikt zu erfüllen und sich beim Abrüstungsprozeß gegenseitig zu unterstützen, um auf diese Weise eine kernwaffenfreie Welt zustande zu bringen. Der Aufbau regionaler Systeme kollektiver Sicherheit unter Einschluß praktischer Maßnahmen zur Zusammenarbeit, Partnerschaft, Interaktion und Kommunikation sind wesentlich für die örtliche Stabilität und Sicherheit.

(…) Klar ist (…), daß Nationen, die im Besitz von Kernwaffen sind, nicht bereit sein werden, diese preiszugeben, solange sie nicht davon überzeugt sein können, daß es zuverlässigere und weniger gefährliche Mittel zur Gewährleistung ihrer Sicherheit gibt. Als Konsequenz davon ist ebenfalls klar, daß die Kernwaffenmächte im Augenblick nicht bereit sein werden, einem festgelegten Zeitplan für die Abschaffung zuzustimmen.

Ähnlich klar ist auch, daß es unter den Nationen, die gegenwärtig keine Kernwaffen besitzen, einige geben wird, die nicht für immer auf deren Beschaffung und Bereitstellung verzichten wollen, es sei denn, ihre Sicherheit wird auf andere Weise gewährleistet. Und sie werden auch nicht darauf verzichten, sie zu beschaffen, sollten die derzeitigen Nuklearmächte ihr nukleares Monopol für immer und ewig aufrecht erhalten wollen.

Schritte in Richtung auf die Abschaffung müssen in erster Linie von den offiziellen Kernwaffenstaaten (…) in gemeinsamer Verantwortung unternommen werden. Sie sollten aber auch von den De-facto-Kernwaffenstaaten (…) mitgetragen werden sowie von den größeren Nichtkernwaffenmächten wie Deutschland und Japan. (…)

Uns hat sich eine Herausforderung von höchster historischer Bedeutung geboten: Die Schaffung einer kernwaffenfreien Welt. Das Ende des Kalten Krieges macht es möglich.

Die Gefahren, die der Welt durch die Verbreitung von Kernwaffen, durch den Nuklearterrorismus und durch ein erneutes Kernwaffenwettrüsten drohen, machen es notwendig. Wir dürfen nicht versäumen, unsere Chance zu nutzen. Es gibt keine Alternative.

Unterzeichnet wurde diese Erklärung unter anderem von:

Brigade-General a.D. Henry van der Graaf; Direktor des Zentrums für Rüstungskontrolle und Verifikation, Mitglied des UN-Konsultationsrates für Abrüstungsangelegenheiten.

General a.D. Boris Gromov; Vizepräsident des parlamentarischen Ausschusses für internationale Angelegenheiten, ehemaliger Kommandeur der 40. Sowjetarmee in Afghanistan, ehemaliger stellv. Minister im russ. Auswärtigen Amt.

General a.D. Charles A. Horner; Kommandeur der alliierten Luftstreitkräfte während der Militäraktion »Wüstensturm« gegen den Irak 1991.

Generalmajor a.D. Alexander Lebed; russischer Präsidentschaftskandidat in 1996.

General a.D. Andrew O'Meara, ehemaliger Befehlshaber der US-Armee in Europa.

Übersetzung: Wolfgang Sternstein

zum Anfang | Handlungsbedarf – Hier und jetzt! Deutschlands Beitrag zur kernwaffenfreien Welt

von Martin B. Kalinowski

Die Mehrzahl der Staaten hat auf der Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York im Dezember 1996 beschlossen, daß in diesem Jahr Verhandlungen zu einer Kernwaffenkonvention aufgenommen werden sollen. Damit würde der Forderung aus dem Gutachten des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag vom 8. Juli 1996 entsprochen, einen völkerrechtlich verbindlichen Vertrag zur Abschaffung der Kernwaffen auszuhandeln. Anfang des Jahres 1997 zeigte sich aber bei der Genfer Konferenz für Abrüstung, wie tief der Graben zwischen den blockfreien Ländern auf der einen Seite und den anerkannten Kernwaffenstaaten und deren Verbündeten auf der anderen Seite ist. Die 61 in Genf vertretenen Staaten konnten sich nicht einmal auf ein Verhandlungsprogramm einigen und es wird bezweifelt, ob sie dies bis Mitte des Jahres schaffen.

Indien und einige andere blockfreie Staaten bestanden auf einem festen Zeitplan für nukleare Abrüstung bis auf Null. Nur unter dieser Bedingung wäre Indien bereit, in den Abrüstungsprozeß selber einzusteigen. Vier der fünf anerkannten Kernwaffenstaaten (außer China) sowie ihre Verbündeten – darunter auch Deutschland – wollten aber nicht einmal einen Ausschuß zur Verhandlung über nukleare Abrüstung einrichten. Sie wollten lediglich über einen Produktionsstopp für spaltbare Kernwaffenmaterialien (Cut-off) verhandeln.

Um die gegenwärtige Konfrontation in Genf zu überwinden, sind neue Vorschläge notwendig. Ein solch neuer Vorschlag beinhaltet die Erweiterung des Verhandlungsmandats für den Cut-off-Vertrag auch auf das fusionierbare Kernwaffenmaterial Tritium. Damit würde dieser Vertrag eine deutliche Abrüstungskomponente bekommen, da Tritium mit einer Halbwertszeit von zwölf Jahren zerfällt. Der Tritiumzerfall könnte ein Schrittmacher sein für einen weichen Zeitplan zur Abrüstung von Kernwaffen. Vorräte aus vergangener Produktion müßten nicht unbedingt in die Verhandlungen einbezogen werden. Tritiumlose Kernwaffen gelten als dysfunktional und wären somit symbolisch abgerüstet. Da sie andererseits durch Neuproduktion von Tritium leicht wieder komplettierbar sind, wäre ein Tritiumproduktionsstopp (Cut-off) das entscheidende Signal für die Bereitschaft zur weitgehenden nuklearen Abrüstung.

Letztlich müssen aber Verhandlungen zu einer Kernwaffenkonvention aufgenommen und der Cut-off als ein dazugehöriges Element betrachtet werden. Mit einer Kernwaffenkonvention muß, ähnlich den Bio- und Chemiewaffenkonventionen, die letzte Kategorie von Massenvernichtungswaffen vollständig verboten werden.31

Abzug der Kernwaffen aus Deutschland

Deutschland besitzt zwar keine eigenen Kernwaffen, befindet sich aber unter dem »Nuklearschirm« der NATO, hat damit eine nukleare Teilhabe, unterhält geeignete Trägersysteme und bildet die Bundeswehr für den Einsatz von Kernwaffen aus.

Nach dem Urteil des Internationalen Gerichstshofes in Den Haag ist weder ein Kernwaffeneinsatz zur Unterstützung Verbündeter noch die Drohung mit demselben mit dem geltenden Völkerrecht zu vereinbaren, auch nicht im Notfall. Demzufolge sind auch alle Aktivitäten völkerrechtswidrig, die eine derartige »Nothilfe« vorbereiten oder ermöglichen. Daraus die Schlußfolgerungen zu ziehen heißt:

  • Deutschland muß seine nukleare Teilhabe an Kernwaffen der USA oder anderer Verbündeter vollständig aufgeben. Die noch in Deutschland stationierten Kernwaffen der USA in Büchel, Memmingen, Nörvenich und Ramstein müssen ebenso abgezogen werden, wie es für die letzten britischen Kernwaffen in Brüggen für 1998 fest geplant ist.
  • Die deutsche Politik muß sich klar abgrenzen von einer Beteiligung an einer irgendwie geteilten Verantwortung für einen europäischen »Nuklearschirm« (z.B. »concerted deterrence«). Insbesondere muß Deutschland auf die bilateralen Gespräche über Kernwaffen mit Frankreich verzichten, zu denen sich beide Länder im gemeinsamen Sicherheitsabkommen vom 9. Dezember 1996 in Nürnberg bereit erklärt haben.
  • Deutschland sollte sich für die Schaffung einer kernwaffenfreien Zone in Europa einsetzen. Als erster eigener Schritt zu diesem Ziel sollte die bereits in den neuen Bundesländern bestehende kernwaffenfreie Zone auf das ganze Bundesgebiet ausgedehnt werden.
  • Im Zuge der geplanten NATO-Osterweiterung sollte Deutschland darauf drängen, daß in neuen NATO-Mitgliedsstaaten nie Kernwaffen stationiert werden dürfen.
  • Schließlich darf Deutschland keine eigenen technischen Fähigkeiten zum Bau einer Kernwaffe schaffen oder aufrechterhalten. Für ein Land wie Deutschland, das eine komplexe Nuklearindustrie, aber keine Produktion von Kernwaffen hat, ist die entscheidende Frage, welche Regelungen im zivilen Bereich zu treffen sind. Insbesondere sollte Deutschland keinen direkten Zugriff auf kernwaffenfähiges Material haben (mehr dazu siehe unten).

Innovationen bei der Kontrolle ziviler kernwaffenfähiger Materialien

Das in Genf vorliegende Verhandlungsmandat für einen Cut-off-Vertrag ist auf den Minimalkonsens reduziert. Gemäß der vorangegangenen Diskussionen ist davon auszugehen, daß zunächst nur die Produktion von spaltbaren Materialien für Kernwaffenzwecke sowie außerhalb von nuklearen Sicherungsmaßnahmen (Safeguards der Internationalen Atomenergieorganisation IAEO) einbezogen werden. Das Mandat weist aber ausdrücklich daraufhin, daß weitere Punkte in den Verhandlungen vorgeschlagen und diskutiert werden dürfen. Das betrifft vor allem die Vorräte aus vergangener Produktion, deren Einbeziehung für einige Staaten wie Pakistan Bedingung ist. Verschiedene Staaten haben vorgeschlagen, auch die zivilen spaltbaren Materialien in die Verhandlungen miteinzubeziehen.

In diesem Punkt ist Deutschland besonders gefordert, da es als eines der wenigen Nichtkernwaffenländer in der Produktion und Nutzung von kernwaffenfähigen Materialien engagiert ist. Zwar ist seit Jahren die Entscheidung gegen eine Wiederaufarbeitungsanlage und gegen den Schnellen Brüter in Deutschland gefallen und auch die Produktion von Mischoxidbrennelementen (MOX) ist aufgegeben worden, dennoch bleiben deutsche Unternehmen im Plutoniumgeschäft, indem die EVUs ihre abgebrannten Brennelemente in Sellafield und La Hague aufarbeiten lassen (erst ein einziger Vertrag zur Wiederaufarbeitung mit Sellafield ist gekündigt worden) und indem Siemens Unteraufträge zur MOX-Fertigung für deutsche Reaktoren in Belgien und Frankreich erteilt. Das ist unökonomisch und radioökologisch schädlich. Zudem steht spätestens seit der Änderung des Atomgesetzes im Frühjahr 1994 die Option der direkten Endlagerung als Alternative zur Wiederaufarbeitung offen.

Im Rahmen des internationalen Nichtverbreitungsregimes hat sich seit des Inkrafttretens des Nichtverbreitungsvertrages ein Konsens entwickelt, nach dem die Erfüllung des Artikels IV über den Zugang zur friedlichen Nutzung der Kernenergie nicht in einer Weise geschehen darf, die das Ziel der Nichtverbreitung selber beeinträchtigt. Die notwendigen Einschränkungen für nukleare Technologien werden unter dem Stichwort »Proliferationsresistenz« diskutiert. So kam etwa die INFCE (International Fuel Cycle Evaluation) Konferenz 1979 zu dem Schluß, daß keine Forschungsreaktoren mehr gebaut werden sollten, die mit hochangereichertem Uran betrieben werden. Derartige existierende Reaktoren sollen umgerüstet werden. Zu dem Zweck wurde sowohl ein umfangreiches internationales Konversionsprogramm aufgelegt als auch ein spezielles für Deutschland vom Forschungsministerium finanziert.

Solange die kernwaffenfähigen Materialien nicht vermieden oder beseitigt werden können, sollten sie dem nationalen Zugriff entzogen werden. Die proliferations-resistentesten derzeit denkbaren Optionen sind sofortiger Verkauf und In-Treuhand-Legung auf internationalisiertem Territorium bei einer internationalen Organisation, die das Material nur lagert und nicht verwenden kann, oder die baldige Konditionierung als radioaktiver Abfall verbunden mit einer Überstellung des Materials unter internationale physische Kontrolle, die über die heutigen Safeguards hinausgeht.

In Drucksache 12/7472 antwortet die Bundesregierung auf den letzten Vorschlag: „Die Bundesregierung hat in ihrer 10-Punkte-Initiative vom 15. Dezember 1994 ein internationales Plutonium-Kontrollsystem gefordert, in dem vor allem auch das aus der Abrüstung von Kernwaffen freiwerdende Plutonium in allen Staaten internationalen Kontrollen unterworfen wird, so wie es für deutsches Plutonium bereits seit vielen Jahren der Fall ist.

Die Diskussionen um ein »International Plutonium Storage« gehen jedoch über den derzeitigen Kontrollstandard hinaus. Wesentlich ist das Ziel, den unkontrollierten nationalen Zugriff auf das Kernwaffenmaterial zu unterbinden.

Die Bundesregierung gab weiterhin die Auskunft:“Nach Artikel 80 des EURATOM-Vertrages kann die Kommission die Hinterlegung von überschüssigem Spaltmaterial verlangen, das nicht tatsächlich verwendet oder bereitgestellt wird. Die Kommission hat von dieser Möglichkeit bisher keinen Gebrauch gemacht“.

Demnach wäre es vielleicht ein denkbarer Weg, das noch im Ausland lagernde Plutonium aus der Wiederaufarbeitung deutscher Brennelemente bei der EURATOM zu hinterlegen, um so deutlich zu machen, daß es nicht in Kernwaffenprogramme anderer Länder gelangen soll. Denkbar wäre auch, das noch in Hanau verbleibende Plutonium der EURATOM zur Hinterlegung zu übergeben. Damit könnte ein Pilotprojekt einer internationalisierten Plutoniumlagerung von Deutschland initiiert werden, das in anderen Ländern – auch mit Plutonium aus der Abrüstung – übernommen werden könnte. Konkret vorstellbar wäre, daß das verbleibende deutsche Plutonium auf internationalisiertem Territorium gelagert wird, die physische Kontrolle an Personal der EURATOM oder IAEO abgegeben und der alleinige nationale Zugriff Deutschlands durch ein Zweischlüsselsystem aufgegeben wird.

Eine Verstärkung der Proliferationsresistenz muß nicht unbedingt im Rahmen der Cut-off-Verhandlungen in Genf geschehen. Deutschland könnte durch unilaterale Maßnahmen mit gutem Beispiel vorangehen. Weitreichender wäre sicherlich ein koordiniertes Vorgehen gemeinsam mit den anderen Ländern, die mit zivilem Plutonium umgehen oder dies von abgebrannten Brennelementen abtrennen. Eine gute Basis dafür bieten neben der Abrüstungskonferenz in Genf die in Wien seit drei Jahren geführten Verhandlungen unter dem Titel »Internationales Plutoniumregime«. Daran sind neben den fünf Kernwaffenstaaten die wichtigsten im zivilen Geschäft mit Plutonium engagierten Länder vertreten: Belgien, Deutschland, Japan und die Schweiz. Ziel dieser Verhandlungen ist es, gleiche Standards für die sichere Behandlung von Plutonium in denjenigen Staaten zu erreichen, die diesen Stoff nutzen oder produzieren. Insbesondere ist beabsichtigt, eine größere Transparenz über Plutoniummengen in der Öffentlichkeit zu schaffen und jährliche Plutoniumbilanzen herauszugeben. Bereits Anfang 1995 hatte sich die Bundesregierung gemeinsam mit sechs anderen Ländern darauf geeinigt.32 Mit der Verabschiedung eines Schlußdokuments zum Internationalen Plutoniumregime wird aber erst für Mitte 1997 gerechnet. Großbritannien veröffentlicht eine derartige Bilanz seit neun Jahren, Japan hat seine erstmals in einem »Weißbuch zur Atomenergie« am 25. November 1994 dargestellt und die USA haben im Februar 1996 eine Bilanz für die vergangenen 50 Jahre vorgelegt. Von deutscher Seite ist zu hören, daß eine eigene Plutoniumbilanz erst vorgelegt werden könne, wenn man sich auf einen Standard geeinigt habe. Dabei scheint eine wichtige Frage zu sein, auf welchem Niveau man die Zahlen rundet.

Im Rahmen der Wiener Gespräche werden auch Vorschläge zur Begrenzung der Produktion und Nutzung von Plutonium diskutiert. Von deutscher Seite wird dies zurückgewiesen. Mehr Zwänge könnten der kerntechnischen Industrie nicht auferlegt werden. Eine ähnlich bremsende Wirkung ging von Deutschland bei den Bemühungen der IAEO aus, im Rahmen des sogenannten 93+2 Programms die Safeguards-Maßnahmen zu effektivieren. Ein wichtiges Argument der Bundesregierung und anderer Länder mit starker Nuklearindustrie ist, daß sich die Kernwaffenländer mehr Kontrollen unterziehen müßten, bevor wieder die ohnehin bereits am meisten kontrollierten Länder noch stärker belastet werden. Dagegen ist zu halten, daß die zusätzlichen Belastungen nicht groß sind. Und natürlich ist dem beizupflichten, daß die Kernwaffenländer selber stärker kontrolliert werden müssen. Eine Möglichkeit dafür stellt das Abkommen zum Produktionsstopp von Waffenmaterialien dar, das bei der Abrüstungskonferenz in Genf verhandelt werden soll. Um mit dem genannten Argument gegen Verschärfung der Safeguards glaubhaft zu bleiben, sollte sich Deutschland in dieser Richtung stärker einbringen, was nicht nur aus Gründen der Bündnistreue schwerfällt, sondern insbesondere, solange der »Nuklearschirm« nicht aufgegeben ist.

Kriterien für die Erhöhung der Proliferationsresistenz

Als Kriterien für nationale Verzichtserklärungen und für einen internationalen Bann bezüglich Materialien und Technologien im zivilen Bereich werden vorgeschlagen:33

  • Beschränkungen für sensitive Nukleartechnologie und -materialien sollen nicht diskriminierend sein.
  • kein Umgang mit waffenfähigen Materialien, es sei denn innerhalb abgebrannter Brennelemente. Urananreicherung und – sofern als notwendig erachtet – Plutoniumseparation nur innerhalb internationaler Zentren und ohne die Möglichkeit des nationalen Zugriffs.
  • Bemühung um Nichtentstehung von waffenfähigem Material, auch nicht innerhalb internationaler Zentren.
  • sichere Lagerung abgebrannter Brennelemente, die waffenfähige Stoffe enthalten, nur innerhalb internationaler Zentren ohne nationale Zugriffsmöglichkeit.
  • Abbau der vorhandenen Vorräte an waffenfähigem Material, sofern dies technisch möglich und sinnvoll ist. Anderenfalls die Errichtung technischer Barrieren, die den Zugriff auf das Material erschweren.
  • Auslegung nationaler Nuklearprogramme so, daß waffenfähige Materialien weder genutzt werden können noch entstehen.

Konkrete Aufgaben für verschiedene Materialien

Plutonium:

  • Die Wiederaufarbeitung deutscher Brennelemente in ausländischen Anlagen sollte unverzüglich eingestellt werden. Plutonium sollte nicht mehr als Kernbrennstoff betrachtet werden, der nach dem Atomgesetz als Wertstoff zu verwerten ist, sondern es sollte als radioaktiver Abfall gelten.
  • Die Produktion von MOX-Brennelementen für deutsche Reaktoren im Ausland sollte eingestellt werden.
  • Es muß erforscht werden, ob und wie die direkte Entlagerung ggf. nach Verglasung des Plutoniums mit hochradioaktiven Abfällen möglich ist.34
  • Eine genaue Plutoniumbilanz von Deutschland muß veröffentlicht werden, um Spekulationen über heimliche Vorräte vorzubeugen.
  • Technologie für die Verwendung von Plutonium, insbesondere zur Fertigung von Mischoxid-Brennelementen soll nicht exportiert werden.
  • Das bei der Firma Siemens und im Bundesbunker in Hanau lagernde Plutonium sollte dem nationalen Zugriff entzogen werden. Ähnliches gilt für Plutonium, das sich noch in Abfällen in der stillgelegten Wiederaufarbeitungsanlage in Karlsruhe befindet. Radioaktive Abfälle mit signifikanten Mengen Plutonium, d.h. insbesondere abgebrannte Brennelemente, sollten ebenfalls dem nationalen Zugriff entzogen und einer internationalen physischen Kontrolle unterstellt werden.
  • Das im Ausland lagernde separierte Plutonium sollte einer internationalen Organisation zur Hinterlegung übergeben werden.

Hochangereichertes Uran:

  • Die wesentliche zivile Anwendung von hochangereichertem Uran stellt Brennstoff für Forschungsreaktoren dar. Seit Anfang der achtziger Jahre laufen internationale Bemühungen zur Reduzierung dieses Bedarfs. Der Bau des in Planung befindlichen neuen deutschen Forschungsreaktors FRM II in Garching wäre weltweit der erste Forschungsreaktor dieser Größenordnung, der seit Anfang der achtziger Jahre mit HEU als Brennstoff gebaut würde. Dies wäre das falsche Signal und ein Rückschlag für die internationalen Konversionsprogramme von HEU auf LEU.35
  • Mehrere deutsche Forschungsreaktoren arbeiten noch immer mit HEU, obwohl für die meisten bereits ein Konversionsprogramm entwickelt worden ist. Diese geplanten Umstellungen müssen zügig durchgeführt werden.36

Tritium:

  • Die größte Menge separierten Tritiums in Deutschland befindet sich im Tritiumlabor Karlsruhe (etwa 4 Gramm). Es unterliegt einer Überwachung durch die EURATOM. Die Überwachung sollte für die Öffentlichkeit transparenter durchgeführt und auf andere Tritiumbestände ausgeweitet werden.

Fazit

Einer der nächsten wichtigen Schritte auf dem Weg zu einer kernwaffenfreien Welt ist ein Bann auf kernwaffenfähige Materialien, um die nukleare Abrüstung unumkehrbar zu machen und um die Nichtverbreitung solider abzusichern. Die Aufgaben von Deutschland für diesen Schritt liegen im Bereich der zivilen Materialien. Da die weiteren Nutzungen von Plutonium und hochangereichertem Uran verzichtbar sind, könnte Deutschland international Zeichen setzen, mit unilateralen Maßnahmen voranschreiten und internationale Bemühungen maßgeblich unterstützen.

Dr. Martin B. Kalinowski ist wissenschaftlicher Mitarbeiter bei IANUS an der TH Darmstadt.

Anmerkungen

1) Rotblat, J. (1996): Eine atomwaffenfreie Welt: Phantasievorstellung oder Wirklichkeit?, in: Albrecht, U./Beisiegel, U./Braun, R./Buckel, W. (Hg.): Der Griff nach dem atomaren Feuer, Frankfurt, S.127-146. Zurück

2) Vgl. Liebert, W. (1995): Wege zur atomwaffenfreien Welt nach Verlängerung des Nichtverbreitungsvertrages, in: Sicherheit und Frieden 13.Jg., Nr.3, S.176-183. Zurück

3) Vergl. Liebert, W. (1995): Viel Wind um HEU <196> Die Kritik am neuen Garchinger Forschungsreaktor verstummt nicht, in: Wissenschaft und Frieden, 13.Jg., Nr.4, S.42-46. Zurück

4) Kollert, R. (1997): `Atoms for Peace', der politische Betrug <196> oder: Wie Regierungen in Westeuropa ihre militärisch orientierten Atomenergieprogramme tarnten, in: Liebert, W./Schmithals, F. (Hg.), Tschernobyl und kein Ende?, Münster. Zurück

5) Vgl. Kalinowski, M./Liebert, W (1994): Ambivalenz im Bereich nuklearer Forschung und Technologie, in: Liebert, W/Rilling, R./Scheffran, J. (Hg.), Die Janusköpfigkeit von Forschung und Technik. Zum Problem der zivil-militärischen Ambivalenz, Marburg, S. 163-179. Zurück

6) Vgl. Kalinowski, M./Liebert, W. (1997) Läßt sich die Kernenergienutzung gegen militärischen Gebrauch sichern?, in: Liebert, W./Schmithals, F. (Hg.), Tschernobyl und kein Ende?, Münster. Zurück

7) Vgl. Liebert, W. (1996): Nuklearwaffenkonvention aushandeln!, in: Schindler-Seafkow, B./Strutynski, P. (Hg.), Kriege beenden, Gewalt verhüten, Frieden gestalten, Kassel, S. 104-110. Zurück

8) Rotblat, J./Steinberger, J./Udgaonkar B. (Hg.), (1993): A Nuclear-Weapon-Free World <196> Desirable? Feasible?, Oxford: Westview Press. Liebert, W./.Scheffran, J. (Hg.), (1995): Against Proliferation <196> Towards General Disarmament, Münster. International Network of Engineers and Scientists Against Proliferation (INESAP),(1995): Document »Beyond the NPT: A Nuclear-Weapon-Free World«, New York/Darmstadt, 25. April 1995 (Deutsche Zusammenfassung in Wissenschaft und Frieden 13. Jg., Nr. 2/1995, S.102-106). Zurück

9) Carl Friedrich von Weizsäcker (1957): Die Verantwortung der Wissenschaft im Atomzeitalter, Göttingen. Zurück

10) Vgl. Metta Spencer (1995): »Political« Scientists. In: The Bulletin of the Atomic Scientists, July-August 1995, S. 62-68. Bernd W. Kubbig (1996): Kommunikatoren im Kalten Krieg: Die Pugwash-Konferenzen, die US-Sowjetische Studiengruppe und der ABM-Vertrag, HSFK-Report 6, Frankfurt/M. Zurück

11) Vgl. Corinna Hauswedell (1996): Friedenswissenschaften im Kalten Krieg, Friedensforschung und friedenswissenschaftliche Initiativen in der Bundesrepublik Deutschland in den achtziger Jahren, Dissertation, Hamburg. Zurück

12) Die NATO stationiert im Frieden in sieben Ländern Europas derzeit noch maximal 200 US-Atombomben des Typs B-61. In Krise oder Krieg kann diese Zahl vergrößert werden; zudem können seegestützte Marschflugkörper der NATO zugeordnet werden. Vgl. BASIC-BITS-Research Note 97.1, U.S.-NATO Nuclear Arsenals 1996-97, Berlin, 1997. Zurück

13) Zudem verlor Rußland bei der Auflösung der UdSSR viele seiner besten Waffen an die neuen unabhängigen Nachbarn. Laut NATO verblieben bei Rußland beispielsweise nur 37% der MIG-29 und 23% der SU-27-Kampflugzeuge (Spiegel 11/97.S.161). Zurück

14) Vgl. Carter, Ashton/Deutch, John (1997): No Nukes, Not Yet. In: Wall Street Journal 4.3.97 und Meier, Oliver/Nassauer, Otfried (1997): Next START by CART, BITS-Policy Paper 97.1, Berlin. Zurück

15) Der NATO-Vorschlag vom 20.2.1997 ist noch unzureichend, da er z.B. keine oder unzulängliche Angebote in den Bereichen Kampfflugzeuge, Kampfhubschrauber, Verstärkungskräfte und qualitative Rüstungskontrolle enthält. Zurück

16) Süddeutsche Zeitung, 5.10.1995: Das schreckliche Geheimnis der Risse. Zurück

17) Trust and Verify. The Bulletin of the Verification Technology Information Centre, No.60, September 1995, S.2. Zurück

18) Frankfurter Rundschau, 4.10.1995: Paris testet trotz Rissen im Atoll. Zurück

19) Hochstein, M.P./O'Sullivan, M.J. (1985): Geothermal systems created by underground nuclear testing, in: Proceedings of the 7th New Zealand Geothermal Workshop. Nach den Ergebnissen des Cousteau-Teams ist der Prozeß des Durchsickerns radioaktiver Substanzen sogar noch schneller, nämlich ab sechs Jahren! (IPPNW, 1995, S. 117) Zurück

20) Die Ergebnisse von Hochstein/O'Sullivan (1985) sind genauer zusammengefasst in: IPPNW, 1995, S. 116f. Zurück

21) Die Tageszeitung, 5.10.1995: Ende der atomaren Ignoranz. Zurück

22) Das »Information Bulletin« des internationalen Netzwerks der Ingenieure und Wissenschaftler gegen Proliferation gibt einen sehr guten Überblick über die gegenwärtigen und zukünftigen atomwaffenfreien Zonen der Welt, »Steps towards a nuclear-weapon-free world«, INESAP Information Bulletin, No. 10, August 1996. Zurück

23) Bericht des NGO Committee on Disarmament, UN General Assembly Disarmament Debates, November 1996, »Nuclear Weapon Free Zones«. Zurück

24) Die Palme-Kommission schlug 1982 eine 300 Kilometer breite entmilitarisierte Zone vor. Andere Vorschläge reichen bis 1957 zurück, als der polnische Außenminister Adam Rapacki eine atomwaffenfreie Zone bestehend aus der Tschechoslowakei, Polen, DDR und BRD vorschlug. Vorher schlugen Sir Anthony Eden (1955) und Hugh Gaitskell (1956) andere Zonen vor. Zurück

25) Auf der Konferenz zur Verlängerung und Überprüfung des Atomwaffensperrvertrages, New York 1995, Document NPT/Conf.1995/SR.3, p.3; auf der Abrüstungskonferenz, Genf, UN-Presseerklärung DC/96/40, Conference on Disarmament, 29.8.96. Zurück

26) »Czechs lift nuclear arms ban«, The Times, 22.8.96. Zurück

27) »Study on NATO Enlargement«, NATO, September 1995; »Intensified dialogue with interested partners on the enlargement study: Questions for partners«, NATO document, DPA(96) 346 (3rd revise), 4.4.96; »Czech Republic: Solana to E. Europe – NATO means shared nuclear role« Reuters News Service, 29.4.96. Zurück

28) Zum ersten Mal erwähnt bei einem Gespräch zwischen dem russischen Minister für Atomenergie Victor Michailow und Friedensnobelpreisträger Prof. Joseph Rotblat, März 1996; die Drohung wurde dem US-Außenminster William Perry bei seinem Besuch in Moskau Oktober 1996 wiederholt, »Moskau will START-II Vertrag nachverhandeln«, Berliner Zeitung, 16.10.96; »Falsche Signale aus Ost und West«, Tagespiegel, 18.10.96. Zurück

29) Aus einer Erklärung der norwegischen Regierung, Dezember 1960, Stortingsmeldung nr. 28, 1960-61, die später vom Parlament verabschiedet wurde. 1982 erklärte Außenminister Frydenlund im Parlament, daß Atomwaffen weder von den norwegischen Streitkräften eingesetzt werden könnten, noch könnten sie dafür trainiert werden. Das Konzept einer nordischen atomwaffenfreien Zone wurde erst vom finnischen Präsidenten Kekkonen 1963 vorgeschlagen. Zwanzig Jahre später verabschiedete das »Nordic Council« die Empfehlung, für die Einrichtung einer nordischen atomwaffenfreien Zone (Nordiska rådet, 43:e sessionen 1993, Mariehamn, p.778.). Zurück

30) Der Russiche Außenminister Primakov erklärte der OSZE, daß eine Nato-Osterweiterung gegen den 2+4-Vertrag verstoßen würde, weil die Auflösung des Warschauer Paktes abhängig von der Verpflichtung war, daß die NATO sich nicht erweitern würde. Zurück

31) Scheffran, J./Kalinowski, M. B./Liebert, W. (1997): Vom Urteil des Weltgerichtshofs zur Nuklearwaffenkonvention: Verhandlungen zur Abschaffung der Kernwaffen beginnen. In: Peter Becker (Hrsg.): Das Gutachten des Internationalen Gerichtshofs zur Legalität von Kernwaffen. Zurück

32) Nucleonics Week, 26. Januar 1995, Seite 5. Zurück

33) Kalinowski, M. B./Liebert, W. (1996): Proliferationsgefahren durch Nukleartechnologienutzung und Proliferationsresistenz als Auswahlkriterium für Energiesysteme. In: Bender, W. (Hrsg.): Verantwortbare Energieversorgung für die Zukunft. THD-Schriftenreihe Wissenschaft und Technik, Darmstadt. Zurück

34) Liebert, W. (1996): Plutoniumdebatte – vergraben, verMOXen, verglasen? In: Wissenschaft und Frieden, 14. Jg., Nr.2, S.60-66. Zurück

35) Liebert, W. (1995): Viel Wind um HEU – Die Kritik am neuen Garchinger Forschungsreaktor verstummt nicht. In: Wissenschaft und Frieden, 13.Jg., Nr.4, S.42-46. Zurück

36) Colschen, L./Kalinowski, M. B. (1991): Tritium. Ein Bombenstoff rückt ins Blickfeld von Nichtweiterverbreitung und nuklearer Abrüstung. In: Informationsdienst Wissenschaft und Frieden, 9. Jg., Heft 4, Seiten 10-14. Zurück

Dr. Wolfgang Liebert ist wissenschaftlicher Mitarbeiter bei IANUS an der TH Darmstadt.
Dr. Corinna Hauswedell, Historikerin, arbeitet am Bonn International Center for Conversion (BICC) und ist Vorsitzende der Informationsstelle Wissenschaft und Frieden (IWIF)
Otfried Nassauer leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS)
Steffen Rogalski, Diplompolitologe, Vorsitzender des Arbeitskreises für Friedenspolitik – Atomwaffenfreies Europa
Xanthe Hall arbeitet in der deutschen Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges / Ärzte in sozialer Verantwortung (IPPNW) in der Geschäftsführung mit Schwerpunkt Kampagnen.
Dr. Jürgen Scheffran ist wissenschaftlicher Assistent bei IANUS an der TH Darmstadt
Dr. Martin B. Kalinowski ist wissenschaftlicher Mitarbeiter bei IANUS an der TH Darmstadt.

Wissenschaftler für den Frieden

50 Jahre Göttinger Erklärung – 50 Jahre Pugwash-Konferenzen

Wissenschaftler für den Frieden

von Klaus Gottstein, Andreas Henneka, Martin Kalinowski, Götz Neuneck und Ulrike Wunderle

Herausgegeben von der Informationsstelle Wissenschaft und Frieden in Zusammenarbeit mit der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW)

zum Anfang | Remember your Humanity

50 Jahre Pugwash – 50 Jahre Göttinger Erklärung

von Götz Neuneck

Das Jahr 2007 markiert den 50. Jahrestag der Göttinger Erklärung und 50 Jahre Arbeit der »Pugwash Conferences on Science and World Affairs«, zwei Ereignisse an denen Naturwissenschaftler und Naturwissenschaftlerinnen in besonderer Weise beteiligt waren und die einen starken Einfluss auf nukleare Abrüstung und Rüstungskontrolle sowie die Beendigung des Wettrüstens der Supermächte hatten. Bereits im Juli 1955 hatten Bertrand Russell und Albert Einstein in ihrer später berühmt gewordenen Erklärung die Gemeinschaft der Wissenschaftler aufgefordert, sich angesichts des Wettrüstens und der globalen Kriegsgefahr mit Fragen der nuklearen Abrüstung zu beschäftigen. Die Wissenschaftler sollten sich „zur Aussprache zusammenfinden, um die Gefahren, die aufgrund der Entwicklung der Massenvernichtungsmittel entstanden sind, abzuschätzen“ und sie sollten Wege zur Konfliktbeilegung, Abschaffung der Nuklearwaffen und letztlich zur Beseitigung des Krieges an sich diskutieren und beschreiten.1 Dies war der Beginn weltweiter Initiativen, denen sich Naturwissenschaftler, aber später auch andere Berufszweige wie Mediziner oder Ingenieure, anschlossen. Naturwissenschaftler waren in besonderer Weise gefordert, da einige von ihnen selbst am Zustandekommen der Nuklearwaffen beteiligt waren und über das technische und institutionelle Wissen verfügten, um die Verbreitung und den Einsatz dieser monströsen Waffen zu verhindern bzw. die anwachsenden Arsenale abzurüsten. Wissenschaftler erfreuen sich zudem einer gewissen Reisefreiheit, sehen sich öfters bei Tagungen, sprechen oft eine gemeinsame Sprache und sind zu Objektivität, Humanität und Internationalität verpflichtet.

Das Russell-Einstein-Manifest warnte Regierungen und Öffentlichkeit vor den Gefahren des Einsatzes von Nuklearwaffen und stellte die Frage: „Sollen wir der Menschheit ein Ende setzen oder soll die Menschheit dem Krieg entsagen?“ Das Dokument verweist auf die Chancen und Gefahren, die der wissenschaftlich-technische Fortschritt für Krieg und Frieden mit sich bringt: „Vor uns liegt, wenn wir es wählen, stetiger Fortschritt in Glück, Wissen und Weisheit. Sollen wir statt dessen den Tod wählen, weil wir unseren Streit nicht vergessen können?“ Albert Einstein hatte noch wenige Tage vor seinem Tod am 18. April 1955 die Erklärung unterzeichnet, ebenso wie zehn bedeutende Wissenschaftler, darunter Max Born, Joseph Rotblat und Frédéric Joliot-Curie.2 Trotz aller Warnungen beschleunigte sich der Kalte Krieg: Wasserstoffbomben mit der tausendfachen Sprengkraft der Hiroshima-Bombe wurden entwickelt und ein Ressourcen verschleißendes Wettrüsten setzte ein, das in seinen immer gewaltigeren Dimensionen erst durch das Ende des Ost-West-Konfliktes 1989 gestoppt wurde. Seit dem Manifest aber wird der Aufruf »Scientists should assemble in conferences« durch Tagungen, Workshops und Treffen konkret in die Tat umgesetzt und wach gehalten.

Das Russell-Einstein-Manifest ist das Gründungsdokument der »Pugwash Conferences on Science and World Affairs«, bei denen schließlich im Juli 1957 zum ersten Mal Wissenschaftler in dem kleinen Fischerdörfchen in Neuschottland/Kanada zusammen kamen, um zu beraten, wie die durch das Russell-Einstein-Manifest vorgegebene Agenda umzusetzen sei. Das Treffen wurde durch einen kanadischen Großindustriellen ermöglicht. Joseph Rotblat spielte bei den Vorbereitungen eine wesentliche und treibende Rolle, wie auch in den darauf folgenden Jahrzehnten.3 Einige Tage diskutierten 22 hochrangige Wissenschaftler aus zehn Nationen in drei Arbeitsgruppen, darunter Leo Szilard, Victor Weisskopf, Alexander V. Topchiev und Hideki Yukawa.4 Die Themen des ersten Treffens waren die gesellschaftliche Verantwortung der Wissenschaftler, die Gefahren der Nuklearenergie und die Kontrolle der Nuklearwaffen.

Seit dem ersten Treffen kamen in über 320 international besetzten Konferenzen und Workshops renommierte und einflussreiche Wissenschaftler und Politikberater zusammen, um Beiträge zu Fragen der atomaren Bedrohung, zu bewaffneten Konflikten und Problemen der globalen Sicherheit zu leisten. »Pugwash International« veranstaltet neben Jahrestagungen verschiedene Workshops zu Themen wie der nuklearen Abrüstung, den B- und C-Waffen, regionalen Konflikten der Weiterverbreitung von Waffentechnologien und der sozialen Verantwortung der Naturwissenschaftler. Durch die vertiefte Behandlung des jeweiligen Themas, die Möglichkeit, vertraulich mit regierungsnahen Beratern und Politikern zusammenzutreffen gelang es oft, Dialoge in Gang zu setzen oder zumindest Verständnis für die unterschiedlichen Positionen zu wecken. Während des Kalten Krieges gelang es insbesondere, die Beratereliten der USA und der Sowjetunion zu vertraulichen Gesprächen zusammenzubringen. Jerome Wiesner, später Wissenschaftsberater unter John F. Kennedy und maßgeblich beteiligt am Zustandekommen des begrenzten Teststoppabkommen (1963), war ebenso Teilnehmer wie Hans Bethe, Isidor Rabi oder Freeman Dyson. Auch russischen Physikern wie Andrej Sacharow oder Jevgenij Velichov kommt ein großer Anteil an den rüstungskontrollpolitischen Fortschritten der letzten Jahrzehnte zu. Auf den Konferenzen wurden wichtige Beiträge zu Rüstungskontrollverträgen wie dem Raketenabwehrvertrag (ABM-Vertrag, 1972), den Kernteststoppverträgen (1963 und 1996) oder den Übereinkommen zur Begrenzung von B- und C-Waffen (1972 und 1993) sowie dem Vertrag über die konventionellen Streitkräfte in Europa (KSE, 1990) geleistet. Verfahrensvorschläge zur Verifikation von Rüstungskontrollabkommen wurden ebenso erarbeitet wie alternative Vorschläge zur strukturellen Nichtangriffsfähigkeit von Streitkräften. Herauszuheben sind auch die Bereiche Kriegsfolgen und internationale Sicherheit, strategische Analysen, Technologiefolgenabschätzung, Weiterverbreitung und Konversion. In diversen Monographien und Berichten wurden Wirkungen und Leistungen von Pugwash aufgearbeitet.5

Während sich die amerikanischen Kernphysiker auf internationaler Ebene zusammenschlossen, wandten sich 1956/57 die deutschen Atomphysiker zunächst an die eigene Regierung, später an die Öffentlichkeit.

Pugwash und die Göttinger Erklärung

Carl Friedrich von Weizsäcker beschrieb das Zustandekommen der Göttinger Erklärung6 so: „Im Herbst 1956 wurde uns deutschen Atomforschern klar, dass erste Vorbereitungen getroffen wurden, die Bundeswehr atomar auszurüsten.“ 7 Die deutschen Atomwissenschaftler schrieben im November 1956 einen Brief an Minister Franz-Josef Strauß, und am 29. Januar 1957 kam es zum Gespräch mit ihm. Der Minister hatte zuvor eine Atombewaffnung der europäischen NATO-Mitglieder befürwortetet, auch bestand die Gefahr, dass die Atomphysiker in militärische Forschungen hineingezogen würden. Für von Weizsäcker war außerdem die Gefahr der Weiterverbreitung von Atomwaffen in kleinere Staaten ein wichtiger Aspekt. Vor allem wurde den deutschen Wissenschaftlern klar, dass ein Abrüstungsappell alleine nicht ausreichen würde: „Deshalb mussten wir auch insbesondere öffentlich sagen, dass keiner von uns persönlich bereit wäre, Bomben zu machen, zu erproben oder anzuwenden.“ 8 Am 12. April 1957 forderten die »Göttinger 18« auf Initiative von Carl Friedrich von Weizsäcker und Werner Heisenberg in der »Göttinger Erklärung« den Verzicht der Bundesrepublik Deutschland auf Atomwaffenbesitz. (Siehe Beitrag von Martin Kalinowski). Die Unterzeichner erklärten auch ihre Entschlossenheit, sich nicht „an der Herstellung, der Erprobung oder dem Einsatz von Atomwaffen in irgendeiner Weise zu beteiligen.“ Ihre Motivation bezogen die Physiker aus der Tragweite ihrer eigenen Forschung und der Wirkung einer Atomwaffenexplosion. Als sicher darf gelten, dass die Erfahrungen im »Dritten Reich« einen wichtigen Hintergrund für die öffentlich ausgesprochene Verweigerung darstellten. Eine eigene nukleare Bewaffnung der Bundeswehr war, nachdem sich die führenden Kernphysiker für solche Zwecke öffentlich verweigert hatten, extrem schwierig geworden. Die Erklärung hatte eine weit reichende innenpolitische Wirkung aber auch internationale Reaktionen zur Folge.9 Die Debatte über die Nuklearbewaffnung und ihre Konsequenzen für Deutschland und Europa sollte bis in die 1980er Jahre andauern.

Die deutschen Pugwash-Aktivitäten

Zwischen der sich formierenden Pugwash-Bewegung und der Gruppe der »Göttinger 18« kam es zu intensiven Kontakten.10 Von Weizsäcker reiste im März/April 1958 in die USA, nach Kanada und England, um u.a. an der zweiten Pugwash-Konferenz in Lac Beauport bei Quebec teilzunehmen. Hier wurde er im Kreise international tätiger Wissenschaftler mit neuen Ideen zu Abrüstung und Rüstungskontrolle (Arms Control) konfrontiert. Ergebnis dieser Reise ist der mehrteilige Aufsatz »Mit der Bombe leben«, der im Mai 1958 in der Wochenzeitschrift »Die Zeit« veröffentlicht wurde. Wichtige Ideen zur Abrüstung wie die Abschaffung der Atomwaffen oder Vorschläge zur Rüstungskontrolle wie das Nukleartestverbot, die Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen oder die Verifikation wurden in einen längerfristigen, politischen Kontext gesetzt und in die deutsche Debatte eingeführt. Am 1. Oktober 1959 wurde zudem nach dem Vorbild der »Federation of American Scientists« die »Vereinigung Deutscher Wissenschaftler« (VDW) gegründet. An der deutlich größeren und mehr an die Öffentlichkeit gerichteten dritten Pugwash-Konferenz in Kitzbühl und Wien nahm neben westdeutschen Wissenschaftlern wie Max Born, Helmut Burkhardt und Werner Kliefoth auch zum ersten mal ein ostdeutscher Vertreter, der Sekretär der Akademie der Wissenschaften der DDR Günter Rienäcker, teil. Offiziell wurde die Pugwash-Gruppe der DDR 1963 gegründet und bei der Akademie der Wissenschaften angesiedelt, entsprechend kam es in den Folgejahren am Rande von Pugwash-Konferenzen immer wieder zu Kontakten zwischen west- und ostdeutschen Wissenschaftlern. Schon in dieser Anfangsphase lassen sich unterschiedliche Orientierungen in der Arbeit der Pugwash-Gruppen ausmachen: Die eher »regierungsnahe« Linie wurde vor allem von v. Weizsäcker, Heisenberg und der Mehrheit der »Göttinger 18« vertreten. Sie wollten ihre politische Unabhängigkeit als Wissenschaftler wahren und eher als beratende Experten für eine Verbesserung der internationalen Beziehungen wirken. Die stärker »öffentliche« Linie, wie sie von Born, Burkhardt und Kliefoth vertreten wurde, setzte stärker darauf, die öffentliche Meinung durch entschiedenes Auftreten zu beeinflussen und so politischen Druck für abrüstungs- und friedenspolitische Initiativen zu entwickeln. Ohne die Kombination von öffentlichem Druck und tiefgehender technischer Analyse wären sicher viele Abrüstungsentwicklungen, die sich nach einiger Zeit durchgesetzt haben, nicht möglich gewesen.

In den 1960 und 1970er Jahren wurden in der neu gegründeten Hamburger VDW-Forschungsstelle wichtige Studien veröffentlicht, so das Memorandum »Ziviler Bevölkerungsschutz« (1962) oder die Studie »Kriegsfolgen und Kriegsverhütung« (1971), die erstmalig mit systemanalytischen Methoden arbeitete. Das Ergebnis war eindeutig: Im Falle eines Atomkrieges auf deutschem Boden würde das zerstört, was eigentlich geschützt werden soll: das Territorium Deutschlands. Aus diesen Arbeiten entsprangen später weitere sicherheitspolitische Arbeiten des 1970 gegründeten »Starnberger Institutes zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt«, deren Direktor von Weizsäcker zwischen 1970 und 1980 war.

In Deutschland bildeten die Göttinger Erklärung und die Starnberger Arbeiten immer wieder den Bezugspunkt für Wissenschaftler, auf dem Gebiet der atomaren Abrüstung und der Rüstungskontrolle aktiv zu werden. Im Jahr 1983 wurde von 23 Naturwissenschaftlern und Ärzten der Mainzer Appell »Verantwortung für den Frieden« beschlossen, der auf die Folgen eines Atomkrieges in Europa, die Beschleunigung des Wettrüstens durch neue Waffentechnologien und die daraus entstehenden ökonomischen Folgen hinwies. Die »Naturwissenschaftler-Initiative« hat in den Zeiten des so genannten Nachrüstungsbeschlusses durch Kongresse wichtige Beiträge zu gesellschaftlicher Aufklärung geleistet und eine wesentliche Rolle in der Friedensbewegung gespielt.

In den Jahren nach Gründung der VDW wurden die Pugwash-Aktivitäten in der Bundesrepublik vor allem durch VDW-Mitglieder wie Horst Afheldt, Helmut Glubrecht, Siegfried Penselin, Klaus Gottstein (siehe seinen Beitrag in diesem Dossier) oder Hans-Peter Dürr weiter betrieben. In Westdeutschland wurden acht Workshops und zwei Jahrestagungen (München 1977; Berlin 1992) veranstaltet. In der DDR fand der erste Workshop 1971 in Leipzig statt, drei weitere folgten, insbesondere zur C-Waffenproblematik. Vor allem Hans-Peter Dürr, seinen Mitarbeitern und der Workshop-Serie »Conventional Forces in Europe« gelang es Mitte der 1980er Jahre, wesentliche Beiträge zur Beendigung der konventionellen Überrüstung in Europa zu leisten, indem das von der Starnberger Gruppe entwickelte Konzept der strukturellen Nichtangriffsfähigkeit von Präsident Michail Gorbatschow aufgegriffen und neue Stabilitätskriterien zur Grundlage für konventionelle Abrüstungsinitiativen wurden. Der Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) ist im Wesentlichen durch die Bereitschaft konventioneller Abrüstung durch den Warschauer Pakt und einen neuen Abrüstungsrahmen zustande gekommen. Er half einen Rahmen für die Umbrüche in Osteuropa zu kreieren. Pugwash erhielt 1995 gemeinsam mit Joseph Rotblat den Friedensnobelpreis »für ihre Bemühungen, den Anteil, den Atomwaffen in der internationalen Politik spielen, zu verringern und längerfristig diese Waffen zu eliminieren.“ Es ist sofort einsichtig, dass diese Mission nur zum Teil umgesetzt wurde. Hervorgehoben wurde in Oslo aber auch die »Pugwash-Methode«: „Sie brachten Wissenschaftler und Entscheidungsträger zusammen, um jenseits politischer Trennungen durch konstruktive Vorschläge die nukleare Gefahr zu reduzieren.“11 Angesichts tief liegender Konflikte u.a. im Mittleren Osten oder Asien, die zu einem Nuklearwaffeneinsatz führen können, ist die Pugwash-Methode weiterhin gefragt.

Die Pugwash-Bewegung heute

Liest man also die erwähnten Dokumente genau, stellt man fest, dass viele Forderungen bis heute nicht vollständig umgesetzt sind. Michail Gorbatschow stellte in seinem Statement zum 50. Pugwash Jubiläum fest: »Wir benötigen eine intellektuelle Grundlage für Abkommen, die drastisch die Nuklearwaffenarsenale auf dem Weg zu ihrer vollständigen Eliminierung reduzieren und einen Rüstungswettlauf im All verhindern.»12 50 Jahre nach dem ersten historischen Treffen wurde bei einer Zusammenkunft von 25 internationalen Wissenschaftlern in Pugwash eine Erklärung verabschiedet, die deutlich aufzeigt, dass die Gefahren nuklearer Zerstörung keinesfalls gebannt sind: »Wenn Nuklearwaffen existieren, werden sie eines Tages auch eingesetzt werden“, so der Tenor des Workshops, an dem auch Hiroshimas Bürgermeister Tadatoshi Akiba teilnahm. Vor dem Hintergrund der Krise des Nichtverbreitungsvertrages, eines möglichen Einsatzes von Nuklearwaffen durch Terroristen und übervoller Nukleararsenale (ca. 27.000 Nuklearwaffen) fordern die Teilnehmer eine „Wiederbelebung der Kampagne, die sich dafür einsetzt, Nuklearwaffen als »illegal und unmoralisch« einzustufen und sie zu reduzieren bzw. endgültig abzuschaffen«. Sie schlagen den Politikern u.a. folgende konkrete Schritte vor:13

  • sofortiges »De-alerting«, d.h. Rückstufung der Alarmbereitschaft tausender Nuklearwaffen und Aufbau wirksamer Frühwarnsysteme,
  • offizielle Erklärung, Nuklearwaffen nicht als erste einzusetzen (»No First Use«), und verbindliche Abgabe von »negativen Sicherheitsgarantien« durch die Nuklearwaffenstaaten,
  • unverzügliche Wiederaufnahme von Verhandlungen zwischen den USA und Russland zur Abrüstung auf 1.000 oder weniger Nuklearwaffen,
  • verstärkte Bemühung zur Vernichtung überflüssigen Nuklearmaterials und Beginn von Verhandlungen zu einem globalen Verbot der Produktion von Spaltmaterialien,
  • vollständiges Verbot von Weltraumwaffen,
  • politisches Übereinkommen der NATO, die US-Atomwaffen aus Europa abzuziehen,
  • volle Finanzierung und Implementierung des umfassenden Teststoppvertrages schon vor seinem offiziellen Inkrafttreten und
  • die Zustimmung aller Staaten für die vollständige Abschaffung aller Atomwaffen durch ein multilateral verifizierbares Instrument wie eine »Nuklearwaffenkonvention«.

Nach Meinung der Teilnehmer kann nur aufeinander abgestimmter politischer Wille und öffentlicher Druck „die unvermeidbare Katastrophe“ eines Nuklearwaffeneinsatzes verhindern.

Schwerpunkt der Pugwash-Aktivitäten war in den vergangenen fünf Jahren insbesondere der Mittlere Osten und Südasien. Neue Anstrengungen durch Workshops, Dialogprojekte und öffentliche Aufklärung sind nötig, um die Agenda, die das Russell-Einstein-Manifest und die Göttinger Erklärung gesetzt haben, in die Tat umzusetzen.

Prof. Dr. Götz Neuneck ist Leiter des Interdisziplinären Forschungsgruppe Abrüstung, Rüstungskontrolle und Risikotechnologien (IFAR²) am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik (IFSH) an der Universität Hamburg, Mitglied des Pugwash Councils und Deutscher Pugwash-Beauftragter der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW).

zum Anfang | 50 Jahre nach der Göttinger Erklärung

Nukleare Nichtverbreitung in Deutschland

von Martin Kalinowski

Die Göttinger Erklärung von 1957 war ein Meilenstein in der öffentlichen Wahrnehmung von Verantwortung durch Naturwissenschaftler, und sie wird als ein Startpunkt für die Bürgerbewegung gegen Kernwaffen wahrgenommen, denn ein Jahr nach ihrer Publikation bildete sich die Bewegung »Kampf dem Atomtod«. Die Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW), die 1959 gegründet wurde, sieht in der Göttinger Erklärung ihren Ausgangspunkt und hat sich deren Thematik zu eigen gemacht.

Die NATO begann Mitte der 50er Jahre unter dem Stichwort »Umrüstung« die Ausrüstung ihrer in Europa stationierten Soldaten mit so genannten taktischen Kernwaffen. Deutsche Politiker sahen die Notwendigkeit, dass sich Deutschland der geplanten Stationierung von taktischen Kernwaffen in europäischen Mitgliedstaaten der NATO anschließen müsse.

Der zweite und dritte Absatz der Göttinger Erklärung stellen einige Fakten richtig, die von interessierter Seite oft falsch dargestellt wurden. Der Verharmlosung taktischer Kernwaffen wird mit einer Beschreibung ihrer zerstörenden Wirkung entgegen gewirkt. Dann wird verdeutlicht, dass ein Schutz großer Bevölkerungszahlen vor der von Kernwaffen verbreiteten Radioaktivität nicht möglich wäre. Die Fragen um die Folgen eines Kernwaffeneinsatzes und die begrenzten Möglichkeiten für Zivilschutz, aber auch die Kernenergienutzung und die Verantwortung der Wissenschaftler im Allgemeinen wurden später in detaillierten wissenschaftlichen Studien untersucht, die Carl Friedrich von Weizsäcker1 und die VDW2 durchgeführt und publiziert haben.

Die politischen Aussagen sind der »unerhörte« Teil des Textes. Hier wagen es Wissenschaftler, Aussagen außerhalb ihres fachlichen Kompetenzgebietes zu machen. Für diese mutige Grenzüberschreitung wurden sie heftig angefeindet. Gerade damit haben sie aber ihre gesellschaftliche Verantwortung ernst genommen und eine Forderung aus den vorher genannten Fakten abgeleitet. Sie beschränken sich auf eine explizite Forderung, die sie bewusst auf das eigene Land beschränken: Deutschland soll „ausdrücklich und freiwillig auf den Besitz von Atomwaffen jeder Art verzichten.“

Die Erklärung enthält aber noch eine zweite bemerkenswerte politische Aussage: „Wir leugnen nicht, dass die gegenseitige Angst vor den Wasserstoffbomben heute einen wesentlichen Beitrag zur Erhaltung des Friedens in der ganzen Welt und der Erhaltung der Freiheit in einem Teil der Welt leistet.“ Damit werden die Abschreckungsdoktrin und die dafür bereit gestellten Kernwaffen grundsätzlich positiv bewertet. Die Erklärung hat also einen Doppelcharakter, da zum einen Kernwaffen in deutschem Besitz abgelehnt werden, andererseits die strategischen Kernwaffen befürwortet werden. Der Zuspruch wurde jedoch im unmittelbar folgenden Satz relativiert: „Wir halten aber diese Art, den Frieden und die Freiheit zu sichern, auf die Dauer für unzuverlässig, und wir halten die Gefahr im Falle des Versagens für tödlich.»

Die Erklärung enthält am Ende eine weitere Forderung, nämlich „die friedliche Verwendung der Atomenergie mit allen Mitteln zu fördern.“ Mit diesem Satz gewinnt der Text eine zweite Ambivalenz, die mit der zivil-militärischen Doppelverwendbarkeit von nuklearen Materialien und den zu ihrer Produktion geeigneten Technologien zusammen hängt.

Der dritte Bestandteil der Göttinger Erklärung ist die darin enthaltene Selbstverpflichtung: „Jedenfalls wäre keiner der Unterzeichnenden bereit, sich an der Herstellung, der Erprobung oder dem Einsatz von Atomwaffen in irgendeiner Weise zu beteiligen.“ Dieser freiwillige Verzicht verlieh der Erklärung eine besondere Glaubwürdigkeit. Mit ihrer persönlichen Gewissensentscheidung stellen sich die Kernphysiker als Vorbilder für eine politische Entscheidung gegen Kernwaffen dar.

Die Selbstverpflichtung wurde eingehalten. Die zivile Nutzung der Kernenergie wurde umfangreich realisiert, jedoch später wieder zurück gefahren. Deutschland unterzeichnete den Nichtverbreitungsvertrag und gelangte nicht in den Besitz eigener Kernwaffen. Aber taktische Kernwaffen der NATO-Partner USA und Großbritannien wurden in Westdeutschland stationiert, und unser Land wurde im Rahmen der nuklearen Teilhabe in deren Einsatz mit einbezogen. Man musste davon ausgehen, dass Deutschland in einem nuklear geführten Krieg weitgehend zerstört und radioaktiv verseucht würde.

Nach dem Ende des Kalten Krieges zogen Großbritannien und Russland alle Kernwaffen aus Deutschland wieder ab, die USA hält noch heute geschätzte 20 Kernwaffen in unserem Land am Standort Büchel stationiert. Ramstein und Nörvenich sind nach wie vor bereit, Kernwaffen jederzeit wieder aufzunehmen. Im Falle eines Einsatzes würden diese Kernwaffen auch mit Trägersystemen der Bundeswehr, den Tornados, und von deutschen Piloten ins Ziel gebracht. Die Piloten werden auch in Friedenszeiten dafür ausgebildet. Deutschland wird im Rahmen der nuklearen Planungsgruppe in die Entscheidungsprozesse einbezogen. Nur die Kernwaffen selbst sowie die Kontrolle über deren Zündung verbleibt bei den US-Streitkräften.

Dass es keinen dritten Weltkrieg gab und dass nach Hiroshima und Nagasaki keine Kernwaffen im Krieg mehr eingesetzt wurden, ist kein Beweis für die These, dass die nukleare Abschreckung funktioniert und den Frieden garantiert hat.

Dem Rechtsgutachten des Internationalen Gerichtshofes (IGH) in Den Haag von 1996 zufolge ist der Einsatz von und sogar die Drohung mit Kernwaffen völkerrechtswidrig.3 Mit jeder Stationierung ist die Drohung eines Einsatzes verbunden. Damit ist auch die nukleare Teilhabe Deutschlands nicht mit dem Völkerrecht vereinbar.

Schon Adenauer hat darauf hingewiesen, dass Deutschland keinen Alleingang durchführen könne. Auch heute können die in Deutschland lagernden Kernwaffen nicht isoliert betrachtet werden. Die Standardantwort der Bundesregierung auf die Aufforderung, die US-Kernwaffen abziehen zu lassen, bezieht sich auf die NATO-Verpflichtungen: „Am 20. April 1999 wurde das Strategische Konzept der NATO von den Staats- und Regierungschefs der NATO-Mitgliedstaaten verabschiedet. Es enthält eine umfassende Darstellung der Bündnisstrategie, die alle Bündnispartner bindet und die auch von der Bundesregierung ohne Einschränkung mitgetragen wird.“4

Heute dürfte sich eine Göttinger Erklärung diesen internationalen Verknüpfungen gegenüber nicht entziehen und müsste die Forderung nach Abrüstung der Kernwaffen auf alle Länder beziehen, die Kernwaffen besitzen. Sie dürfte allerdings auch nicht zulassen, dass sich die Bundesregierung hinter den Bündnisverpflichtungen versteckt. Es macht durchaus Sinn, im Alleingang mit gutem Beispiel voran zu gehen, so wie Griechenland das vor einigen Jahren bereits erfolgreich getan hat.

Die Selbstverpflichtung in der Göttinger Erklärung ist sehr kräftig formuliert: „Jedenfalls wäre keiner der Unterzeichnenden bereit, sich an der Herstellung, der Erprobung oder dem Einsatz von Atomwaffen in irgendeiner Weise zu beteiligen.“ Gleichzeitig wird in der Erklärung betont, „dass es äußerst wichtig ist, die friedliche Verwendung der Atomenergie mit allen Mitteln zu fördern.“

Diese beiden Forderungen sind nicht miteinander vereinbar. Aufgrund der Doppelverwendbarkeit (dual use) von Kernmaterialien und -technik für zivile und militärische Zwecke kann es nicht gelingen, eine nukleare Proliferation zu verhindern, wenn man die zivilen Anwendungen uneingeschränkt mit allen Mitteln betreibt. Die zivile und militärische Verwendbarkeit der Kerntechnik sind nicht trennbar. Dieser Umstand wird gegenwärtig am eskalierenden Streit um das vorgeblich rein zivile Nuklearprogramm des Iran deutlich.

Aufgrund der vorstehenden Betrachtungen zur zweifachen Ambivalenz der Göttinger Erklärung soll nun skizziert werden, welcher Aufklärungsbedarf und welche politischen Forderungen heute von einer Erklärung thematisiert werden müssten, die sich in der Tradition der Göttinger 18 sieht und einen Doppelcharakter vermeiden will.

Ganz im Sinne von Carl Friedrich von Weizsäcker wird heutzutage von engagierten Naturwissenschaftlern nicht nur Aufklärung geleistet, sondern auch naturwissenschaftlich orientierte Friedensforschung betrieben.5 Als konkrete und aktuelle Themen können genannt werden:

  • Fehlende Transparenz über die Menge deutscher Plutoniumbestände und die offene Frage, ob diese angesichts der vorgesehenen Restlaufzeiten der Kernkraftwerke noch vollständig in Form von MOX-Brennelementen bestrahlt und damit einem direkten Zugriff für Waffenzwecke entzogen werden können.
  • Umrüstbarkeit des Münchener Forschungsreaktors FRM II von hoch angereichertem Uran (HEU) auf nicht waffenfähigen niedrig angereicherten Brennstoff (LEU). Die Konzepte dafür liegen vor und die politischen Vorgaben erfordern die Umstellung. Nur die Realisierung ist nach wie vor fraglich..
  • Die Modernisierungen der Arsenale der fünf anerkannten Kernwaffenstaaten; insbesondere sei auf die immer wieder in den USA ins Gespräch gebrachten so genannten »mini nukes« hingewiesen.
  • Die aktuellen Gefahren von Kernwaffen, beispielsweise die Risiken eines Nuklearkrieges »aus Versehen« aufgrund der nach wie vor aufrecht erhaltenen Alarmbereitschaft; auch das Szenario eines »nuklearen Winters« ist aufgrund des Umfangs der nuklearen Arsenale sogar bei einem begrenzten regionalen Nuklearkrieg immer noch möglich.
  • Wenn es bei der Abrüstungskonferenz in Genf endlich zu Verhandlungen über einen Produktionsstopp für Kernwaffenmaterialien (Fissile Materials Cut-off Treaty, FMCT) kommen sollte, entsteht Bedarf an Informationen über die Verifizierbarkeit und den notwendigen Umfang des Verbotes.
  • Neue technische Mittel zur Entdeckung von heimlichen Nuklearaktivitäten.
  • Proliferationsgefahren neuer Nukleartechnologien wie Spallationsneutronenquellen und Fusionsreaktoren.
  • Die technischen Probleme von neuen Raketenabwehrsystemen: Einerseits funktionieren sie nicht effektiv und andererseits bringen sie neue Risiken mit sich.
  • Die Gefahren eines Wettrüstens im Weltraum.

Die konkreten politischen Forderungen, die heute zu stellen wären, sind vor allem,

  • den Abzug der US-Kernwaffen aus Deutschland zu veranlassen und
  • den Forschungsreaktor FRM II umzurüsten auf niedrig angereichertes Uran.

Mit der Erfüllung der ersten Forderung würde Deutschland zur Abrüstung von Kernwaffen einen Beitrag leisten, mit der zweiten Forderung würde sich Deutschland wieder einreihen in die internationale Norm zur Nichtverbreitung durch eine Minimierung der zivilen Bestände von kernwaffenfähigen Materialien.

Von grundsätzlicherer Art wären zwei Zielsetzungen. Die erste bezieht sich auf die nukleare Abrüstung, die zweite reagiert auf die zivil-militärische Doppelverwendbarkeit von Nukleartechnik und nuklearen Materialien.

Die völkerrechtliche Verpflichtung, Kernwaffen abzurüsten, muss baldmöglichst umgesetzt werden. Die deutsche Außenpolitik sollte sich dafür einsetzen, dass Verhandlungen zu einer Nuklearwaffenkonvention begonnen werden.6 Konkrete Schritte in diese Richtung sind

  • das Inkrafttreten des Umfassenden Kernwaffenteststoppvertrages,
  • Verhandlungen über ein Verbot zur Produktion von nuklearen Kernwaffenmaterialien,
  • tiefe Einschnitte in nukleare Arsenale,
  • Abschalten der Alarmbereitschaft von Kernwaffen,
  • verbindliche Erklärungen zum Nicht-Ersteinsatz,
  • Verzicht auf Raketenabwehrsysteme
  • und die Schaffung weiterer kernwaffenfreier Zonen.

Mit der somit zunehmenden Marginalisierung von Kernwaffen kann der Boden bereitet werden für die Abschaffung dieser Massenvernichtungswaffen.

Die Proliferationsrisiken sollten bei der Diskussion über die zukünftige Nutzung von Kernenergie zur Sicherung des zukünftigen Energiebedarfs und zur Reduktion der CO2-Emissionen ernsthaft bedacht werden. Zur Minimierung dieser Risiken gibt es das Konzept der Proliferationsresistenz. Die sicherste Methode ist die Vermeidung von kernwaffenfähigen Materialien. Insbesondere bedeutet dies den Verzicht auf die Nutzung von Plutonium. Bei einer längerfristigen Nutzung von Kernenergie und einer Ausweitung der derzeitigen Kapazitäten würde man jedoch nicht ohne die Produktion von Plutonium in Schnellen Brütern auskommen. Durch die dann deutlich umfangreicher werdende Plutoniumwirtschaft würden die Risiken erheblich steigen. Die damit verbundenen größeren Vorräte an Kernwaffenmaterial, die vielen involvierten Anlagen und die zahlreichen Transporte würden die Risiken von Proliferation, Nuklearschmuggel und möglichen Zugriff durch Terroristen drastisch erhöhen.

Dr. Martin B. Kalinowski ist Kernphysiker und Friedensforscher. Er ist seit März 2006 Carl-Friedrich von Weizsäcker-Professor für Naturwissenschaft und Friedensforschung und Leiter des gleichnamigen Zentrums an der Universität Hamburg. Zuvor war er sieben Jahre bei der Teststoppvertragsorganisation in Wien und zehn Jahre bei IANUS an der TU Darmstadt tätig.
Dieser Text basiert auf einem Vortrag, den der Autor auf der Festveranstaltung von VDW und IALANA zum 50. Jahrestag der Göttinger Erklärung am 14. April 2007 in Berlin gehalten hat.

Weitere Informationen zur Pugwash Bewegung

  • Reiner Braun, Robert Hinde, David Krieger, Harold Kroto, Sally Milne (Editors): Joseph Rotblat – Visionary for Peace, John Wiley, Mai 2007. In dem englischsprachigen Buch »Joseph Rotblat – Visionary for Peace« beschäftigen sich prominente Autoren wie Martin Rees, Michail Gorbachow, Jack Steinberger, Mohamed ElBaradei, Paul J. Crutzen, und Mairead Corrigan mit Wirken, Leben und Thesen des britischen Physikers und Friedensnobelpreisträgers Sir Joseph Rotblat (1908-2005), der als einziger Wissenschaftler aus moralischen Gründen das Manhattan-Projekt zur Fertigung der ersten Nuklearwaffen verlassen hatte und zu einem der profiliertesten Kritiker des nuklearen Wettrüstens wurde. Rotblat war ein entscheidender Gründer der Pugwash Konferenzen.
  • Götz Neuneck/Michael Schaaf (Hrsg.): Zur Geschichte der Pugwash-Bewegung in Deutschland, Preprint 332, Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, 2007, 93 Seiten. Die Geschichte der deutschen Pugwash-Gruppe wurde im Rahmen eines Symposiums der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW) am 24. Februar 2006 im Harnack-Haus durch Vorträge beleuchtet. Die Vorträge von D. Hoffmann, K. Gottstein, U. Wunderle, Götz Neuneck u.a. wurden in dem Tagungsband zusammengefasst, der im Rahmen der Preprint Reihe des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte Nr. 332 erschienen ist. Er kann unter folgender Internet-Adresse als PDF-Version geladen werden: http://www.mpiwg-berlin.mpg.de/Preprints/P332.PDF
  • Waging Peace. The Story of Joseph Rotblat and 50 Years of the Pugwash Conferences on Science and World Affairs, DVD von Hero´s Stone Productions in association with The Pugwash Conferences on Science and World Affairs, 2007. 21 Minuten, PAL-Version. Der Film erzählt in Rückblenden, Interviews und Dokumentaraufnahmen die Geschichte von Pugwash und Joseph Rotblat, dem Mitgründer von Pugwash und späteren Friedensnobelpreisträger. Die DVD kann gegen eine Spende bei G. Neuneck, c/o IFSH, Beim Schlump 83, 20144 Hamburg, bestellt werden. Das Video ist auch als Podcast auf dem Internet zugänglich: http://www.pugwash.org/media/wage.htm.
  • Wichtige Internet-Adressen zu Pugwash Internationale Homepage mit vielen Materialien und aktuellen Nachrichten: http://www.pugwash.org. Homepage der Deutschen Gruppe: http://www.pugwash.de

Kontakt: Prof. Dr. Götz Neuneck · c/o IFSH Beim Schlump 83, D-20144 Hamburg · neuneck@ifsh.de

Atomwissenschaftler gegen deutsche A-Bombe

Die Göttinger Erklärung von 1957

Die Pläne einer atomaren Bewaffnung der Bundeswehr erfüllen die unterzeichnenden Atomforscher mit tiefer Sorge. Einige von ihnen haben den zuständigen Bundesministern ihre Bedenken schon vor mehreren Monaten mitgeteilt. Heute ist eine Debatte über diese Frage allgemein geworden. Die Unterzeichnenden fühlen sich daher verpflichtet, öffentlich auf einige Tatsachen hinzuweisen, die alle Fachleute wissen, die aber der Öffentlichkeit noch nicht hinreichend bekannt zu sein scheinen.

1. Taktische Atomwaffen haben die zerstörende Wirkung normaler Atombomben. Als »taktisch« bezeichnet man sie, um auszudrücken, dass sie nicht nur gegen menschliche Siedlungen, sondern auch gegen Truppen im Erdkampf eingesetzt werden sollen. Jede einzelne taktische Atombombe oder -granate hat eine ähnliche Wirkung wie die erste Atombombe, die Hiroshima zerstört hat. Da die taktischen Atomwaffen heute in großer Zahl vorhanden sind, würde ihre zerstörende Wirkung im ganzen sehr viel größer sein. Als »klein« bezeichnet man diese Bomben nur im Vergleich zur Wirkung der inzwischen entwickelten »strategischen« Bomben, vor allem der Wasserstoffbomben.

2. Für die Entwicklungsmöglichkeit der lebensausrottenden Wirkung der strategischen Atomwaffen ist keine natürliche Grenze bekannt. Heute kann eine taktische Atombombe eine kleinere Stadt zerstören, eine Wasserstoffbombe aber einen Landstrich von der Größe des Ruhrgebietes zeitweilig unbewohnbar machen. Durch Verbreitung von Radioaktivität könnte man mit Wasserstoffbomben die Bevölkerung der Bundesrepublik wahrscheinlich schon heute ausrotten. Wir kennen keine technische Möglichkeit, große Bevölkerungsmengen vor dieser Gefahr sicher zu schützen.

Wir wissen, wie schwer es ist, aus diesen Tatsachen die politischen Konsequenzen zu ziehen. Uns als Nichtpolitikern wird man die Berechtigung dazu abstreiten wollen; unsere Tätigkeit, die der reinen Wissenschaft und ihrer Anwendung gilt und bei der wir viele junge Menschen unserem Gebiet zuführen, belädt uns aber mit einer Verantwortung für die möglichen Folgen dieser Tätigkeit. Deshalb können wir nicht zu allen politischen Fragen schweigen. Wir bekennen uns zur Freiheit, wie sie heute die westliche Welt gegen den Kommunismus vertritt. Wir leugnen nicht, dass die gegenseitige Angst vor den Wasserstoffbomben heute einen wesentlichen Beitrag zur Erhaltung des Friedens in der ganzen Welt und der Freiheit in einem Teil der Welt leistet. Wir halten aber diese Art, den Frieden und die Freiheit zu sichern, auf die Dauer für unzuverlässig, und wir halten die Gefahr im Falle des Versagens für tödlich. Wir fühlen keine Kompetenz, konkrete Vorschläge für die Politik der Großmächte zu machen. Für ein kleines Land wie die Bundesrepublik glauben wir, dass es sich heute noch am besten schützt und den Weltfrieden noch am ehesten fördert, wenn es ausdrücklich und freiwillig auf den Besitz von Atomwaffen jeder Art verzichtet. Jedenfalls wäre keiner der Unterzeichnenden bereit, sich an der Herstellung, der Erprobung oder dem Einsatz von Atomwaffen in irgendeiner Weise zu beteiligen. Gleichzeitig betonen wir, dass es äußerst wichtig ist, die friedliche Verwendung der Atomenergie mit allen Mitteln zu fördern, und wir wollen an dieser Aufgabe wie bisher mitwirken.

12. April 1957

Fritz Bopp, Max Born, Rudolf Fleischmann, Walther Gerlach, Otto Hahn, Otto Haxel, Werner Heisenberg, Hans Kopfermann, Max v. Laue, Heinz Maier-Leibnitz, Josef Mattauch, Friedrich-Adolf Paneth, Wolfgang Pauli, Wolfgang Riezler, Fritz Straßmann, Wilhelm Walcher, Carl Friedrich Frhr. v. Weizsäcker, Karl Wirtz

zum Anfang | Erinnerungen

Wenn es die Pugwash-Konferenzen nicht gäbe, müssten sie erfunden werden

von Klaus Gottstein

Wenn ich darstellen soll, welche Erinnerungen ich an die Frühzeit der Pugwash-Konferenzen habe, dann muss ich zunächst gestehen, dass die 42 Pugwash-Konferenzen, -Workshops und -Symposien, an denen ich teilgenommen habe, alle in den Jahren 1976 bis 2002 stattfanden, während die Serie der Pugwash-Konferenzen schon 1957 in dem inzwischen berühmten kanadischen Fischerdorf Pugwash begann und seitdem ununterbrochen fortgesetzt wurde. Ich wurde allerdings bereits 1962 in die mir bis dahin unbekannte Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW), also in die deutsche Pugwash-Gruppe aufgenommen, nachdem ich Carl Friedrich von Weizsäcker eine im Sommerurlaub verfasste Denkschrift überreicht hatte, der ich den Titel »Über die Wissenschaft von der Politik« gab und in der ich zu dem Schluss kam, dass es die Pflicht der Wissenschaft sei, mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln und Methoden, frei von machtpolitischen Einflüssen und sachfremden Ideologien, an der Lösung der bedrohlichen Probleme unserer Zeit zu arbeiten. Ich hatte nämlich in meinem Fach, der Elementarteilchenphysik, die Möglichkeiten ideologiefreier internationaler Zusammenarbeit kennen gelernt, die es Wissenschaftlern aus Ost und West und aus so genannten Entwicklungsländern gestattete, auch während des Kalten Krieges friedlich und erfolgreich an gemeinsamen Projekten zur Erforschung der kosmischen Strahlung und der Eigenschaften der Elementarteilchen zu arbeiten. Woran also lag es, dass die Politiker diese erfolgreichen Methoden noch nicht entdeckt hatten, wenn ihnen wirklich, wie sie ja behaupteten, an Frieden und am Wohlergehen der Menschheit gelegen war? Ich schlug vor, eine selbständige und unabhängige internationale »Gelehrtenrepublik« zu gründen, um wirklich unbeeinflusste Untersuchungen und Stellungnahmen zu den zu lösenden Problemen zu ermöglichen. In der Physik gab es eine solche »Gelehrtenrepublik« ja bereits, warum also nicht in der regierungsberatenden Politikwissenschaft?

C. F. von Weizsäcker befürchtete nach der Lektüre, dass eine solche »Gelehrtenrepublik« auch nicht in der Lage sein würde, Lösungen für die schweren politischen Konflikte der Zeit zu finden, befürwortete aber meinen Eintritt in die VDW, in der ich Gesprächspartner für die mich beschäftigenden Probleme finden würde. So nahm ich in der VDW, bald in deren Arbeitsausschuss, später im Vorstand, an den Diskussionen teil, die u.a. die Beteiligung an den Pugwash-Konferenzen und an den dort auf der Tagesordnung stehenden Fragen der Rüstungskontrolle, Abrüstung und Friedenserhaltung betrafen. Dabei waren natürlich auch die nicht immer übereinstimmenden Meinungen zu den auf den Pugwash-Konferenzen abzugebenden Stellungnahmen zu diskutieren, wenn es auch Prinzip der Pugwash-Konferenzen war und ist, dass jeder Teilnehmer nur seine eigene Meinung vertritt und nicht Delegierter einer Organisation oder gar seiner Regierung ist. Während Wissenschaftler aus westlichen Ländern nicht selten die Politik ihrer eigenen Regierung scharf kritisierten, befanden sich die »Privatmeinungen« der Wissenschaftler aus der Sowjetunion und aus den Ländern des Warschauer Paktes allerdings stets in völliger Übereinstimmung mit den letzten Stellungnahmen ihrer Regierungen, und es war ein offenes Geheimnis, dass einige der sowjetischen »Wissenschaftler« den Apparaten des Geheimdienstes und des Zentralkomitees angehörten und die echten Wissenschaftler überwachten. Dies wurde hingenommen, wobei man sogar den positiven Aspekt sah, dass auf diese Weise jede Verlautbarung und Empfehlung der Pugwash-Konferenzen in erwünschter Weise wortgetreu zur Kenntnis der maßgeblichen Stellen in Moskau gelangen würde. Auch war mit den »echten« Kollegen bei Spaziergängen, Kaffeepausen, Busfahrten usw. manchmal ein unkontrolliertes Wort möglich. Natürlich berichteten auch die westlichen Teilnehmer ihren Regierungen. Das war ja der Zweck der Übung.

Für mich hatte die Teilnahme an den Pugwash-Konferenzen selbst zunächst keine hohe Priorität. Mein Beruf als Abteilungsleiter im Max-Planck-Institut für Physik ließ mir nicht genug Zeit für andere Aktivitäten größeren Umfangs. Ich erinnere mich, dass ich 1964 zur 13. Pugwash-Konferenz nach Karlsbad hätte reisen können, aber absagte. Erst als ich 1974 nach meiner Rückkehr aus Washington, wo ich drei Jahre lang als Wissenschaftsattaché an der Deutschen Botschaft gearbeitet hatte, von Prof. Penselin, dem damaligen Vorstandsvorsitzenden der VDW, gefragt wurde, ob ich nicht als Pugwash-Beauftragter der VDW die Vorbereitung der für 1977 geplanten großen Pugwash-Konferenz in München übernehmen wolle, sagte ich zu. Von da an war ich ein regelmäßiger Teilnehmer an fast allen Veranstaltungen, die von Pugwash in aller Welt ausgerichtet wurden.

Die Konferenz in München, bei deren Vorbereitung und Durchführung ich viele fleißige Helfer hatte, war mit 223 Teilnehmern die bis dahin größte. Sie wurde erst 1992 durch die von Frau Falter im Namen der VDW organisierte Konferenz, ebenfalls eine Quinquennial Conference, mit 274 Teilnehmern übertroffen. Die Konferenz wurde durch Bundesforschungsminister Matthöfer eröffnet, dessen Haus für die VDW die Finanzierung der Konferenz übernommen hatte. Der Bundespräsident (Walter Scheel), der Bundeskanzler (Helmut Schmidt) und der Generalsekretär der Vereinten Nationen (Kurt Waldheim) sandten Grußbotschaften. Acht parallel tagende Arbeitsgruppen befassten sich sodann mit sämtlichen Themen, die sich zu der Zeit auf der Bearbeitungsliste von Pugwash befanden. 1977 waren das die folgenden Themen, die bis heute aktuell geblieben sind:

  • nukleare Rüstungskontrolle und Abrüstung
  • Rüstungskontrolle und Abrüstung im nicht-nuklearen Bereich
  • Koexistenz, Entspannung und Kooperation zwischen Nationen und Systemen
  • Sicherheit von Entwicklungsländern
  • Entwicklungsprobleme ökonomisch schwacher Länder
  • Energie, Weltressourcen und Trends beim Bevölkerungswachstum
  • Umweltgefahren mit globalen Auswirkungen
  • Wissenschaft, Wissenschaftler und Gesellschaft

Was die Pugwash-Konferenzen für mich besonders erfreulich und attraktiv machte, war zum einen die streng wissenschaftliche Atmosphäre, an welche die teilnehmenden, oft sehr prominenten Wissenschaftler von Hause aus gewöhnt waren und die es erlaubte, ohne diplomatische Rücksichten »laut zu denken« und nach praktikablen Lösungen für die heiklen politischen Probleme zu suchen, um die sich die Politiker vergeblich bemühten. Zum anderen waren es die nahezu freundschaftlichen Beziehungen, die sich im Laufe der Jahre und nach vielen heißen Diskussionen auch zwischen Vertretern ganz unterschiedlicher politischer Systeme und Weltanschauungen entwickelt hatten und die es gestatteten, offen zu sprechen und zu fragen. So konnten Wege aufgezeigt werden, die die Politiker später in ihren Abrüstungsverhandlungen beschritten haben, natürlich ohne sich auf Pugwash zu beziehen. In Deutschland haben das Auswärtige Amt (AA), das Verteidigungsministerium (BMVg) und die einschlägigen Ausschüsse des Bundestags die Berichte über die Ergebnisse der Pugwash-Veranstaltungen immer gern entgegengenommen. Ich selbst habe mich bemüht – darin dem Vorbild von C.F. von Weizsäcker folgend – vor Pugwash-Workshops deren Tagesordnung mit leitenden Vertretern des AA und des BMVg zu besprechen, um bei den nachfolgenden Pugwash-Diskussionen die Positionen der Regierung und die sich daraus ergebenden Hindernisse, für deren Überwindung eine Lösung gesucht werden müsse, erläutern zu können. Schon Bundesaußenminister Willy Brandt hatte einige VDW-Vorstandsmitglieder zum Meinungsaustausch empfangen, bevor diese zu einer Pugwash-Konferenz abreisten. Ich konnte mit General Altenburg, damals Generalinspekteur der Bundeswehr, im Bundesministerium der Verteidigung auf der Hardthöhe die deutsche Haltung zu Abrüstungsfragen besprechen, um auf einer damals bevorstehenden Pugwash-Konferenz in Polen von der konkreten Lage ausgehen zu können. Mehrfach hatte ich Gespräche mit Referatsleitern des Auswärtigen Amtes, und in einem Fall nahm einer von diesen als Gast an einem Pugwash-Workshop in Genf teil, um seine Gedanken dort in die Diskussion einbringen und die Ansichten insbesondere der Ostblock-Teilnehmer direkt zur Kenntnis nehmen zu können. Der Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Meyer-Landrut, vorher – und später noch einmal – Botschafter in Moskau und Staatssekretär des Bundespräsidialamtes zur Zeit von Bundespräsident Richard v. Weizsäcker, gab für den gesamten Vorstand der VDW ein Arbeitsessen in den Räumen des Auswärtigen Amtes und brachte auch dadurch das gute Arbeitsverhältnis zwischen der Beratung suchenden Regierung und den deutschen Pugwash-Vertretern zum Ausdruck. Im Ausland besuchte ich, wenn immer möglich, die deutschen Botschaften in den Gastländern der Pugwash-Konferenzen – so in Ottawa, Mexico City, Moskau, Warschau, Sofia – , deren Mitarbeiter im allgemeinen sehr an den Mitteilungen über die Konferenzergebnisse interessiert waren.

Abschließend darf ich als kurze Schlussfolgerung aus meinen Erinnerungen an eine jahrzehntelange Mitarbeit bei »Pugwash« festhalten: Wenn es die Pugwash-Konferenzen noch nicht gäbe, müssten sie erfunden werden, natürlich in der optimalen Form, in der kompetente Wissenschaftler Brücken schlagen, die sich dann als begehbar für die politischen Entscheidungsträger erweisen. Die zu überbrückenden Probleme werden leider niemals ausgehen, denn der wissenschaftliche Fortschritt ist unaufhaltsam und wird nicht nur Segen bringen sondern stets unbeabsichtigte Nebenwirkungen haben und – wie alle menschliche Tätigkeit – die Möglichkeit zu falscher Anwendung und Missbrauch schlimmsten Ausmaßes in sich tragen. Die soziale Verantwortung der Wissenschaft, für die Pugwash eintritt, wird immer gefordert bleiben.

Prof. Dr. Klaus Gottstein war Mitglied der Direktion des Max-Planck-Institut für Physik, Werner Heisenberg Institut, München und Sprecher der Pugwash-Gruppe der BRD von 1975 bis 1987

zum Anfang | Junge WissenschaftlerInnen in der Pugwash Bewegung

von Ulrike Wunderle und Andreas Henneka

Die »Pugwash Conferences on Science and World Affairs« ermöglichen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern den internationalen und zunehmend interdisziplinären Austausch über Probleme internationaler Sicherheit und friedlicher Konfliktregulierung. In ihrem Ansatz ist die Pugwash-Bewegung dem Russell-Einstein-Manifest von 1955 verpflichtet: Angesichts der Gefahr einer thermonuklearen Konfrontation zwischen den Blockführungsmächten des Kalten Krieges appellierten elf führende Wissenschaftler verschiedener Fachgebiete nicht nur an die politisch Verantwortlichen, die bestehenden Konflikte auf friedlichem Wege zu lösen und auf die Abschaffung von Atomwaffen hinzuwirken, sondern auch an die Wissenschaftler selbst, sich untereinander – und über Konfliktgrenzen hinweg – mit der neuen Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen auseinanderzusetzen. Damit wurde das Russell-Einstein-Manifest zum geistigen Fundament und Bezugspunkt der seit 1957 stattfindenden »Pugwash Conferences on Science and World Affairs«.

Schon bald interessierten sich auch junge WissenschaftlerInnen, die im Zuge ihrer akademischen Ausbildung mit Fragen gesellschaftlicher Verantwortung von Wissenschaft konfrontiert wurden, für die Arbeit der Pugwash-Bewegung. In den späten 1970er Jahren formierten sich in den USA und Kanada die ersten Student-Pugwash-Gruppen. Joseph Rotblat, der langjährige Vorsitzende der Pugwash-Bewegung, und die nationalen Pugwash-Gruppen unterstützten dieses Engagement, so dass sich bis heute mehr als 30 nationale Student-Pugwash-Gruppen herausbildeten, die sich – gewissermaßen parallel zur Pugwash-Bewegung – unter dem Dach der »International Student/Young Pugwash« (ISYP) zusammenschlossen. Im Umfeld der Pugwash-Jahrestagung findet auch die »Student/Young Pugwash Conference« statt, für die sich StudentInnen und DoktorandInnen aus allen Ländern der Welt bewerben können.

Auf der Pugwash-Jahrestagung 2005 in Hiroshima – 60 Jahre nach dem Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki – erarbeitete ISYP ein eigenes »Mission Statement«, in der sie sich deutlich auf das Russell-Einstein-Manifest bezieht, zugleich aber darüber hinaus geht: „Geleitet vom Einstein-Russell-Manifest führt ISYP internationale Studenten und junge Wissenschaftler zusammen, die sich mit globalen Problemen und der gesellschaftlich verantwortungsvollen Anwendung von Wissenschaft und Technologie beschäftigen. Durch die Auseinandersetzung mit sehr unterschiedlichen Disziplinen, Kulturen und Weltsichten entwickeln die ISYP-Mitglieder schon früh in ihrer akademischen Ausbildung gemeinsame Ansichten und Arbeitsweisen und motivieren sich gegenseitig in ihrem Engagement für die Ideale der ISYP.“ Gemeinsam mit der »Senior«-Pugwash-Bewegung wendet sich ISYP folglich den grundlegenden Problemen und Symptomen globaler Sicherheitsrisiken zu.

In Deutschland geht die formale Gründung einer Studenten-Pugwash-Gruppe auf das Jahr 1984 zurück, die zuerst unter dem Engagement von Martin Kalinowski und später von Ulrike Jordan große Aktivität entwickelte. Im Jahr 2003 fanden sich schließlich wieder StudentInnen und DoktorandInnen zusammen, die die »Bundesdeutsche Studenten Pugwash« (BdSP) neu belebten. Regelmäßige Treffen in Berlin und Hamburg führten zu einer kontinuierlichen Diskussion unter den beteiligten StudentInnen über Wissenschaft und Frieden. In den Jahren 2005 und 2006 fanden erste organisierte Gesprächskreise in Berlin statt. Zum Überprüfungszyklus des nuklearen Nichtverbreitungsvertrages und dem iranisch-amerikanischen Verhältnis wurden Referenten aus dem Umfeld der Pugwash-Bewegung und ein weiterer Kreis interessierter StudentInnen und DoktorandInnen eingeladen. In Hamburg arbeiten Studenten der BdSP an einem deutschen Beitrag zur »Nuclear Awareness Campaign«. Seit Beginn 2007 bemüht sich der BdSP-Vorstand verstärkt, durch Veranstaltungen und Stellungnahmen zu aktuellen Themen die Basis für ein nachhaltiges Engagement junger Wissenschaftler in Deutschland für Abrüstung und Frieden zu schaffen. Der BdSP-Gegenstandpunkt »Zur Diskussion um das Für und Wider der amerikanischen Raketenabwehrpläne« zeugt hiervon ebenso wie die Akademie »Ansätze zu einer gerechten Energieverteilung im Kontext sicherheitspolitischer und wirtschaftlicher Interessenskonflikte: Probleme und Lösungsoptionen«, welche die BdSP in Zusammenarbeit mit der Heinrich-Böll-Stiftung und mit Unterstützung des VDW-Vorstands vom 31. August bis 1. September 2007 in Berlin organisierte. Ziel war es, StudentInnen und DoktorandInnen unterschiedlicher Fachrichtungen, Forschungsinstitutionen, Organisationen und Firmen zusammenzubringen, um die Chancen des interdisziplinären Dialogs über Sicherheit und Frieden aufzuzeigen. Die Anregungen der geladenen Referenten und die problemorientierte Gruppenarbeit unterstützte die intensive Diskussion zu Fragen der gerechten Energieverteilung, an welche die BdSP nun anknüpfen kann.

Die Aktivitäten der Bundesdeutschen Studenten Pugwash Gruppe sind in der Entstehung begriffen. Daher bieten sich vielfältige Möglichkeiten für StudentInnen, DoktorandInnen und weitere Interessierte, Ideen einzubringen und deren Realisierung aktiv mitzugestalten. Beiträge sind herzlich willkommen!

Ulrike Wunderle, VDW-Beauftragte BdSP (Kontakt: ulrike.wunderle@uni-tuebingen.de); Andreas Henneka, 1. Vorsitzender BdSP (Kontakt: gistar@zedat.fu-berlin.de). Weitere Informationen zu International Student/Young Pugwash finden sich im Internet unter www.student-pugwash.org

Anmerkungen

Neuneck, Götz: Remember your Humanity: 50 Jahre Pugwash – 50 Jahre Göttinger Erklärung

1) Siehe Text unter http://www.pugwash.org/about/manifesto.htm.

2) Zur Geschichte der Manifestes siehe: The Origins of the Russell-Einstein Manifesto, by Sandra Ionno Butcher, Pugwash History Series, Number One May 2005

3) Reiner Braun, Robert Hinde, David Krieger, Harold Kroto, Sally Milne (Editors): Joseph Rotblat – Visionary for Peace, John Wiley, Mai 2007.

4) Mehr Informationen zur ersten Pugwash-Konferenz unter http://www.pugwash.org/about/conference.htm

5) Siehe z.B. M. Evangelista: Unarmed Forces oder Joseph Rotblat: The Early Days of Pugwash, in: Physics Today 54/6 2001.

6) Siehe dazu das an Materialien reiche Buch von Elisabeth Kraus: Von der Uranspaltung zur Göttinger Erklärung, Würzburg 2001 und die Kurzfassung »Atomwaffen für die Bundeswehr?« In: Physik Journal Vol. 6, 2007 Nr.4 S.37-41.

7) Die Atomwaffen, Vortrag »Die Verantwortung der Wissenschaft im Atomzeitalter«, Bonn 29. April 1957, abgedruckt in: Der bedrohte Friede, S.31-42, hier S.34.

8) Ebenda, S.39.

9) Siehe dazu ausführlich Friedensinitiative Garchinger Naturwissenschaftler: 30 Jahre Göttinger Erklärung. Nachdenken über die Rolle des Wissenschaftlers in der Gesellschaft, Schriftenreihe Wissenschaft und Frieden Nr.11, Oktober 1997

10) Kraus 2001: S.66 und S.311.

11) Nobelpreis Homepage: http://nobelprize.org/nobel_prizes/peace/laureates/1995/press.html

12) Zitiert nach International Herald Tribune, 8.Juli 2007.

13) Revitalizing Nuclear Disarmament: Policy Recommendations of the Pugwash 50th Anniversary Workshop Pugwash, Nova Scotia, 5-7 July 2007http://www.pugwash.org/reports/nw/pugwash-mpi/Pugwash-MPI-Communique.htm

Kalinowski, Martin: 50 Jahre nach der Göttinger Erklärung – Nukleare Nichtverbreitung in Deutschland

1) Als Autor: Atomenergie und Atomzeitalter, Fischer Bücherei 1957; Die Verantwortung der Wissenschaft im Atomzeitalter, Vandenhoeck & Ruprecht 1957; als Herausgeber: Kriegsfolgen und Kriegsverhütung, München 1971.

2) Ziviler Bevölkerungsschutz heute. Frankfurt 1972.

3) Literaturangaben zu Veröffentlichung über das Gutachten finden sich unter » http://www.ialana.de/veroeffentlichungen.html«.

4) Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Norman Paech, Alexander Ulrich, Paul Schäfer (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE (Drucksache 16/424). Deutscher Bundestag Drucksache 16/568 vom 8. Februar 2006.

5) Siehe Forschungsverband Naturwissenschaft, Technik und Internationale Sicherheit (FONAS), www.fonas.org

6) Einen Vertragsentwurf für eine Nuklearwaffenkonvention legten bereits 1997 etliche Nichtregierungsorganisationen vor. Bei der Konferenz zum Nichtverbreitungsvertrag im Mai 2007 wurde den Delegierten eine überarbeitete Fassung des Textes vorgestellt. IALANA, INESAP, IPPNW (Hrsg.), Securing our Survival (SOS). The Case for a Nuclear Weapons Convention, 2007, 206 Seiten; ISBN 978-0-646-47379-0.