Dortmunder Erklärung: Wissenschaft in der Verantwortung – Politik in der Herausforderung

Dortmunder Erklärung: Wissenschaft in der Verantwortung – Politik in der Herausforderung

von Friedens- und KonfliktforscherInnen

I. Nachhaltige Entwicklung – das überragende Ziel

Die Leitlinien von Wissenschafts- und Forschungspolitik müssen sich orientieren an der Forderung, daß unsere wissenschaftlich-technische Zivilisation in die Bahnen nachhaltiger Entwicklung (substainable developement) gelenkt werden muß. Wissenschafts- und forschungspolitische Prioritäten haben sich primär auf die unterstützende Durchsetzung einer nachhaltigen Lebens- und Wirtschaftsweise im globalen Maßstab auszurichten. Ökonomische Rentabilitätskriterien sind diesen Prioritäten nicht über-, sondern in sie eingeordnet. Eine primär auf die hochtechnologische Wettbewerbsfähigkeit des »Standorts Deutschland« fixierte industriepolitische Diskussion verdrängt das Nachdenken über Bedingungen und Szenarien nachhaltiger Entwicklung. Sie wird gesellschaftlichen Erfordernissen einer langfristigen ökologischen und sozialen Zukunftsvorsorge nicht gerecht.

Nachhaltige Entwicklung ist zugleich der einzig erfolgversprechende Weg zur Überwindung der Massenarbeitslosigkeit, insbesondere mit Blick auf die Situation in den neuen Bundesländern. Beides ist ohne soziale, ökologische und ökonomische Innovationen nicht zu haben.

Die substantielle Umsteuerung von Wissenschafts- und Forschungspolitik soll entlang folgender Grundsätze erfolgen:

1. Wirtschaftlichkeit, Umwelt- und Sozialverträglichkeit müssen gleichrangige Ziele der F+T-Politik werden.

2. Volkswirtschaftliche Gesichtspunkte, die auch die gesellschaftlichen und ökologischen Folgeschäden berücksichtigen, müssen an die Stelle der rein betriebswirtschaftlichen Betrachtungsweise treten.

3. Anstelle des immer schärferen internationalen Konkurrenzkampfes um Weltmarktanteile müssen partnerschaftliche Alternativen gefunden werden.

4. Wissenschaft und Forschung als gesellschaftsgestaltende Faktoren brauchen den gesellschaftlichen Dialog. Demokratische Einfluß- und Kontrollmöglichkeiten müssen geschaffen werden.

5. Technikfolgenabschätzung muß integraler Bestandteil bei der Entwicklung neuer Techniken werden und durch Bereitstellung entsprechender Mittel abgesichert werden.

II. Forschungs- und Technologiepolitik. Substantiell umsteuern!

Die staatliche Forschungspolitik bedarf neuer Prioritäten und Entscheidungsstrukturen. Gerade weil sie eine Initialfunktion für langfristige Entwicklungen hat, kommt ihr eine spezifische Bedeutung zu. Deshalb kann sich staatliche F+T-Politik nicht damit begnügen, lediglich als »Moderator« zu fungieren, sie muß auch Rahmenbedingungen festlegen.

In der gegenwärtigen F+T-Politik sind große Mittel an Raumfahrt-, Fusions- und Kernenergieforschung gebunden, die in anderen Bereichen dringend benötigt werden. Die wesentlichen Bereiche sind: Ökologie, Klima und Landwirtschaft, Energie, Verkehr, Abfall, Beschäftigung und soziale Sicherheit, Arbeits- und Gesundheitsschutz, Friedens- und Konfliktforschung, Feministische Forschung in Sozial-, Natur- und Technikwissenschaften.

Eine Neuorientierung in der F+T-Politik setzt eine Verbesserung des Dialogs und der interdisziplinären Kooperation aller Wissenschafts- und Forschungseinrichtungen, z.B. in Verbundprojekten, voraus.

In den letzten Jahren weisen die öffentlichen Forschungshaushalte eine real rückläufige Tendenz auf. Mit der deutsch-deutschen Vereinigung wurde nicht proportional der BMFT-Haushalt aufgestockt. Angesichts der bereits heute erkennbaren nationalen und globalen Probleme sind die Haushaltsmittel zu erhöhen. Die Mittel für den Bereich Vorsorgeforschung sind trotz der Steigerung auf 18<0> <>% am BMFT-Haushalt zu gering. Vorsorgeforschung ist zudem bisher zu einseitig auf Reparaturforschung, Entsorgungswissen und technische Lösungen ausgerichtet (z.B. Gewässerreinigung statt Reduzierung des Schadstoffeintrags in der Landwirtschaft).

Der katastrophale Verlust der Industrieforschung in den neuen Bundesländern kann nicht hingenommen werden. Dort sollen, wie auch in den alten Bundesländern, – u.a. über ökologische Optionen – neue Möglichkeiten geschaffen werden, Wissenschaft mit arbeitsplatzschaffender Infrastrukturpolitik zu verbinden.

Der Abbau von Rüstungsforschung ist von zentraler Bedeutung auch für die Erfüllung der gesellschaftlichen Aufgaben der zivilen Forschung.

Wir wollen eine konsequente Umsteuerung von militärischer hin zu ziviler Forschung. Bestrebungen zum Ausbau des »dual use«, der Ausdehnung der Forschung auf militärische Anwendungen, lehnen wir ab.

Konkret fordern wir:

  • drastische Reduzierung der Ausgaben für Rüstungsforschung, unter anderem durch Verzicht auf den »Eurofighter 2000«;
  • erhebliche Verringerung der Kernenergieforschung und Verzicht auf die Entwicklung des »inhärent sicheren Reaktors«;
  • die sofortige Einstellung ökonomisch und verkehrspolitisch unsinniger und ökologisch bedenklicher Verkehrsprojekte (z.B. Transrapid);
  • die Verwirklichung des Subsidiaritätsprinzips in der Industrieforschungsförderung.

III. Bildung und Hochschule

Für die Wahrnehmung von Verantwortung der Hochschulen selbst und vor allem durch die künftige WissenschaftlerInnengeneration ist eine grundlegende Hochschulreform überfällig. Sie muß sich an der Öffnung der Hochschulen für die Gesellschaft und ihre Probleme, an verstärkter Gewährleistung sozialer Chancengleichheit, am Abbau geschlechtsspezifischer Diskriminierungen, einer Neuordnung der Personalstruktur an Hochschulen, der Entwicklung problemorientierter, leistungsfähiger, disziplinärer wie interdisziplinärer Arbeitszusammenhänge in Studium, Lehre und Forschung orientieren. Dabei sind Erfahrungen wie Ansprüche an Lehre und Betreuung Studierender der Hochschulen der neuen Bundesländer stärker zu berücksichtigen.

Für den Hochschulzugang gilt das Prinzip »Fördern statt Auslesen«; maßgeblich sind das soziale Recht (z.B. bedarfsgerechte Studienfinanzierung) auf und die gesellschaftliche Verantwortung für Bildung, für den Hochschulzugang erforderlich ist eine Gleichstellung beruflicher und allgemeiner Bildung; alle Beschäftigungsverhältnisse im Wissenschaftsbereich sollen tarifvertraglich geregelt werden.

Zur Sicherung der elementaren Funktionsfähigkeit der Hochschulen bilden personelle, institutionelle und finanzielle Stabilität unabdingbare Voraussetzungen. Bis zum Jahre 2000 ist – auch angesichts der prognostizierten 2 Millionen Studierenden – ein Mindestausbau der flächenbezogenen Studienplätze auf 1,4 Millionen und eine dem angemessene Hochschulbauförderung des Bundes erforderlich.

Fachhochschulen als stärker praxisbezogener Hochschultyp bedürfen des Ausbaus und eigener Entwicklungsmöglichkeiten, dazu zählen Durchlässigkeit, Forschungs- und erweiterte Qualifikationsmöglichkeiten für Lehrende und Studierende. Weiterhin ist die Integration verschiedener Hochschultypen eine wichtige Option für die Hochschulentwicklung.

Die in der Hochschulpolitik von Bund und Ländern vorhandene Tendenz, Hochschulreform auf die Einführung von Sanktionsinstrumenten und die Durchsetzung rein quantitativer Kriterien, die Reduktion wissenschaftlicher Qualifikationsstandards auf marktbezogene berufliche Verwertbarkeit zu beschränken, Personalstrukturen weitgehend zu »flexibilisieren« und Frauen dabei nach wie vor auszugrenzen reproduziert diese Verhältnisse struktureller Verantwortungslosigkeit.

Dagegen bedarf es der Demokratisierung der Hochschulen, die nach innen nach dem Grundsatz, daß keine Statusgruppe alle anderen überstimmen können darf sowie mit einer (auch juristischen) Stärkung der Position der Frauen an der Hochschule, nach außen durch einen Ausbau von Beteiligungsformen gesellschaftlicher Gruppen (Kuratorien, Foren, Beiräte) verwirklicht werden kann.

IV. Abbau geschlechtsspezifischer Diskriminierungen im Wissenschaftsbereich

Ein Neuanlauf in der Gleichstellungspolitik ist unabdingbar. Solange die bisherigen, politisch anerkannten Mechanismen der »Frauenförderung« lediglich auf die Verbesserung individueller Konkurrenzfähigkeit von Frauen innerhalb der bestehenden Strukturen hinauslaufen, werden in Zeiten von Krisen und finanziellen Engpässen erreichte Standards immer wieder infrage gestellt, ist der Frauenanteil in einzelnen Bereichen der Wissenschaft (z.B. Informatik) sogar dramatisch rückläufig.

Wir halten folgendes für notwendig:

  • Für alle personenbezogenen staatlichen Förderprogramme ist die Quotierung vorzuschreiben.
  • Die Erstellung von Frauenförderplänen zur Erhöhung des Frauenanteils soll durch Novellierungen des HRG und der Landeshochschulgesetze verbindlich gemacht werden.
  • Bund und Länder sollen ein Sonderprogramm für die Berufung von Professorinnen in den nächsten 10 Jahren auflegen.
  • Die Stellung und Rechte von Frauenbeauftragten bzw. -vertreterinnen sind landesgesetzlich – analog den Rechten der Personalräte – auszugestalten.
  • Wir unterstützen ausdrücklich Überlegungen, eine Frauenhochschule als Modellversuch zu gründen, um dringend notwendige neue Formen der Lehre und feministische Impulse für Wissenschaft und Technik entwickeln zu können.

V. Ethik und Verantwortung

Wahrnehmung des Prinzips »Verantwortung« bedeutet für die Wissenschaft, daß sie sich stets neu im Spannungsfeld von Erkenntnisinteresse und möglichen gesamtgesellschaftlichen Wirkungen orientieren und verhalten muß. Den WissenschaftlerInnen muß die Möglichkeit gegeben werden, ihren ethischen Überlegungen entsprechend handeln zu können, ohne berufliche Nachteile in Kauf nehmen zu müssen.

Der interdisziplinäre ethische Diskurs muß zum integrierenden Bestandteil wissenschaftlicher Kultur werden. Er ist unverzichtbarer Ort kritischer Selbstreflexion der Wissenschaften, der auch zur Überwindung massiver Kommunikationsstörungen zwischen den Wissenschaften beitragen und über ihre patriarchalen Muster hinausführen muß. Besonders einbezogen werden müssen außeruniversitäre und industrielle Forschungseinrichtungen.

VI. Wissenschaft –Demokratie – Öffentlichkeit

Wissenschaft ist eine öffentliche Angelegenheit, über die niemand privilegiert – sei es aus profit-, hoheitlichen oder geschlechtsspezifischen Interessen heraus – verfügen und entscheiden sollte.

Wissenschaftliche Erkenntnisse von heute und ihre technologische Umsetzung bestimmen wesentlich das Leben von morgen. Damit kommt der Festlegung von Forschungszielen und -prioritäten eine zentrale gesellschaftsformende Bedeutung zu. Die Einflußnahmen auf diesen Prozeß ist zur Zeit Expertengruppen aus Teilen der fast ausschließlich männlichen »wissenschaftlichen Fachwelt« vorbehalten, die öffentliche Wahrnehmung von Wissenschaft anhand ihrer oft negativen Wirkungen stigmatisiert.

Wachsende Finanzierungsengpässe im öffentlichen Wissenschaftssystem in Verbindung mit der zunehmenden Durchsetzung formaler ökonomisch-quantitativer Bewertungskriterien unter der konservativ-liberalen Bundesregierung haben zur Relativierung politischer Aushandlungsprozesse und der Aushöhlung demokratischer Verfahren geführt. Entgegen diesem Trend muß die öffentliche Funktion der Wissenschaft gestärkt werden.

Notwendig ist die Wiedergewinnung einer demokratischen und entscheidungsoffenen Planungs- und Handlungsdimension: dazu zählen ebenso die Gewinnung neuer Finanzierungsspielräume für Wissenschaft durch politische Prioritätenwechsel wie die öffentlich überzeugende Entwicklung sozial-ökologischer Prioritäten in der Wissenschaftspolitik. Wahrnehmung von Verantwortung durch öffentlichen Kompetenzgewinn und Demokratisierung von Entscheidungsprozessen begreifen wir als Einheit.

Die Wissenschaftspolitik bedarf der Demokratisierung über gesellschaftliche Diskurse. Hochschulen und Forschungseinrichtungen brauchen mehr Mitbestimmung.

Wir fordern, die sozialen, ökologischen und ökonomischen Zielstellungen von Forschungs-, Technologie- und Hochschulpolitik und deren gesellschaftliche Verantwortung zum Gegenstand institutionalisierter Diskurse zu machen. Dafür haben sich »Runde Tische« als sinnvoll erwiesen.

An »Runden Tischen« unter anderem auf Bundes- und Landesebene sollten VertreterInnen der wissenschaftlichen Gesellschaften und (kritischen) Wissenschaftsorganisationen sowie sozial-ökologischer Forschungseinrichtungen, Frauenorganisationen, kirchlichen Institutionen, Umwelt- und Verbraucherverbände, Gewerkschaften und der Arbeitgeber sowie verantwortliche PolitikerInnen beteiligt sein. Diese »Runden Tische« sollten Stellung nehmen zum gesellschaftlichen Bedarf an Forschung und Technologie, zu Leitlinien der Forschungsförderung und zur aktuellen Forschungspolitik. Dabei sollen die Arbeitsergebnisse weiter berücksichtigt werden.

UnterzeichnerInnen:
Wolfgang Vogt (Arbeitsgemeinschaft Friedens- und Konfliktforschung) / Andreas Schlossareck (Arbeitsgemeinschaft der Betriebs- und Personalräte der außeruniversitären Forschungseinrichtungen) / Werner Anton (Arbeitsgruppe alternative Wirtschaftspolitik) / Regine Barth, Peter Döge, Brigitte Fenner, Katrin Grüber (Bündnis 90 / Die Grünen, Bundesarbeitsgemeinschaften Hochschulpolitik, Forschung- und Technologie, Gen- und Reproduktionstechnologie) / Torsten Bultmann (Bund demokratischer WissenschaftlerInnen) / Ulf Imiela (Deutscher Gewerkschaftsbund, Bundesvorstand Abteilung Angestellte) / Elsge Wolf-Brinkmann, Ursula Schmidt (Evangelische Akademikerschaft) / Hans Jürgen Fischbeck, Peter Markus (Evangelische Akademie Mülheim/Iserlohn) / Cornelia Teller (Forum Informatiker und Informakterinnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung) / Dagmar Heymann (Frauen in Naturwissenschaft und Technik) / Stephan Haux (freier zusammenschluß von studentInnenschaften) / Ulrich Jahnke, Gerd Köhler (Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft) / Dietrich Hofmann (Ingenieurtechnischer Verband – Kammer der Technik) / Helmut Aichele, Reiner Braun (Naturwissenschaftlerinitiative Verantwortung für den Frieden) / Peter Rath (Pädagogische Arbeitsstätte) / Klaus Jürgen Scherer (Wissenschaftsforum der Sozialdemokratie)

Friedensursachenforschung

Friedensursachenforschung

Ein vernachlässigtes Forschungsfeld

von Volker Matthies

Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts wuchs auch das Interesse der wissenschaftlichen Forschung und praktischen Politik an einer friedlichen Transformation regionaler und lokaler kriegerischer Konflikte. Zunächst richtete sich dieses Interesse vornehmlich auf die ehemaligen Stellvertreterkriege in außereuropäischen Regionen, später jedoch auch auf andere, anhaltende oder neu ausbrechende Kriege. Besondere Beachtung finden seit geraumer Zeit die vertrackten, langandauernden und schwer lösbaren Bürgerkriege ethno-nationaler Prägung, die sogenannten »protracted conflicts«.

In Europa gab namentlich der Jugoslawienkonflikt dem Nachdenken über Fragen der Kriegsbeendigung, Streitschlichtung und Friedensstiftung Auftrieb. Seit dem zweiten Golfkrieg intensivierte sich im Rahmen der Debatte über die Weiterentwicklung der Vereinten Nationen und die Schaffung einer Neuen Weltordnung auch die Diskussion um den Sinn und Nutzen einer verstärkten Anwendung international legitimierter Ordnungsgewalt (einschließlich humanitärer Interventionen) zur Eindämmung von Kriegen und menschlichem Leid.

Angesichts schwieriger Transformationsprozesse vom Krieg zum Frieden wurden nunmehr Fragen aufgeworfen, die namentlich im angelsächsischen Raum und insbesondere in den USA im Rahmen von Kriegsbeendigungs-Studien (war termination) sowie von Konfliktlösungs- und Vermittlungsforschung (conflict resolution/mediation) schon seit vielen Jahren behandelt werden. Gegenüber der Kriegsursachenforschung und der Frage „Warum und wie Kriege ausbrechen“ blieben eine »Friedensursachenforschung« und die Frage „Warum und wie Kriege enden“ stark vernachlässigt, zumindest im Sinne eines theoretisch angeleiteten, systematisch und kontinuierlich bearbeiteten Forschungsfeldes im weiteren Kontext der Friedens- und Konfliktforschung. Das klassische militärstrategische Denken war ohnehin eher auf die Frage gerichtet, wie Kriege begonnen und erfolgreich geführt werden können als auf deren Beendigung, wenn die Dinge nicht nach Plan liefen. Zahlreiche Friedensforscher wiederum konzentrierten ihr Erkenntnisinteresse auf die Ursachen von Kriegen, um aus deren Kenntnis die Bedingungen des Friedens abzuleiten und den Krieg als soziale Institution abzuschaffen; sie sahen vielfach den Krieg „more as a disease to be eradicated than as a beast to be controlled“ 2 Darüber hinausgehend entfalteten jüngst Dieter und Eva Senghaas unter der Devise „Si vis pacem, para pacem“ das Konzept einer umfassend angelegten Friedensursachenforschung und Friedensstrategie3

Kriegsbeendigung und Friedensregelung

Von einer systematischen und kontinuierlichen Forschung zur Beendigung von Kriegen kann erst seit dem Jahre 1966 gesprochen werden. Ihr Aufkommen hing eng mit dem Vietnamkrieg zusammen, aber auch mit dem allgemeineren Problem des Umgangs der USA mit lokalen Kriegen im Kontext des globalen Ost-West-Konflikts. Das Erkenntnisinteresse U.S.-amerikanischer Forscher richtete sich vornehmlich auf die Vermeidung einer Verstrickung ihres Landes in eskalierende Kleinkriege und die Möglichkeiten einer Beendigung des Vietnamkrieges, mit anderen Worten, auf die »Kontrolle kleiner Kriege«.

Ausgangspunkt der Überlegungen war die schlichte Erkenntnis, daß „jeder Krieg (irgendwann einmal) enden muß“ (Iklé); die theoretische und empirische Frage war nun, warum, wann und wie Kriege zu Ende gingen, und ob und auf welche Weise die Kriegsbeendigung von außen zu beeinflussen wäre. Schon bald gab es Differenzen über die Wertorientierung dieses Forschungsansatzes; »some kind of end« eines Krieges war absehbar, aber »what kind of end« sollte es sein und »how high a price should be paid of it«?4 Empirisch stellte man fest, daß Kriege auf vielerlei Art und Weise zu Ende gingen (u.a. durch Auskämpfen in Form von Sieg und Niederlage, durch freiwillige Rückzüge und Unterwerfungen, durch formelle Friedensverträge und durch Verhandlungen und Vermittlungen Dritter Parteien). Auffällig war, daß nach dem Zweiten Weltkrieg formalisierte Kriegsbeendigungen in Gestalt völkerrechtlich relevanter Friedensschlüsse immer seltener wurden; etliche Kriege wurden ausgekämpft, andere durch Verhandlungen und/oder mit Hilfe Dritter Parteien beendet. In späteren Jahren erfolgte eine klare normative Festlegung auf einen bestimmten Typus der Kriegsbeendigung, nämlich den »verhandelten Frieden« (»negotiated settlement«), also die kooperative, friedliche Beilegung der Streitigkeiten, da nur eine solche Kriegsbeendigung eine gerechte Regelung und damit einen dauerhaften Frieden versprach.

Ein weiteres Problem der Forschung war, daß man mit einem zu unklaren Begriff der »Kriegsbeendigung« und einem verkürzten Begriff des Friedens arbeitete. »Kriegsbeendigung« war zwar eine notwendige, aber offensichtlich nicht hinreichende Bedingung für einen stabilen und dauerhaften Frieden. Verstand man unter der »Beendigung« eines kriegerischen Konflikts nur die bloße Einstellung der Kampfhandlungen und Beilegung der Streitigkeiten (»pacification«, »settlement«), also eine Art von negativem Frieden, oder auch die »Lösung« (»resolution«, »final settlement«) der tiefer liegenden Probleme des Konflikts, also Elemente eines positiven Friedens in Gestalt von »Friedensaufbau« und »Friedenskonsolidierung«? In diesem Sinne war Kriegsbeendigung dann nicht mehr der klare terminliche Abschluß eines gewaltförmigen Konfliktaustrages, sondern ein komplexer und langwieriger Prozeß der Transformation vom Krieg zum Frieden.

Den meisten Studien zur Kriegsbeendigung liegt das Modell des »rationalen Akteurs« und der »rationalen Entscheidung« zugrunde. Dies ist durchaus problematisch, da Konfliktparteien nicht durchgängig als einheitlich rational handelnde Akteure angesehen werden können. Doch im Rahmen des Modells wird die Beendigung von Kriegen als ein Verhandlungsprozeß angesehen, in dem die Akteure wohlüberlegte Entscheidungen unter Abwägung von Kosten-Nutzen-Kalkülen treffen. Von entscheidender Bedeutung ist dabei die Frage, welche Faktoren auf welche Weise und zu welchem Zeitpunkt bewirken, daß die Kriegsparteien eine signifikante Veränderung ihrer Wahrnehmung, ihrer Kosten-Nutzen-Kalkulation und ihres Verhaltens vornehmen und von unilateralen, konfrontativen Strategien und »Gewinn-Verlust«-Orientierungen zu bi- und multilateralen, kooperativen Strategien und »Gewinn-Gewinn«-Orientierungen übergehen. Mit B. Carroll können „war and war termination as products of many interacting factors“ angesehen werden5. Faktoren in der Binnenstruktur der Kriegsparteien (z.B. die zivil-militärischen Beziehungen, die Haltung der Eliten, die Differenzierung zwischen kriegslüsternen »Falken« und friedenswilligen »Tauben«, die Art des politischen Systems und die »Kriegsmüdigkeit« der Bevölkerung) spielen ebenso eine Rolle wie die Ereignisse auf dem Schlachtfeld, das Ausmaß der erlittenen Verluste an Ressourcen und das Verhalten externer Akteure (z.B. Nachbarstaaten, Großmächte, internationale Organisationen, Einmischung mit Zuckerbrot und/oder Peitsche und Vermittlungsangebote).

I.W. Zartman brachte später eine »Zeit-orientierte Perspektive« in die Forschung ein.6 Er beobachtete die Dynamik von Konfliktprozessen, Eskalations- und Deeskalationsphasen und identifizierte »Reife-Momente« für die Veränderung von Kosten-Nutzen-Kalkülen und eine konstruktive Einmischung durch vermittelnde Dritte Parteien. Ihm zufolge entstehen solche »Reife-Momente« auf der Grundlage einer Patt-Situation im Konfliktprozeß (»deadlock«, »stalemate«), die in einem ungefähr symmetrischen Konflikt beide Seiten gleichermaßen negativ berührt (»mutually hurting stalemate«) und letztlich zu einer Überprüfung ihrer bisherigen Positionen und Verhaltensweisen bewegt. In eher asymmetrisch strukturierten Bürgerkriegen müsse das Konzept der »Reifung« allerdings, so Zartman, »in terms of one side alone« diskutiert werden.7 Unter theoretisch-konzeptionellen, methodologischen und praktisch-politischen Aspekten ist dieses Konzept der »Konflikt-Reife« jedoch wachsender Kritik ausgesetzt worden. Das Reife-Stadium eines Konfliktes sei eher ex post als aktuell erkennbar, kaum objektiv bestimmbar und kein Ergebnis eines linearen, aktiv und gezielt beeinflußbaren Prozesses. Die subjektiven Wahrnehmungen, Dispositionen und Willensbekundungen der Konfliktakteure seien letztlich wichtiger als objektive Gegebenheiten der Konfliktsituation. Daher sollte der analytische Blick stärker auf die Entstehungsbedingungen der Dialog- und Kooperationsbereitschaft sowie des Friedenswillens von Konfliktparteien gerichtet werden, als auf das Eintreten einer Reife-Phase im Konfliktablauf („Willingness Instead of Ripeness“).8

R.F. Randle arbeitete auf der empirischen Basis komparativer Auswertungen zahlreicher historischer und gegenwärtiger Kriege ein idealtypisches Muster der Sequenzen und Elemente von Kriegsbeendigungen und Friedensregelungen heraus, das auch weiterhin als nützlich anzusehen ist.9 Nach den »Präliminarien«, der Grundsatzentscheidung zum Frieden und dem Ausstrecken von »Friedensfühlern« zum Austesten der Bereitschaft des Gegners und zur Vorbereitung von Verhandlungen (Zeit, Ort, Agenda und Teilnehmer) folgt dann die Überschreitung der »Schwellen« zur Regelung der militärischen und politischen Probleme des bewaffneten Konflikts. Die Regelung militärischer Probleme umfaßt beispielsweise Feuereinstellungen, Waffenstillstände, demilitarisierte Zonen, Demobilisierungen sowie Überwachungs- und Kontrollmaßnahmen. Die politischen Probleme bedürfen einer Regelung territorialer und personenbezogener Fragen (z.B. Gefangenenaustausch und Flüchtlingsrückführung), einer Gewährung von Sicherheitsgarantien (z.B. Amnestierung ehemaliger Guerillakämpfer), vor allem aber einer Klärung der Machtfrage und der politischen Ordnung. Eine wirklich stabile Nachkriegsordnung kann es nach Randle nur geben, wenn es zu einer erfolgreichen Regelung sowohl der militärischen als auch der politischen Probleme eines kriegerischen Konflikts gekommen ist. Nachdrücklich verweist er auf zahlreiche defizitäre und defekte Friedensregelungen, die letztlich zum Scheitern verurteilt waren.

Im Vergleich zu zwischenstaatlichen Konflikten scheinen Bürgerkriege, und damit die vorherrschenden Konflikte der Gegenwart, relativ schwerer zu beenden, zu regeln und zu lösen zu sein. Dies gilt insbesondere für die sogenannten »protracted or intractable conflicts« ethno-nationaler Prägung, die als langandauernde und hartnäckige Auseinandersetzungen eine hohe kriegerische Resistenz aufweisen. Selbst die Beendigung solcher Konflikte ist häufig instabil und transitorisch. Als Gründe hierfür werden die tendenziell asymmetrische Struktur von Bürgerkriegen, die erst nach längerer Dauer überwunden werden kann, die häufig vorliegenden Identitäts-, Wert- und Normenkonflikte, die weniger verhandelbar und kompromißfähig seien als Territorial- und Ressourcenkonflikte, sowie die friedenspolitischen Einmischungen von außen entgegenstehenden Völkerrechtsnormen der Souveränität und Nichteinmischung genannt.

Neuere theoriegeleitete und komparative Untersuchungen zur Beendigung von Bürgerkriegen haben folgende Schlüsselfaktoren identifiziert:10 die Art des Konfliktes (Herrschaftskonflikt, Sezessionskonflikt, ethnischer Konflikt etc.) einschließlich der »nature of issues underlying the conflict«; die Binnenstruktur der Kriegsparteien (u.a. Stärke der Führerschaft, interne Rivalitäten); die militärische Balance auf dem Schlachtfeld (Siege, Niederlagen, Erwartungen) sowie die Einwirkung externer Parteien (Einmischung von außen mit Zuckerbrot und/oder Peitsche bzw. mit Vermittlungsangeboten) und die Art der angestrebten Friedensregelung (»nature of settlement and state formation«). Allerdings ließ sich bei der Auswertung der Studien kein klares, einheitliches Muster der Kriegsbeendigung erkennen; vielmehr zeigte das Ergebnis, „that stable settlements can emerge under a remarkable variety of conditions“.11 Dieser Befund führte zu der Einsicht, von der Vorstellung einer eindeutigen Regelhaftigkeit Abschied zu nehmen und „to conceive of the termination of civil violence as a set of processes in which there are certain critical choice points“.12

Seit dem Ende des Ost-West-Konflikts wird im Rahmen der Debatten über die Neue Weltordnung, die Rolle der UNO und die Sinnhaftigkeit von Einmischung und Intervention, namentlich unter dem Eindruck des zweiten Golfkrieges, des Jugoslawienkonflikts und der Ereignisse in Somalia, intensiv die Frage diskutiert, ob, auf welche Weise und mit welchen Mitteln die internationale Gemeinschaft von außen zur Kriegsbeendigung und Friedensregelung beitragen könnte und sollte. Diese Frage zielt zunächst auf die Relation zwischen eher endogenen, »eigendynamischen« und eher exogenen, »fremdbestimmten« Elementen kriegerischer Konfliktprozesse. In welchem Maße läßt sich unter friedenspolitischen Zielsetzungen überhaupt von außen auf die »Dynamik« von Konflikten und die Kosten-Nutzen-Kalkulation sowie auf die Wahrnehmung und das Verhalten von Kriegsparteien Einfluß nehmen? In der Regel scheint dies nur sehr schwer und recht begrenzt möglich zu sein. Die Vorstellung einer globalen friedenspolitischen Steuerung und Kontrolle kriegerischer Konfliktprozesse, etwa von seiten der großen Mächte oder der UNO, wird der komplexen Realität kaum gerecht und offenbart mehr sozialtechnologische Anmaßung und machtpolitische Arroganz als Empathievermögen und Selbstbescheidung. Des weiteren stellt sich die Frage nach den geeigneten Akteuren und Mitteln externer Einmischung. Sollen eher Staaten und internationale Organisationen mit »Zuckerbrot und Peitsche« tätig werden, also mit positiven Anreizen oder negativen Sanktionsdrohungen einschließlich militärischer Zwangsgewalt, oder verstärkt auch nicht-staatliche Akteure (z.B. Kirchen, Friedensbewegungen, Menschenrechtsorganisationen) mit zivilgesellschaftlichen Mitteln auf die Beendigung von Kriegen hinwirken? Entkleidet man die heiß geführte Debatte über nicht-militärische versus militärische Mittel der Einmischung ihrer weltanschaulichen Elemente und fragt nach der tatsächlichen Tauglichkeit bestimmter Instrumente, so ergibt sich ein relativ klares Bild. Allenfalls in zwischenstaatlichen Konfliktlagen können militärische Zwangsmittel in Form von Kampfeinsätzen noch einen Sinn machen, nachdem sich alle anderen Mittel erschöpft haben; in Bürgerkriegen hingegen ist Friedenserzwingung, auch durch »robuste« UN-Blauhelme, aus strukturellen Gründen so gut wie unmöglich, abgesehen vielleicht von eindämmenden, dosierten Einsätzen in einem „größeren Rahmen umfassender ziviler Konfliktbearbeitung“.13 Nach der weitgehenden Einstellung von Kampfhandlungen allerdings können erweiterte UN-Operationen durchaus konstruktive Beiträge zur Stabilisierung der Kriegsbeendigung sowie zur Konsolidierung des Friedens leisten. Voraussetzung hierfür jedoch ist die verläßliche Kooperationsbereitschaft und der genuine Friedenswillen wichtiger Konfliktparteien und der betroffenen Bevölkerung. Generell ist im Hinblick auf die Rolle der internationalen Gemeinschaft bei der Beendigung von Kriegen und der Friedensstiftung ein großes Defizit im Bereich der Tätigkeit nicht-staatlicher Akteure und der Anwendung nicht-militärischer Mittel zu beklagen. Zur Aufarbeitung dieses Defizits sollten der konzeptionellen Kreativität und praktisch-politischen Erprobung daher keine Grenzen gesetzt sein. Dies gilt insbesondere für Bürgerkriegssituationen, in denen die herkömmlichen Konzepte und Mittel der Staatenwelt kaum greifen.

Von unstrittiger Bedeutung als nicht-militärisches Mittel der Kriegsbeendigung und Friedensstiftung ist seit langem die Vermittlung durch Dritte Parteien. Dieses Mittel steht in der Tradition herkömmlicher diplomatisch-völkerrechtlicher Instrumente und Verfahren »friedlicher Streitschlichtung«, ist allerdings, namentlich im angelsächsischen Raum, in den letzten Jahren konzeptionell-theoretisch und praktisch-politisch weiterentwickelt und verfeinert worden. Vermittlung agiert ohne Rückgriff auf Gewalt, basiert auf der Zustimmung der Konfliktparteien und will beiden Seiten eine kooperative, vorteilhafte Kriegsbeendigung ermöglichen. Erfolgreiche Vermittlung setzt allerdings eine Reihe günstiger Bedingungen voraus, zu denen nach Einschätzung mancher Autoren die glaubwürdige Bereitschaft der Parteien ebenso gehört wie eine geringe Intensität des Konflikts, ein angemessener Zeitrahmen sowie die Qualitäten und Ressourcen des Vermittlers. Umstritten sind die Art und Rolle des Vermittlers (staatliche oder nicht-staatliche Akteure, schwach oder machtvoll, Unparteilichkeit) in Relation zu dem »timing« von Vermittlung und unterschiedlichen Konfliktphasen. Doch letztlich gibt es hier kein einheitliches Muster und keine klare Handlungsanweisung, keinen „set of role categories and strategies that can be transferred automatically from one environment to another, from one dispute to another.“14 Bei aller Wertschätzung des Vermittlungsansatzes müssen jedoch auch einige seiner Schwachpunkte genannt werden: Vermittlung erzielt erst dann friedenspolitische Durchbrüche, wenn die Konfliktparteien den Willen zum Dialog und zum Frieden haben. Dieser Willensbildungsprozeß läßt sich zwar von außen beeinflussen, aber kaum sozialtechnologisch initiieren, steuern und kontrollieren. Vermittlung setzt nur einen institutionellen und kommunikativen Rahmen, innerhalb dessen friedenspolitische Chancen angeboten und genutzt werden können. In vielen Fällen greift Vermittlung daher erst nach langen Jahren blutiger Kriegsführung, großen menschlichen Leides und weitflächiger Verheerung der Kriegsschauplätze. Vermittlung ist auch keine Erfolgsgarantie für eine stabile Friedensregelung, da sie sich bisher im wesentlichen mit der Kriegsbeendigung begnügt, sich aber in der Regel nicht mehr um die Kriegsfolgenbewältigung und Konsolidierung des Friedens bemüht. Doch auch nach dem Ende von Kriegen müssen anhaltende politische Streitigkeiten in einem fortgeführten institutionalisierten Verhandlungsprozeß geklärt werden, müssen die Kontrahenten in einem konstruktiven Dialog kontinuierlich miteinander kommunizieren.

Kriegsfolgenbewältigung und Konsolidierung des Friedens oder neue Vorkriegszeiten?

Noch weniger als mit Fragen der Kriegsbeendigung und Friedensregelung befaßte sich die Friedens- und Konfliktforschung auf systematische Weise mit den Opfern und Folgen von Kriegen sowie mit der konstruktiven Gestaltung von Nachkriegszeiten, der Kriegsfolgenbewältigung, dem Wiederaufbau kriegszerstörter Länder und Regionen und der Konsolidierung des Friedens. Sobald nicht mehr geschossen wurde, also nach landläufiger Meinung »Frieden« herrschte, nahm das öffentliche Interesse rapide ab und wandten sich Wissenschaft und Politik rasch von den ehemaligen Kriegsschauplätzen ab. Dieses Desinteresse verkennt die immense Bedeutung konstruktiver Nachkriegszeiten, die bei mangelnder Implementierung von Friedensregelungen und mißglückter Bewältigung von Kriegsfolgen sehr schnell wieder zu neuen Vorkriegszeiten werden können. Die Konsolidierung des Friedens nach dem Ende von Kriegen ist also immer auch schon ein Element der Prävention, der Vorbeugung eines neuerlichen Ausbruchs kriegerischer Gewalt. Diese Aufgabe resultiert aus der Erkenntnis, daß »Frieden mehr ist als Nicht-Krieg«, und daß ein so verstandener positiver Frieden ein zielgerichtetes Anpacken auch der tieferliegenden Ursachen kriegerischer Konflikte sowie den Aufbau einer stabilen Friedensstruktur erforderlich macht. Kriegsfolgenbewältigung setzt zunächst einmal umfassende Kenntnisse der Kriegsopfer und gesamtgesellschaftlichen Kriegsfolgen voraus, auf denen aufbauend dann »Kriegsschadensbilanzen« angefertigt werden können. Gefordert sind also in einer »Opfer-Perspektive«15 Studien über die Breiten- und Tiefenwirkung kriegerischer Ereignisse, eine Art von »Sozialgeschichte des Krieges«16 oder »Human and Political Economy of War«.17 Die Bewältigung von Kriegsfolgen ist dann entsprechend als ein umfassender und vielschichtiger gesellschaftlicher Prozeß zu verstehen, der soziale, ökonomische, psychische und kulturelle sowie sicherheitspolitische und politische Dimensionen einschließt. So geht es um die soziale Rehabilitation und Reintegration von Kriegsopfern (z.B. von Entwurzelten und Flüchtlingen, Kriegsversehrten und Waisenkindern), den materiellen Wiederaufbau und die Dynamisierung von Landwirtschaft, Industrie und Handel (u.a. Wiederherstellung der Infrastruktur, der Transport- und Versorgungssysteme, Räumung von Minen, Konversion der Kriegswirtschaften zu Friedensökonomien), die individuelle und kollektive Verarbeitung von Kriegstraumata, die Demobilisierung bewaffneter Kräfte und die Neuformierung des Sicherheitsapparates (Reintegration von demobilisierten Soldaten und Kämpfern, Aufbau neuer Streitkräfte und deren politisch-rechtliche Kontrolle) sowie um die Regelung bzw. Lösung politischer Kernprobleme und die Rekonstruktion von Staat, Regierung und Zivilgesellschaft (u.a. Fragen der sozialen Gerechtigkeit, der Landverteilung, des Menschenrechtsschutzes, der Institutionenbildung, der demokratischen Partizipation und der Legitimierung neuer politischer Ordnungen). Besondere Bedeutung kommt in den meisten kriegsgeschädigten Gesellschaften den »Trümmerfrauen« zu, die in der Regel die Hauptlast der Kriegsfolgenbewältigung und des Wiederaufbaus tragen. Die eigenständige Rekonstruktions- und Selbstheilungsfähigkeit solcher Gesellschaften muß aber nachdrücklich von seiten der internationalen Gemeinschaft gestärkt und abgestützt werden.

Diese Aufgabe wird mittlerweile sowohl von den Vereinten Nationen als auch von verschiedenen entwicklungspolitischen Institutionen immer klarer erkannt und ernstgenommen. In der »Agenda für den Frieden« findet sich als innovatives Element das Konzept der »Friedenskonsolidierung« im Aufgabenkatalog der UNO.18 Diverse Träger von Katastrophen- und humanitärer Hilfe müßten nach dem Ende von Kriegen eine Art neuartiger »Krisenentwicklungshilfe« leisten, gleichsam als Verbindungsstück zwischen akuter Nothilfe in Kriegssituationen und langfristiger, normaler Entwicklungszusammenarbeit in Friedenszeiten.19 Die Vernichtung milliardenschwerer Entwicklungsinvestitionen durch langjährige Kriege hat dazu geführt, daß in manchen Fällen die Entwicklungszusammenarbeit immer mehr »zum Reparaturbetrieb zur Beseitigung von Kriegsschäden« zu werden droht, aber auch zu der Einsicht, wie wichtig und zukunftsträchtig gerade entwicklungspolitische Beiträge zur konstruktiven Kriegsfolgenbewältigung und Friedenskonsolidierung nach dem Ende von Kriegen sind. »Frieden schaffen ohne Waffen« will auch die Weltbank, nämlich durch die ökonomische Abstützung von (welt-)politisch wichtigen Friedensprozessen, wie beispielsweise im Nahen Osten (Weltbank-Plan für Palästina).

Auch der Gedanke der Wiedergutmachung sollte durchaus eine Rolle spielen, namentlich im Hinblick auf die ehemaligen Stellvertreter-Kriege, denn die »Spielwiesen« des Ost-West-Konflikts waren zugleich auch die »Tötungsfelder« der Entwicklungsgesellschaften!20

Von überragender Bedeutung für das Gelingen einer Friedenskonsolidierung insbesondere in Bürgerkriegssituationen, ist aber letztlich die Verständigungsbereitschaft, der Kompromißwille, der Interessenausgleich und die Versöhnung der ehemaligen Kriegsgegner, namentlich ihrer jeweiligen Führungsgruppen. Im Kern geht es hierbei um kritische Fragen der machtpolitischen Beteiligung, der ökonomischen Ressourcenverteilung und der sozialen Gerechtigkeit sowie der politischen Streitkultur. Die Beendigung von Bürgerkriegen erfordert immer eine Verständigung der Konfliktparteien auf eine Formel für die zukünftige Nachkriegsordnung. Hinter dieser Formel, die ja Elemente eines positiven Friedens einschließt, verbergen sich jedoch oft ungeklärte „Differenzen und Kontroversen um unterschiedliche gesellschaftspolitische Zielvorstellungen, über anzustrebende bzw. zu erhaltende soziale, ökonomische und politische Ordnungen“.21 Die einigermaßen faire Einlösung einer solchen von den ehemaligen Bürgerkriegsparteien vereinbarten Formel für die Nachkriegsordnung ist aber offenbar die wichtigste Erfolgsbedingung für die Schaffung eines relativ stabilen modus vivendi oder gar dauerhafteren Friedens. Letztendlich muß die Konsolidierung des Friedens jedoch in eine zivilisationstheoretische Perspektive eingefügt werden. Versteht man unter »Zivilisierung«, daß unvermeidliche Konflikte ohne Androhung und Anwendung von Gewalt ausgetragen werden, so läßt sich erst dann von einem dauerhaft gesicherten Frieden sprechen, wenn ein solch hoher Grad an Friedfertigkeit des Streitaustrags erreicht ist. Dies ist aber, wie die Zivilisationsgeschichte von Teilregionen Europas zeigt, erst nach langwierigen Entwicklungs- und Modernisierungsprozessen sowie der Herausbildung von zivilen, bürgerlichen Gesellschaften zu erwarten. In einem »zivilisatorischen Hexagon« hat D. Senghaas jüngst die wesentlichen Kriterien bzw. Eckpunkte von Zivilgesellschaft zusammengefaßt (Gewaltmonopol, Interdependenzen und Affektkontrolle, Soziale Gerechtigkeit, Konflikt-Kultur, Demokratische Partizipation, Rechtsstaatlichkeit);22 ob diese jedoch auch außerhalb Europas universelle Bedeutung gewinnen, müßte noch geprüft werden. Unverkennbar ist zudem, daß auch in bereits zivilisierten Regionen Regression und Entzivilisierung, mit anderen Worten der Ausbruch von Unfrieden und Krieg möglich ist. Plausibel erscheint, daß friedliche Konfliktregelungsprozesse in dem Maße Erfolgschancen haben, wie die Verbürgerlichung und Zivilisierung von Gesellschaft voranschreitet.

Defizite und Desiderata der Forschung

Die Transformation vom Krieg zum Frieden ist in der Regel ein langwieriger, vielschichtiger und schwieriger Prozeß, in dem verschiedene System- und Akteurebenen sowie diverse endogene und exogene Einflußfaktoren eng miteinander verwoben sind. Eine »Friedensursachenforschung«, die diesen Transformationsprozeß thematisiert und problematisiert, operiert vornehmlich mit dem Begriff des negativen Friedens, aber auch mit Elementen des positiven Friedensbegriffs.

Nach langer Vernachlässigung dieser Forschung gibt es noch keine »große Theorie« der »Ursachen des Friedens«, allenfalls erste Erklärungsansätze und Hypothesen. Ein klares, einheitliches Muster ist nicht erkennbar, vielmehr eine große Variabilität der Transformationsprozesse. Neben weiterer konzeptionell-theoretischer Arbeit sind vor allem vergleichende Fallstudien zu historischen und gegenwärtigen friedlichen Transformationsprozessen kriegerischer Konflikte erforderlich. Sowohl hinsichtlich der wissenschaftlichen Arbeit als auch der politischen Praxis ist Bescheidenheit angesagt. Geduldige, zähe Kleinarbeit muß geleistet werden; die Weltgemeinschaft wird auch weiterhin mit unbeendeten, ungeregelten und ungelösten kriegerischen Konflikten leben müssen. Auch Friedenszustände, friedliche Transformationsprozesse und Friedensschlüsse sind zudem historisch prinzipiell reversibel, häufig brüchige und instabile »provisorische Regelungen« (Seabury),23 anfällig für ihr Scheitern und den neuerlichen Ausbruch kriegerischer Gewaltförmigkeit. »Protracted Conflicts« bedürfen eben auch eines entsprechenden »Protracted Peace-Making« (Fox)24, eines langen Atems, langwieriger und schwieriger praktisch-politischer Lernprozesse; eines „Friedens als Zivilisierungsprojektes“ (Senghaas). Friedensursachenforschung und Friedensstiftung kommt eben nicht dem heilbringenden »Drachentöter« gleich, der mit einem Schlag den »Gordischen Knoten« aller kriegerischen Konflikte lösen könnte.25

Auf diesem Hintergrund erweist sich als wichtigste Aufgabe einer »Friedensursachenforschung« die präventive friedliche Bearbeitung von Konflikten und die Kriegsverhütung, nach der Maxime von Ch. Iklé: „Ending Wars Before They Start!“26 Für eine erfolgreiche Präventionspolitik ist jedoch sowohl die Kenntnis der Kriegsursachen als auch der Bedingungen des Friedens eine unverzichtbare Voraussetzung. Mithin sind Friedensursachen- und Kriegsursachenforschung zwei Seiten der gleichen Medaille, nämlich einer umfassenden Friedenswissenschaft.

Literatur

(zusätzlich zu der in den Anmerkungen genannten Literatur)

Peter Billing, Eskalation und Deeskalation internationaler Konflikte, Frankfurt am Main usw. 1992

Jörg Calließ/Christine M. Merkel (Hrsg.), Peaceful Settlement of Conflict-A Task for Civil Society, Rehburg-Loccum 1993

Michael Handel, The Study of War Termination, in: Journal of Strategic Studies, no 1, 1978

Winrich Kühne (Hrsg.), Blauhelme in einer turbulenten Welt,

Baden-Baden 1993

Volker Matthies (Hg.), Frieden durch Einmischung? Bonn 1993

Hugh Miall, The Peacemakers. Peaceful Settlement of Disputes Since 1945, London usw. 1992

Gordon A. Craig/Alexander L. George, Zwischen Krieg und Frieden. Konfliktlösung in Geschichte und Gegenwart, München 1984

Karlheinz Koppe, Konfliktprävention, Konfliktregelung, Konfliktbeendigung mit nicht-militärischen Mitteln, in: Sicherheit und Frieden 3/93

Anmerkungen

1) So Paul R. Pillar, Negotiating Peace. War Termination as a Bargaining Process, Princeton, New Jersey 1983, S. 5 und William T.R. Fox, The Causes of Peace and Conditions of War, in: ders (ed.). How Wars End, The Annals, vol. 392, November 1970, S. 3 f. Zurück

2) Egbert Jahn, Stichwort »Frieden«, in: Andreas Boeckh (Hrsg.), Internationale Beziehungen, Bd. 6 Lexikon der Politik (hrsg. v. Dieter Nohlen), München 1994, S. 156. Zurück

3) Siehe Dieter und Eva Senghaas, Si vis pacem, para pacem, in: Leviathan 2/1992. Zurück

4) Siehe William T.R. Fox, The Causes of Peace and Conditions of War, a.a.O., S. VIII. Zurück

5) Berenice A. Carroll, War Termination and Conflict Theory, a.a.O., S. 18. Zurück

6) So vor allem William I. Zartman, Ripe for Resolution. Conflict and Intervention in Africa, New York – Oxford 1989; ders. (ed.), Resolving Regional Conflicts: International Perspectives, The Annals, vol. 518, November 1991. Zurück

7) William I. Zartman, The Unfinished Agenda-Negotiating Internal Conflicts, in: Roy Licklider (ed.), Stopping the Killing. How Civil Wars End, NY, London 1993, S. 31. Zurück

8) Hierzu Marieke Kleiboer, Ripeness of Conflict: A Fruitful Notion? in: Journal of Peace Research, vol. 31. no. 1, 1994, S. 109 – 116; zur Kritik an Zartman siehe auch Roy Licklider, What Have We Learned and Where Do We Go From Here? in: ders. (ed.), Stopping the Killing, O., How Civil Wars End, New York/London 1993, S. 309. Zurück

9) Robert F. Randle, The Origins of Peace. A. Study of Peace- making and the Structure of Peace Settlements, New York und London 1973. Zurück

10) Roy Licklider (ed.), Stopping the Killing. How Civil Wars End, New York und London 1993, bes. S. 14 ff. Zurück

11) Roy Licklider, How Civil Wars End, a.a.O., S. 17. Zurück

12) Roy Licklider, How Civil Wars End, a.a.O., S. 18. Zurück

13) Vgl. Lothar Brock/Tillmann Elliessen, Zivilisierung und Gewalt, HSFK-Report 9/1993, Frankfurt am Main 1993, S. 64. Zurück

14) Jacob Bercovitch, International Mediation, in: Journal of Peace Research, vol. 28, no. 1, 1991, S. 4. Zurück

15) Ekkehart Krippendorff, The Victims-A Research Failure, in: Journal of Peace Research, vol. 18, no. 1, 1981. Zurück

16) Axel Harneit-Sievers (mit Beiträgen von G. Krüger und F. Schubert), Kriegsfolgen und Kriegsbewältigung in Afrika: Der nigerianische Bürgerkrieg 1967 – 70, Hannover 1992. Zurück

17) Reginald H. Green, Killing the Dream: The Political and Human Economy of War in Sub-Saharan Africa, Institute of Development Studies, Discussion Paper 238, Brighton/Sussex 1987. Zurück

18) Boutros Boutros-Ghali, Agenda für den Frieden. Vorbeugende Diplomatie, Friedenschaffung und Friedenssicherung, Dokumentationen, Informationen, Meinungen, Nr. 43. Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen, Bonn, Juli 1992; siehe z.B. auch die UNRISD-Studie: Rebuilding Wartorn Societies, United Nations Research Institute for Social Development, Genf, September 1993. Zurück

19) Vgl. Heike Henn/Stephan Klingebiel, Helfer im Kreuzfeuer: Humanitäre Hilfe in Kriegssituationen, in: V. Matthies (Hrsg.), Frieden durch Einmischung? Bonn 1993, S. 119. Zurück

20) Vgl. Antony Lake, After the Wars – What Kind of Peace? in: ders. (ed.), After the Wars. Reconstruction in Afghanistan, Indochina, Central America, Southern Africa, and the Horn of Africa, New Brunswick-Oxford 1990, S. 3. Zurück

21) Vgl. Egbert Jahn, Stichwort »Frieden« in: Andreas Boeckh (Hrsg.) Internationale Beziehungen, Bd. 6 Lexikon der Politik (hrsg. v. Dieter Nohlen), München 1994, S. 156. Zurück

22) Hierzu und zum folgenden Dieter Senghaas. Wohin driftet die Welt? Frankfurt am Main 1994, S. 17 ff. Zurück

23) Vgl. Paul Seabury, Provisionality and Finalty, in: William T.R. Fox (ed.), How Wars End, a.a.O. Zurück

24) William T.R. Fox, The Causes of Peace and Conditions of War, in: ders. (ed.), How Wars End, a.a.O., S. 12. Zurück

25) Hierzu Martin Mendler/Wolfgang Schwegler-Rohmeis, Weder Drachentöter noch Sicherheitsingenieur. Bilanz und kritische Analyse der sozialwissenschaftlichen Kriegsursachenforschung, HSFK-Forschungsbericht 3/1989, Frankfurt am Main, August 1989, S. 155. Zurück

26) Fred Charles Iklé, Every War Must End, New York und London 1971, Epilog. Zurück

Prof. Dr. Volker Matthies lehrt Politische Wissenschaft in Hamburg und betreibt Friedens- und Entwicklungsforschung. Anschrift: Lydiastr. 3, 22041 Hamburg.

Im Gleitflug in die Utopie

Im Gleitflug in die Utopie

Überlegungen zum 10. Jahresgründungstag der Naturwissenschaftler-Initiative »Verantwortung für den Frieden«

von Herbert Begemann

Vor genau 10 Jahren, am 2. und 3. Juli 1983 versammelten sich in Mainz 3.300 Naturwissenschaftler des In- und Auslandes, Professoren und Studenten, zu ihrem ersten Kongreß »Verantwortung für den Frieden«. Diese Initiative war nicht die erste berufsbezogene Gruppierung im Rahmen der umfassenden »Friedensbewegung«, aber mit ihr trat eine neue Qualität in Erscheinung: Waren bisher vorwiegend Sorgen und Ängste, Gefühle und Stimmungen die Beweggründe dieser Zusammenschlüsse, so trat jetzt die intelligente Kompetenz wissenschaftlicher Erkenntnis in den Vordergrund.

Ihr wichtigstes Vorhaben war die Vermittlung reproduzierbaren Wissens. Die Friedensbewegung sollte auch argumentativ unschlagbar sein. Viele der damals in Mainz anwesenden Professoren konnten auf ihre eigenen, oft jahrzehntelangen Vorarbeiten zurückgreifen, andere hatten die einschlägige wissenschaftliche Literatur akribisch ausgewertet; alle waren gewöhnt, in kritischer Distanz die vielschichtigen Probleme unserer Welt vorurteilsfrei zu analysieren und zu beschreiben. Zu Recht sollte damals und später der »Professionalität« dieser Vereinigung ein hoher Rang zukommen.

Eigentlicher Auslöser für die Gründung der neuen Initiative war bekanntlich (ähnlich den übrigen damals allerorten aufschießenden Friedensinitiativen) der sogenannte NATO-Doppelbeschluß mit seiner paradoxen Forderung: „Zuerst aufrüsten, dann abrüsten“! Im Verlauf dieses Unterfangens sollten auf dem Gebiet der BRD Mittelstrecken- und strategische Atomwaffen stationiert werden, so daß im Falle eines sowjetischen »Erstschlags« die BRD erstes und wichtigstes Ziel der angreifenden Atomraketen werden mußte. Unter diesen Umständen war der Widerstand »von unten« geboten. Bevölkerungsgruppen unterschiedlicher Interessen und Berufe schlossen sich zusammen, um dem militärischen Vorhaben »gewaltfreien Widerstand« entgegenzusetzen. Daß es damals dem »Krefelder Appell« in kurzer Zeit gelang, mehr als 4 Millionen Unterschriften gegen die Realisierung dieser politisch/militärischen Paradoxie zu sammeln, illustriert die Dringlichkeit der damaligen Forderungen.

Die Verhinderung der Stationierung von Mittelstreckenraketen in der BRD war auch das zentrale Anliegen der Naturwissenschaftler-Initiative. Doch verlangte dieses Vorhaben, wenn es effizient werden sollte, die eingehende Beschäftigung mit dem gesamten Fragenkomplex der atomaren Bewaffnung, der Herstellung von Atomraketen, ihrer Testung und Lagerung, ihrer Kontrolle mittels elektronischer Sicherheitsvorkehrungen, aber auch strategischer Fragen von »Erst- und Zweitschlagfähigkeit«. Hinzu kamen Überlegungen zu den wirtschaftlichen Folgen, die durch die gewaltigen Kosten der atomaren Rüstung zu erwarten seien, die ihrerseits nicht ohne den Blick auf die weitere technische und ökonomische Dominanz der Industriestaaten und der daraus resultierenden Verarmung der »Dritten Welt« zu beurteilen waren. Zu diesen schon sehr vielseitigen Wissenskomplexen kam in den folgenden Jahren die Auseinandersetzung mit den biologischen und chemischen Waffen und der damals sehr aktuellen, von den USA vorwärtsgetriebenen Aufrüstung des Weltraums. Die Ergebnisse des ersten Mainzer Kongresses fanden ihren Niederschlag im »Mainzer Appell«, der damals von 23 Universitätsprofessoren unterschiedlicher Fachrichtungen unterschrieben wurde. Die Vorträge des ersten und der späteren Kongresse wurden in extenso in Buchform publiziert1.

Eine heutige Retrospektive, 10 Jahre nach dem »Mainzer Appell«, stellt uns vor ein facettenreiches, aber deprimierendes historisches Gemälde. Die überraschende Auflösung der Sowjetunion und ihrer Satelitenstaaten brachte auch das Ende des Ost-West-Konflikts. Damit war ein jahrzehntealtes vordringliches Ziel europäischer und amerikanischer Machtpolitiker in Erfüllung gegangen. Aber auch die im Grundgesetz der BRD verankerte Wiedervereinigung von West- und Ostdeutschland wurde schneller als erwartet realisiert. Auf diese Weise erlebte das neue »große« Deutschland subjektiv seinen verspäteten Sieg im zweiten Weltkrieg und genießt jetzt als einer der reichsten europäischen Staaten großes internationales Ansehen.

Doch können wir uns bisher noch nicht uneingeschränkt der neuen politischen Stellung unseres Staates erfreuen. Der frühere, sich längst durch Europa ziehende »Eiserne Vorhang« ist durch ein anderes unsichtbares, aber ebenso dichtes Hindernis ersetzt, die wirtschaftliche Ungleichheit, die Unmöglichkeit gegenseitigen Verstehens zwischen reich und arm. Der Zerfall der Ordnungsmacht Sowjetunion hat viele der seit langem für überlebt gehaltenen ethnischen Gegensätze in erschreckender Weise aktiviert; neue Staatengebilde sind entstanden, die ihre Grenzen durch kriegerische Maßnahmen jeweils zu ihren Gunsten regulieren möchten. Die im Osten fast allgemein herrschende Armut hat zu Not, Hunger, Korruption und Kriminalität geführt. Eine erschreckende Arbeitslosigkeit hat die westlichen Industriestaaten, aber auch die ehemals sozialistischen Länder ergriffen. Die Erde ist ärmer, labiler und unsicherer geworden!

Nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation

Versucht man, diese neue politische Situation vor dem Raster der deutschen Friedensbewegung und deren Bestrebungen zu sehen, so ergibt sich ein schreckliches Zerrbild: die im Osten angesammelten Atomwaffen haben ein neues Gefahrenpotential aufgebaut; niemand weiß genau, wo sie aufbewahrt werden, wer sie wartet, bewacht und für sie überhaupt zuständig ist. Gerüchteweise erfährt man, daß sich jedermann für einen erstaunlich niedrigen Preis mit solchen Waffen eindecken kann, seien das nun Staaten zweifelhafter politischer Ambitionen oder Privatpersonen, die andere als nur SammlerInteressen haben. Der Terrorismus hat eine neue Dimension bekommen! Wohlhabende Staaten kaufen sich anstelle der fertigen Waffen lieber die jetzt arbeitslosen osteuropäischen Konstrukteure von A-, B- und C-Waffen, um in eigenen Fabriken ihr Waffenarsenal nach »Maß« ausgestalten zu können.

Auch die BRD hat vom Zerreißen des »Eisernen Vorhangs« und dem Abriß der Berliner Mauer wenig profitiert. Der von westlichem Optimismus und ahnungslosem Zutrauen des Osten getragene, der Vereinigung von BRD und DDR entgegengebrachte Optimismus verpuffte wirkungslos. In der Mitte Europas gelegen mußte uns das resultierende politische und wirtschaftliche Desaster des Ostens besonders hart treffen. Unsere neue, monetär gestützte Politik legitimierte zunächst unsere politische Vormacht, verzehrte aber auch schneller als erwartet unseren Wohlstand. Hinzu kommen Kriegs- und Wirtschaftsflüchtlinge, die in unserem Staat Sicherheit und Arbeit suchen. Eine neue Völkerwanderung hat begonnen.

Um ihren Folgen zu begegnen, beschritten wir – wie schon oft zuvor – den Weg des geringsten Widerstands: Nach dem ersten Schritt zur Demontage unseres Grundgesetzes in den 50er Jahren, der Remilitarisierung unseres Staates, begingen wir jetzt den zweiten Sündenfall, den faktischen Abbau des Asylrechts. An die Stelle politischer Moral trat das Scheckbuch. Die durch die historischen Umstände zu den Armen Europas abgestiegenen Staaten, die Tschechen und Polen, wurden von uns zu »sicheren Drittländern« ernannt und dazu veranlaßt, gegen finanzielle Entlohnung einen nicht geringen Teil der bei uns um Asyl nachsuchenden Menschen bei sich aufzunehmen.

Erfolge und Niederlagen

Die Friedensbewegung – und das gilt natürlich nicht nur für die Naturwissenschaftler-Initiative – hat im letzten Jahrzehnt die von ihr deklarierten Ziele (Abschaffung von Atomwaffen und Militarismus, Abbau naturzerstörender Lebens- und Wirtschaftsfaktoren, Herstellung größerer sozialer Gerechtigkeit auf nationaler und internationaler Ebene) nicht erreicht. Trotzdem hat sie Wirkungen entfaltet, die nicht unterschätzt werden dürfen. Sie hat dazu beigetragen, das Bewußtsein vieler Menschen nicht nur in unserem Land grundsätzlich zu verändern. Vor allem wurde das Prinzip der Gewaltlosigkeit bei der Bewältigung persönlicher und zwischenstaatlicher Konflikte in den Köpfen weiter Teile der Bevölkerung etabliert. Noch deutlicher sind weltweit die Änderungen in der Einstellung zur natürlichen Umweit. Wenn kürzlich in den USA ein Vize-Präsident (Al Gore2) gewählt wurde, dessen erklärtes Ziel eine Verknüpfung von ökonomischen mit ökologischen Bedürfnissen ist, so sollten wir das als ein Zeichen für den Beginn eines allgemeinen Umdenkens auch in den USA verstehen.

Doch dürfen wir über das Erreichte nicht vergessen, daß die wichtigsten Ziele der Friedensbewegung, unter ihnen die Abkehr von Militär und Militarismus, noch in weiter Ferne liegen. Auch bei uns kann man sich ohne Schwierigkeiten mit Angehörigen aller Bevölkerungsschichten über ökologische Probleme verständigen, bei Fragen der Entmilitarisierung reagieren viele Menschen noch immer »allergisch«.

Die große Zahl kriegerischer Verwicklungen, die sich gegenwärtig auf der Erde abspielen, haben eine allgemeine Ratlosigkeit ausgelöst. Nur wenige Menschen sehen ein, daß beispielsweise der tragische Jugosiawienkonflikt geradezu ein Beweis für die Notwendigkeit einer allgemeinen Entmilitarisierung ist, daß auch »friedenerzeugende« Handlungen aggressiv sind und uns hinsichtlich der Einschätzung des Militärs vor die gleichen Probleme stellen wie jeder »militärische Friedensdienst« oder das Paradoxon des »Bürgers in Uniform«3.

Fehler

Unter der kritischen Perspektive unseres zumindest partiellen Mißerfolgs ergibt sich die grundsätzliche Frage: Was hat die Friedensbewegung im letzten Jahrzehnt falsch gemacht? Diese Frage muß auf unterschiedlichen Ebenen beantwortet werden.

1. In unserer konkreten politischen Situation war es naheliegend, das Problem der Entmilitarisierung auf den Abbau der Atomwaffen einzuengen, doch war dieses Vorgehen von vornherein zu kurz gegriffen, und zwar

  • weil die Regierung der BRD keinerlei Verfügungsgewalt über die Atomwaffen besaß, so daß die Forderungen ihrer Beseitigung ohne einen zuständigen Adressaten ins Leere gingen;
  • weil jedes Waffensystem, wenn es einmal entworfen und hergestellt wurde, im »Ernstfall« von fast allen Staaten reaktiviert werden kann. Das gilt letztlich auch für die Atomwaffen. Da hilft auch kein »Atomwaffensperrvertrag«;
  • weil auch die hochentwickelten »konventionellen« Waffen den A-, B- und C-Waffen an Grausamkeit und Zerstörungskraft kaum nachstehen.

Als Quintessenz ergibt sich, daß, wenn wir auch nur vor einzelnen Waffensystemen sicher sein wollen, müssen wir eine komplette Entmilitarisierung ohne jedes Wenn und Aber verlangen!

2. Wir haben den Ost-West-Konflikt falsch eingeschätzt, d.h. die historische Bedeutung der Sowjetunion unterschätzt. Erst nach dem Zerfall des sozialistischen Riesenreichs haben wir erkannt, daß seine Ordnungsmacht im Osten Europas und partiell auch in Asien schlechterdings durch nichts zu ersetzen ist. Im Gegenteil – es dämmert uns langsam, daß durch den Zerfall der Sowjetunion möglicherweise nichts weniger als der »Kollaps der Moderne«4 mit einem Niedergang auch unseres Wirtschaftssystems eingeleitet wurde. Daß wir die Sowjetunion und die Folgen ihres Untergangs falsch bewerteten, daß wir nicht energischer, als das geschehen ist, auf eine Verständigung des Westens mit dem Ostblock hingearbeitet haben, ist eine schuldhafte Unterlassung!

Perspektiven

Wie wird es künftig weitergehen? Hat die Naturwissenschaftler-Initiative, hat die Friedensbewegung überhaupt noch Aufgaben und Chancen? Diese Fragen müssen auch jetzt noch mit einem eindeutigen »Ja« beantwortet werden. Die vielfältigen Probleme unserer Erde sind im letzten Jahrzehnt gravierender und prekärer geworden. Als vordringlich bieten sich folgende Arbeitsbereiche an:

1. Die Friedensfrage

Die Abschaffung aller Atomwaffen, ihrer Weiterentwicklung und Testung bleibt eine wichtige Forderung der Zukunft. Dieses Ziel kann aber nur – wie oben dargelegt – durch eine totale Entmilitarisierung erreicht werden. Auch geht es nicht allein um die A-, B- und C-Waffen. Eine Zivilisation, die gewohnt ist, aus jeder technischen Innovation neue gefährliche Waffen zu entwickeln, wird wahrscheinlich viele Möglichkeiten sehen, einen Teil der täglich weltweit anfallenden etwa 1000 neuen Chemikalien5 in neue Waffensysteme umzumünzen. Wir sollten uns auch nicht durch Sirenenklänge der Hardthöhe betören lassen, die uns neuerdings eine exklusiv friedenschaffende Armee oder eine Bundeswehr mit ausschließlich ökologischen Aufgaben vorgaukelt. Durch Militär erzwungener Frieden kann immer nur ein zeitlich begrenzter Waffenstillstand sein. Außerdem zählt Militär zu den herausragenden antiökologischen Institutionen, und bei der Ausbildung von Soldaten ist das Prinzip Ökologie bisher noch unbekannt, so daß wir zum Schutz der Umwelt besser auf andere Organisationen zurückgreifen.

Andrerseits sind die Voraussetzungen für eine vollständige Entmilitarisierung in unserem Staat nicht so ungünstig wie man das zunächst vermutet: Die trotz der fühlbaren dienstlichen Mehrbelastung der »Zivis« ständig wachsende Zahl von Kriegsdienstverweigerern6 ist eine Art permanenter Volksentscheid gegen Rüstung und Militär. Trotzdem wird bis zu einer entgültigen Entmilitarisierung noch einige Zeit vergehen. Schneller durchsetzbar sollte dagegen ein absolutes Verbot von Waffenexporten (und Waffenproduktion) sein. Auch jüngste Erfahrungen zeigen uns, wieviel Not und Leid wir verhindern könnten, wenn die Industriestaaten nicht alle Welt mit Waffen versorgten.

2. Die Armut der »Entwicklungsländer«

Die Armut der »Entwicklungsländer« ist ohne Zweifel komplementär zum Reichtum der Industrieländer. Es ist eine vordringliche Aufgabe aller, »die Guten Willens sind«, nach Wegen zu suchen, die eine gerechte Verteilung der natürlichen Ressourcen unserer Erde und der industriellen Produktion mit ihren Gewinnen garantieren. Not, Hunger und Entbehrungen auf der einen (sehr großen) Seite der Menschheit zugunsten von Überfluß, Reichtum und Verschwendung auf der anderen (sehr kleinen) Seite sind nicht nur moralisch unerträglich, sondern hochgradig gefährlich und kriegstreibend.

3. Die Entwicklung einer »nachhaltigen Wirtschaft«

Eine besonders schwierige Aufgabe wird die Kreierung einer Wirtschaft sein, die ökologisch verträglich ist. Für die Angehörigen der Industrieländer dürfte das den Abschied von vielen liebgewonnenen Gewohnheiten und Vorstellungen bedeuten. Endlich wird man die Ideologie der »Wachstumsgesellschaft« als das entlarven, was sie schon immer war: ein den Konsum überflüssigerweise antreibender widersinniger Nonsens7. Da Arbeit infolge der zunehmenden Mechanisierung der Güterproduktion ständig weniger wird, werden wir Arbeit und Produktion entkoppeln, jedenfalls in ein neues Verhältnis zueinander bringen müssen. Vielleicht wird sogar für uns »Reiche« eine neue Form von Genügsamkeit zu entwickeln sein: Die Bewertung des Mitmenschen sollte nach seinem humanen und ökologischen Verhalten und nicht nach seinem Anteil am Güterkonsum erfolgen.

Eine neue menschliche Gesellschaft

Diese drei Problemkreise stehen miteinander in einem engen Zusammenhang. Zur ihrer Lösung sind nicht nur guter Wille und eine innere Bereitschaft notwendig, sondern auch ein vielseitiges Wissen, das von den Naturwissenschaften über geschichtliche, theologische und psychosoziale bis zu politischen Fachkenntnissen reicht. Tatsächlich ist das Ziel nichts geringeres als die Konzeption einer neuen menschlichen Gesellschaft, in der Vertrauen und Hilfsbereitschaft herrschen und Kooperation die jetzt dominierend Egozentrik verdrängt. Diese Gesellschaft wird demokratisch sein müssen, wenn wir darunter die Überwindung aller sozialer Asymmetrien auf nationaler und internationaler Ebene verstehen und die Unterdrückung von Menschen und ihre Ausbeutung nicht mehr zulassen wollen. Sie wird aber auch regional gegliedert sein müssen, um der ungleichen historischen und kulturellen menschlichen Entwicklung Rechnung tragen zu können.

In diesem gesellschaftlichen Ordnungsprozeß werden sämtliche in den letzten zwei Jahrzehnten gegründeten politischen Initiativen Ihren Platz haben, auch die Naturwissenschaftler-Initiative.

Die größten Schwierigkeiten ergeben sich aber nicht bei der Konzipierung neuer gesellschaftlicher Grundsätze, sondern bei deren Realisierung. Wir alle wissen, wie eine Gesellschaft aussehen muß, wenn sie das Attribut »menschlich« für sich in Anspruch nehmen will: Jedes einzelne Mitglied dieser neuen Gesellschaft sollte auf das Wohlergehen seines Nachbarn mehr achten als auf seinen eigenen Nutzen, so daß Hunger und Not in den »Entwicklungsländern« für uns – die Bewohner der Industrieländer – ebenso wichtig sind, wie unsere eigenen Bedürfnisse; jeder von uns sollte für sich selbst ein hohes Maß von Askese entwickeln, um den eigenen und den gesamten Energieverbrauch in den für unseren Lebensraum erträglichen Grenzen zu halten sowie den eigenen und den gemeinschaftlichen Konsum quantitativ und qualitativ so auszutarieren, daß die lebenswichtigen physikalischen und biologischen Gleichgewichte nicht gestört werden. Das alles wissen wir sehr gut, doch hapert es – wie wir uns täglich überzeugen können – daran, bekanntes Wissen in die Tat umzusetzen. Wir alle sind Egozentriker, und die Staaten sind ebenso egozentrisch. Was wir benötigen, sind nicht mehr Informationen, sondern mehr guter Wille und mehr Kraft, das Notwendige zu realisieren!

Anmerkungen

1) Zu den wichtigsten Buchveröffentilchungen der Naturwissenschaftler-Initialive gehören: H.P. Dürr, H.P. Haries, M. Kreck, P. Starlinger (Hrg.): Verantwortung für den Frieden. Rowohlt Hamburg 1983.
R. Labusch, E. Maus, W. Sand (Hrg.): Weltraum ohne Waffen. Bertelsmann, München 1984.
W. Dosch, P. Herrlich (Hrg.): Ächtung der Giftwaffen – Naturwissenschaftler warnen vor chemischen und biologischen Waffen. Fischer-Taschenbuch, Frankfurt 1985. Zurück

2) Al Gore: Wege zum Gleichgewicht – Ein Marshallplan für die Erde. Fischer, Frankturt 1992. Zurück

3) Die Problematik von allgemeiner Wehrpflicht und Militärdienst wird besprochen u.a. in: H. Begemann: Krieg ist keine Krankheit, in H. Albertz (Hrg.): Warum ich Pazifist wurde. Kindler, München 1983. Und: H.Begemann: Kriegsdienstverweigerung als Beitrag zur Friedenssicherung. Blätter für deutsche und internationale Politik 31(1986), 869. Zurück

4) R. Kurz: Der Kollaps der Modernisierung – Vom Zusammenbruch des Kasernensozialismus zur Krise der Weltökonomie. Eichborn, Frankfurt 1991. Zurück

5) Diese Zahl wurde von dem bekannten Kieler Chemiker O. Wassermann genannt in seinem Vortrag: Die Belastung der Umwelt mit technischen Schadstoffen anläßlich der 36. Jahrestagung der Süddeutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde, Bad Dürkheim 8.-10. Mai 1987. Zurück

6) Die Zahl der Kriegsdienstverweigerer ist in der BRD in einem dauernden Anstieg begriffen. Laut einem Bericht der Süddeutschen Zeitung vom 14.5.93 verweigerten bei uns im Jahr 1992 insgesamt 133.800 Männer den Wehrdienst, im ersten Quartal 1993 waren es 44.187, 5.700 mehr als im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Diese Zahlen sind für unsere Milltärexperten sehr besorgniserregend, so daß sie sich bereits Gedanken machen über Änderungen der Verweigerungspraxis. Zurück

7) Wirtschaftswachstum ist »exponentielles Wachstum«. Ein solches aber ist weder in biologischen noch in sozialen Systemen erträglich. Die Absurdität von »Wachstumsgesellschaften« wird uns bewußt, wenn wir uns vor Augen führen, daß bei einer jährlichen Wachtumsrate von nur 2,0% (diese ist nach Ansicht der meisten Wirtschaftsexperten zu niedrig, um den Fortbestand unseres Lebensstandards auf Dauer zu sichern) die Verdopplungszeit nur 35 Jahre beträgt; das heißt im Klartext, daß bereits bei dieser sehr niedrigen Wachstumsrate sich sämtliche Wirtschaftsdaten, vom Konsum unserer lebenswichtigen unersetzlichen Ressourcen über den Energieverbrauch bis zur anfallenden Müllmenge verdoppeln. Die klarsten Aussagen zu diesem Problem finden sich In den Büchern der MIT-Mitarbeiter Meadows: D. Meadows, D. Meadows, E. Zahn, P. Mllling: Die Grenzen des Wachstums – Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit. DVA, Stuttgart 1972 und D.H. Meadows, D.L. Meadows, J. Randers: Die neuen Grenzen des Wachstums – Die Lage der Menschheit: Bedrohung und Zukunftschancen, DVA, Stuttgart 1992. Zurück

Prof. Dr. med. H. Begemann war Gründungsmitglied der IPPNW und der Naturwissenschaftler-Initiative.

Ten Years After – »Verantwortung für den Frieden«

Ten Years After – »Verantwortung für den Frieden«

Politische und wissenschaftliche Impulse im letzten Jahrzehnt des Ost-West-Konfliktes1

von Corinna Hauswedell

(…) In der Auseinandersetzung um das SDI-Programm und seine weitereichenden politischen Implikationen haben die naturwissenschaftlichen Forschungen und friedenspolitischen Initiativen – ausgehend von den USA – ihre vermutlich größte Wirkung entfaltet. In noch markanterer Weise als bei der Raketendiskussion gelang eine für die Naturwissenschaftler spezifische Einflußnahme in einem sich wandelnden internationalen Umfeld.

Drei Ebenen friedenswissenschaftlichen Engagements trugen aus heutiger Sicht zu dieser Wirkung bei: Erstens der öffentlich geführte technische Nachweis, dass das perfekte weltraumgestützte Abwehrschild eine Illusion, der drohende neue Rüstungstechnikwettlauf jedoch hochgradig destabilisierend sein könne1, zweitens die abrüstungspolitische Initiative, der UNO und der Bundesregierung einen von Physikern, Mathematikern und Völkerrechtlern erarbeiteten internationalen Vertragsentwurf gegen die militärische Nutzung des Weltraums vorzulegen3, und drittens Versuche, über internationale Wissenschaftskooperation einzelner Mitglieder der Initiative, am Prozess des „Neuen Denkens“ in der UdSSR mitzuwirken. (…). Gorbatschow führte in seinem Buch „Perestroika“ einige seiner Entscheidungen in den Jahren 1986/87 auch auf das Zusammentreffen mit westlichen Wissenschaftlern zurück; über das Moskauer Forum „Für eine Welt ohne Atomwaffen – Für das Überleben der Menschheit“ im Februar 1987, bei dem unter den ca. 1000 Teilnehmern – Andrej Sacharow trat erstmals öffentlich auf – auch Vertreter der Naturwissenschaftler-Initiative und IPPNW (…) waren, schrieb er:“…(dort) hatte ich Gelegenheit, Stimmung, Gedanken und Ideen einer internationalen intellektuellen Elite kennenzulernen…Ich habe über die Ergebnisse des Konghresses mit meinen Kollegen vom Politbüro gesprochen und wir haben beschlossen, einen wichtigen Kompromiß zu machen: Das Paket von Reykjavik aufzuschnüren und das Problem der Mittelstreckenraketen von anderen Problemen zu trennen.“ 4 Am 28.2.1987 erklärte er die Bereitschaft zur Entkoppelung der INF-Vereinbarungen von der SDI-Problematik, und machte damit den Weg für das erste atomare Abrüstungsabkommen frei.

Die Einflüsse der Friedenswissenschaft sollen nicht überbewertet werden. Aber die nochmalige Zuspitzung der Rüstungstechnologie-Spirale seitens des Westens unter expliziter Indienstnahme der Wissenschaft einerseits (…) und die zum Umdenken drängende Krise des östlichen Systems andererseits, die wesentlich auch eine Krise der wissenschaftlich-technisch-industriellen Entwicklung unter den Bedingungen der Bipolarität war, motivierten eine (internationale) Gruppierung wie die friedensbewegten Naturwissenschaftler in besonderer Weise zum Engagement. Die beiden internationalen Friedenskongresse, die 1986 in der Bundesrepublik stattfanden, der 6. Weltkongress der IPPNW in Köln und der 1. Internationale Naturwissenschaftlerkongreß „Ways out of the Arms Race“, mit der Verabschiedung der „Hamburger Abrüstungsvorschläge“, zeitigten eine hohe öffentliche und politische Resonanz (…); die unterschiedlichen Dimensionen des gemeinsamen Überlebens gewannen – beim IPPNW-Kongreß schon stärker als in Hamburg – gegenüber der Auseinandersetzung mit den Fragen der militärischen Bedrohung eine wachsende Bedeutung. (…)

Auch wenn viele Mitglieder der Initiative mit dem Erreichten unzufrieden waren, und seit Beginn der 90er Jahre ein Rückgang der Arbeit an den Hochschulen zu verzeichnen ist, gehört die Veränderung der Hochschullandschaft, das punktuelle Hineinwirken in den Wissenschaftsbetrieb und schließlich die – wenn auch ungesicherte – Etablierung neuer zumeist interdisziplinärer Forschungsprojekte zu ihren wichtigsten Erfolgen5. Ausgehend von den 1982/83 begonnenen, an einigen Hochschulen über vier bis sechs Jahre laufenden Rungvorlesungen und den von 1985 bis 1990n in jedem Herbst durchgeführten Friedenswochen konnte ein unkonventionelles meist interdisziplinäres Lernrpogramm Kontuiren gewinen. Die frühen Seminarprogramme „Physik und Rüstung“, erst in Marburg, später in Hamburg, boten Ansätze für ein friedenswissenschaftliches Curriculum der Naturwissenschaften, auch der Didaktik (…). Die Ausbildung eines Nachwuchses spielte von Anfang an eine wichtige Rolle. Mit den zunächst durch die VW-Stiftung geförderten Programmen kamen in Bochum, Darmstadt, später Hamburg und Kiel Projekte naturwissenschaftlicher Abrüstungsforschung zustane (…), -eine Innovation an deutschen Hochschulen -, die allerdings ums Überleben kämpfen müssen. Im Rahmen iniger dieser Projekte, teilweise auch über die Teilnahme an den Kongressen, entwickjelten sich seit 1987 Ansätze einer Kooperation mit der institutionellen, vorwiegend sozialwissenschaftlichen Friedensforschung. (…) Die friedenspolitischen Aktivitäten der Initiative seit 1988 waren meistenteils an den genannten Forschungsvorhaben orientiert. Dies gilt einerseits für die Arbeiten der Bochumer und Hamburger zur Verifikation konventioneller Abrüstung, wo es über Workshops und internationale Experimente auch zum Aufbau von Kontakten zu den verantwortlichen Ministerien kam (…); zum anderen für die umfangreichen Studien der darmstädter IANUS-gruppe zum gesamten Komplex Technologieentwicklung und Rüstungsdynamik.6 Hier hat sich in einer für die deutsche Wissenschaftslandschaft bisher einmaligen Struktur eine interdisziplinäre Expertise zu vielfältigen Aspekten der zivil-militärischen Ambivalenz von Forschung und Technik herausgebildet, der es schnell gelungen ist, in die »Post-Cold-War«-Debatte, vor allem über das Thema Proliferation einzusteigen (…).

Eine Ausnahme von diesen an laufenden Forschungen orientierten Aktivitäten bildete die seit 1988 geführte Auseinandersetzung um das internationale Chemiewaffenabkommen und die Beseitigung der amerikanischen C-Waffen in der Bundesrepublik. In »klassischer« Weise wurden Memoranden verfaßt und den Politikern vorgelegt sowie eine Mahnwache vor dem Chemiewaffendepot in Fischbach durchgeführt (…). Es kam 1989 auch zu einem umfangreichen Briefwechsel mit den Bundestagsfraktionen, dem Kanzleramt, sowie zu einem Gespräch mit dem AA.
7

Zu den Versuchen friedenspolitischer Einflußnahme gehörte auch die Unterstützung unterschiedlicher parteiübergreifender Initiativen zu den Bundestagswahlen 1987.

Anmerkungen

1) Dieser Artikel wird vollständig in dem Reader der Naturwissenschaftler-Initiative »Verantwortung für den Frieden« zu ihrem zehnjährigen Bestehen abgedruckt; hier auszugsweise zu dem Aspekt der Auswirkungen und Erfolge der Initiative. Zurück

2) Entfällt

3) Text des Vertragsentwurfes in R. Labusch et al. (Hrs.), a.a.O., S. 175 ff. Zurück

4) M. Gorbatschow: Perestroika. Die zweite Revolution, München 1987, S.196 Zurück

5) Für den Zeitraum von 1986-89, vergl. C. Hauswedell, Friedensforschung und Friedenswissenschaft an den Hochschulen. Neue Entwicklungstendenzen und Perspektiven, in: U. Wasmuht, Friedensforschung. Eine Handlungsorientierung zwischen Politik und Wissenschaft, Darmstadt 1991. Zurück

6) Interdisziplinäre Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheitspolitik in der TH Darmstadt (IANUS), Selbstdarstellung/Mitglieder/Publikationsliste, Dezember 1991. Zurück

7) Unterlagen in Archiv CH; auszugsweise auch in Rundbrief 3/89, S.21 ff. Zurück

Corinna Hauswedell ist Vorsitzende der Informationsstelle Wissenschaft und Frieden, Bonn.

Künstliche Gehirne für den Krieg?

Künstliche Gehirne für den Krieg?

Zivil-militärische Verflechtungen in der Neuroinformatik

von Markus Jathe • Jürgen Scheffran

In Absprache mit der Bundeswehr in Koblenz und dem französischen Verteidigungsministerium veranstaltete das Deutsch-Französische Forschungsinstitut St. Louis (ISL) am 1. und 2. Juli dieses Jahres einen Workshop über den Einsatz künstlicher Neuronaler Netze in der Wehrtechnik und -forschung.
In möglichst lockerem Rahmen sollten Kontakte zwischen den französischen und deutschen Gruppen und Forschern hergestellt werden, die z.T. an sehr ähnlichen Problemen arbeiten. Das ISL, das seit über 30 Jahren binational auf dem Gebiet der Wehrforschung tätig ist, beschäftigt sich seit Anfang 1992 in einer kleinen Arbeitsgruppe (2-3 Personen) mit der Anwendung Neuronaler Netze auf Probleme der Bildauswertung und -Erkennung. Militärische Zielsetzungen sind dabei inbegriffen. In diesem Beitrag, der auf einer umfangreichen Studie der Autoren basiert1, wird ein Überblick über zivile und militärische Anwendungsfelder Neuronaler Netze gegeben und auf mögliche Folgen hingewiesen. Abschließend folgen einige Ergebnisse des ISL-Workshops.

Was sind Neuronale Netze?

Künstliche Neuronale Netzwerke (Artificial Neural Networks, ANNs) sind den Gehirnstrukturen nachempfundene Informationsverarbeitungssysteme, in denen viele parallel verbundene Einzelprozessoren (Knoten, Neuronen) miteinander wechselwirken. Anhänger der »konnektionistischen Revolution«, die durch Neuronale Netze erwartet wird, machen einen Paradigmenwechsel geltend, der einer grundlegenden Abkehr vom bisherigen Computerprinzip entspricht. Im Unterschied zu den herkömmlichen seriellen von-Neumann-Computern sollen Neurocomputer, nach dem Vorbild des Gehirns, parallel arbeiten, trainierbar, lernfähig und fehlertolerant sein. Maschinen, die sehen, hören, denken, vielleicht sogar fühlen wie Menschen, werden in Aussicht gestellt.

Ein Neuronales Netz ist gekennzeichnet durch seine Verbindungsstruktur (Netztopologie), durch die Festlegung von Netzknoten als Schnittstelle zur Umwelt des Netzes (Ein- und Ausgänge), durch die Art, wie ein Knoten seinen Zustand ändert (Knotendynamik) und den Anpassungsmechanismus von Gewichten und Schwellwerten an Problemstellungen (Lernalgorithmus). Durch Kombination der verschiedenen Unterscheidungskriterien lassen sich eine Vielzahl von Netzwerktypen erzeugen.

Ein beträchtlicher Teil der Anwendungen Neuronaler Netze existierte bislang lediglich als Software-Simulation auf herkömmlichen sequentiellen Rechnern, wobei die Leistungsfähigkeit der Parallelität nicht ausgenutzt wird. In wachsendem Maße wird dazu übergegangen, die biologischen Vorbilder in Form einer Hardware-Implementierung zu nutzen, wobei zwischen digitalen, analogen oder optischen Verfahren unterschieden wird. Dabei müssen verschiedene praktische Schwierigkeiten bewältigt werden, z.B. die von der Struktur des Wissens abhängige möglichst günstige Lernregel, der aufgabenspezifische Grad notwendiger Parallelität, die Kaskadierung von Assoziativspeichern und der Zusammenhang von Netzstruktur und Konvergenz des darin realisierten Lernprozesses.

Darüber hinaus gibt es theoretische Defizite, die zum Teil grundsätzlicher Natur sind. Probleme der Komplexitätstheorie, insbesondere der für einige Optimierungsprobleme exponentiell anwachsende Zeitaufwand, lassen sich auch durch Neuronale Netze nicht lösen. Bei größeren Netzen verlängern sich die Trainingszeiten erheblich. Das Zusammenwirken vieler Neuronen in einem Netz entzieht sich weitgehend einer analytischen Beschreibung. Dies macht ihr Verhalten für Menschen schwer verständlich, prüfbar oder vorhersagbar, besonders bei unvorhergesehenen und unbekannten Eingabemustern, die außerhalb der normalen Spezifikation liegen. Die mangelnde Transparenz Neuronaler Netze macht es schwierig, ein Ergebnis aufgrund der Verarbeitungsschritte zu verifizieren. Die Integration verschiedener menschlicher Intelligenzleistungen (Planen, Begriffs-, Urteils- und Theorienbildung, Abstraktionsvermögen, Intuition, Spontaneität, Kreativität), die den »gesunden Menschenverstand« ausmachen, dürfte auch bei Neuronalen Netzen erhebliche Schwierigkeiten bereiten bzw. nicht realisierbar sein.

Ein breites Anwendungspotential

Verschiedene Motivationen zur Untersuchung und zum Einsatz Neuronaler Netze ergeben sich aus der Grundlagenforschung, den Grenzen herkömmlicher Computer (Softwarekrise) und dem erwarteten breiten Anwendungspotential. Durch den Anspruch, menschliche Sinnes- und Denkprozesse nachzubilden, eröffnen Neuronale Netze ein weites Feld möglicher Anwendungen im zivilen und militärischen Sektor, das von der Mustererkennung, -klassifizierung und -synthese (visuell, akustisch) über die Signalverarbeitung bis zur Robotik, Prozeßkontrolle und der Lösung von Optimierungsproblemen reicht (siehe Kasten 1). Die Anwendbarkeit ergibt sich überall dort, wo die Stärken Neuronaler Netze mit den Schwächen herkömmlicher Systeme korrelieren. Zwar kann die grundlegende Funktionsweise von Neuronalen Netzen bereits auf seriellen von-Neumann-Rechnern simuliert werden, doch bringt die Hardware-Implementation erhebliche Vorteile hinsichtlich des Zeitgewinns.

Während die ersten Anwendungen Neuronaler Netze eher Nischencharakter hatten, ist mit zunehmender Hardwareintegration eine große Zahl von Anwendungsbeispielen zutage getreten. Neben der reinen Hirnforschung gehört der Bereich der Medizin sicherlich zu den ersten Anwendern (Klassifizierung von biologischen Zellen, Herztöne, Atmungsüberwachung, Diagnose und OP-Planung). Weiterhin sind zahlreiche Anwendungen in der Forschung denkbar (Klassifizierung von Mustern und Signalen, Elementarteilchensuche, Automatisierung von Such- und Mustererkennungsprozessen).

Weitere potentielle Anwender von Neuronalen Netzen im zivilen Bereich sind Industrie (z.B. Atomenergie, Automobilhersteller, Pharmazie), Post, Fluggesellschaften, Touristikunternehmen, Handel, Banken, Versicherungen. Das größte Anwendungsfeld tut sich wohl in der Industrie auf (Bildverarbeitung, Kapazitätsauslastung, Materialauswahl, Mitarbeiterauswahl, Optimierung, Qualitätskontrolle, Robotersteuerung, Sortierung, Steuerungskontrolle). Weiterhin gibt es existierende Einsatzbeispiele im Marketing (Erkennen von Mustern in Dateien, Zielgruppenbestimmung), im Finanzwesen (Bonitätsvorhersage, Buchstaben-, Unterschriftenerkennung, Schätzungen, Verkaufsvorhersage, Wertpapierauswahl), der Künstlichen Intelligenz (KI), der Telekommunikation, und im öffentlichen Dienst (Postleitzahlenidentifizierung, automatische Verarbeitung von Formularen, Aufarbeitung von Datenerhebungen).

Vor dem Einsatz Neuronaler Netze stellen sich Fragen nach dem Sinn, der Machbarkeit und Leistungsfähigkeit sowie der Kosten-Nutzen-Relation verglichen mit Alternativen. In einigen Anwendungsbereichen existieren bereits bewährte Verfahren, etwa aus der Optimierungs- und Kontrolltheorie, der Signalverarbeitung, der Kommunikations- und Informationstheorie, der Künstlichen Intelligenz (KI) und dem neuen Bereich der genetischen Algorithmen. Trotz erstaunlicher Erfolge neuer Konzepte haben sich Neuronale Netze nicht in allen Bereichen bisher als leistungsfähiger erwiesen als alternative Verfahren. Die anfängliche Euphorie über scheinbar unbegrenzte Möglichkeiten ist einer zeitweisen Ernüchterung über den tatsächlichen praktischen Nutzen gewichen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt kann keine umfassende realistische Einschätzung darüber gegeben werden, welche Anwendungen langfristig erfolgversprechend sind.

Ein wachsender Markt für Neuroinformatik?

Neuronale Netzwerk-Programme laufen bei praktisch allen größeren und auch rüstungsrelevanten Firmen. 1990 waren weltweit etwa 300 Firmen auf dem Neurocomputersektor aktiv, davon 130 in den USA, 100 in Japan und 40 in Europa. In Europa gibt es ferner ca. 200 Universitäten und Forschungszentren, die an Neuronalen Netzen forschen. Nach einer Einschätzung einer vom BMFT eingesetzten Kommission aus dem Jahr 1991 sind weltweit nahezu 10.000 Wissenschaftler auf dem Gebiet der Neuroinformatik tätig. Marvin Minsky, einer der führenden Neuro-Wissenschaftler, schätzt diese Zahl sogar auf 50.000. Allgemein wird damit gerechnet, daß auf dem stark expandierenden Neurocomputer-Markt sehr viel Geld zu verdienen sein wird. Lagen 1987 die Umsätze in den USA noch bei weniger als 5 Millionen Dollar, so wird für das Jahr 2000 mit einer Umsatzsteigerung auf bis zu 1 Mrd. Dollar gerechnet. Das Wechselspiel der Interessen und Triebkräfte wurde wie folgt beschrieben: „Die wesentlichen Triebkräfte dieser Märkte sind kompetente und erfolgreiche Systemhäuser aus den USA, potente und einflußreiche Kunden, eine beachtliche Investitionsbereitschaft in den USA, in Japan und Europa, neue Anwendungspotentiale, enorme Erwartungen an das Marktvolumen und ein verstärkter Wettbewerbsdruck durch den für 1992 angestrebten Binnenmarkt.“ 2

Während in Europa, anders als in den USA, militärische Interessen bei der Entwicklung Neuronaler Netze bislang nicht so deutlich in Erscheinung traten, ist der Zwang zur Kommerzialisierung offensichtlich. Neben dem verschärften Konkurrenzdruck ist aber auch eine Tendenz zur Kooperation zu beobachten (etwa in Form von Joint Ventures), die zum Teil bedingt ist durch wachsende Komplexität und Kosten der Hochtechnologie-Entwicklung.

Auf Grund von Querelen innerhalb der International Neural Network Society (INNS) wurde am 17. Juni 1990 auf einem Initialtreffen die Gründung einer von europäischen Organisatoren getragenen Konferenz unter dem Namen JENNI (Joint European Neural Network Initiative) beschlossen. Die daraus hervorgegangene JENNI-Gesellschaft fungiert zugleich als Holding der European Neural Network Society (ENNS). Ein großer Teil der gemeinschaftlichen Neuroinformatik-Forschung in Europa wird im Rahmen des EG-Programms ESPRIT II (European Strategic Program for Research in Information Technology) betrieben. Zu nennen sind insbesondere die folgenden Projekte:

  • PYGMALION strebt die Entwicklung eines europäischen Standards für Programmierung und Simulation von Neuronalen Netzen an. Anwendungsbereiche umfassen Bildverarbeitung, Sprachverarbeitung und akustische Signalklassifikation. Schließlich ist die Entwicklung eines europäischen parallelen Mehrzweck-Neurocomputers mit eingeschlossen. Das seit Januar 1989 betriebene Programm hatte für die ersten beiden Jahre einen Etat von 10 Mio. DM. Beteiligt sind die Firmen Thomson-CSF, SEL Alcatel, Philipps, Olivetti sowie sechs Universitäten. Das Pygmalion-Nachfolgeprojekt heißt GALATEA.
  • ANNIE (Anwendungen Neuronaler Netze für die Industrie in Europa) soll eine sichere Fertigungs- und Überwachungstechnologie für die Atomindustrie entwickeln. Die Fördersumme beträgt 10,3 Mio. DM, von denen Siemens etwa 1,8 Mio. DM investiert. Beteiligt sind die britische Atomenergiebehörde UKAEA Harwell, Siemens KWU, KPMG Peat Marwick, IBP Pietzsch GmbH, British Aerospace, Artificial Intelligence Ltd., CETIM, Alpha SAI.
  • DEANNA (Data-Base for European Neural Network Activity) ist eine Datenbank, die unter der Federführung von JENNI bis Anfang 1992 alle verfügbaren europäischen Aktivitäten zu Neuronalen Netzen erfaßt hat. Als Partner wurden benannt: IBP Pietzsch (Ettlingen), DIDA EL (Mailand), Software DeBASE (Madrid).3
  • Auch im Mikroelektronik-Programm JESSI (Joint European Submicron Silicon) ist die Untersuchung von Anwendungsmöglichkeiten für Neuronale Netze vorgesehen.

Während in der Bundesrepublik Deutschland bis zu den frühen achtziger Jahren grundlegende Forschungen zu Neuronalen Netzen lediglich vereinzelt betrieben wurden, ist seit wenigen Jahren eine starke Zunahme von Forschungsprogrammen zu verzeichnen. Ende der achtziger Jahre arbeiteten einige hundert Wissenschaftler an Problemen der Neuroinformatik (mit steigender Tendenz), davon der größte Teil im universitären Bereich. Von den neueren nationalen Projekten und Forschungsgruppen sollen hier nur das DFG-Schwerpunktprogramm „Physiologie und Theorie neuronaler Netzwerke“ sowie 10 Verbundvorhaben des BMFT mit 40 Forschungsgruppen erwähnt werden, darunter das Programm „Informationsverarbeitung in Neuronaler Architektur“ (INA), das in der ersten Phase mehr als 10 Mio. DM erhielt.

Nicht nur Großunternehmen arbeiten an Neuroinformatiksystemen, sondern auch eine Reihe von klein- und mittelständischen Unternehmen, die an ausgewählten Fragestellungen zur Anwendung mitarbeiten. Mehrere Firmen führen größere Programme zu Neuronalen Netzen durch (z.B. Daimler-Benz, Dornier, Krupp-Atlas, SEL, Siemens). Die umfangreichsten Aktivitäten entfaltet die Firma Siemens, die als Systemhaus und Informationstechnik(IT)-Anwender an europäischen Programmen (ANNIE, JESSI) ebenso mitwirkt wie am INA-Projekt des BMFT.

Japan verfährt ähnlich wie beim Programm zur Entwicklung von Computern der fünften Generation, das 1992 ohne die erhofften Ergebnisse ausläuft. Unter dem Kürzel NIPT (New Information Processing Technology) wird ein ehrgeiziges Programm zur Entwicklung der sechsten Computergeneration nach biologischen Vorbildern aufgelegt.

Gesellschaftliche Folgen

Bis etwa Mitte der achtziger Jahre war die Forschung an Neuronalen Netzen überwiegend von der wissenschaftlichen Eigendynamik bestimmt. Theoretisch orientierte Grundlagenforschung und fachliche Fragen hinsichtlich der praktischen Realisierbarkeit verschiedener Modelle standen im Vordergrund. Der finanzielle Umfang der Projekte war dementsprechend gering. Erst seit wenigen Jahren geraten Neuronale Netze zunehmend in das Spannungsfeld wirtschaftlicher, politischer und militärischer Interessen. Entwicklung und Einsatz dieser neuen Technologie sind daher zunehmend ähnlichen Triebkräften und Entscheidungsprozessen unterworfen wie andere Bereiche der gegenwärtigen Hochtechnologie-Entwicklung auch.

Die gesellschaftliche Diskussion über Neuronale Netze ist eng verknüpft mit der Auseinandersetzung über die KI, deren einstmals spektakuläre Ansprüche und Erwartungen bislang nicht erfüllt wurden. Trotz großer Unsicherheiten sollte mit einer Abschätzung der gesellschaftlichen Auswirkungen nicht gewartet werden, bis vollendete Tatsachen geschaffen wurden.4

Problemfelder betreffen die Übertragung der Entscheidungskompetenz vom Menschen auf wenig transparente Neuronale Netze, besonders wenn es sich um risikobehaftete Systeme im militärischen, medizinischen oder industriellen Bereich (Chemiefabriken, Atomkraftwerke) handelt, sowie eine zentrale Überwachung und Steuerung der gesellschaftlichen Informationsflüsse durch Neuronale Netze. Eine weitreichende Auswirkung wäre die tiefgreifende Umgestaltung des Arbeitslebens, besonders der Verlust von Arbeitsplätzen durch Neurocomputer und Neuro-Roboter. Werden künstliche und natürliche Neuronale Netze in einen Topf geworfen, erscheint der Gedanke nicht mehr weit, geistige und sensorische Körperleistungen künstlich zu simulieren, um »Hirndefekte« zu beheben oder geistige Leistungen zu vervollkommnen.

Folgt man den an die Frühphase der KI erinnernden Hoffnungen einiger Neuro-Enthusiasten, bieten sich Neuronale Netze als »Intelligenz-Verstärker« zur Lösung von Menschheitsproblemen geradezu an: „Gerade in der Phase, in der es auf der Erde gefährlich eng, gefährlich schmutzig und lebensgefährlich wird, schafft die Menschheit leistungsfähige Technologien, um komplexe Systeme in den Griff zu bekommen und das eigene Bewußtsein von einer regionalen auf eine globale, oder sogar eine extraterrestrische Perspektive neu anzupassen.“ 5

Als Ausweg zur Lösung der globalen Probleme wird folgerichtig das Bild einer weltumspannenden Neuromaschine entworfen, die lernfähige High-Performance-Computer mit einem Satelliten-System koppelt, um Wettervorhersage, Hydrologie, Ressourcen-Überwachung sowie die Beobachtung von Ozon-Verteilung, Smog-Bildung und Verkehrsströmen betreiben zu können. Als erwünschter Nebeneffekt wird eine erhebliche Akzeptanz-Verbesserung der Computer- und Raumfahrt-Technologien erwartet. Derartig technikzentrierte Ansätze übersehen häufig, daß die Weltentwicklung derzeit weniger an einem Mangel an »künstlicher« Intelligenz krankt als vielmehr an einem Mangel an politischem Willen, um verkrustete Interessensstrukturen aufzubrechen und kooperative Lösungen zu finden. Gerade der Mythos der Wettbewerbsfähigkeit im Konkurrenzkampf der drei westlichen Zentren, der nun auch bei Neuronalen Netzen ins Spiel kommt, dürfte einen beträchtlichen Anteil an den globalen Problemen haben, da er einen schonungslosen Umgang mit den Naturressourcen befördert. In noch stärkerem Maße gilt dies für Rüstung und Krieg.

Militärische Relevanz

Mit dem Anspruch, menschliche Denkleistungen nachzuahmen, eröffnen Neuronale Netze auch im militärischen Sektor ein weites Feld möglicher Anwendungen überall dort, wo von Rüstung »intelligentes« Verhalten erwartet wird. Ein Rüstungsforscher stellt fest: „Jeder Prozeß, der besser von einem menschlichen oder tierischen Gehirn als von einem Computer ausgeführt wird, ist ein potentielles Einsatzfeld für Neuronale Netze“.6 Zwar wird der Mensch bei wichtigen Tätigkeiten und Entscheidungen als unersetzbar angesehen, doch gebe es besonders im militärischen Bereich Umgebungen, in denen Menschen nicht operieren können oder menschliche »Schwächen« wie Ermüdbarkeit und Unachtsamkeit zum Tragen kommen. Für die zunehmende Automatisierung und Computerisierung des Gefechtsfeldes wurden verschiedene Argumente herangezogen, z.B. die sinkende Zahl von Wehrpflichtigen, das begrenzte Budget zur Aufrechterhaltung der Abschreckung, oder die Verantwortungslosigkeit, dem einzelnen Soldaten technologisch veraltete Waffen zu geben. Es sei unmoralisch bzw. unsozial, eine ineffiziente Rüstung zu betreiben, die mehr Mittel als notwendig bindet. Demgegenüber sollen in Zukunft verstärkt Kampfroboter eingesetzt werden, die moralisch gerechtfertigt seien, da sie Menschen auf dem Gefechtsfeld ersetzten.

Aus derartigen Überlegungen ergibt sich ein möglicher Einsatz für Neuronale Netze. Diese setzen einen Trend fort, der seit Jahrzehnten die rüstungstechnische Entwicklung bestimmt hat: die qualitative, von technologischen Faktoren bestimmte Rüstungsdynamik, die die gesamte hochtechnische Entwicklung einbezieht. Zentrale Bedeutung für praktisch alle rüstungsrelevanten Technologiefelder haben Fortschritte im Bereich der Mikroelektronik und Computertechnik, einschließlich der zugehörigen Software. Mittlerweile ist der Computer zum beherrschenden Element der elektronischen Schlachtfelder geworden, im Golfkrieg wurde der Mikrochip gar als Gewinner des Krieges gepriesen.

Expertensysteme und Künstliche Intelligenz (KI) hatten zu Beginn der achtziger Jahre außerordentliche Konjunktur, werden allerdings bei militärischen Entscheidungsträgern wegen ihrer Undurchschaubarkeit noch mit einer gewissen Skepsis aufgenommen. Sie wurden daher v.a. in den Bereichen eingesetzt, die nicht zeitkritisch sind (z.B. Entwurf und Planung von Systemen, Interpretation und Vorhersage von Ereignissen, für die Überwachung und Kontrolle von Prozessen, zur Entdeckung und Einordnung von Anlagenfehlern (Diagnose)). Im Rahmen der Strategic Computing Initiative (SCI) der USA wurden drei Anwendungsprogramme ausgeschrieben: das fahrerlose Landfahrzeug (Heer), der autonome Pilotenassistent (Luftwaffe) und das seegestützte Kampfführungssystem für Flugzeugträger (Marine). Die dadurch definierten Zielsetzungen wurden auch zum Maßstab für Neuronale Netze, die sich zunehmend als Ergänzung bzw. Alternative der KI im Rüstungsbereich anbieten. Folgende Anwendungsbereiche kommen hier besonders in Frage:

1. Autonome Raketensteuerung und nichtkooperative Zielerkennung in Echtzeit.

2. Gefechtsfeld-Simulation, Training und Prozeßkontrolle.

3. Militärische Expertensysteme zur Entscheidungsunterstützung im Krieg oder in der Krise.

4. Integrierte Sensorsysteme für Aufklärung, Überwachung und Verifikation.

5. Elektronische Kriegsführung.

Im »Critical Technologies Plan«, den das US-Verteidigungsministerium (Department of Defense, DoD) seit 1989 veröffentlicht, werden etwa 20 Technologiefelder auf ihre militärische Relevanz durchleuchtet. Die für Neuronale Netze relevanten Technologien sind nicht in einem einzelnen Feld zusammengefaßt, sondern auf verschiedene Bereiche verteilt (v.a. Parallelcomputer-Architektur, Maschinen-Intelligenz und Robotik, Signalsteuerung, Datenfusion) und mehreren Zielsetzungen für die Anwendung zugeordnet. In erster Linie erhofft sich der Bericht von Neuronalen Netzen einen Durchbruch als Kräftevervielfacher (Force Multiplier) in intelligenten Waffensystemen (smart weapons), Überwachungssystemen, sowie Befehls- und Führungssystemen (C3I: command, control, communication and intelligence). Weitere Anwendungsbereiche betreffen die Entdeckung von U-Booten oder Torpedo-Abschüssen, die Klassifizierung von Sendern in der elektronischen Kriegführung, autonom gelenkte Raketen, die Unterscheidung zwischen wirklichen Zielen und Attrappen, Stimm- und Spracherkennungssysteme zur Entlastung von Kampfpiloten, Entscheidungshilfen in C3I-Systemen. In vielen Anwendungsbereichen ist die Lokalisierung, Identifizierung und Verfolgung mobiler Ziele durch Neuronale Netze bedeutsam.

Am ausführlichsten untersucht wurde das militärische Anwendungspotential Neuronaler Netze in einer 1988 fertiggestellten Studie der Defense Advanced Research Projects Agency (DARPA), die sich in den USA als treibende Kraft bei der militärischen Nutzung etablierte.7 Unter Beteiligung der meisten in den USA führenden Experten im Bereich Neuronale Netze gibt die als Empfehlung für zukünftige Förderung gedachte Studie einen Überblick über die theoretischen Grundlagen, technischen Voraussetzungen und Anwendungsmöglichkeiten. Der Schwerpunkt militärischer Anwendungen dürfte in der Echtzeit-Mustererkennung für zielgenaue selbstlenkende Flugkörper liegen, die als »intelligente Waffen« im Golfkrieg tödliche Triumphe feierten. Das SDI-Programm der USA zur Entwicklung eines Raketenabwehrsystems wird ebenso als geeignetes Testfeld für Neurocomputer angesehen wie die akustische U-Boot-Erkennung und intelligente Seeminen (siehe Kasten 2). In einer DARPA-Umfrage bezeichneten 45 % (der größte Block) von 40 Neurocomputer-Experten militärische C3I-Systeme als »den vielversprechendsten Sektor für die Neuronalen-Netz-Anwendung in den nächsten 25 Jahren«.

Unter anderem wird in der DARPA-Studie empfohlen, interdisziplinäre Kooperation und Basisforschung anstelle großdimensionierter Demonstrationsprojekte zu fördern, sowie die Entwicklung von verbesserten Lernalgorithmen und theoretischen Arbeiten zu motivieren, besonders im Bereich der visuellen Wahrnehmung, bei der Sprachverarbeitung und der Robotersteuerung. Dabei wird eine massive Parallelität angestrebt, um z. B. zu Verarbeitungsleistungen von 50.000 Wörtern in Echtzeit zu gelangen, wie es beim Menschen der Fall ist.

Ambivalenz und Dual-Use

Das Ende des Ost-West-Konflikts und die Verknappung militärischer Ausgaben führen zu einer stärkeren Einbeziehung des zivilen Sektors in militärische Planungen, unter Ausnutzung der zivil-militärischen Doppelverwendbarkeit (Dual-Use) der Technik. Militärische Nutznießer versuchen, sich an die zivile Entwicklung anzuhängen bzw. diese durch geeignete Mittelvergabe und Festlegung von Anforderungsprofilen frühzeitig zu steuern. In der Bundesrepublik Deutschland sorgen Absprachen zwischen dem BMFT, dem Bundesminister für Verteidigung (BMVg) und anderen Ressorts (insbesondere dem Bundesminister für das Post- und Fernmeldewesen im Teilbereich Kommunikationstechnik) dafür, daß die militärischen Anforderungen in Forschungs- und Entwicklungs(F&E)-Programmen Berücksichtigung finden. Im „Zukunftskonzept Informationstechnik“ (ZKI) unter Federführung des BMFT und des Wirtschaftsministeriums wird die Förderungspolitik mit der Orientierung verknüpft, „militärische Forderungen bei zivilen Entwicklungen möglichst frühzeitig mitberücksichtigen zu lassen“, also die Technologieentwicklung so zu beeinflussen, daß der militärische Bedarf effektiver und effizienter (durch Dual-Use-Technologien) gedeckt werden kann. Mehr als jede zweite DM der etwa 1,8 Mrd. DM, die die Bundesregierung 1990 für Informationstechnik-F&E ausgab, war unmittelbar für militärische Zwecke bestimmt.

Da die Neuroinformatik noch im Anfangsstadium ihrer Entwicklung ist und die Ambivalenz in der Grundlagenforschung sehr hoch ist, kann der Entwicklungspfad zivil-militärisch hier nur schwer getrennt werden. Das impliziert, daß zahlreiche theoretische Ergebnisse auch im militärischen Bereich Verwendung finden. Das Schwergewicht lag bislang im zivil-kommerziellen Bereich, auch wenn militärische Fragestellungen häufig wie selbstverständlich involviert sind. Im konkreten Anwendungsstadium ist eine einfache Übertragbarkeit nicht ohne weiteres möglich, da ein Neuronales Netz oft auf eine spezifische Aufgabe hin konzipiert und optimiert wurde. Dies betrifft besonders die Zahl der Ein- und Ausgänge sowie die Verbindungsstruktur in den Schichten, die das Ergebnis eines langwierigen Lernprozesses ist. Generell kann, wie beim Menschen auch, gesagt werden, daß der Grad der zivil-militärischen Ambivalenz umso höher ist, je lernfähiger und flexibler das Neuronale Netz ist.

Sicherheitspolitische Folgen

Viele der genannten militärischen Anwendungen gelten nach der bisherigen Abschreckungsdoktrin als militärisch destabilisierend, da sie die Kriegführungsfähigkeit steigern und die Fähigkeit zum Gegenschlag unterhöhlen. Die Entwicklung kleiner, autonomer und billiger Waffen hat zudem einen anregenden Effekt auf das Wettrüsten und die Verbreitung (Proliferation) in Krisengebiete. Weitere Risiken ergeben sich durch eine Automatisierung der Entscheidungsfindung in der militärischen Kommando- und Kommunikations-Hierarchie durch Neuronale Netze, die für Entscheidungen über Krieg und Frieden wenig geeignet sind, da sie die Gefahr von (computer-bedingten) Fehlentscheidungen mit u. U. katastrophalen Folgen mit sich bringt. Besonders problematisch wäre die Übertragung der Befehlsgewalt an Neuronale Netze für den Fall eines Atomkrieges oder für die Raketenabwehr (SDI), wenn Entscheidungen in Sekunden oder Minuten getroffen werden müssen. Ob Neuronale Netze, in Konkurrenz zu bereits existierenden Verfahren, einen substantiellen Beitrag zur Überprüfung (Verifikation) von Abrüstungabkommen liefern können, ist fraglich. Vorschläge, diese zur Überprüfung eines vollständigen Teststop-Vertrages für Atombombentests einzusetzen, gibt es bereits.

Die meisten der genannten militärischen Anwendungsfelder sind noch Jahre von einer Realisierung entfernt, wenn auch einzelne Prototypen mit geringer Leistungsfähigkeit bereits erprobt werden (z.B. bei der Sonar-Zielerkennung). Von den 78 in der DARPA-Studie für relevant befundenen Anwendungen, die das Erprobungsstadium erreicht haben, arbeiteten alle auf PC's und nutzten keine spezielle Neuronale-Netze-Hardware. Der Zeitraum, bis zu dem autonome Systeme allein auf Grundlage Neuronaler Netze einsatzbereit sein können, wird in der DARPA-Studie auf mehr als 10 Jahre geschätzt. Es kann vermutet werden, daß militärische Entscheidungsträger wie schon bei der KI eine ähnliche Zurückhaltung auch bei der Einführung der Neuronalen Netze hegen werden. Dazu tragen auch die schon angesprochenen grundlegenden Probleme bei, die nur schwer zu beseitigen sind. Da es bewährte Standardverfahren bislang nicht gibt, sind auch die Rüstungsforscher nach wie vor auf Intuition und Einfallsreichtum angewiesen,

Ein Jahr nach der DARPA-Studie hat das US-Verteidigungsministerium die Ansicht geäußert, daß die Forschung zu Neuronalen Netzen „noch in einem sehr frühen Stadium“ sei. Auch bei der DARPA scheinen die ursprünglichen Erwartungen in das Anwendungspotential der Neuronalen Netze etwas gedämpft worden zu sein. Das 1988 mit einem Finanzumfang von etwa 400 Mio. Dollar auf fünf Jahre angelegte Forschungsprogramm wurde erheblich reduziert. Von den für 1990 geplanten 33 Mio. Dollar blieben nach dem Passieren der Bewilligungsausschüsse ganze 12 Mio. Dollar übrig. Dazu paßt, daß einige Akademiker Widerspruch gegen eine massive militärische Förderung von Neuronalen Netzen eingelegt hatten, um dem „guten Ruf der Neuronalen Netze nicht zu schaden“.

Bericht vom ISL-Workshop

Ob der eingangs erwähnte Workshop des deutsch-französischen Forschungsinstituts St. Louis zum Einsatz künstlicher Neuronaler Netze in der Wehrtechnik den guten Ruf verbessern konnte, darf bezweifelt werden. Die französische Dominanz bei dem Workshop war auffällig: 16 französische gegenüber 7 deutschen Gästen und 3 Mitarbeitern vom ISL. Als Schirmherr des Workshops und Verantwortlicher für das ISL fungierte ein hoher Beamter des französischen Verteidigungsministeriums (Herr Rouvillois). Es ist auffällig, daß große französische Rüstungsbetriebe personell vertreten waren (Thomson-CSF, Dassault Aviation, MS2i (ein Forschungszusammenschluß von Matra und SEP), Cap Gemini), und auch von französischen Universitäten Hochschullehrer gekommen waren, während auf deutscher Seite lediglich Prof. vom Stein von der Bundeswehruniversität in Hamburg anwesend war. Die Abwesenheit deutscher Neuroinformatik-Größen wurde denn auch in der Schlußrede von Rouvillois bedauert.

Das starke Engagment der französischen Seite spiegelte sich auch in den Beiträgen wider. Allein aus den verschiedenen Sparten des Thomson-Konzerns kamen fünf Beiträge. Der in Europa mit sehr hohem finanziellen Aufwand auf dem Sektor der Neuronalen Netze tätige Konzern wurde einerseits mit theoretischen Beiträgen vorgestellt, z.B. zu Auswahlmethoden der Netzparameter, dem Erlernen der Abstandsfunktion durch ein Neuronales Netz oder mit anwendungsorientierten Beiträgen zur Fahrzeugdetektion, -klassifikation und zur Infrarot(IR)-Raumüberwachung. Am zweiten Tag wurden die Arbeiten der Abteilung optronische Anwendungen bei Thomson vorgestellt, die mit einer Personalstärke von 1000 Personen Systeme für die Lufterkennung entwickelt. Dazu gehören die IR-Rundumüberwachung, die Entwicklung von Nachtüberwachungssystemen, Feuerleitung, Lasercodierung, Lenkung von Laserstrahlen und die Entwicklung von Suchköpfen. Eine vorgestellte Konzeption für ein Lufterkennungssystem benutzt einen um 360 Grad schwenkbaren Kopf, der im Wellenlängenbereich von 8-10 Mikrometern operiert und auf Entfernungen von 5-10 km betriebsbereit sein soll, bei einem Datendurchsatz von 300 Megabytes. Es existieren dazu bereits herkömmliche Elemente, wobei das vorgesehene Neuronale Netz diesen Aufgaben sukzessive angepaßt werden muß. Ein weiteres erwähntes Beispiel nutzt die Anpassungsfähigkeit Neuronaler Systeme zur Erkennung an Panzern im Gelände. Es wird ebenfalls versucht, das System für die Erkennung von Flugzeugmodellen einzusetzen.

Patrick Dechamps von MS2i berichtete über deren Forschungsarbeit zur Verarbeitung und Zusammenführung von visuellen Daten. Etwa 30 Ingenieure arbeiten in vierjähriger Forschung u.a. an Problemen der Fotointerpretation, der Unterwasserakustik und der Buchstabenerkennung. Insgesamt wurde die Arbeit mehr dem Bereich der Grundlagenforschung zugeschrieben, aber es besteht auch die Absicht, in die militärische Nutzung der Raumfahrt einzusteigen und die Bildfusion für Anwendungen in Suchköpfen vorzubereiten. Eine intensive Zusammenarbeit gibt es mit Ossay bei der Auswertung von Bildern des Satelliten Spot, der Bestimmung von Flugzeugpositionen, der Buchstabenerkennug und dem Kartenlesen.

Vier typische Anwendungen wurden noch vorgestellt: In Zusammenarbeit mit Marconi Research wird die Fusion von Spot- und Radarbildern erprobt, um bei Nebel die Sicht zu verbessern; Hopfieldnetze sollen dabei die Optimierung vornehmen. Eine zweite Anwendung betrifft die Erkennng von Buchstaben auf Landkarten, die dritte Anwendung ist ein Adressenerkennungssystem für die amerikanische Post, das in Konkurrenz mit vier anderen Firmen entwickelt wird. Die letzte Anwendung betrifft die Erkennung von Flugzeugen; dabei interessiert speziell für den Einsatz in Suchköpfen die Bestimmung des Kippwinkels. Mit synthetischen Bildern von 36 x 36 Pixeln war bereits ein Erfolg von 98 % zu verzeichnen. Verwiesen wurde noch auf die »Intelligente Retina«, die vor 2-3 Jahren auf dem Workshop »Intelligente Zielannäherung« im ISL vorgestellt wurde.

Von der Universität der Bundeswehr in Hamburg kam ein Beitrag zur Untersuchung des Einsatzes Neuronaler Netze bei der Klassifikation von Schiffen anhand von Infrarot-Bildern. Dabei bilden die aus IR-Bildern gewonnene Schiffssilhouette und der als bekannt vorausgesetzte Lagewinkel des Schiffes die Menge aller Informationen. Anhand eines Konturliniendatensatzes bestehend aus 246 Konturlinien von 64 Schiffen konnte gezeigt werden, daß ein und zweilagige Perzeptrons so trainiert werden können, daß sie aus den Histogramm-Matritzen eine Zuweisung zur richtigen Schiffsklasse ermöglichen.

Von dem staatlichen französischen Forschungsinstitut INRIA (Institut National de Recherche en Informatique et en Automatique) kam ein Beitrag zur Bildaufbereitung in einem Netz von gekoppelten Neuro-Oszillatoren. Das Interesse der mit Computervision betrauten Untergruppe PASTIS konzentriert sich u.a. darauf, Satellitenbilder hinsichtlich Eigenschaftsextraktion auf niedrigem Niveau vorzubearbeiten, geologische Formationen zu erkennen, Stereobilder zur Verkehrsüberwachung auszuwerten und Bildklassifikation vorzunehmen. Dabei werden neben dem neuronalen auch verschiedene andere Ansätze verfolgt.

Frau Fogelman-Soulie beschrieb in dem Workshopbericht drei Anwendungen, die bei MIMETICS untersucht werden (Identifikation von Personen, Buchstaben und wechselnden Zeitsignalen) und diskutierte deren militärische Verwendbarkeit. Frau Perron-Gitton von ONERA stellte ein Neuronales Netz zur Zweikanal-Datenfusion in bimodalen Suchköpfen vor. Dabei ist an Anwendungen zur Endphasenlenkung von Flugkörpern gedacht. Bemerkenswert war der Sprachgebrauch: Formulierungen wie „zur Auswahl hochwertiger Ziele wie Straßen und Brücken“ wurden wie selbstverständlich verwandt. Alexandre Wallyn stellte eine Arbeit von Cap Gemini Innovation zur Unterstützung der Spezifizierungsaufgaben von Bordradarsystemen vor. Das zur Prototypenreife gediehene System NEUREX nutzt einen Rochester-Simulator zur Konvergenzsteigerung.

Die lebhaft diskutierten theorieorientierten Vorträge von Prof. Azencott von der Universität Paris Süd und Erol Gelenbe (EHEI) beschäftigten sich einmal mit der Konvergenz themodynamischer Modelle für das künstliche Sehen und dann mit dem neuronalen Lernen, Speichern und Erzeugen von Bildtexturen. Den letzten Vortag hielt Dr. Radons von der Universität Kiel, der sich mit der fraktalen Gleichgewichtsverteilung als Resultat des Lernens in Neuronalen Netzen beschäftigte.

Im schon erwähnten Schlußwort konstatierte Rouvillois, daß Neuronale Netze jetzt reif und erwachsen würden, Anwendungen greifbar seien und die operationale Inbetriebnahme, besonders zur Zielerkennung in verrauschter Umgebung, Bildintegration und der Interpretation von Satellitenfotos kurz vor der konkreten Umsetzung stehe. Da solche Projekte mit großer Wahrscheinlichkeit mit internationaler Zielsetzung betrieben werden, empfahl er dem ISL, auf den fahrenden Zug aufzuspringen, um sich einen signifikanten Platz zu sichern. Als wichtigste Bestrebung nannte er die Unabhängigkeit von Japan und den USA. Als Ausblick wurde die Wiederholung eines solchen Workshops in zwei- bis drei-jährlichem Rhythmus in Aussicht gestellt.

Welche Neuroinformatik brauchen wir?

Die Verantwortungsdiskussion konzentriert sich u.a. darauf, wieweit menschliche Intelligenzleistungen mit Neuronalen Netzen »künstlich« nachgebildet werden können und sollen. Besonders offensichtlich ergeben sich ethische Fragen bei der direkten Erforschung des Gehirns und bei Experimenten an Versuchstieren, die oft auf heftige Kritik in der Öffentlichkeit stossen. Auch bei der Übertragung menschlicher Entscheidungskompetenz, der gesellschaftlichen Überwachung, der Freisetzung menschlicher Arbeitskraft und besonders bei der militärischen Anwendung Neuronaler Netze stellt sich die Frage nach der Verantwortung, die versucht, einen Machtmißbrauch zu verhindern und Risiken zu vermeiden. Bei der Wahrnehmung von Verantwortung sind zum einen Vertreter von Wissenschafts- und Ingenieursdisziplinen gefragt, die über den Horizont ihres Faches hinaus auf die gesellschaftlichen Implikationen blicken müssen, um daraus ggf. Schlußfolgerungen für ihr Handeln zu ziehen.

Auch Politik und Öffentlichkeit sind aufgefordert, Maßstäbe dafür zu entwickeln, welche Entwicklungen der Neuroinformatik sinnvoll und welche schädlich sind. In Zukunft sollten Politikziele wie Erhalt von qualifizierten Arbeitsplätzen, Humanisierung des Arbeitslebens, Kriegsvermeidung, Abbau politischer Spannungen, Erhalt der Ökosysteme, Abbau der technologischen Diskrepanzen zwischen westlichen Industrieländern und Entwicklungsländern (bzw. ehemaligen sozialistischen Ländern) ein erheblich höheres Gewicht bekommen, dem die Wettbewerbsfähigkeit in der Rangliste nachgeordnet ist. Dies würde auch implizieren, daß eine Technikfolgenabschätzung sowie eine Förderung der Neuroinformatik weniger an den Interessen der Großindustrie oder des Militärs orientiert werden dürfte, sondern mehr am gesellschaftlichen Nutzen im globalen Maßstab, unter Berücksichtigung von Kosten und Risiken.

Materialien

Zusatz 1:

Hauptanwendungsbereiche Neuronaler Netze

Klassifikation, Mustererkennung

Ein Netzwerk wird so trainiert, daß es die Eingangsdaten in verschiedene Klassen
einsortiert.

Selbstorganisation, Kategorienbildung

Eingabedatensätze werden zu Gruppen oder Clustern zusammengefaßt
(Vektorquantisierung). Dieses ist eine effiziente Methode der Datenreduktion zur
Weiterverarbeitung auf höherer Stufe – besonders geeignet für Sprach- und visuelle
Aufgaben.

Assoziative Speicher

Ein assoziatives Gedächtnis liefert die vollständige Speicherinformation über ein
Objekt auch dann, wenn nur ein unvollständiges oder bruchstückhaftes Wissen darüber
vorhanden ist.

Vorverarbeitung von Sensordaten

Durch die Parallelität der Informationsverarbeitung kann die enorme Datenfülle wie in
den peripheren Seh- und Hörzentren in Echtzeit vorverarbeitet und reduziert werden.

Nichtlineare Abbildungen

In der Robotersteuerung oder der nichtlinearen Signalverarbeitung wird ein Vektor aus
analogen Eingabewerten über eine nichtlineare Funktion auf entsprechende Ausgabewerte
abgebildet.

Multi-Sensor-Automaten

Beispiel: Ein Roboterarm wird so mit Sensoren und Kameras bestückt, daß ein
selbstüberwachtes Erlernen eines Arbeitsganges stattfinden kann.

Computerspezifische Probleme

Neuronale Netzwerke können so ausgestaltet werden, daß sie durch nichtlineares
analoges Rechnen Probleme lösen können, bei denen den Computern prinzipielle Grenzen
gesetzt sind, z.B. bei Optimierungsproblemen wie dem »Problem des Handlungsreisenden«.

Zusatz 2: Anwendungsbeispiele Neuronaler Netze im militärischen Bereich

Gesichtserkennungssysteme

Das Wahrnehmen und Verarbeiten von bewegten Bildern stellt hohe Anforderungen an die
verarbeitende Kapazität der beteiligten Systeme. Ein typisches hoch aufgelöstes Bild
umfaßt ca. 106 Pixel mit einer Wiederholrate von 100 Bildern pro Sekunde. Dabei ist noch
die für die Interpretation wichtige Information (Konturen, Farben, Textur, Größe,
Abstand und Relativbewegung) aus der zweidimensionalen Eingabe herauszuholen. Ein
automatisches Gesichtserkennungssystem genannt »personal identification card« (PICard),
das von einer englischen Firma vertrieben wird, basiert auf einem Neuronalen Netzwerk
gekoppelt mit der Signalvorhersage. Es soll eine effektive Zugangskontrolle bieten, mit
weitgehenden Anwendungsmöglichkeiten für industrielle und staatliche, darunter auch
militärische Zwecke. Das System nimmt das Gesicht einer Person mit einer Videokamera auf
und speichert dessen Darstellung auf einer Identitätskarte oder auch einer Datenbank, um
bei der Wiedererkennung herangezogen zu werden.

Flugzeugsteuerung

Eine neuronales selbst-reparierendes und rekonfigurierendes System wird von McDonnell
Douglas und der NASA entwickelt und getestet. Es zielt darauf ab, einem Flugzeug mit
teilweisem Verlust der Tragfläche die Flug- und Einsatzfähigkeit zu erhalten. Das
Neuronale Netz soll in einem solchen Fall die veränderten Flugeigenschaften erlernen und
dem Piloten die Kontrolle ermöglichen. Dieses Flugkontrollsystem findet auch Anwendungen
in anderen Flugsituationen, die ohne unterstützende Systeme instabil wären.

Anwendung in der Raketenabwehr (SDI)

Ein Vorschlag stammt von der Nicolspan Research Corporation, die sich mit der
Unterscheidung von Wiedereintrittskörpern (reentry vehicles, RVs) und Attrappen
beschäftigt und bislang dazu KI und statistische Mustererkennungstechniken eingesetzt
hat. Der neue Ansatz läuft über nichtüberwacht lernende Klassifikationsnetzwerke mit
dem »maximum likelyhood« Verfahren zur Informationsfusion und Parameterschätzung. Es
wird geschätzt, daß zur Klassifikation von 100.000 Zielen mit 100 Typen und 10
Unterscheidungsmerkmalen Prozessoren mit 10 Mio. Instruktionen pro Sekunde (MIPS) oder 100
Mio. Verbindungen eines Neuronalen Netzes benötigt werden. Bei Hughes Aircraft kommt man
zu der Schlußfolgerung, daß „ein großes automatisiertes Unternehmen wie SDI
ohne Neuronale Netze nicht bewerkstelligt werden könne.“

Entdeckung von Seeminen

In der Studie von Gorman (Allied Signals) und Sejnowski (John Hopkins University) sind
verschiedene Methoden miteinander verglichen worden, um zwei Sonarziele auf sandigem
Ozeangrund – einen Metallzylinder und einen Felsen von 1.5 m Länge – zu
erkennen. Das Neuronale Netz (dreischichtiges Netzwerk mit »Backpropagation«) erzielte
eine korrekte Klassifizierung von annähernd 90 % , wohingegen der Mensch mit 88 %
Erfolgsrate abschnitt. Obwohl es keine bahnbrechenden Durchbrüche gegeben hat, sollen
Neuronale Netze trotz längerer Trainingszeiten einfacher zu implementieren sein als
andere Modelle.

Robotik

Nach James Albus, dem Mitentwickler der Marr-Albus-Theorie des Kleinhirns und Erfinder
des CMAC-Netzwerkes, liegt der potentielle Markt für militärische Roboter bei mehreren
Mrd. US-Dollar pro Jahr. Ein Beispiel für industrielle militärische Umgebungen ist der
Roboter-Gabelstapler von Martin Marietta. Unter die nichtindustrielle militärische
Umgebung fallen die Bereiche Kampf, Kampfunterstützung, und Kampfversorgung. Vorzüge
werden in der unverminderten Aktionsfähigkeit bei Dunkelheit, Tarnnebel oder chemisch
verseuchtem Gebiet gesehen. Beispiele für Anwendungen Neuronaler Netze sind die
Zielbekämpfung durch halbautomatische Roboter-Abschußplattformen; ABC-Dekontamination;
Lade-Roboter; unbemannte Waffenstationen, Hubschrauber, Panzer, Artilleriewaffen;
Täuschroboter, die die Aktivität eines Gefechts simulieren; Roboter zur
Gefechtsaufklärung, zur Unterstützung im Minenkampf; Wachroboter.

Zusatz 3: Das deutsch-französische Forschungsinstitut St. Louis (ISL)

Das deutsch-französische Forschungsinstitut Saint Louis (ISL) wurde am 31. März 1958
von beiden Ländern ins Leben gerufen mit den Zielen: Durchführung von Forschungsarbeit,
wissenschaftlichen Untersuchungen und grundlegenden Vorentwicklungen auf dem Gebiet der
Wehrtechnik mit einem gemeinsamen Forschungsprogramm beider Verteidigungsministerien.
Darüberhinaus werden Beziehungen unterhalten zu Wissenschaft und Industrie beider
Länder. Das Institut versteht sich als ein Forum zur Politikberatung mit
Regierungsstellen.

Die Forschungsgruppe zu Neuronalen Netzen beschäftigt sich im wesentlichen mit der
Erkennung von Objekten in Bildern geringer Auflösung und hohem Störpegel. Aus
vorgegebenen Bildern werden Objekte extrahiert sowie deren geometrische Merkmale und die
Kontur bestimmt. Durch Austausch – auch mit der Bundeswehr-Universität Hamburg
– ist die Gruppe über aktuelle Entwicklungen anderer Militärforschungsstellen
informiert. Bei der Arbeit von Axel Köneke geht es um die Eigenschaftsextraktion mit
einem Neuronalen Netz, wobei ihn besonders die Datenkompression in der Zwischenschicht
interessiert. Das eingespeiste Bild war bezeichnenderweise ein Hubschrauber vor stark
segmentiertem Hintergrund.

Anmerkungen

1) Markus Jathe, Jürgen Scheffran: Zivile und militärische Anwendungen Neuronaler Netze: Bestandsaufnahme und Ansätze zur Bewertung, Arbeitsbericht, Darmstadt: IANUS 5/1991. Hierin findet sich auch eine ausführliche Literaturliste, so daß hier, mit wenigen Ausnahmen, auf Quellenverweise verzichtet wird. Zurück

2) Manfred Domke, Neurocomputer: Technik, Anwendungen, Risiken, »InfoTech«, Dezember 1989, S. 15 – 24. Zurück

3) Mittlerweile ist die Datenbank mit etwa 440 Einträgen verfügbar. Eine oberflächliche Durchsicht hinsichtlich der Begriffe »military« und »defence« ergab folgende Namen und Institutionen mit augenscheinlichen militärischen Bezügen: RCMS (Cranfield, GB), Royal Military College of Science (GB), D'Electronique Fondamentale, Uni Paris (F), National Defence Research Establishment (Schweden), Aspex Microsystems Ltd. (GB), Syseca DSTR (F), Brighton Poly (GB), Andersen Consulting (Spanien), Thomson Sintra ASM (F), FIM/FGAN Ettlingen (BRD), University of York (GB), SD Scicon (GB), Intelligence Decision Systems (Spanien), TNO/FEL (Niederlande), Logica Defence (GB), LERI (F), University College London (GB), King's College London (GB). Diese Liste hat allenfalls Stichprobencharakter, da indirekte oder nichtangegebene militärische Zusammenhänge nicht berücksichtigt werden konnten. Auch wird nichts darüber ausgesagt, wie hoch der militärische Anteil bei den genannten Projekten ist. Zurück

4) Das gewachsene öffentliche Interesse an der Neuroinformatik dokumentiert sich etwa in der 16-teiligen Serie „Vom Neuron zum Chip“ in der Tageszeitung »Die Welt« im Oktober und November 1991. Zurück

5) So der Düsseldorfer Neuroinformatik-Experte Prof. Eckmiller; siehe: Rolf Eckmiller: Learning neural computers for global problem managment in the 21st century, in: „Proc. of Int. Symp. New Information Processing Technologies '91“, Tokyo, März 1991. Zurück

6) Ronald E. Wright: The Potential Applications of Neural Networks and Neurocomputers in C3I, in: S.E. Johnson, A.H. Levis (Hrsg.): Science of Command and Control, AFCEA International Press, 1989. Zurück

7) DARPA Neural Network Study, Fairfax, VA: AFCEA International Press, 1988. Zurück

Markus Jathe und Jürgen Scheffran sind Physiker und Mitarbeiter der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheitpolitik (IANUS) an der Technischen Hochschule Darmstadt.

Geodäsie – eine ambivalente Wissenschaft?

Geodäsie – eine ambivalente Wissenschaft?

von Peter Kohlstock

Die existentielle Bedrohung der Menschheit durch zunehmende Zerstörung ihres Lebensraumes erfordert nicht nur politische Maßnahmen, sondern auch ein Umdenken in Naturwissenschaft und Technik. Dies gilt auch für die Geodäsie, die in Wissenschaft und Praxis in die allgemeine Technikentwicklung integriert ist. Im vorliegenden Beitrag werden einige Aspekte der Ambivalenz von Naturwissenschaft und Technik und solche geodätischer Tätigkeit sowie die einem Umdenken entgegenstehenden Schwierigkeiten erörtert. Unabdingbar ist die Bereitschaft von Naturwissenschaftlern und Ingenieuren zu »verantwortlichem Handeln«. Diese zu fördern, ist eine zentrale Aufgabe der Hochschulen und technisch-wissenschaftlichen Vereinigungen.

Wenn wir an Naturwissenschaft und Technik denken, so assoziieren wir diese mit Fortschritt, Wohlstand, Gesundheit und einem langen sorgenfreien Leben. Und in der Tat haben sie Krankheiten besiegt, uns von vielen Lasten des Alltags befreit, Mobilität bis in den Weltraum ermöglicht und uns eine Lebensqualität beschert, von der unsere Ahnen nur träumen konnten. Aber langsam, allzu langsam, nehmen wir zur Kenntnis, daß all dies seinen Preis hat: Umweltzerstörung, Ressourcenverknappung, Klimaveränderungen, Erkrankungen durch Umwelteinflüsse, Verlust von Arbeitsplätzen und anderes mehr. Wissenschaftler sagen gar ein baldiges Ende der Menschheit voraus (Ditfurth 1984) und ihre Argumente sind kaum widerlegbar. Zu unauflöslich scheint der Konflikt zwischen Fortschritt und Wohlstand einerseits und Umweltzerstörung andererseits, ein Zustand der sich auch in der öffentlichen Diskussion widerspiegelt (Kernenergie, Tempolimit, Abrüstung u.a.).

Es fehlt nicht an Mahnungen, sei es in Büchern, Aufsätzen, Vorträgen oder Diskussionsformen, in denen die Verantwortung von Naturwissenschaftlern und Ingenieuren eingefordert wird. Aber fast immer sind es Philosophen, Politologen oder Sozialwissenschaftler, die sich zu Wort melden, Naturwissenschaftler bisweilen, Ingenieure fast nie. Aber gerade diese sind mit ihrem Sachverstand und ihrer Kreativität wesentlicher Garant wenn nicht Motor des Wirtschaftswachstums aber nicht Lenker, oder besser: Kamel aber nicht Reiter.

Die Geodäsie ist als Ingenieurwissenschaft an dieser Entwicklung unmittelbar oder mittelbar beteiligt. Sind sich aber die Geodäten auch ihrer Mitverantwortung für die negativen Auswirkungen der von ihnen mitgestalteten Technik bewußt?

Die Unvermeidbarkeit der Ambivalenz

Lange Zeit haben wir die Natur, also die gesamte Biosphäre, als beliebig belastbares Objekt betrachtet, haben die natürlichen Kreisläufe mißachtet, aber dabei übersehen, daß wir ohne intakte Naturkreisläufe nicht überleben können. Fortschreitende Naturzerstörung bei gleichzeitigem Bevölkerungswachstum wird nicht nur zunehmend zu einem durch Hunger, Krankheit und Armut geprägten Leben eines großen Teils der Erdbevölkerung führen, sondern wird auch als Quelle künftiger Kriege angesehen werden müssen (Bastian, 1991).

Naturwissenschaft und Technik sind nicht die Ursache dieser Entwicklung, aber sie ermöglichen erst derartig weitgehende Eingriffe in die Natur. Andererseits sind wir ohne Technik nicht lebensfähig. Wir brauchen sie, um in einer uns zum Teil feindlich gesonnenen Natur zu überleben. Aber eine selbst in bester Absicht und für humane Zwecke geschaffene Technik kann sich plötzlich oder langfristig ins Gegenteil verkehren, so z.B. durch

  • Mißbrauch: Viele technische Produkte und Systeme sind multifunktional: Computer, Werkzeugmaschinen, Anlagen der Chemieproduktion u.ä.. Ursprünglich erdacht und konstruiert für zivile und friedliche Zwecke können sie auch zur Produktion und Steuerung von Waffen eingesetzt werden, worauf der Hersteller keinen oder nur begrenzten Einfluß hat. Leider wird dieses Argument aber auch dann benutzt, wenn der geplante Mißbrauch offensichtlich ist.

Ein eindeutiges Beispiel des Mißbrauches naturwissenschaftlicher Erkenntnis und technischen Sachverstands ist die Waffentechnologie selbst. Welche gigantischen Summen, wieviel Forschergeist und Kreativität, welche enormen Ressourcen hier verschwendet werden, ist kaum vorstellbar. Täglich gibt die Völkergemeinschaft etwa 2,7 Milliarden US-Dollar für Verteidigung und Rüstung aus (Bericht des Club of Rome 1991).

  • Systemimmanente Risiken: Insbesondere großtechnische Anlagen (Chemieanlagen, Kernkraftwerke) bergen infolge ihrer Komplexität und Unüberschaubarkeit erhebliche Risiken. Der amerikanische Soziologe Charles Perrow nennt sie gar „unvermeidbar“ (1989).

Andererseits gibt es technische Produkte, deren Risiken einkalkuliert und auch statistisch belegbar sind. Beispiel »Auto«: Nicht nur Fortbewegungsmittel und Prestigeobjekt, sondern auch umweltschädigend und lebensbedrohend.

Zu diesen Risiken zählt auch der Mensch, nicht nur als Urheber von Technik sondern auch als interaktiver Teilnehmer (Steuerung, Kontrolle) und Anwender. Technik ist daher zwangsläufig immer unvollkommen. Der Mensch verfügt zwar über außergewöhnliche Fähigkeiten, denen der Technik weit überlegen, aber sein »Sensorsystem« ist auf viele Anforderungen der Technik nicht ausgelegt (z.B. Wahrnehmung radioaktiver Strahlung, Geschwindigkeitswahrnehmung).

  • Raumzeitliche und psychosoziale Wirkungen: Jede Anwendung von Technik neigt dazu, ins »Große« zu wachsen, und breitet sich über die gesamte Erde aus (Jonas 1987). Ursprünglich für beherrschbar gehaltene Risiken und Nebenerscheinungen entfalten kumulative Wirkungen, die sich dann auch auf das Leben zukünftiger Generationen auswirken (Klimaveränderungen, Wasserverschmutzung, radioaktiver Abfall u.ä.).

Repräsentative Untersuchungen wie die Shell-Studie „Jugendliche und Erwachsene '85“ zeigen, daß besonders in der Jugend Beunruhigung über Atomwaffen und Umweltgefährdung weit verbreitet ist (Richter 1987). 74% der Jugendlichen halten es danach für wahrscheinlich, daß die Umwelt durch Chemie und Technik zunehmend zerstört werden wird. Die Folgen dieses latenten Angstzustandes sind kaum abschätzbar.

Die Ambivalenz von Naturwissenschaft und Technik ist praktisch unvermeidbar. Vermeidbar ist jedoch die nahezu widerspruchslose Hinnahme der Folgen.

Beispiel Geodäsie

Die Geodäsie, nach der Definition des Astronomen Helmert (1843-1917) „die Wissenschaft von der Ausmessung und Abbildung der Erdoberfläche oder von Teilen derselben“ ist als Ingenieurwissenschaft vollständig in die allgemeine Technikentwicklung integriert. Wenn auch von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt, ist die Arbeit der Geodäten unabdingbare Voraussetzung für eine Vielzahl planerischer Maßnahmen und technischer Projekte. Und immer wieder weisen sie auf die Wichtigkeit ihrer Tätigkeit hin, insbesondere auch auf Geodätentagen, wie die Leitthemen dieser Veranstaltungen zeigen, z.B. Vermessungswesen und Daseinsvorsorge (1978), Vermessungswesen und Lebensraum: Erfassen, Darstellen, Gestalten (1983), Geodäsie im Dienste der Gesellschaft (1986), Geodäsie im Dienste der Umwelt (1989).

Rinner (1977) hält die Geodäsie gar für einen Ordnungsfaktor der Gesellschaft, da sie „zur Lösung grundsätzlicher Probleme unserer Gesellschaft“ beiträgt und „hierin eine schwerwiegende Verantwortung“ übernimmt. Sie gleiche „einem Notar der Erde, der das Vertrauen aller Geowissenschaften besitzt und dieses durch strenge Selbstkontrolle erhalten und rechtfertigen muß“. Der stets „sich selbst kontrollierende Geodät“ sei gewohnt, „Schritte behutsam auszuführen, erst nach reiflicher Überlegung Aussagen zu machen und progressive Lösungen mit Mißtrauen zu betrachten“. Er biete Gewähr, daß schädliche Experimente vermieden werden und die gesunden Wurzeln der Vergangenheit erhalten bleiben.

Ist also die Geodäsie eine Wissenschaft ohne »Fehl und Tadel«, eine ganz und gar humane Fachdisziplin, stets an den Bedürfnissen der Menschen orientiert?

Krieg ist ohne ein hervorragendes Vermessungs- und Kartenwesen nicht denkbar:

  • Am 23. Februar 1920 trat eine Neufassung der Landmesserprüfungsordnung in Preußen in Kraft, die ein 6-semestriges Studium vorsah; eine Maßnahme, die der Deutsche Geometerverein bereits seit 1911 gefordert hatte. Wesentlicher Grund für diese bis dahin von der preußischen Regierung nicht für notwendig erachtete Aufwertung des Berufsstandes war die „Erfindung des indirekten Schießens“ (Grossmann 1977).

Im 1. Weltkrieg hatte das Militär erstmals versucht, mit Hilfe geodätischer Messungen und Berechnungen unter Berücksichtigung der Geschoßbahnen der Artillerie vom Gelände verdeckte Ziele zu treffen. Für die Lösung dieses Problems reichte die bis dahin bestehende und speziell auf behördliche Aufgaben zugeschnittene Ausbildung nicht aus.

  • Auch heute noch kann man in Fachzeitschriften in Nachrufen über verstorbene Fachkollegen lesen, mit welchem Einsatz sie im 2. Weltkrieg ihre Fachkompetenz eingebracht hatten. 50 Jahre nach Kriegsende wurde über die Aufstellung der Karten- und Vermessungstruppen so berichtet, als habe es sich hierbei nicht um einen Beitrag zu einem der furchtbarsten Kriege der Vergangenheit gehandelt, sondern um eine völlig normale Dienstleistung (ZfV 7,8/89 5.404).
  • Insbesondere die großen Entfernungen, welche Raketen heute zurücklegen, lassen vermuten, daß auch die Kenntnis über das Schwerefeld der Erde – ein Forschungsgegenstand der höheren Geodäsie – eine wesentliche Rolle spielt. Die Treffsicherheit von Raketen wird durch Satellitenortungsverfahren, wie NAVSTAR-GPS, erhöht (Bauer 1989). An der Entwicklung immer leistungsfähigerer Hard- und Software arbeiten auch Geodäten.
  • Raketen vom Typ Cruise Missile suchen Ihren Weg in niedriger Flughöhe u.a. durch den Vergleich gespeicherter Digitaler Geländemodelle bzw. Satellitenbilder mit Radar- bzw. Infrarotabtastungen (Scheffran et al. 1983). Die Entwicklung Digitaler Geländemodelle, die Geländeerfassung durch Radar- und Infrarot-Strahlung sowie die erforderlichen mathematischen Methoden der Digitalen Bildverarbeitung und Mustererkennung sind auch Gegenstand geodätischer Forschung.

Aber auch im zivilen Bereich ist die Ambivalenz geodätischer Tätigkeit spürbar:

  • Geodäten stecken Bauwerke aller Art ab und überwachen Stabilität und Funktion; auch höchst umstrittene Bauwerke und Anlagen, deren latente Bedrohung nicht nur durch den Widerspruch oder gar Widerstand der besorgten Bevölkerung deutlich wird, sondern auch durch reale Katastrophen (Perrow 1989).
  • Geodäten sind an Planung und Bau von Verkehrswegen also auch am zunehmenden Straßenbau beteiligt und sie helfen mit bei der Entwicklung von Kfz-Navigationssystemen (Claussen 1990), Maßnahmen, die der erwarteten Zunahme des Individualverkehrs Rechnung tragen sollen. Ob dies wünschenswert ist angesichts der damit verbundenen Naturzerstörung, des wachsenden Schadstoffausstoßes, der Verkehrsopfer und weiteren Einschränkungen unseres Lebensraumes, wird nicht diskutiert.

Geodäsie ist in Wissenschaft und Praxis nicht nur am technischen Fortschritt, sondern auch an der Zerstörung unserer Lebensgrundlagen beteiligt. Dessen müssen sich die Geodäten bewußt werden, nur hieraus kann Bereitschaft zu verantwortlichem Handeln erwachsen.

Das Problem Verantwortung

Verantwortungsbereitschaft setzt nicht nur Kompetenz und Verantwortungsbewußtsein voraus, sondern auch Verantwortungsfähigkeit. Diese kann insbesondere eingeschränkt sein durch

  • Zuständigkeitsprobleme: Technische Projekte sind nicht das Werk Einzelner, sondern entstehen in Teamarbeit. Es besteht die Gefahr, daß sich eigentlich niemand mehr verantwortlich fühlt. Die Verantwortung wird »nach oben« abgeschoben an eine anonyme Institution wie Firma oder Staat (Zimmerli 1991).
  • Arbeitsrechtliche Konsequenzen: Arbeitsziele und -inhalte werden durch Auftraggeber oder Arbeitgeber vorgeschrieben. Arbeitsverweigerung oder Alarmierung der Öffentlichkeit aus Verantwortung gegenüber der Allgemeinheit haben entsprechende Folgen.
  • Karrieredenken: Erfolg im Beruf ist ein wesentlicher Faktor für Anerkennung und Wohlstand in unserer Leistungsgesellschaft. Eine kritische Haltung ist hier eher hinderlich.
  • Fehlende Kompetenz: Ingenieure haben gelernt, unter Anwendung naturwissenschaftlicher Gesetze und praktischer Erfahrung Lösungen für technische Probleme zu finden. Die Auseinandersetzung mit den nichttechnischen Folgen ihres Handelns impliziert die Einbeziehung sozialer, ökologischer und ähnlicher Fragen. Das aber haben sie nicht gelernt.
  • Psychologische Barrieren: Bestehendes in Frage zu stellen erzeugt Unsicherheit, gegen die wir Verdrängungsmechanismen aktivieren. Diese lassen uns auch dann noch unbeirrbar an bestimmten Werterhaltungen festhalten, wenn allzu Widersprüchliches verarbeitet werden muß (Verbeek 1990). Die erforderliche intellektuelle und emotionale Auseinandersetzung wird aus Angst und Bequemlichkeit gescheut.

Trotz aller Schwierigkeiten: Der Einzelne ist weder frei von Verantwortung noch allein verantwortlich angesichts der Ambivalenz und Komplexität von Technik (Lenk 1987).

Sensibilisierung und Kompetenzerweiterung

Naturwissenschaftler und Ingenieure haben auf Grund ihrer Sachkompetenz und ihrer Schlüsselposition bei der Entwicklung und Anwendung von Technik eine besondere Verantwortung für die Erhaltung von Natur und Umwelt. Wie aber kann das Bewußtsein für eine über das Fachliche hinausgehende Verantwortung erzeugt werden?

Im Hochschulrahmengesetz heißt es in §7, daß das Studienziel auch „die Befähigung zu verantwortlichem Handeln in einem freiheitlichen, demokratischen und sozialen Rechtsstaat“ vermitteln soll. Hierzu ergänzt das Hamb. Hochschulgesetz (§43 Abs. 2): „In das Studium sollen auch die Anwendung der wissenschaftlichen Erkenntnisse und die Abschätzung der Folgen einbezogen werden“.

Dies ist ein eindeutiger Auftrag an die Hochschulen, die Studierenden für die Folgen ihres zukünftigen Handelns zu sensibilisieren und ihre Fähigkeiten und Kompetenzen so zu erweitern, daß sie in der Lage sein werden,

  • soziale, ökologische, ökonomische, psychosoziale u.a. Folgen naturwissenschaftlicher und technischer Entwicklungen zu bedenken und
  • sich rechtzeitig mit Vertretern entsprechender Fachdisziplinen zu verständigen und zu beraten.

Naturwissenschaftler und Ingenieure sind je nach Fachrichtung in zahlreichen technisch-wissenschaftlichen Vereinigungen organisiert. Deren Aufgabe ist es,

  • ihre Fachveranstaltungen auch für Beiträge und Diskussionen zur Technikbewertung zu öffnen und dies nicht nur in sehr allgemeinen und daher eher unverbindlichen Festvorträgen ethischen oder philosophischen Inhalts;
  • in ihren Fachzeitschriften nicht nur kritische Beiträge zur Entwicklung des Fachgebiets zuzulassen, sondern auch zur Veröffentlichung derartiger Beiträge zu ermutigen;
  • ggf. die Öffentlichkeit auf Fehlentwicklungen in Naturwissenschaft und Technik hinzuweisen.

Ausblick

Ein Beitrag wie dieser kann nur Denkanstöße, keinesfalls eine umfassende Analyse geben. Er kann auch keine Lösungen bieten, sondern nur Wege aufzeigen und zur Diskussion hierüber anregen. Ein erster Schritt wäre, daß wir unsere Verantwortung für den Erhalt von Natur und Umwelt in einem umfassenden Sinne akzeptieren, auch wenn dies mit Verunsicherung verbunden ist.

Es gibt seit Jahren zahlreiche Versuche, Vorschläge wie die o.g. an den Hochschulen zu realisieren. Sie kommen jedoch nur langsam voran, weil sich nach wie vor eine vorwiegend auf ihr Fachgebiet spezialisierte Mehrheit der Hochschullehrer gegen entsprechende Studienreformen sträubt und die zuständigen politischen Institutionen keine Unterstützung geben.

Dennoch: Hochschulen und technisch-wissenschaftliche Vereinigungen sind diejenigen Institutionen, die am ehesten ein Umdenken bei Naturwissenschaftlern und Ingenieuren herbeiführen können. Sie würden damit einen wesentlichen Beitrag zur Erhaltung von Natur und Umwelt leisten und damit auch für zukünftige Generationen. Hierbei auf die Entscheidungskraft der überwiegend opportunitätsorientierten Politiker zu hoffen, dürfte vergeblich sein.

Literatur

Bastian, T.: Naturzerstörung: Die Quelle künftiger Kriege. IPPNW, Heidesheim 1991.

Bauer, M.: Vermessung und Ortung mit Satelliten. Wichmann, Karlsruhe 1989.

Claussen, H.: Digitale Kartenabbildungen für Kfz-Navigationssysteme. In: Leihbrandt (Hg.), Moderne Techniken der Kartenherstellung, Kirschbaum, Bonn 1990.

Ditfurth v., H.: So laßt uns denn ein Apfelbäumchen pflanzen. Knaur, München 1988.

Grossmann, W.: 100 Jahre Berufsentwicklung in Norddeutschland. Zeitschrift für Vermessungswesen 11/1977, S. 498-506.

Jonas, H.: Warum die Technik ein Gegenstand für die Ethik ist: Fünf Gründe. In: Lenk/Ropohl (Hg.), Technik und Ethik, Reclam, Stuttgart 1987.

Kogon, E.: Die Stunde der Ingenieure. VDI-Verlag, Düsseldorf 1975.

Kohlstock, P.: Ist der Ingenieur den Anforderungen der Zukunft gewachsen? Gedanken zur Reform des Ingenieurstudiums. Zeitschrift für Vermessungswesen 11/1988, S. 540-546.

Kohlstock, P.: Technikfolgen und Ingenieurverantwortung. Welche Bildung braucht der Ingenieur? In: Fiedler et al.(fig.), Umweltbildung für Ingenieure, 20. Int. Symp. f. Ing. Päd. , Dresden 1991.

Lenk, H.: Über Verantwortungsbegriffe in der Technik. In: Lenk/Ropohl (fig.), Technik und Ethik, Reclam, Stuttgart 1987.

Neef, W.: Ingenieure. Entwicklung und Funktion einer Berufsgruppe. Bund-Verlag, Köln 1982.

Perrow, C.: Normale Katastrophen. Campus, Frankf.a.M./New York 1989.

Richter, H.-E.: Leben statt Machen. Hoffmann und Campe, Hamburg 1987.

Rinner, K.: Die Geodäsie, ein Ordnungsfaktor der Gesellschaft. Zeitschrift für Vermessungswesen 3/1977, S.97-103.

Ropohl, G.: Die unvollkommene Technik. Suhrkamp, Frankf.a.M. 1985.

Ropohl, G.: Ob man die Ambivalenzen des technischen Fortschritts mit einer neuen Ethik meistern kann? In: Lenk/Maring (Hg.), Technikverantwortung, Campus, Frankf.a.M./New York 1991.

Scheffran, J. et al.: Physik und Rüstung. Fachbereich Physik der Universität Marburg 1983.

Verbeek, B.: Die Anthropologie der Umweltzerstörung. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1990.

Zimmerli, W.: Verantwortung des Individuums – Basis einer Ethik von Technik und Wissenschaft. In: Lenk/Maring (Hg.),Technikverantwortung, Campus, Frankfurt a.M. 1991.

Bericht des Club of Rome 1991, Spiegel Spezial.

Prof. Dipl.-Ing. Peter Kohlstock, Dozent für Kartographie und Photogrametrie am Fachbereich Vermessungswesen, Fachhochschule Hamburg (Hebebrandstraße 1, 2000 Hamburg 60) und am Institut für Geographie der Universität Hamburg.

Berliner Herausforderungen

Berliner Herausforderungen

Der internationale Kongreß Wissenschaft und Frieden in einer sich schnell ändernden Welt

von Hartwig Spitzer

Wie fühlt sich jemand, der fast zwei Jahre lang auf einen internationalen Kongreß hingearbeitet hat, kurz bevor es losgeht? Als ich am 27.11.91 von Hamburg losfuhr, spürte ich: Es stehen Überraschungen bevor. Und die kamen dann reichlich. Wer einen Kongreß unter dem Thema »Herausforderungen« in einer unruhigen Zeit und in einer ebenso unruhigen Stadt durchführen will, darf sich nicht wundern, wenn ihn das Thema einholt.

Kaum hatte ich mich in Berlin eingerichtet, kam ein Anruf aus dem Kongreßbüro: „Herr Spitzer, kommen Sie sofort, die Russen sind da.“ Ja, sie waren gekommen, Kollegen und Kolleginnen aus Rußland, aus der Ukraine und Estland, in Zahlen wie noch nie zuvor bei einem internationalen Naturwissenschaftlerfriedenskongreß (ca. 120). Etliche kamen unangemeldet oder vor der Zeit. Wenn man aus Rußland fliegen will, muß man eben die Maschine nehmen, in der noch Plätze frei sind. Viele waren zum ersten Mal in einem westlichen Land und erlebten wahrscheinlich einen kleinen Kulturschock. Der Westen ist bunt und aufregend, aber nicht überall golden und perfekt organisiert: Das Kongreßbüro konnte keine Unterbringung in Drei-Sterne-Hotels anbieten, wie sie uns bei einem Vorbereitungstreffen in Leningrad im Sommer 1991 noch zur Verfügung standen. Auch wurden bei der Verteilung der Privatquartiere keine Unterschiede zwischen Professoren und Studierenden gemacht: Für manches Akademiemitglied ein arger Schock.

Die nächsten Herausforderungen kamen am Vorabend des Kongresses: Eine Etage – mit für den Kongreß reservierten Räumen – im Mathematikgebäude der Technischen Universität war von ausländischen Flüchtlingen besetzt worden. Rektor Fink von der Humboldt-Universität war zwei Tage vorher fristlos entlassen worden. Würde das zu Störungen und Protesten während der Kongreßeröffnung durch den Wissenschaftssenator führen? Lauter Situationen, die mich zwangen zu fragen, wo die Lernchancen in der Überraschung lagen (oder wie Wolf-Dieter Grossmann es formulierte „How to benefit from the unexpected?“). Wir machten die beiden Vorfälle zum Thema der Vorbesprechung mit den ausländischen Referenten und hatten einen sehr intensiven Vormittag.

Es war einer meiner Wünsche gewesen, daß während des Kongresses versucht wird, sparsam mit Ressourcen umzugehen, d.h. weniger Papierfluten als sonst, kein Wegwerfgeschirr. Auch hier gab es Niederlagen und Überraschungen: Die bereitgestellten Kopierer waren nicht dafür ausgerüstet, doppelseitig zu kopieren. Dafür gab es bei der Zwischenverpflegung Porzellangeschirr, ausgeliehen vom ehemaligen Palast der Republik. Am Ende des Kongresses mußte unser umsichtiger Verpflegungsverantwortlicher feststellen, daß Geschirr im Werte von DM 800.- verschwunden war.1

Die Anlage des Kongresses

Wie kam der Kongreß zustande und wie war er angelegt? Der Impuls für den Kongreß kam von zwei internationalen Kongressen Wege aus dem Wettrüsten (Hamburg 1986, London 1988). Der Hamburger Naturwissenschaftler-Kongreß war noch von der jahrzehntelangen Polarisierung zwischen Ost und West und einer ähnlichen Polarisierung zwischen Friedensbewegung und Regierungen geprägt. In London waren schon Anzeichen der Wende im Osten zu spüren. Inhaltlich stand aber die anhaltende Rüstungsdynamik weiter im Vordergrund.

Für Berlin war eine Erweiterung der Anlage des Kongresses in dreifacher Hinsicht nötig:

  • inhaltlich durch die Einbeziehung von Umweltthemen, Fragen der Ethik und Problemen der Dritten Welt bzw. des Nord-Süd-Verhältnisses
  • im Teilnehmerkreis durch eine bewußte Öffnung für Ingenieure und Ingenieurinnen und für Informatiker und Informatikerinnen2
  • in der Arbeitsweise durch eine Aufwertung der Arbeitsgruppen. Es wurden fast 70 Gruppen angeboten, genug, daß sich die ca. 1700 Teilnehmer und Teilnehmerinnen aus 41 Ländern in überschaubaren Gruppen treffen konnten. Die Gruppen hatten fast einen ganzen Tag für ihre Arbeit zur Verfügung und waren das eigentliche Forum des Kongresses.

Die Vielfalt der Themen und Herangehensweisen machte einen besonderen Reiz des Kongresses aus. Die Plenarsitzungen zu Beginn und am Ende hatten die Aufgabe, Grundlagen zu den drei Hauptthemenbereichen bereitzustellen und eine Integration zu ermöglichen. Das konnte natürlich nur teilweise gelingen. Zum Ende hin stellte sich allerdings immer deutlicher heraus, daß es so etwas wie einen roten Faden in den Plenarbeiträgen gab: Die bewußte Orientierung auf ethische Grundsätze hin, das Bemühen, einen neuen Konsens über Werte als Maßstab für das eigene Handeln und das Zusammenleben in einer Gesellschaft oder in einer Gemeinschaft der Völker zu finden.

Die Welt in schneller Veränderung

Der Kongreß hatte die Herausforderungen durch die schnellen Veränderungen in unserer Welt zum Thema. Wir erleben seit 1989 besonders stark die raschen politischen Veränderungen und »Wenden« innerhalb von und zwischen Staaten. Es könnte sein, daß diese Veränderungen nur eine besonders prominente Erscheinungsform einer unruhigen Übergangsphase sind, die die ganze Biosphäre, d.h. das gesamte Ökosystem Erde umfaßt. Zur Veranschaulichung möchte ich zwei Darstellungen heranziehen. Bild 1 zeigt die Bevölkerungsentwicklung der Erde auf einer Zeitskala von 10 000 Jahren. Auf dieser Skala wird deutlich, wie schnell und ungewöhnlich die Zunahme der Weltbevölkerung seit etwa hundert Jahren ist. Bild 2 zeigt den Kohlendioxid (CO2-)-Gehalt der Atmosphäre auf einer geteilten Skala: In die Vergangenheit hin ist die Skala logarithmisch komprimiert. Erkennbar sind die Schwankungen des CO2-Gehalts im Wechsel von Eis- und Warmzeiten innerhalb der letzten Million Jahre. Weiter in der Vergangenheit zurück beobachten wir einen starken Anstieg des CO2-Gehaltes bis zu Konzentrationen, die 3-5 mal über den heutigen Werten liegen. Die Extrapolation in die Zukunft zeigt den zu erwartenden Anstieg des CO2-Gehalts bei einer jährlichen Steigerung der Kohlendioxid-Freisetzung von einem Prozent. Anstiege auf ähnliche Werte wie vor hundert Millionen Jahren sind möglich. Die Menschheit (und das sind hauptsächlich die 20% der Menschen in den Industrieländern) ist also dabei, innerhalb von 100 – 200 Jahren einen Prozeß umzukehren, der erdgeschichtlich mehrere hundert Millionen Jahre gedauert hat. Kein Wunder, wenn das Ökosystem Erde dabei abrupt reagieren sollte.

Phasenübergänge in physikalischen Systemen (wie zum Beispiel das Sieden von Wasser) sind von großem Energieumsatz begleitet. Sie verlaufen turbulent und chaotisch. Der Verlauf ist im einzelnen prinzipiell nicht vorhersagbar. Entsprechend turbulente und chaotische Veränderungen könnten dem Ökosystem Erde als Ganzem bevorstehen.

Wie können wir uns innerlich und äußerlich auf solche Veränderungen einstellen und angemessen damit umgehen?

Lassen sich ökologische Katastrophen vermeiden?

Der Mathematiker und Ökosystemforscher Wolf-Dieter Grossmann (Wien) sprach über die Fähigkeit und Grenzen von Ökosystemen, sich nach Katastrophen wieder zu erholen bzw. weiterzuentwickeln. Es könnte sein, daß diese Fähigkeit fast unbegrenzt ist.3

Einige ökologische Katastrophen sind vorhersehbar, andere sind es nicht und zwar wegen der prinzipiellen Unmöglichkeit, den Verlauf chaotischer Übergänge vorherzusagen. Auf vorhersehbare Katastrophen können wir uns einstellen. Wir können Vorsorge treffen und zur Vermeidung der Katastrophen, z.B. durch Vorausberechnung, sorgfältige Überwachung (Monitoring) des jeweiligen Ökosystems sowie steuernde Maßnahmen beitragen. Wichtig ist es, Eingriffe in Ökosysteme so zu dosieren, daß ihnen ihre Erholfähigkeit, die Resilienz, nicht genommen wird. Ein Ökobauer wird z.B. bewußt Schwankungen in der Ernte oder gar eine Mißernte hinnehmen, damit der Boden und die Pflanzen nicht durch zu starke Eingriffe ihre natürliche Regenerationsfähigkeit verlieren. Zu den Vorsorgemaßnahmen gehört auch die Pflege von Vielfalt gegenüber der einseitigen Optimierung von Monokulturen. Wenn Ökosysteme in einer Teilautonomie gelassen werden und von Menschen aufmerksam begleitet werden, steigt ihre Fähigkeit, sich auch von unvorhersehbaren Schocks oder Katastrophen zu erholen.

Die Menschheit selbst hat die vielen Umweltkatastrophen seit ihrem Erscheinen (wie Eiszeiten und Vulkanausbrüche) sicher nicht nur durch Anwendung rationaler Fähigkeiten überlebt. Ebenso wichtig waren nichtrationale Fähigkeiten, wie Intuition, Schönheitssinn4 und spielerischer Umgang mit der Umwelt. Heute gilt es, diese Fähigkeiten in Erziehung und Berufsausübung bewußt zu pflegen, damit wir besser für das Unerwartete vorbereitet sind.

Die Rüstungsentwicklung geht weiter

John Holdren (Berkeley, USA) ging in seinem klaren und engagierten Eröffnungsvortrag auf die Rolle von Wissenschaftlern und Technikern bei der Rüstungsentwicklung ein: „Wissenschaftler wollen wissen was möglich ist, Ingenieure wollen testen was möglich ist, die Industrie möchte große Stückzahlen produzieren“. Wissenschaft und Technik haben das auf der Welt vorhandene Zerstörungspotential gewaltig erhöht. In den USA werden jährlich von den 150 Milliarden Dollar Aufwendungen für Forschung und Entwicklung die Hälfte (d.h. etwa 75 Milliarden Dollar!) für militärische Forschung und Entwicklung ausgegeben. Weltweit arbeiten etwa die Hälfte aller Naturwissenschaftler und Ingenieure in der militärischen Forschung und Produktion. Nach der Auflösung der Sowjet-Union werden diese Zahlen etwas zurückgehen, aber die Rüstungsforschung und -entwicklung soll in Schlüsselländern wie den USA und der Bundesrepublik ungemindert weitergeführt werden. Das bedeutet eine ungeheure Bindung von geistigen und materiellen Ressourcen, die dann an anderer Stelle fehlen.

Gibt es einen Ausweg? Günter Altner (Landau) formulierte dazu die radikalste Position: „Die Herstellung, Lagerung und der Einsatz von Waffen sind die verrückteste Form ökologischer Zerstörung. Der einzige Weg, den Einsatz von Waffen aller Art zu verhindern, ist, ihre Herstellung zu verhindern“ – und zwar weltweit, möchte ich hinzufügen. Das klingt heute noch – angesichts des Zustandes der Weltgesellschaft – wie eine Utopie. Es ist eine Utopie, aber eine, an der es sich lohnt festzuhalten. „Auch die Abschaffung der Sklaverei galt vor 250 Jahren noch als gesellschaftliche Utopie und doch wurde sie inzwischen weitgehend verwirklicht“ (Johan Galtung).

Die Schwierigkeiten auf dem Weg dorthin werden groß sein: Es beginnt mit der Ambivalenz der Forschung. Praktisch jedes Forschungsergebnis läßt sich mißbrauchen. John Holdren legte dem Auditorium nahe, die Ambivalenz der Forschung bewußt zu akzeptieren, d.h. der Forschung nicht den Rücken zu kehren, sondern sich neben der engeren beruflichen Arbeit während zehn Prozent der Zeit in der Gesellschaft für einen verantwortlichen Umgang mit Wissenschaft und Technik zu engagieren.

Desweiteren schlug er ein stufenweises politisches Vorgehen vor:

1. Einführung einer öffentlichen Kontrolle über die Waffenbeschaffung

2. Einführung einer öffentlichen Kontrolle über militärische Forschung und Entwicklung. Das bedeutet u.a. die Öffnung bisher geheimer Forschungslaboratorien auf nationaler und internationaler Ebene.

Die Entwicklung im Irak, aber auch in den USA, zeigt, wie schwer das zu verwirklichen sein wird. Die Hälfte aller Rüstungsforschungsprojekte in den USA ist »black«, d.h. der Kenntnis des Kongresses entzogen; im Irak sind wahrscheinlich alle Projekte geheim.

Die Rolle unabhängiger Wissenschaftler und Aktivisten

Frank von Hippel (Princeton) wies in seinem Referat auf die nuklearen Hypotheken und auf die Rolle unabhängiger Wissenschaftler und Aktivisten (im Englichen hieß es: „analysts and activists“) bei ihrer Aufdeckung und Abtragung hin. Veränderungen können nur stattfinden, wenn Aktivisten die Gesellschaft dafür sensibilisieren. Veränderung kann aber auch nur stattfinden, wenn Wissenschaftler die Möglichkeit von Veränderung glaubwürdig belegen können. Ein Beispiel ist die Schließung des Kernwaffentestgebietes bei Semipalatinsk durch den Einsatz kasachischer Aktivisten – einige davon waren beim Kongreß anwesend – und durch die argumentative Unterstützung von russischen Wissenschaftlern.

In der Zukunft wird es eine wichtige Aufgabe sein, unabhängige Wissenschaftler aus Ländern der Dritten Welt mit großen Rüstungsprogrammen darin zu unterstützen, daß sie zu Experten für die fraglichen Techniken und Entwicklungen werden können.

Ansätze zu einer neuen Ethik

Es war einer meiner Wünsche gewesen, daß auf diesem Kongreß die heutigen Herausforderungen vor dem Hintergrund der Evolution des Lebens gesehen werden. Wer sich für Frieden, Umwelt und Gerechtigkeit engagieren will, braucht ein tiefes Verständnis seines eigenen Wesens als Ergebnis der Entwicklung des Lebens und ein Verständnis für Möglichkeiten und Grenzen der Weiterentwicklung. Zu diesem Verständnis können auch die Naturwissenschaften beitragen.

Der Biologe und Theologe Günter Altner wies daraufhin, daß die Entwicklung des Lebens über Jahrmillionen ausschließlich durch Sonnenenergie und Erdwärme als Energiequelle gespeist worden ist. Durch den raschen Verbrauch fossiler Energien (und von Kernenergie) brechen wir aus dem eingependelten Entwicklungsrhythmus aus. Wir versuchen Grenzen zu überwinden, die uns erdgeschichtlich vorgegeben sind. Es ist jetzt auch die Aufgabe von Naturwissenschaftlern und Technikern, die Begrenztheit und die Vergänglichkeit als notwendige Voraussetzung unserer Existenz anzuerkennen. Von daher gesehen ist die Energiefrage eine Schlüsselfrage. Altner ist davon überzeugt, daß ein langfristiges Überleben der Menschheit nur auf der Basis von Sonnenenergie und Erdwärme ermöglicht werden kann.5

Die Anerkennung von Grenzen ist aber auch im Umgang mit anderen Ressourcen nötig. Andernfalls fahren wir fort, unsere Begrenztheit zu verdrängen und sie durch technokratische Dominanz und Ausbeutung in verschiedener Form kompensieren zu wollen. Friede und Liebe sind nötig, um den Wettbewerb um Macht und Besitz zu überwinden.

Ist das nicht wieder eine Utopie? Können wir uns angesichts unseres Wissens über das Wesen des Menschen, über seine Instinkte, seine Bedürftigkeit, seinen Egoismus und seine Aggression eine Entwicklung zu mehr Frieden untereinander und mit der Natur vorstellen?

Der Ingenieurwissenschaftler Franz Moser (Graz) skizzierte in seiner Arbeitsgruppe ein anthropologisches Modell, das einige Hoffnung zuläßt. In diesem Modell ist das Bewußtsein ein Schlüsselbegriff. Es beruht auf der Beobachtung, daß Menschen sich im Rahmen eines Reifungsprozesses von der Fixierung auf Besitzergreifen von Gütern und Macht auf die Entfaltung innerer Werte umorientieren können und dabei auch sparsamer mit Ressourcen und weiser mit ihrer Macht umgehen. Es besteht die Hoffnung, daß auch Gruppen von Menschen gemeinsam zu solchen Reifungsprozessen fähig sind und sich entsprechend anders in der Welt organisieren und verhalten. Der Prozess ist von einer Bewußtwerdung und ständigem Einüben von bewußten Haltungen begleitet: Ich selbst habe etwas davon durch Begegnungen mit Menschen aus Indien und Afrika während des Kongresses gespürt. Deren Existenz und deren Probleme sind stärker in mein Bewußtsein gerückt und lassen sich jetzt weniger leicht verdrängen.

Die Informatikerin Christiane Floyd (Hamburg) entwickelte ihre Vision einer neuen Ethik. Die überkommene Ethik gründete sich auf eine höhere, von außen vorgegebene Autorität, sie umfaßte Gesetze, deren Einhaltung befohlen und von einer Hierarchie kontrolliert wurde. Die neue Ethik basiert auf der Authentizität von einzelnen oder Gruppen, die ihre Entscheidungen auf Grund einer bewußten Wahl (choice) treffen und sich selbst zur Respektierung bestimmter Werte verpflichten (commitment). Andere werden nicht gezwungen, sondern eingeladen sich anzuschließen. An die Stelle von Kontrolle tritt gegenseitige Unterstützung. Die Organisationsform ist ein Netzwerk.

Schon wieder eine Utopie? Wir wissen, daß die Tage der alten erstarrten Hierarchien gezählt sind. Wo aber zeigt sich das Neue? Erste Ansätze sehe ich in selbstverwalteten Betrieben, im Konzept des Runden Tisches oder in Schlichtungsverfahren, bei denen nicht mehr per Abstimmung oder per Gesetz entschieden wird, sondern bei denen ein Konsens aller Beteiligten erarbeitet wird. Die bescheidenen Ansätze für vertrauensbildende Maßnahmen und die Betonung der Menschenrechte im Rahmen des KSZE-Prozesses gehen ebenfalls in diese Richtung. Solche Beispiele wirken unscheinbar gegenüber dem Problemdruck in vielen Teilen der Welt. Sie könnten aber erste Vorboten von neuen Maßstäben, Verhaltensweisen und Strukturen sein.

INES – Ein neues Netzwerk

Parallel zum Kongreß wurde ein Internationales Netzwerk von Ingenieuren/innen und Wissenschaftlern/innen für Globale Verantwortung (International Network of Engineers and Scientists for Global Responsibility – INES) gegründet. Nach mehreren tastenden Versuchen in den Vorjahren war die Zeit offenbar reif.

18 fachbezogene Friedens- und Umweltinitiativen bzw. Institute aus vier Kontinenten schlossen sich am 29.11.1991 zu einem Netzwerk zusammen. Unter den Mitgliedsorganisationen ist die Union of Concerned Scientists (USA) international am meisten bekannt. Aus Deutschland beteiligten sich FIFF, die Naturwissenschaftler-Initiative und die Berghof-Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung an der Gründung.

Ziel des Netzwerkes wird es sein, den Informationsaustausch unter Wissenschaftlern/innen und Ingenieuren/innen international zu fördern. Das Netzwerk verbindet Menschen, die sich für Frieden, Gerechtigkeit, nachhaltige Entwicklung (sustainable development) und für einen verantwortlichen Gebrauch von Wissenschaft und Technik einsetzen wollen. Dies soll durch die Unterstützung entsprechender Forschungsvorhaben, durch Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit sowie durch öffentliche Stellungnahmen erfolgen. Das Netzwerk lädt alle, die diese Intentionen teilen, zur Mitarbeit bzw. zu einer fördernden Mitgliedschaft ein. Einzelpersonen können ebenso Mitglieder werden wie Initiativen.6

Rückblick und Ausblick

Was hat der Kongreß geleistet? Ich glaube, am wichtigsten waren die Angebote und Möglichkeiten zur Stärkung im eigenen Engagement und zur Klärung der Orientierung für diejenigen, die gekommen waren.

Es war kein lauter Kongreß – trotz aller Unruhe in der Stadt und trotz unterschätzter Herausforderungen bei der Organisation und Gestaltung. Es ging um eine Weitung des Blickes. Vielleicht bewegen wir uns doch auf einen Übergang hin zu einem bewußteren Wahrnehmen, Respektieren und Gestalten des Lebensprozesses auf der Erde und der Entwicklung einer menschlichen Weltgesellschaft. Die zu erwartenden Widersprüche und Herausforderungen auf dem Wege werden groß sein. Menschen, die in Naturwissenschaft und Technik zu Hause sind, werden dabei gebraucht.

Hartwig Spitzer ist Professor für Physik an der Universität Hamburg. Er hat zusammen mit Prof. Ferdinand Hucho das internationale Programmkommittee des Berliner Kongresses geleitet. Er wurde für das erste Jahr zum Vorsitzenden des Exekutive-Kommittees von INES gewählt.

Wissenschaft und Ethik

Wissenschaft und Ethik

von Christiane Floyd

Ich bin 40 km entfernt vom eisernen Vorhang in der früheren sowjetischen Besatzungszone Österreichs aufgewachsen und ich habe viele Jahre in dieser großartigen Stadt Berlin gelebt. Daher habe ich die Öffnung Osteuropas mit einem Gefühl tiefer Dankbarkeit erlebt. Als ein vollkommen unerwartetes Geschenk. Als eine unvermutete Chance, unsere Zusammengehörigkeit anzuerkennen und zu feiern, jenseits der Schrecken der Vergangenheit. Als eine Möglichkeit für mich und für uns alle, die Zersplitterung zu überwinden und ein Ganzes zu werden. Als eine einzigartige historische Verantwortung.

Doch wir wissen, daß dieser Neuanfang ein sehr schwieriger Prozeß ist, der auch Irrtum, gegenseitiges Mißtrauen, Mangel an Verständnis und die Gefahr einschließt, in alte destruktive Verhaltensmuster zurückzufallen. Wir sind Zeugen des Wiederauflebens lang vergessener Vorurteile, Konflikte und Rivalitäten. Wir sind mit neuen Ängsten konfrontiert. In dieser unruhigen Zeit gibt uns die hier stattfindende Konferenz die Möglichkeit, gemeinsam Fragen nachzugehen, die für die Zukunft unseres Kontinents von entscheidender Bedeutung sind.

Obwohl wir also als Europäer zur Zeit vor allem damit beschäftigt sind, uns in dieser neuen Situation zurechtzufinden, gehen die Fragen, die auf dieser Konferenz diskutiert werden sollen, weit über die Grenzen unseres Kontinents hinaus. Wissenschaft und Technologie werden international unter der Führung der industrialisierten Länder betrieben. Das Netz der Beziehungen zwischen wissenschaftlichen Institutionen ist so eng, und die damit verbundenen technologischen und ökonomischen Bedingungen sind so ähnlich, daß Wissenschaft und Technologie, trotz nationaler Unterschiede, als ein Programm wahrgenommen werden, das, formuliert und durchgeführt vom Norden, dem Süden eingepflanzt oder vielmehr aufgezwungen wird. Diese Konferenz bietet die große Chance, über die lebenswichtigen Fragen, um die es uns geht, mit Repräsentanten sowohl der Industrie- als auch der Entwicklungsländer zu diskutieren.

Wettrennen in die Katastrophe – wir nehmen teil

Wir kommen hier zusammen in einer einzigartigen geschichtlichen Situation. Als Wissenschaftler wußten wir schon lange Zeit von den fundamentalen Gefahren, die der Welt drohen. Einige von uns haben früh Warnungen ausgesprochen. Dann begannen wir, zusammen mit allen anderen, die Auswirkungen, die vorhergesagt worden waren, zu sehen: Hunger, Überbevölkerung, wiederkehrende nationale und ökonomische Konflikte, Übernutzung und Erschöpfung der natürlichen Ressourcen, Vergiftung und Verfall unserer natürlichen Umwelt in großem Umfang, Orientierungslosigkeit des Einzelnen, gesellschaftliche Umwälzungen und zwischenmenschliche Brutalität. Viele von uns versuchen noch die Illusion aufrechtzuerhalten, wir beobachteten all dies, während wir annahmen, daß unser eigenes Leben sicher sei. Wir verschließen die Augen gegenüber der Tatsache, daß wir selbst jetzt mittendrin leben. Wir beobachten nicht ein verrücktes Wettrennen in die Katastrophe, wir nehmen daran teil.

Die Hand auszustrecken, um sich in dieser Situation gegenseitig zu helfen, bedeutet Risiken einzugehen. Es ist meine Aufgabe, zu dem Thema Wissenschaft und Ethik sinnvolle Worte zu finden und zu sprechen. Aber wie können wir zusammen über Ethik reden angesichts der schrecklichen Leiden – der gegenwärtigen, der vergangenen und der zukünftigen –, die wir, unsere Nationen, unsere Kulturen einander zufügen? Angesichts der massiven Bedrohung, die wir, die menschliche Rasse, für alle Lebewesen der Erde herbeigeführt haben? Angesichts der zerstörerischen Natur der Maschinerie wissenschaftlicher und technologischer Entwicklung, deren Teil wir sind? Angesichts unserer völligen Desillusionierung über Ideologien und moralische Autoritäten? Angesichts unserer grundlegend unterschiedlichen Lebensauffassungen? Wie kann ich, mit all meinen Schwächen und meinem eingeschränkten Blick, in sinnvoller Weise zu Ihnen allen über Ethik sprechen?

Wir haben die Wahl

Ich hatte ein Jahr Zeit, um dieses Referat vorzubereiten. In die Person hineinzuwachsen, die schließlich hier und jetzt zu Ihnen über Ethik sprechen würde, bedeutete für mich einen anstrengenden Prozeß, in dem ich mich einigen schmerzhaften Wahrheiten stellen mußte. Meine Grenzen und meine Ängste wurden mir bewußt, und ich verstrickte mich in ein Netz unlösbarer Zweifel und Paradoxien. Dann kam ich zu dem Schluß, daß ich meine Schwierigkeiten offen formulieren müßte. Vielleicht hilft es Ihnen, Ihre eigenen zu überwinden. Wir müssen zusammen drei Schritte vollziehen, jeder in seiner eigenen Weise: zu sprechen lernen, unser Blickfeld erweitern, zu handeln wagen.

Der Schlüssel zur Ethik ist, sich bewußt zu werden, daß wir wählen können. Eine Wahl, die wir als autonome Wesen in verantwortlicher Weise treffen können. Eine Wahl, bei der wir uns gegenseitig unterstützen können, wenn es uns gelingt, uns zu artikulieren und uns über das, was uns wichtig ist, auszutauschen.

Die Notwendigkeit, das Schweigen zu überwinden

In unserer Kultur über Ethik zu sprechen ist schwierig. Es ist im alltäglichen Leben nicht üblich. Man tut es einfach nicht. Ethik ist institutionalisiert. Es gibt Profis, die dafür ausgebildet sind, passende Worte in einer Fachsprache zu sagen, die zur Tradition einer Religion, Ideologie oder philosophischen Schule gehört. Auch Politiker können sich gelegentlich auf Werte beziehen; einigen von ihnen gelingt es dabei sogar, überzeugend zu wirken. Doch wir übrigen halten uns von all dem fern. Wir haben die Freiheit, zuzuhören, oder uns zurückzuziehen. Als Individuen lassen sich einige von uns auf spirituelle Übungen oder Diskussionen über Werte ein. Aber zumeist sind wir unentschlossen oder verlegen und schweigen.

Das gilt insbesondere für WissenschaftlerInnen, denn wir sind geschult worden, sogenannte Tatsachen von Werten zu trennen, und wir sind auf eine Art der Interaktion konditioniert, aus der alle mit Werten zusammenhängenden Fragen ausgeschieden werden. In gewissem Sinne ist »Wissenschaft und Ethik« überhaupt kein Thema. Der Titel meines Referats benennt zwei grundlegende menschliche Arten des Umgangs mit der Welt, von denen jede ihre eigene Kultur mitbringt. Die Ethik mag zwar ein hochdifferenziertes Gerüst für die Diskussion von Werten bieten, doch die traditionelle Vorstellung ist, daß Wissenschaft und Technologie wertfrei sind. Es gibt kein »und«, diese beiden Kulturen bleiben getrennt.

Das Schweigen zu Fragen der Ethik ist von Ludwig Wittgenstein sogar programmatisch gefordert worden in seinem berühmten Ausspruch: Alles, was sich überhaupt sagen läßt, läßt sich klar sagen, und worüber man nicht reden kann, darüber muß man schweigen. Es ist bekannt, daß sich Wittgenstein hier auf die Welt der Werte bezog, die er allerdings in den Bereich des Schweigens verwies. Er protestierte gegen dogmatische Institutionen und Denkschulen, die auf ungenau definierten und irreführenden Vorstellungen basierten. Solche Fallstricke existieren zweifellos auch weiterhin. Aber Schweigen ist nicht notwendigerweise die beste Antwort. Wir können versuchen, gangbare Wege zu finden, um unsere eigenen Werte in konkreten Kontexten zum Ausdruck zu bringen.

Auch mißtrauen wir denen, die sich zu moralischen Autoritäten erheben und im Namen der Ethik zweifelhafte Anforderungen an andere stellen. Wir wissen, daß wir selbst keine solchen moralischen Autoritäten sind, und wir haben keine Übung darin, ohne solche Autorität über Ethik zu sprechen.

Wir müssen uns dieser Hindernisse bewußt sein, um als Wissenschaftler über Ethik reden zu können. Ich kann nicht versuchen, einen wissenschaftlichen Vortrag zu meinem Thema zu halten. Ich werde vielmehr für meinen Versuch, Sie als Menschen zu erreichen, die einfachsten Worte verwenden, die ich finden kann. Meine Schwierigkeiten, mich auszudrücken, mit Ihnen teilen, um Ihnen dadurch Mut zu machen, mit Ihren eigenen fertig zu werden. Versuchen, mich nicht an irgendwelche Glaubenssätze zu binden, durch die jemand von Ihnen ausgeschlossen werden könnte. Eine Sprache und ein Klima schaffen, die unserer Diskussion förderlich sind. Gemeinschaftliche Prozesse ermöglichen, in denen wir alle es wagen können, uns zu öffnen, unsere eigenen Sichtweisen zu artikulieren und auszutauschen, um auf diese Weise gemeinsam tiefere Einsichten zu gewinnen.

Die Wurzel der Ethik, wie ich sie vestehe, liegt im Aufeinander-Bezogen- Sein der Menschen. Zweck der Ethik ist es, Lebensbedingungen zu schaffen und zu erhalten, die Glück möglich machen. Und der Geist der Ethik ist die Hoffnung. Die Hoffnung, daß wir durch das, was wir tun, einen sinnvollen Beitrag für die menschliche Gemeinschaft leisten können. Dies führt uns direkt zu der Idee der Verantwortung, in der ich den Schlüssel für die Diskussion von Fragen der Wissenschaft und Ethik sehe.

Ebenen des Nachdenkens über Wissenschaft und Ethik

Für die Verbindung von Wissenschaft und Ethik schlage ich vor, verschiedene Ebenen zu unterscheiden, auf denen Verantwortung zu übernehmen ist:

  1. Wie können wir innerhalb der Wissenschaft verantwortlich handeln?
  2. Wie können wir über Wissenschaft verantwortlich nachdenken?
  3. Wie können wir Wissenschaft verantwortlich umgestalten?

Verantwortung innerhalb der Wissenschaft

Ich verwende den Begriff »Wissenschaft« hier in einer sehr umfassenden Bedeutung. Er bezieht sich nicht nur auf die Arbeit, die wir gewöhnlich als »wissenschaftlich« ansehen – idealerweise die Beschäftigung mit isolierten und exakt definierten Problemen, mit den der Untersuchung zugrundeliegenden Hypothesen, den Experimenten, die zur Erzielung von Resultaten durchgeführt werden, mit der Feststellung und Diskussion von Resultaten und möglichen Verallgemeinerungen – sondern ebenso auf die gesamten Annahmen, Untersuchungsmethoden, Problemen, die in Betracht gezogen, und Zielen, die unter diesem Namen verfolgt werden. Der Begriff »Wissenschaft« steht für die Institutionen der Lehre und Forschung, in denen sich wissenschaftliche Arbeit entfaltet. Für die Ausbildungsprogramme, in denen der Nachwuchs geschult wird, die Tradition zu übernehmen und fortzuführen. Für die Mechanismen bei der Forschungsförderung und die Abhängigkeit wissenschaftlicher Arbeit von solchen Mitteln. Für die Technologie, die als Resultat der Forschungen produziert wird, und ihre Verwendungsmöglichkeit für ökonomische und militärische Zwecke. Für den Status, den Wissenschaft und Technologie in unserer Welt für sich in Anspruch nehmen.

Wissenschaft verkörpert eine Art und Weise, die Welt wahrzunehmen. Sie erlaubt uns, gewisse Richtungen der Forschung weiterzuverfolgen und scheidet andere aus. Sie baut auf einer Grundlage von Annahmen, die die Antworten, die wir bekommen können, vorbestimmt, durch die Beschränkung der Fragen, die wir stellen, und der Methoden, die wir verwenden können. Sie bereitet das Umfeld für den Gebrauch der Technologie in unserer Welt. Sie ist eng verflochten mit soziokulturellen Bedingungen, die auf der einen Seite all dies erst möglich machen und auf der anderen Seite ständig durch die Wissenschaft umgeformt werden.

Auf der ersten Ebene der Verantwortung in der Wissenschaft erfahren wir Wissenschaft als etwas Gegebenes. Wir finden uns in die Wissenschaft »geworfen« (ein von Heidegger entlehnter Begriff). Die Wissenschaft stellt Forderungen an uns, und unsere Rolle ist unklar. An dieser Stelle sind wir mit persönlichen Entscheidungen konfrontiert, wie: Kann ich zwischen dem, was ich für ethische und unethische Forderungen halte, unterscheiden? Wie finde ich heraus, in welchem Umfang ich selbst autonom entscheiden und verantwortlich handeln kann? Werde ich in das einwilligen, was ich für unethisch halte, oder werde ich es ablehnen? Es geht darum, persönliche Verantwortung zu übernehmen oder mit anderen gemeinsam vor Ort zu handeln, während man die Wissenschaft selbst als in sich stabil betrachtet.

Wissenschaft und Gesellschaft

Die zweite Ebene impliziert, daß wir uns die Weltsicht und die Interessen, die der Wissenschaft, wie wir sie kennen, zugrundeliegen, und die Beziehung zwischen Wissenschaft und Gesellschaft bewußt machen. Das bedeutet, die Anforderungen, die an uns gestellt werden, die Zwänge, denen wir unterworfen sind, die Annahmen, auf die wir bauen und die Privilegien, die wir genießen, in Frage zu stellen. Dafür müssen wir den Rahmen der Wissenschaft verlassen und uns anderen Möglichkeiten der Lebenserfahrung zuwenden. Wir sind gefordert, in Betracht zu ziehen, daß wir uns aus der Wissenschaft ganz lösen könnten, und daß es unsere eigene Wahl ist, wenn wir in der Wissenschaft bleiben. Es ist wichtig, sich dieser Wahl bewußt zu werden, welcher Art unsere Beschränkungen auch sein mögen. So werden wir uns der Kompromisse bewußt, auf die wir uns einlassen, und der Alternativen, nach denen wir nicht suchen.

Die Gestaltung der Wissenschaft

Auf der dritten Ebene gilt es, unsere eigene aktive und verantwortliche Rolle bei der Gestaltung der Wissenschaft zu übernehmen. Themen für die Forschung wählen. Methoden und Formen der Zusammenarbeit wählen. Unsere Wahl deutlich machen. Die Öffentlichkeit wahrheitsgemäß informieren. Forschungsgemeinschaften aufbauen, die auf Verantwortung ausgerichtet sind. Neue Wege des behutsamen Denkens aneignen. Unsere eigenen Möglichkeiten finden, die Orientierung auf Werte mit klarem Denken zu verbinden. Einander unterstützen. Netzwerke verantwortlichen Handelns bilden.

Es ist weder meine Absicht, diesen Ebenen eine Rangfolge zuzuordnen, je nach der größeren oder geringeren Verantwortung, die sie erfordern, noch zu behaupten, daß sie notwendigerweise zeitlichen Stufen in der persönlichen Entwicklung der einzelnen WissenschaftlerInnen entsprechen. Dennoch finde ich sie für die Diskussion von Wissenschaft und Ethik unter WissenschaftlerInnen nützlich, denn Wissenschaft ist das Thema, das uns verbindet. Aber, wie genau definiert ist Wissenschaft? Die Unterscheidung, die ich oben zwischen den Ebenen gemacht habe, zeigt, daß für mich Wissenschaft eingebettet ist in die menschliche Lebenswelt, und daß sie sich in der Zeit weiterentwickelt und verändert. Außerdem sehe ich jede/n von uns als jemand, die/der die Wissenschaft, so wie sie ist, im Prozeß ihres Werdens mit konstituiert. So umfassen die Ebenen eine breite Skala möglicher persönlicher Handlungsprofile. Diese reicht von individuellen Entscheidungen im Rahmen spezifischer wissenschaftlicher Bemühungen über politische Aktionen, die die Anwendung der Technologie betreffen, bis zu der Möglichkeit, das herbeizuführen, was man einen Paradigmenwechsel in der Philosophie der Wissenschaft nennt.

Teilnehmen am ethischen Diskurs: eine Einladung

Ich sehe meine Aufgabe darin, den ethischen Diskurs unter uns – hier und in seiner Fortführung später – zu erleichtern. Darum möchte ich einige Aspekte der Ethik verdeutlichen.

Der eine ist, daß Sprechen über Ethik notwendigerweise auch ein Sprechen über uns selbst bedeutet. Es ist dem Wesen nach selbstreferentiell; ich gehe das Risiko ein, mit all meinen Schwächen und meinem Versagen an die Öffentlichkeit zu treten. Wenn ich hier über Ethik spreche, haben Sie alle das Recht zu fragen: Lebt sie so, wie sie spricht? Wir können uns der Diskussion nicht entziehen. Bin ich aufrichtig, finde ich mich schutzlos über dem Abgrund meiner eigenen Unzulänglichkeiten. Bin ich es nicht, strapaziere ich meine Glaubwürdigkeit. In den vergangenen Monaten habe ich dies als bedrohlich erlebt, trotzdem möchte ich Sie einladen, daran teilzuhaben.

Ein anderer ist, daß wir keine gemeinsame Vorstellung von Ethik besitzen. Im engeren Sinne bezeichnet der Begriff einen Zweig der Philosophie, den die Griechen begannen und der in vielerlei Varianten durch die europäische Geschichte hindurch weiterverfolgt wurde. Er bezieht sich auf die philosophische im Unterschied zur christlich-religiösen Tradition der Wertediskussion. Er entwickelte sich parallel zum Christentum. Was wir unter Ethik verstehen, spiegelt die Annahmen und Erfahrungen unserer Kultur. In dieser Kultur, die das Erbe griechischer Philosophie und monotheistischer Religionen übernahm, waren Werte traditionell an Gebote oder Gesetze gebunden, die einer Autorität zugeschrieben wurden. (Das ist nicht in sich zwingend. In der buddhistischen Tradition zum Beispiel gibt es keine Gebote. Dort ist die Grundlage für verantwortliches Handeln spirituelle Übung und persönliches Engagement.) Unter der Autorität verstand man Gott, vertreten durch die Kirche oder den Staat (später die Partei), oder vielleicht das moralische Gesetz in uns. Allen gemeinsam war die Idee, kontextunabhängige und verallgemeinerbare Prinzipien des Handelns in der Form zeitloser Werte oder Normen zu formulieren, denen alle zu gehorchen haben. Solche expliziten Normen verbanden sich mit Mechanismen gesellschaftlicher Kontrolle.

Diese ursprüngliche Idee der Ethik steht in enger Übereinstimmung mit hierarchischen Gesellschaftsformen. Ethik bedeutete für das Individuum, das anerkannte Gesetz richtig zu verstehen und nach ihm zu handeln, entsprechend dem eigenen Gewissen. Die Entscheidung beruhte auf genau definierten Begriffen von dem, was »gut« ist. Obwohl die Diskussion um die Ethik im Laufe der Jahrhunderte eine enorme Entwicklung durchlaufen hat, hat sich die Grundidee, daß es in der Ethik um universelle Gesetze geht, bis heute erhalten.

Allerdings können wir einer interkulturellen Diskussion über Ethik nicht eine allgemein akzeptierte Autorität oder eine Reihe festgelegter Normen zugrundelegen. Die hier Anwesenden kommen aus 36 Ländern mit unterschiedlichen Religionen, Kulturen und Traditionen. Wenn wir vermeiden wollen, daß eine Auffassung von Ethik die Diskussion dominiert, müssen wir akzeptieren, daß Ethik für uns unterschiedliche Bedeutungen hat, daß wir zu unterschiedlichen Werten hingeführt wurden und daß wir unterschiedliche Mechanismen haben, um verantwortliches Handeln zu ermöglichen und zu fördern. Wir müssen uns dessen bewußt sein, wenn wir eine gemeinsame Sprache finden wollen.

Maßstäbe für das Handeln des Einzelnen

Viele besorgte Menschen haben die Wirksamkeit der Ethik, was die Förderung gesellschaftlichen Wandels angeht, in Frage gestellt. Ethik richtet sich in erster Linie an das Individuum und an seine Handlungsweise. Ich bin es, und jeder von Ihnen, der zuerst und vor allem zählt. Und ausgehend von dieser persönlichen Betroffenheit können wir vielleicht zusammen gemeinsame Wege des Handelns finden. Die Konzentration auf das durch Werte geleitete Handeln des einzelnen erscheint vielen, die lieber mit kollektiven politischen Aktionen für Veränderungen kämpfen wollen, zweifelhaft, wenn nicht heuchlerisch. Wir haben aber auch erfahren müssen, daß angeblich wertorientierte politische Programme vor Mißbrauch in großem Maßstab nicht gefeit waren.

Wie kommt es dann, daß wir nach Jahren der Ernüchterung plötzlich wieder nach Ethik suchen, und wonach suchen wir eigentlich? Ist es Trost, nachdem alle Ideologien zusammengebrochen sind? Ist es Sicherheit in der seelischen Leere, in der wir uns befinden? Suchen wir nach fertigen Antworten? Halten wir Ausschau nach der nächsten Autorität, der wir folgen können?

Ich glaube, daß uns ein solcher Versuch aus verschiedenen Gründen nirgendwohin führen würde. Wir können nicht in die Vergangenheit zurück, wir können nicht künstlich naiv werden; die alten Autoritäten haben uns in der Tat im Stich gelassen. Wir haben unsere Autonomie gefunden. Überdies sind die alten Gesetze und Prinzipien auf Grund von Voraussetzungen formuliert worden, die nicht mehr stimmen. Damals gab es keine Überbevölkerung, keine Erschöpfung der natürlichen Ressourcen, keine Gefahr, die Grundlagen unseres Lebens zu zerstören. Und schließlich sind die engen, gegenseitigen Abhängigkeiten der Systeme, die uns heute bewußt sind, allgemeinverbindlichen Gesetzen nicht zugänglich. Wir können nicht hoffen, sie in explizite Regeln zu fassen. Dennoch sind wir nicht der Willkür ausgeliefert. Ich stelle mir Ethik als einen Diskurs vor, in dem wir innerhalb von Prozessen, die in konkreten Situationen ablaufen, unsere eigenen Werte in authentischer Weise artikulieren und einbringen können.

Für einen grundlegenden Paradigmenwechsel

Wir leben heute in einer radikal neuen Situation. Grundlegende Prämissen für die Diskussion im allgemeinen sind:

  • Ethik ist eine Einladung, für ein gemeinsames Überleben auf der Erde zusammenzuarbeiten;
  • Ethik ist von Natur aus dialogisch und erkennt die Rechte des Anderen an;
  • Ethik muß ihren Ausdruck finden in einer Sprache über die Grenzen unterschiedlicher kultureller Blickwinkel hinweg;

Ich skizziere einen grundlegenden Paradigmenwechsel im Umgang mit Wertfragen; er geht von

Autorität – Gesetz – Allgemeingültigkeit – Gebot – Gehorsam – Kontrolle

zu

Authentizität – Wahl – Situationsbezogenheit – Einladung – Engagement – gegenseitige Unterstützung.

Ich schlage vor, die Praxis des ethischen Diskurses in Wissenschaft und Technologie auf diesem neuen Paradigma aufzubauen.

Wir wissen, daß die Praxis des ethischen Diskurses in verschiedenartiger Weise behindert wird: der Mythos von der wertfreien Wissenschaft, das wissenschaftliche Establishment, persönlicher Ehrgeiz, Konkurrenz, Loyalität gegenüber Forschungsgruppen und -gemeinschaften, die Interessen des Berufsstandes, Beziehungen zum militärisch-industriellen Komplex, Finanzierungspolitik – sie alle stehen im Weg.

Daher geht jeder von uns ein persönliches Risiko ein, einige Risiken sind relativ klein, andere weitreichend und existentiell.

Inmitten dieses wahnsinnigen Wettlaufs müssen wir zurücktreten, um die Mechanismen der Zerstörung, die uns antreiben – unsere eigene geistige und emotionale Programmierung ebenso wie die äußeren Zwänge – zu erkennen, und aus unseren eigenen Quellen der Freundlichkeit und des Mutes schöpfen.

Altes und neues Denken in der Wissenschaft

Die meisten von uns haben eine verschwommene Vorstellung von der »modernen Wissenschaft«, die ihren Ursprung als Forschungsprogramm in Westeuropa im 17. Jh. hat.

Ich werde den Versuch machen, die Denkweise, die mit der westlichen Wissenschaft verbunden ist, in den Begriffen des mechanistischen Weltbildes zu skizzieren, das sich weit über die Physik hinaus erstreckt. Einige ihrer Aspekte waren: Die Realität ist ihrer Natur nach atomistisch. Materielle Phänomene sind voneinander in Zeit und Raum getrennt. Es gibt eine eindeutige Beziehung zwischen Ursache und Wirkung in Form einer linearen Kausalität. Mit Hilfe analytischen Denkens können trennbare Probleme isoliert werden. Die Analyse, die auf zeitlosen, universellen Gesetzen beruht, wird von einem unbeteiligten Beobachter durchgeführt, mit wiederholbaren Ergebnissen; Beobachter sind als Menschen austauschbar. Dieses mechanistische Weltbild und die mit ihm verbundenen Prozesse gesellschaftlicher Umsetzung und technologischer Entwicklung hatten ihren Platz in einer Welt, in der diese Annahmen gerechtfertigt schienen.

Mit ihm entstand das Rollenmodell des Wissenschaftlers und Ingenieurs mit klaren Vorstellungen von ihrer Verantwortlichkeit. Eine grundlegende Unterscheidung war die zwischen Beobachtung und Anwendung, die Trennung von Forschung und Technologie. Insbesondere die »reine« Forschung bewegte sich außerhalb der Reichweite von Wertediskussionen. Reine Forschung wurde von »angewandter« Forschung getrennt, die mit der Technologie verbunden war. In der Technologie gab es wiederum eine klare Unterscheidung zwischen Produktion und Anwendung. Was produziert wurde, war wertfrei, seine »gute« oder »schlechte« Anwendung lag nicht in der Verantwortung der WissenschaftlerInnen.

Lassen Sie mich die traditionelle Haltung gegenüber Wissenschaft und Ethik skizzieren: Ethische Richtlinien lassen sich in Form universeller Gesetze ausdrücken. Das Ideal der Wissenschaft besteht in der Suche nach der objektiven Wahrheit, unter klarer Trennung zwischen objektiven Fakten und subjektiven Werten, die jeweils dem Reich des Verstandes bzw. des Gefühls zugeordnet sind. Die Realität wird durch Entdeckungen nicht berührt; der Beobachter bleibt außerhalb der Beobachtung, folglich ist Beobachtung wertfrei. Technologie mit vorausberechenbaren Wirkungen für festumrissene Zwecke kann entwickelt und angewendet werden, ohne den globalen Kontext zu beeinflussen. Nicht interessengeleitete Entwicklungsarbeit kann deutlich geschieden werden von interessengeleiteter; wünschenswerte Anwendung ist klar trennbar von Mißbrauch. Die Natur ist der Ausbeutung durch den Mann unterworfen (die Einschränkung auf »Mann« ist beabsichtigt). Wir können über die Ressourcen grenzenlos verfügen, daher ist die Nutzung der Ressourcen kein Gegenstand der Ethik. Der ethische Standpunkt: allgemeine ethische Richtlinien beachten, die Wissenschaft selbst steht außerhalb der Ethik.

Das 20. Jahrhundert hat erlebt, wie diese Denkweise als universeller Rahmen für die Wahrnehmung der Welt zusammengebrochen ist. Um 1920 mußte das mechanistische Weltbild in der physikalischen Forschung aufgegeben werden. Die Beschaffenheit der »Probleme«, mit denen sich die Wissenschaft beschäftigte, änderte sich grundlegend. Sie waren nicht länger trennbar innerhalb von Raum und Zeit, sondern umfaßten systemische gegenseitige Abhängigkeiten scheinbar isolierter Phänomene. Man entdeckte, daß der Beobachter konstitutiv für die Beobachtung ist, und daß die Fragen, die wir stellen, die Antworten vorbestimmen, die wir erhalten. Lineare Kausalität wurde durch zirkuläre Kausalität verschiedener Komplexitätsgrade ersetzt. Rekursive Formen der Organisation mit aufeinander bezogenen Ebenen der Beschreibung kommen in den Blick.

Wissenschaft als menschliches Konstrukt

In der Wissenschaft gibt es keine objektive Wahrheit, sondern wir konstruieren selbst, was wir verstehen. Unsere Wahrnehmung ist von Natur aus selektiv, sie ist abhängig von unserem Blickwinkel und spiegelt unsere Kultur, unsere Geschichte und unsere persönlichen Erfahrungen wider. Die Wissenschaft selbst ist eine Kultur, die sich international über den ganzen Erdball ausdehnt. Ihre Annahmen, Arbeitsmethoden und Tabus, die uns geformt haben, gehören noch dem alten Denken an und geben dem neuen keinen Raum. Wir wissen heute, daß die Erfindung als Grundelement der Wissenschaft an die Stelle der Entdeckung tritt: wir entdecken keine universellen Gesetze, sondern wir erfinden Formen der Beschreibung. Alle Beobachtung ist an den Beobachter gebunden; sie wird in den Begriffen des Beobachters formuliert und spiegelt spezifische Bedürfnisse, Werte und Interessen wider. Doch auf der Grundlage dieses Verständnisses müssen wir handeln, wenn wir uns mit der Wissenschaft beschäftigen.

Die Technologie ist explodiert. Wir leben in ihr, sind von ihr geformt, in ihr verwurzelt und von ihr abhängig. Sie beeinflußt die Art und Weise, wie wir die Welt wahrnehmen, wie wir unser gesellschaftliches Leben einrichten, wie wir unsere grundlegenden Entscheidungen treffen. Unsere Entscheidungen gründen sich auf Technologie, und Entwicklung und Anwendung von Technologie beruhen auf Entscheidungen. Die Technologie bringt vollkommen unberechenbare systemische Auswirkungen mit sich, von denen der gesamte Weltzusammenhang betroffen ist. In allen Systementwicklungen ist die Entwicklung verknüpft mit der Anwendung. Es gibt keine klar definierbare »wünschenswerte Anwendung«. Wir müssen uns über die wünschenswerte Anwendung während der Entwicklung auseinandersetzen und uns dabei auf Werte stützen.

Wir haben die fundamentale Erfahrung gemacht, daß alle natürlichen Ressourcen begrenzt, viele Ressourcen erschöpft sind und daß die Natur geschützt werden muß. Das gesamte Szenario hat sich geändert.

Wir haben das heilige Gleichgewicht, das sich in so schöner Weise in der lebendigen Natur offenbart, gestört. Gleichgewicht kann nicht ohne Selbstbeschränkung wiederhergestellt werden, die sich auf eine heilende Vision für das Überleben der Menschheit gründet.

Elemente einer heilenden Vision

Die Entwicklung einer heilenden Vision setzt voraus, daß wir unsere Blindheit überwinden. Befangen sein in geistigen Konstrukten und ausblenden, was wir nicht sehen können. Wir können nicht sehen, daß wir Teil einer zerstörerischen Maschinerie sind in einem wahnwitzigen Wettrennen, das sehr leicht im Selbstmord der Menschheit enden könnte. Wir können nicht sehen, das wir vorangetrieben werden, indem wir uns in konkurrenzorientierte Machtspiele hineinziehen lassen. Blindheit ist untrennbar mit der selektiven Natur unserer Wahrnehmung verbunden. Wir können dieser grundsätzlichen Bedingung nicht entgehen; aber wir können, wie Heinz von Foerster uns immer wieder erinnert, lernen zu sehen, daß wir blind sind. Dann, so argumentiert er, sind wir nicht mehr blind.

Ethik verlangt von uns, Anstrengungen zu machen, auf diesem Weg unsere Blindheit zu überwinden. Die Übernahme eines komplizierten Regelwerks ist nicht erforderlich. Es geht um das Bemühen, die Vielfalt der Perspektiven, unsere gegenseitige Abhängigkeit von anderen Menschen wie von allen anderen Formen des Lebens zu verstehen – und daß wir ein Teil dieser Welt sind.

In einem Versuch, den Kern aller Religionen zu charakterisieren, hat der Anthropologe Gregory Bateson kürzlich die menschliche Bezogenheit das „Wesen des Heiligen“ genannt. Welchem Glauben wir als Individuen auch angehören, welche Lehren auch immer uns Inspiration und Orientierung geben, vielleicht ist dies eine Verständigungsebene.

Ethik bietet utopische Szenarios für eine wünschenswerte Gestaltung der menschlichen Angelegenheiten. Solche Szenarios inspirieren Gemeinschaften und setzen Paradigmen für unser Leben. Ich möchte heute als eine Vision vorschlagen: Gemeinsames Leben auf der Erde. Dafür müßten wir lernen, unsere Bezogenheit nicht zu mißbrauchen, sondern zu feiern. Es würde bedeuten, den Anderen zu respektieren. Autonomie und Selbstbestimmung zu fördern. Versöhnung zwischen den Menschen und mit der Natur. Vielfalt zulassen. Ressourcen erhalten und teilen. Die Gemeinschaft unterstützen. Gefahren vorbeugen. Sorge tragen um alle lebendigen Wesen. Raum für sinnvolle Entscheidungen schaffen. Wachstum beschränken.

Lassen Sie uns in unserer Forschung und systemischen Praxis einige Elemente dieser heilenden Vision erforschen. Lassen Sie uns einen Entwurf machen für unser gemeinsames Überleben.

Entwurf für Bewahrung und Entwicklung

Gewöhnlich werden unterschiedliche Szenarios unserer Fähigkeit zur Veränderung diskutiert: es gibt das deterministische Szenario, das von der Vorherbestimmung durch die Evolution ausgeht, und das Szenario, das sich von der Selbstorganisation tiefere Einsichten erhofft. Es gibt die Gegenüberstellung von »rationalen« und »irrationalen« Dingen, die in der öffentlichen Diskussion nicht vereinbar sind. Es gibt die Idee von dem männlich aggressiven, individuellen Streben nach Herrschaft, gegenüber dem nachgebenden Weiblichen, das in der Gemeinschaft das Leben umsorgt. Es gibt die Idee vom sozialen Konflikt und vom Klassenkampf. Von nationalen und kulturellen Bindungen.

Wenn wir Verantwortung übernehmen wollen, müssen wir über all dies hinausgehen. Einen Entwurf fürs Überleben zu machen erfordert, daß wir alle zusammenarbeiten und unsere unterschiedlichen Vorstellungen einbringen, während wir zugleich die Sichtweise des Anderen ernst nehmen. Die kulturelle Perspektive und die Notwendigkeit, in Würde zu überleben.

Ich sehe einige verheerende Tendenzen der Entwicklung:

  • Zulassen partiellen unbeschränkten Wachstums,
  • Unterdrückung der Vielfalt und Störung des Gleichgewichts,
  • Zerstörung der physischen Bedingungen des Lebens auf der Erde,
  • Versuch globaler Kontrolle einer nicht beherrschbaren Komplexität,
  • Delegieren verantwortlicher Entscheidungen des Menschen an Maschinen.

Einige besorgte Wissenschaftler haben einfache und wirksame Konzepte angeboten, um die Vertretbarkeit technologischer Optionen vor diesem tristen Hintergrund zu diskutieren. Kurt Schumacher zum Beispiel schlägt als Alternative zur globalen Kontrolle das Konzept der kleinen Systeme vor. Ivan Illich hat den Begriff des »geselligen und unbeschwerten Handwerkszeugs« geprägt, als Basis für die Beurteilung bestimmter Technologien in ihrem Wert für den Menschen. Heinz von Foerster schlägt eine ethische Richtlinie vor: Handle immer so, daß sich deine Wahlmöglichkeiten erweitern. Sie hängt direkt mit dem Entwurf zusammen.

Diese und andere Ideen können wir als Sprachelemente in unserer interkulturellen, wertorientierten Diskussion verwenden. Sie müssen konkretisiert und an den jeweiligen Orten den Problemen, um die es geht, angepaßt werden. Ich kann nicht versuchen, dies für die Vielfalt von Problemen und Disziplinen, die hier vertreten sind, zu leisten.

Ich arbeite in der Computerwissenschaft, in der ich einen auf den Menschen ausgerichteten Ansatz für Technologie-Design entwickele. In meiner Forschung bin ich auf tiefgehende ethische Fragen gestoßen, die mit dem Entwurf computergestützter Systeme zu tun haben. Ich sehe sie als paradigmatisch an für viele ethische Fragen, die sich aus Wissenschaft und Technologie ergeben. Ich würde sogar so weit gehen: wir leben im Zeitalter der Entwürfe. Wir brauchen einen Entwurf, unsere begrenzten Ressourcen mit Vorsicht zu nutzen, um unsere Lebensbedingungen zu erhalten und die Entfaltung höherer Qualität zu fördern; Einen Entwurf einer dialogischen Haltung, die die Bedürfnisse des Anderen ernst nimmt, dies scheint mir der einleuchtende Weg zu sein. Dies ist der Kern von Wissenschaft und Ethik. Locker verbundene, kleine computergestützte Systeme, die die menschliche Gemeinschaft pfleglich behandeln und verantwortliches menschliches Handeln ermöglichen.

Keine allgemeingültigen Antworten

Aber ich kann, niemand kann allgemeingültige Antworten auf ethische Dilemmata in der wissenschaftlichen Arbeit geben: Wird alles, was einmal gedacht wurde, früher oder später auch getan? Müssen wir bestimmte Richtungen der Forschung aufgeben? Könnten wir uns auf eine wertorientierte (humanistische?) Ausrichtung in Forschung und Entwicklung einlassen? Können (müssen) niedere Dinge zugunsten der höheren Dinge vernachlässigt werden? Ist die Natur ein Gegenstand der Ethik? Welche Formen des Eingriffs in die Natur sind sicher? Wo fängt meine Verantwortung an und wo hört sie auf? Was nützt es, wenn wir uns an ethische Normen halten, während andere…? Meiner Ansicht nach sind diese Fragen prinzipiell nicht zu entscheiden. Wir entscheiden sie, indem wir unseren eigenen Standpunkt einnehmen, hier und jetzt, und weiterhin in unserer täglichen Praxis.

Die entscheidende Frage also ist: Wie können wir ethische Praxis fördern – in unserer Umgebung? in unserer wissenschaftlichen Gemeinschaft? in der Gesellschaft als ganzes?

Zur wissenschaftlichen Arbeit gehört, Entscheidungen zu treffen: Wir müssen zusammen auf ihre Veränderung hinarbeiten. Wir könnten Grundsätze erarbeiten, durch die wir uns gesellschaftlichen Mechanismen verpflichten, die die Änderungen, die wir wünschen, befördern. Das betrifft sowohl Lehre wie Forschung, die Verteilung der Gelder, das Setzen von Forschungszielen und die Anwendung von Forschungsmethoden.

Grundsätze haben mit Engagement und Selbstbeschränkung zu tun. Gesellschaftliche Mechanismen sind diskursiv. Sie betreffen Forschungsumfelder, wissenschaftliche Gemeinschaften, Fördereinrichtungen, die Zusammenarbeit mit der Öffentlichkeit, Entscheidungen über Technologie-Design und seine Anwendung. Lassen Sie uns damit beginnen, ethische Richtlinien in der Wissenschaft und bei Entwürfen zu befolgen. Lassen Sie uns Netzwerke betroffener WissenschaftlerInnen bilden. Wenn wir uns zu gemeinsamen Handeln zusammenfinden, wissen wir nicht, ob wir Erfolg haben. Aber wir können hoffen.

Dokumentation

Forschung für den Frieden

In seiner Sitzung vom 19.12.1991 hat der Senat der
Ruhr-Universität Bochum folgende Beschlußvorlage einstimmig angenommen:

„Die Ruhr-Universität Bochum hat sich in Artikel 2
Absatz 2 ihrer Verfassung dazu verpflichtet, in Forschung und Lehre zu Sicherung und
Erhalt des Friedens beizutragen. Vor dem Hintergrund der geschichtlichen Erfahrung, daß
durch Kriege politische Konflikte nicht gelöst werden können, sowie im Bewußtsein der
Verantwortung aller in der Wissenschaft Tätigen für die Folgen ihres Forschens und
Lehrens erklärt der Senat der Ruhr-Universität Bochum:

  • Gemäß der Verpflichtung, zu Sicherung und Erhalt des
    Friedens beizutragen, sollen an der Ruhr-Universität keine Forschungs- und
    Entwicklungsvorhaben durchgeführt werden, die erkennbar Angriffskriegen dienen.
  • Alle an der Ruhr-Universität in der Wissenschaft Tätigen
    sind aufgerufen, ihre Forschungsvorhaben sowie Kooperationsvereinbarungen mit Dritten
    dahingehend zu prüfen, ob sie kriegerischen Zwecken dienen, und diese gegebenenfalls
    abzulehnen.
  • Generell liegt es in der Verantwortung aller in der
    Wissenschaft Tätigen, die politischen, ökologischen und sozialen Folgen ihrer eigenen
    wissenschaftlichen Tätigkeit zu reflektieren und daraus in Forschung und Lehre
    Konsequenzen zu ziehen.“

Dieser Beitrag basiert auf dem Vortrag, den Chr. Floyd auf dem Kongress »Challenges: Science and Peace in a Rapidly Changing Environment« in Berlin am 29.11.91 gehalten hat.
Dr. Christiane Floyd ist Professorin am Fachbereich Informatik der Universität Hamburg.

Clara Immerwahr und Fritz Haber

Clara Immerwahr und Fritz Haber

Ein verdrängtes Kapitel männlicher Wissenschaftsgeschichte

von Jörn Heher

Der Name Clara Immerwahr führt an den Beginn der Geschichte von Massenvernichtungsmitteln und in eine damals neue Dimension der Frage nach Verantwortung von Wissenschaftlerlnnen und Technikern. Das Leben von Clara Immerwahr entzieht sich in besonderem Maße plakativer Darstellung.

Geboren am 21. Juni 1870, wird Clara Immerwahr eine begeisterte und talentierte Forscherin. Sie promoviert 1900 als erste Frau an der Universität Breslau; »magna cum laude« im Fach Physikalische Chemie. In dieser Zeit als Frau studiert zu haben, verrät Zivilcourage. Viele Professoren sind Gegner des Frauenstudiums, das Verbindungswesen bestimmt das Leben der Studenten. Bei ihrer Arbeit über elektrische Messungen an Schwermetallsalzen zeigt sich Claras hohe Begabung. Ihr Selbstbewußtsein als Naturwissenschaftlerin wächst. Fachliche Dispute mit höhergestellten Kollegen, die nicht selten autoritär statt wissenschaftlich argumentieren (und gleichwohl große Karrieren machen werden), bleiben nicht aus. Claras Umgang damit ist elegant und kollegial. Eine Reihe ihrer Arbeiten erscheint in Fachzeitschriften.

Als sie 1901 mit Fritz Haber die Ehe eingeht, trachtet sie, Ehe und Forschung miteinander zu vereinbaren. Ihre eigene wissenschaftliche Arbeit wird jedoch weitgehend verhindert.

Rückblickend (1909) schreibt sie: „Es war stets meine Auffassung vom Leben, daß es nur dann wert gewesen sei, gelebt worden zu sein, wenn man alle seine Fähigkeiten zur Höhe entwickelt und möglichst alles durchlebt habe, was ein Menschenleben an Erlebnissen bieten kann. Und so habe ich damals schließlich auch mit unter dem Impuls mich zur Ehe entschlossen, daß sonst eine entscheidende Seite im Buch meines Lebens und eine Seite meiner Seele brachliegenbleiben würde. Der Aufschwung, den ich davon gehabt, ist aber sehr kurz gewesen

Gegen Ende 1901: „Ich arbeite jetzt jeden Nachmittag im Institut und lese Manuskripte und mache Zeichnungen dazu. Jetzt geht es mir wieder viel besser“.

„Darin haben Herr Professor wohl recht, daß ich eine unglückselige Weichheit besitze, die mir alles schwerer macht als es anderen Leuten fällt. Mir scheint aber, daß ich das nicht ändern kann, und Sentimentalität ist es jedenfalls nicht, weil ich jederzeit innerlich noch tiefer fühle, als ich es öffentlich zu erkennen gebe“, schreibt Clara Immerwahr 1900 über sich. Ihre große Sensibilität wird ihr in den Auseinandersetzungen mit Fritz Haber jedoch zum Verhängnis und von der Nachwelt als Lebensuntüchtigkeit mißdeutet. Sie versucht, der Frauenrolle gerecht zu werden und ihrem Mann »den Weg zu ebnen«. Dazu gehört das Ausrichten der zahlreichen Tischgesellschaften ihres Mannes, die sein Ansehen und seine Kontakte fördern. Zu den wissenschaftlichen Arbeiten Habers trägt sie fachlich bei, ohne darin erwähnt zu werden. Am 1. Juni 1902 kommt nach schwerer Schwangerschaft Sohn Hermann zur Welt.

Fritz Haber, Hilfsassistent für Gasanalyse, steigt derweil langsam, dann immer steiler auf. Er wird zum »Vater des Gaskrieges«. Nach einem Jahr als ordentlicher Professor an der Technischen Hochschule in Karlsruhe macht er 1907 seine Entdeckung zum Ammoniakgleichgewicht (für die er 1918 den Nobelpreis erhält). Er festigt in der Folgezeit die gesuchte Nähe zur chemischen Industrie, welche schon damals beginnt, Forschung mehr und mehr zu ihrem Monopol zu machen.1911 wird er Direktor des Instituts für Physikalische Chemie und Elektrochemie der Kaiser Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft (Vorläufer der heutigen Max Planck-Gesellschaft) in Berlin und erhält den Titel »Geheimrat«.

Zwischen 1909 und 1912 entwickelt Carl Bosch bei BASF die großtechnische Ammoniaksynthese aus der Luft (Haber-Bosch Verfahren), Grundlage der deutschen Produktion sowohl für Düngemittel als auch für Sprengstoff, die bis dahin von Salpeter aus Chile abhängig ist. Bereits 1913 läuft die erste Anlage in Oppau/Ludwigshafen an. Später folgen weitere bei Leuna, wo auch die Buna-Werke zur Herstellung synthetischen Kautschuks angesiedelt werden. Schon im Herbst 1914 hatte die deutsche Sprengstoffindustrie keinen Chile-Salpeter mehr und hätte vor der Kapitulation gestanden.

Clara versucht eigene Wege zu gehen: Sie benutzt abweichend von dem, was von einer Frau Geheimrat erwartet wird, eigenes Briefpapier und vernachlässigt hin und wieder die Tischgesellschaften ihres Mannes. Sie hält Vorträge über „Chemie und Physik im Haushalt“ vor Frauen in Arbeiterbildungsvereinen, Vorläufern der heutigen Volkshochschulen. In Briefen äußert sie sich deutlich antimilitaristisch.

„Die Wehrkraft und die Wissenschaft sind die beiden starken Pfeiler der Größe Deutschlands, mit diesen Worten in einer Denkschrift an den Kaiser hatte Adolf von Harnack, dann langjähriger Präsident der Kaiser Wilhelm-Gesellschaft, deren Gründung vorgeschlagen. Mit Beginn des Ersten Weltkriegs stellt sich das von Haber geleitete Institut mit überschwenglichem Patriotismus in den Dienst des Vaterlandes. Habers Sohn aus zweiter Ehe schreibt später:

„In Haber fand die Oberste Heeresleitung einen brillanten Geist und einen extrem energischen, entschlossenen und vielleicht auch skrupellosen Organisator… Er verkörperte den romantischen, quasi-heroischen Aspekt des deutschen Chemikers, wo Nationalstolz mit purem Wissenschaftsfortschritt und dem utilitaristischen Fortschritt der Technik vermischt wurden… Er war Preuße mit unkritischer Akzeptanz der Staatsweisheit…, ehrgeizig, erfolgssüchtig“.

Obwohl er Kriegsfreiwilliger war und bereits mit zwanzig gegen den Willen seines Vaters (die Mutter war bei der Geburt gestorben) zum Protestantismus konvertiert hatte, war Haber als Jude der Aufstieg zum Offizier verwehrt. Erst sein Einsatz für Chemie in der Kriegsführung bringt ihn schließlich in den Rang eines Hauptmanns. Er stellt seine Forschungen vollkommen auf die Suche nach neuen Kampfgasen um und übernimmt im Laufe des Krieges als Abteilungsleiter im Kriegsministerium die wissenschaftliche Verantwortung für das gesamte Gaskampfwesen. In endlosen Tierversuchen werden Giftgase wie Chlor, Phosgen, Gelbkreuz, Blaukreuz, Grünkreuz erprobt. Eine Explosion, die Habers Assistenten Prof. Sackur tötet, macht beinahe die strenge Geheimhaltung zunichte.

Clara nimmt sehr deutlich Stellung und bezeichnet das ganze Unternehmen als „eine Perversion der Wissenschaft“. Im Januar 1915 begleitet sie Haber nach Köln, wo – nahe der Westfront – freiwillige Soldaten (meist Abiturienten) für den Gaskrieg ausgebildet werden. In Anwesenheit der Vertreter von Wissenschaft, Industrie und Militär wendet sie sich scharf gegen die Absichten ihres Mannes.

Deutschland gehörte zwar zu den 24 Nationen, die mit Unterzeichnung der Haager Konvention auf chemische Kampfstoffe verzichtet hatten. Aber die Aussichten auf einen Erfolg waren wohl zu verlockend, als daß man sich von der Konvention hätte zurückhalten lassen. Haber: „Mit der völkerrechtlichen Zulassung von Gaswaffen bin ich niemals befaßt worden.“

Ende Januar 1915 sind die Laboruntersuchungen abgeschlossen; Haber treibt Anwendungstechnik und Logistik voran. Dazu wird die Zusammenarbeit verschiedener Werke organisiert. Chlorgas ist in der chemischen Industrie Ausgangsprodukt bei zahlreichen Produktionsprozessen. Es war vor dem Krieg in großen Mengen exportiert worden. Da diese Möglichkeit nun entfällt, ist der Industrie, deren Lage nach dem Exportausfall ohnehin durch Überkapazität gekennzeichnet ist, eine neue Verwendung in jedem Fall hochwillkommen. Das finanzielle Risiko läßt sie sich dennoch vom Staat mehrfach absichern. Im Frühling sind schließlich alle Voraussetzungen geschaffen, um eine Offensive zu wagen. Haber ist sicher, daß der Angriff vernichtende Folgen beim Feind haben werde, und drängt die Oberste Heeresleitung, die Gelegenheit für einen Frontdurchbruch zu nutzen. Diese weigert sich jedoch, in dem Vorhaben mehr als ein Experiment zu sehen, und beordert nur eine Kompanie zur Unterstützung des Unternehmens.

Ein Offizier über Haber: „In glühendem Patriotismus bewies er bei der Erprobung der chemischen Massenvernichtungsmittel Kaltblütigkeit, Unerschrockenheit und Todesverachtung. Die organisatorische Tätigkeit des Hauptmanns Haber umfaßte die Prüfung und Auswahl der für den chemischen Krieg in Betracht gezogenen Gase, Gifte und Reizstoffe, die Bestellung und namentlich die Ermöglichung der Fabrikationen durch die Firmen der chemischen Großindustrie, die Verteilung und Transporte, die Anpassung und Entwicklung der Kampftechnik. Er vermochte sich persönlich den Traditionen des Offizierskorps und des Heeres so einzufügen, daß die Anwendung neuer und traditionswidriger Kampfmethoden sich in größerem Maßstab durchzusetzen vermochte. Die Gaskampfstoffüllung der Artilleriegeschosse entwickelte sich zu solcher Bedeutung, daß sie auf deutscher Seite am Kriegsende mehr als ein Viertel der Artilleriemunition ausmachte.“

An einem Abschnitt der Westfront bei Ypres in Belgien befehligt Fritz Haber persönlich am Nachmittag des 22. April 1915 den Einsatz des Chlorgases. Es wird aus 5000 Stahlzylindern in die Luft geblasen, flankiert von 15-Zentimeter-Gasgranaten. Die Wirkung ist verheerend. 15000 Engländer und Franzosen bei Langemarck werden fast schutzlos überrascht, 5000 sterben. Haber ist verbittert, daß die Heeresleitung den Erfolg nicht nutzt: Auf sechs Kilometern steht nichts mehr zwischen den deutschen Truppen und den ungeschützen französischen Kanalhäfen direkt gegenüber von England.

Die deutsche Presse ist begeistert. So berichtet die Zeitschrift Die Hilfe in ihrer »Kriegschronik« unter Freitag, 23. April: „Großer Sturm in der Nähe von Ypern… Mindestens 1600 Franzosen und Engländer gefangen. 30 Geschütze, darunter vier schwere englische, fielen in deutsche Hände. Das ist doch einmal ein richtiger Bissen!“ Unter Sonnabend, 24. April: „Der Erfolg des Sturmes bei Ypern ist noch etwas größer geworden: 2470 Gefangene und 35 Geschütze. Die Gegner beschweren sich sehr über deutsche Rauchgeschosse, als ob sie nicht selbst jedes Mittel benutzten, das sie erlangen können. Chemisch freilich werden wir ihnen wohl über sein.“ Und unter Montag, 26. April: „Das Tagesgespräch sind die »deutschen Dämpfe« bei Ypern. Es soll sich also um Chlordampf handeln; genauere Analyse fehlt, bis sie von den armen Opfern des Schnupfenqualms selber gemacht wird. Soviel wir hören, geschieht gar nichts Lebensgefährliches, sondern nur ein häßlicher Zustand von etwa 4 Stunden… Die Engländer sind rührende Gesellen: setzen alles daran, uns in den scheußlichsten Tod der Heimatbevölkerung hineinzutreiben, und lamentieren nun über etwas geschwollene Schleimhäute. Und nachdem sie die Völkerrechtsbeschlüsse nicht unterschrieben haben, verlangen sie, daß wir sie halten sollen. Gut Dampf!“

Haber eilt jedoch zu neuen Taten an die Ostfront, um einen noch größeren Giftgaseinsatz vorzubereiten.

Clara möchte ihn davon abhalten. Am 2. Mai 1915, dem Morgen des Tages seiner Abreise dorthin, nimmt sich Clara mit der Dienstwaffe ihres Mannes das Leben. Sie setzt damit ein Fanal; ihr Tod ist Gipfelpunkt einer langjährigen Auseinandersetzung und eines Streits, in dem Fritz Haber seiner Frau Landesverrat und ihre antimilitaristische Einstellung vorwarf. Haber läßt sich dennoch nicht von seinem Vorhaben an der Front abhalten, obwohl ihm durchaus Fronturlaub zugestanden hätte. Er läßt den zwölfährigen Sohn in der Situation zurück.

Der damals in der Schweiz lebende Chemiker Prof. Hermann Staudinger (Nobelpreisträger 1953) äußert sich zur gesellschaftlichen Verantwortung der Naturwissenschaftler. Er wirft Haber moralische Verantwortungslosigkeit vor. Haber entgegnet mit dem Vorwurf schweren Vaterlandsverrats.

Clara Immerwahrs Selbstmord wird in der Folgezeit als depressive Verzweiflungstat einer erblich vorbelasteten Frau hingestellt. Eine Reihe von Informationen werden offenbar von langem Arm zurückgehalten oder vernichtet: Es gibt keine Meldung in den Tageszeitungen, es findet sich kein Sektionsprotokoll. Ihr Leben und ihr Tod werden der Verdrängung unterworfen.

Der zweite Gasangriff in Galizien bei Kowno fordert 6000 Tote. Haber treibt die Gaseinsätze voran und fordert in geheimen Besprechungen vermehrte Anstrengungen von den Industrieunternehmen wie BASF und Bayer. 1917 heiratet er seine zweite Frau Charlotte. Die medizinische Fakultät der Universität Halle-Wittenberg verleiht Fritz Haber die Ehrendoktorwürde „wegen der hohen Wertschätzung seiner Leistungen“. 1918 flüchtet er aus begründeter Furcht, als Kriegsverbrecher verurteilt zu werden, für einige Zeit in die Schweiz und erhält im selben Jahr den Nobelpreis zugesprochen, den er 1919 entgegennimmt. Es folgen u.a. Versuche, die im Meerwasser gelösten Spuren von Gold großtechnisch zu gewinnen, um Deutschland in den Stand zu versetzen, seine Reparationszahlungen zu leisten. Das Kaiser Wilhelm-Institut in Berlin leitet er bis 1933, ein Jahr vor seinem Tode. In seinem Abschiedsbrief an die Mitarbeiter schreibt er:

„Das Institut ist unter meiner Leitung 22 Jahre bemüht gewesen, im Frieden der Menschheit und im Kriege dem Vaterland zu dienen. Soweit ich das Ergebnis beurteilen kann, ist es günstig gewesen und hat dem Vaterland wie der Landesverteidigung Nutzen gebracht.“

Clara Immerwahr ist weder eine Heldin noch Friedenskämpferin im heutigen Sinn. Mit der ihr eigenen Sanftmut stand sie dem erdrückend nationalen Zeitgeist und dem militärisch-patriarchalen Selbstverständnis im wilhelminischen Kaiserreich fast wehrlos gegenüber. Als die zerstörerischen und menschenverachtenden Konsequenzen unter Kriegsbedingungen immer offenbarer wurden, blieb ihr nur der eigene Tod als persönliche Verweigerung und als verzweifelter Versuch, einzugreifen. Die extreme Isolation, in der sie sich befand, die Unmöglichkeit, über die Probleme ihrer Situation zu sprechen, lassen sich aus den vertrauensvollen brieflichen Mitteilungen an ihren Doktorvater Prof. Richard Abegg erschließen, der sich freilich häufiger zur Teilnahme an Militärübungen begibt und 1910 mit einem Gasballon aus großer Höhe abstürzt.

Passagen von 1909 mit einer Kritik am Wissenschaftlertum, die allzu aktuell geblieben ist, beschreiben ihr eigenes Verständnis davon: „Was Fritz in diesen 8 Jahren gewonnen hat, das – und mehr – habe ich verloren, und was von mir übriggeblieben ist, erfüllt mich selbst mit der tiefsten Unzufriedenheit… Und ich frage mich, ob denn die überlegene Intelligenz genügt, den einen Menschen wertvoller als den anderen zu machen… Mein Verhältnis zu dem Kinde steht auf einem andren Blatt, und wenn es auch durch die Quälerei mit der anstrengenden Pflege immerfort beschattet wird, so ist das wesentliche daran doch sehr in Ordnung… Wollte ich selbst noch mehr von dem bißchen Lebensrecht opfern, das mir hier in Karlsruhe geblieben ist, so würde ich Fritz zum einseitigsten, wenn auch bedeutendsten Forscher eintrocknen lassen, den man sich denken kann. Fritzens sämtliche menschliche Qualitäten außer dieser einen sind nahe am Einschrumpfen und er ist sozusagen vor der Zeit alt …“

Daß Clara Immerwahr selbst unter Frauen isoliert war, wird aus folgendem verständlich: Ein internationaler Frauenkongreß in Den Haag mit 2000 Teilnehmerinnen, darunter u.a. bekannte Namen aus Deutschland (Anita Augspurg, Gustava Heymann, Ida Jans, Helene Stöcker), beschließt am 28. April 1915 Resolutionen gegen den Krieg und gegen Waffenlieferungen, für Völkerversöhnung und Kindererziehung im pazifistischen Sinn. Eine Stellungnahme, daß in Zukunft alle Völkerstreitigkeiten „schiedlich-friedlich geschlichtet“ werden müßten (Frau Schwimmer aus Ungarn: „Fort mit den Armeen und der Marine!“) scheitert am Protest der deutschen Delegation: Sie hätten „nichts gegen Heer und Flotte sagen“ wollen.

Schon im Vorfeld des Kongresses hatte freilich der »Bund deutscher Frauenvereine« seine Teilnahme „selbstverständlich in entschiedener Form“ abgelehnt: „Sollen die Frauen den Männern, die ihre nationale Pflicht tun, in den Rücken fallen mit pathetischen Erklärungen über den »Wahnsinn«, in dem sie befangen sind? Nur eine unbegreifliche Gefühlsverwirrung kann eine solche innere Loslösung der Frauen von der Aufgabe ihres Vaterlandes vollziehen.“

»Fritz-Haber-Institut«, diesen Titel trägt u.a. eine Forschungsstelle der Max-Planck-Gesellschaft in Berlin. Nach Clara Immerwahr war bisher nichts benannt.

Anmerkungen

  1. Gewissenhafte Arbeit des Archiv zur Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft, Berlin, hat ermöglicht, daß dieses Kapitel der Vergangenheit nicht für alle Zeit verdrängt bleibt.
    Dem Physiologen Prof. Dr. Adolf Henning Frucht und dem Historiker und Journalisten Joachim Zepelin möchte ich für ihre Arbeit zum Thema sehr danken, besonders aber der Historikerin Dr. Gerit Kokula, Berlin. Ohne ihre intensive Beratung hätte ich von Vorstehendem wenig und recht fern von Wahrheit berichten können. Sie schreibt eine Biografie über Clara Immerwahr.
    Mit Verstand und wachem Blick redigiert hat Ulrike Pfeil.
  2. Die deutsche Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges hat 1991 erstmalig die Clara-Immerwahr-Auszeichnung verliehen. Ausgezeichnet wurde Dipl.-Ing. Heinz Friedrich, der bei der Firma Dornier in Friedrichshafen arbeitet. Friedrich ist lange Zeit auch mit Rüstungsprojekten befasst gewesen, hält aber seit mehr als einem Jahrzehnt Vorträge über Aufrüstung, über die weltweite Militarisierung und über Rüstungskonversion.

* Anläßlich der Preisverleihung veröffentlichte die IPPNW eine Broschüre der dieser Text entnommen ist.

Jörn Heher ist Arzt in Tübingen und Mitglied der IPPNW.

Wie rein ist die Mathematik?

Wie rein ist die Mathematik?

50 Jahre militärische Verschmutzung der Mathematik

von Bernhelm Booß-Bavnbek / Glen Pate

Heraklits dunkles Wort „Der Krieg ist der Vater aller Dinge“ hat in seiner platten militaristischen Form1 wie in seinen vielfältigen philosophischen Überhöhungen2 eine unerhörte Verbreitung gefunden, ohne daß bisher von den Einzelwissenschaften eine umfassende historische Aufarbeitung der Bedeutung von militärischen Denkweisen, Anforderungen und Umgebungen für die Entwicklung der Disziplinen geleistet wurde. Nicht eingelöst wurde das Marxsche Untersuchungsprogramm dieses Aspektes aus der Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie, wo er für den Abschnitt Produktion, Produktionsmittel und Produktionsverhältnisse vermerkt: Staats- und Bewußtseinsformen im Verhältnis zu den Produktions- und Verkehrsverhältnissen. Rechtsverhältnisse. Familienverhältnisse. Notabene in bezug auf Punkte, die hier zu erwähnen, und nicht vergessen werden dürfen: 1) Krieg früher ausgebildet wie der Frieden; Art, wie durch den Krieg und in den Armeen etc. gewisse ökonomische Verhältnisse, wie Lohnarbeit, Maschinerie etc. früher entwickelt als im Innern der bürgerlichen Gesellschaft…3

A. Relative Autonomie der früheren Mathematikentwicklung

Für die Mathematik liegt eine Studie vor, Booß, Høyrup (1984), die die Entwicklungstendenzen des Verhältnisses Mathematik/Anwendungen an der Geschichte der militärischen Brauchbarkeit der Mathematik und der militärisch motivierten Aufgabenstellungen verfolgt. Dabei zeigt es sich, daß die Mathematik von ihren Anfängen an mal enger, mal weniger eng mit Grundfragen von Organisation und Technik verbunden war und, entsprechend in großen Zeitabschnitten als Herrschafts- und Kriegswissenschaft aufgefaßt, finanziert und betrieben wurde, daß aber die militärische Brauchbarkeit der Mathematik bis zum Zweiten Weltkrieg noch recht begrenzt, die militärischen Motivationen meist nur äußerlich und eine spezifische Prägung, Deformation oder Verseuchung der Mathematik durch die militärischen Zusammenhänge ganz und gar nicht nachweisbar waren. Im Gegenteil: Trotz der Vielzahl militärischer Motivationen und militärischer Anwendungen belegt die frühere Geschichte der Mathematik die Stabilität jenes zutiefst humanistischen Zuges mathematisch-naturwissenschaftlicher Forschung, der nach Vereinfachung, Erklärung, Transparenz und Auslotung der Tragfähigkeit unserer Denkmöglichkeiten und unserer gedanklichen Vorstellungen über uns selbst und unsere Umwelt strebt.

In der gesamten Weltgeschichte (bis 1945) waren Rüstung und Krieg für die Mathematik nie etwas besonderes. Der Krieg war als Teil der Praxis in seinem Verhältnis zur Mathematik mit allen anderen Teilen der Praxis vergleichbar. Hatte der Krieg gesellschaftliche Priorität, so machte er auch den großen äußeren Einfluß aus (vgl. die Ecole Polytechnique). Selten, wenn überhaupt, waren die militärischen Einflüsse auf die Mathematik von spezifisch militärischem Charakter. Hätte die Royal Society sich um Holzeinsparungen in der Handelsmarine bemüht, würden Hookes Arbeiten nicht anders ausgesehen haben. Hätte es jemand gegeben, der für die Berechnung des Luftwiderstands von Zuckerkugeln bezahlen wollte, wären die Fragen an die Mathematik nicht anders als in der Ballistik ausgefallen.4

Auch im deutschen Faschismus kam es übrigens erst relativ spät zur Umgewichtung von der zunächst vorherrschenden ideologischen Funktion der Schul- und Hochschulmathematik (»Deutsche Mathematik«) für die Rechtfertigung der »Arisierung« und »europäischen Neuordnung« auf die Wertschätzung zielgerichteter mathematischer Spezialistenarbeit für die Raketentechnik und das Atombombenprojekt.5

B. »Erfolgsgeschichte« Mathematik und Krieg

Im Laufe des Zweiten Weltkriegs änderte sich das Verhältnis von Krieg und Mathematik von Grund auf. Rüstungsproduktion und Kriegführung vor allem der Briten und US-Amerikaner – gestützt auf ein hohes moralisches Engagement, ein Klima ziemlich vorurteilsfreier Zusammenarbeit und auf nahezu unbeschränkte materielle und personelle Mittel und belebt durch die deutsch-jüdische Emigration – erwiesen sich als ungewöhnlich effektiv, um die besten und fortgeschrittensten mathematischen Ideen aufzusaugen und in einer für die militärischen Anwendungen geeigneten Form zu systematisieren:

Aus Zahlentheorie und Logik schuf Alan Turing die Theorie der modernen Kodierung und die erfolgreiche praktische Dekodierung der Chiffriermaschine Enigma der Nazis, nachdem er schon in der Vorkriegszeit als Nebenprodukt seines Beitrags zur Klärung des Entscheidungsproblems (On Computable Numbers, 1937) die Turingmaschine konzipiert hatte; die Theorie der stochastischen Prozesse, die ihr Schöpfer Andrej Andrewitsch Markow vor der Jahrhundertwende noch an einer Untersuchung der Zeichenfolge in Puschkingedichten illustriert hatte, wurde jetzt viel umfassender verstanden, so daß sie zu gleicher Zeit die Diffusionsgleichungen und Verzweigungsprozesse der Kernphysik erklären wie eine Grundlage für Abraham Walds bahnbrechende Arbeiten auf dem Gebiet der statistischen Entscheidungstheorie und Qualitätskontrolle der neuen Massenproduktion von Rüstungsgütern abgeben konnte; länger zurückliegende astrophysikalische Berechnungen von Eberhard Hopf und Norbert Wiener über das Strahlungsgleichgewicht an der Oberfläche von Sternen wurden im Manhattanprojekt im Zuge der »inneren Ballistik« der Atombombe in eine Methodik der Randwertprobleme umgewandelt; Arbeitsmethoden der kaufmännischen Buchhaltung ließen sich zur planmäßigen Organisation von Rechenaufgaben bei der Erstellung von Schußtabellen, für die Diskretisierung von partiellen Differentialgleichungen und für die Regelung und Steuerung von Prozessen verallgemeinern.

So kam es im Krieg zu einer laufenden Verbesserung bekannter Verfahren und zu einer Bündelung von Kapazitäten, zu einer Erfolgsgeschichte »Mathematik und Krieg« durch Einfügung der Mathematik in ein militärisches Umfeld von dramatisch erhöhter Komplexität: militärische Operationen wurden nicht mehr an einer Front, sondern z.B. im pazifischen Krieg global geplant und durchgeführt; die Produktion eines Rüstungsgutes geschah nicht mehr an einem Ort, sondern war z.B. bei der Atombombe auf ein weitverzweigtes Netz von Forschungszentren, Laboratorien und unterschiedlichsten Fabriken verteilt; vor allem aber war im Krieg und durch den Krieg die Komplexität der Instrumente und Maschinen ins Ungeheure gesteigert worden – vom Radargerät, das mit seinen rund 40 Komponenten noch 1939 zu den kompliziertesten Kriegsmitteln gehörte, zu Computer und Bombenflugzeug, die beide nur 10 Jahre später eine Komplexität von mehr als 20 000 Komponenten erreicht hatten.

Aus militärhistorischer Sicht muß man allerdings hinzufügen, daß – vielleicht abgesehen von der Dechiffrierung des enigmakodierten deutschen Funkverkehrs, dem letzten Kapitel der Vorgeschichte des Computers – keine dieser spezifisch militärischen mathematischen Errungenschaften von kriegsentscheidender Bedeutung war, auch nicht die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki, die vielmehr die US-amerikanische Weichenstellung für den darauf folgenden Kalten Krieg markierten.6 Die Spätfolgen des Zweiten Weltkriegs, d.h. die vom Bündnis »Krieg und Mathematik« in Bewegung gesetzte giftige Mischung von genialster Mathematik und Naturwissenschaft und primitivster Maschinenorientierung und Zerstörungsbereitschaft, deren volle Brisanz zu erleben uns bisher erspart geblieben ist, haben durchaus die Potenz, die unmittelbaren Kriegsfolgen – so verheerend sie auch waren – noch weit zu überbieten.7

War die Menschheit schon zuvor in der Natur mit einer Vielzahl komplexer Phänomene konfrontiert gewesen8, so ist das Neue, das Ergebnis des Zweiten Weltkrieges, die Alltäglichkeit der von Menschen geschaffenen Komplexität, an deren Kreierung und Funktionieren mathematische Methoden einen wichtigen Anteil haben – ohne doch eine sichere Beherrschung, eine systematische Übersicht über alle Funktionsweisen der Systeme und die wesentlichen Wirkungen eigenen Handelns zu erlauben. Statt dessen bescherte uns die Erfolgsgeschichte »Mathematik und Krieg« die Gewöhnung an Undurchschaubarkeit und Verantwortungslosigkeit, gepaart mit Illusionen von Beherrschbarkeit, wo nur Machbarkeit vorliegt. Sie bescherte uns auch die arrogante Vorstellung vieler Mathematiker und mathematisch orientierter Wissenschaftler von der vollständigen Explizierbarkeit menschlicher kognitiver Kompetenz9. Dies alles gab das Bündnis zwischen Kriegern und Mathematikern der neuen gesellschaftsprägenden Wissenschaft Informatik als genetisches Erbe mit.

C. Fiktive Kriegführung

Schon bald nach 1945 stellte sich, wenn wir den mathematischen Forschungsprozeß für sich betrachten, erneut das traditionelle beschauliche Forschungsmilieu, die relative Autonomie der Mathematik her – doch in einer völlig anderen Größenordnung, hundertfach mehr ausgebreitet als vor dem Krieg. Nachdem sie ihr vergiftetes Erbe abgeliefert haben, gefallen sich nicht wenige »reine Mathematiker« darin, ihre Hände in Unschuld zu waschen. Im Verhältnis zur Anzahl der inneren Wechselwirkungen erscheinen nun tatsächlich die äußeren Wechselwirkungen, darunter die direkt militärischen Grenzflächen der Mathematik wieder als marginal. Die unmittelbare Dominanz der inneren Dynamik wird in Booß, Høyrup (1984, S. 27f) durch eine Übersicht über die Preisträger der Fieldsmedaille belegt, die in der Mathematik statt eines Nobelpreises verliehen wird und sich deutlich und ausschließlich an innermathematischen Qualitätskriterien orientiert hat und orientiert. Selbst da, wo äußere Einwirkungen in den Arbeiten der Fieldspreisträger durchscheinen oder bedeutende Anwendungen sich ankündigen oder bereits folgten, wird immer das in das Innere des Systems Weisende belohnt.

Nicht weniger schlagend ist die Analyse von Michael Atiyah, der in Jahrzehnten an der Spitze der Mathematik des 20. Jahrhunderts gestanden hat und selbst einen Teil seiner Motivation sich von »außen«, aus Problemstellungen und Perspektiven der Quantenfeldtheorie holte. In seiner Studie Mathematik und die Computerrevolution verkennt er durchaus nicht den (häufig noch immer nur potentiellen) Wert der Informationstechnologie für die Formulierung und Akzentuierung von Problemen für die mathematische Forschung und für die Unterstützung von Mathematikern „in allen Phasen ihrer Arbeit, aber vielleicht am bedeutungsvollsten in der untersuchenden und experimentellen Phase“. Dagegen hält er für die Hauptrichtungen mathematischer Forschung und für die dabei zentralen Arbeitsschritte an der spezifischen Zielstellung des (subjektiven, spezifisch menschlichen) Verstehens eines Problems oder einer Lösung im Unterschied zum bescheideneren Ziel ihrer (evtl. maschinisierbaren) Beschreibung – und damit letztlich an der relativen Autonomie der Mathematik gegen die, nach Atiyah, mit dem Vorschreiten der Computer verbundenen »geistigen, ökonomischen und pädagogischen« Gefahren fest:

Mathematik ist wirklich eine Kunst – die Kunst, gewaltige Rechnereien durch die Entwicklung von Begriffen und Methoden zu vermeiden, die es einem ermöglichen, leichter voranzukommen.10

Sind also Krieg und Kriegsprodukt Computer doch relativ spurlos an der Mathematik vorbeigegangen – und die militarisierte Mathematik an der Nachkriegspraxis? Keineswegs, so muß man wohl beide Fragen beantworten.

Sehen wir uns zunächst das militärische Umfeld der Mathematik an. Anders als nach früheren Kriegen wurde nach dem Zweiten Weltkrieg eine hohe militärische Bereitschaft, ein hohes Niveau von Rüstungsausgaben insbesondere für Forschung und Entwicklung beibehalten und zwar in der besonderen Ausrichtung auf etwas, was man »fiktive Kriegführung« nennen kann11: Gewiß hat es in der ganzen Periode immer wieder regionale Kriege wie in Korea, Indochina, im nahen und mittleren Osten, in Afrika und den Seekrieg vor Argentinien sowie Serien von bewaffneten Grenzauseinandersetzungen in den verschiedensten Teilen der Welt gegeben. Die Hauptmasse der Streitkräfte der Großmächte und die stärksten Kampfmittel wurden aber in Reserve gehalten, in Stufen zwischen Ruhe, Übung und Bereitschaft.

Die Verhandlungsorientierung, die aus einer Kombination von unzureichender Kriegsakzeptanz bei unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen und der drohenden Totalität der Kriegsmittel folgte, benutzte Menschen und Material als Druckmittel und versuchte ihre physische Anwendung, ihren Einsatz im Feld, zu vermeiden oder zu minimieren. Das hat die Maschinisierung von Rüstung und Kriegführung ungeheuer vorangetrieben (vgl. nicht nur die SDI-Diskussion, sondern auch die Sammlung von militärischen Absurditäten zur Verkünstlichung des taktischen Schlachtfelds etwa in Nikutta (1987) und mit ihr die hochgradige Zergliederung, Aufsplitterung von Funktionen und ihre künstliche Wiederintegration, Vernetzung, die für militärische Strukturen, Bürokratien, internationale Märkte und neue komplexe Technologien charakteristisch sind: Der Trennung und Kopplung von Soldat und Kommandant entsprechen im modernen Krieg z.B. die Trennung und Vernetzung von Soldat und Destruktion und von Präzision und Destruktion, in den neuen Technologien z.B. von Komponente und Aggregat und von Aktuator und Sensor, und in der modernen Naturwissenschaft z.B. von Daten und Theorie und von Experiment und Simulation.

Die fiktive Kriegführung besteht nun darin, daß Verhandlungsorientierung und Maschinisierung sich fortlaufend gegenseitig antreiben, um technologische Überlegenheiten zu berücksichtigen und dadurch eigene Risiken (vermeintlich) herabzusetzen. Auf diese Weise ist die fiktive Kriegführung mit einem ungeheuren Verlust an Realitätssinn verbunden: Am Beginn eines jeden Krieges zeigte es sich schon früher, daß eigentlich nichts so funktionierte, wie man dachte. Diese Unsicherheit ist direkt eine Grundlage der Kriegführung, weil die wenigsten Kriege bei sicher vorhersagbarem Ausgang geführt worden wären. Der Krieg ist die Korrektur von vorgefaßten Vorstellungen in der Praxis (vgl. Clausewitz, 1972). Die Komplexität des modernen Kriegs erfordert aber – aus erkenntnistheoretischer Sicht – in ganz besonderem Maß das Kriterium der Praxis.

Gerade die Spanne zwischen versprochener und wirklicher Leistungsfähigkeit ist destabilisierend und treibt das Wettrüsten.12

D. Symptome der militärischen Deformation: undurchdringliche Komplexität, rücksichtslose Kreativität und täuschende Vertrautheit

Am spürbarsten ist der militärische Einfluß in der Informatik, in der militärischen Förderung der Computerwissenschaft und bei den Neuerungen im Bau von Rechenmaschinen und ihrer Programmierung, wo trotz Kriegsende die militärischen Auftraggeber stets Initiatoren und/oder größte Kunden blieben. Die Prägung und Deformation der Computerwissenschaft und der Hardware- und Software-Produktion bis in den zivilen Bereich hinein ist u.a. in Metropolis (1980), Booß, Coy (1985), Bickenbach (1985) und Domke (1988) untersucht. Zu welcher Art von Aussagen das empirische Material über die militärische Verschmutzung der Informatik zwingt, wie die Deformation konkret wirkt, wollen wir hier nur an zwei Fragenkomplexen13 erläutern, für deren Beantwortung Paul Abrahams, der frühere Präsident der Association for Computing Machinery (ACM), wichtige Hinweise gegeben hat:

  1. Welche Rolle spielten und spielen neben den unmittelbar militärischen Auftraggebern die zivilen Märkte? Sind Computer-Interessen multinationaler Konzerne mit ihrer Neigung zu Gigantismus und Hierarchie anders als die des Pentagons?
  2. Wieweit hat das Militärische die konkrete inhaltliche Ausformung der Art, wie mit Computern umgegangen wird, welche Maschinen, Programme, Anwendungen und Ausbildungen angeboten werden, geprägt? Wie hat letztlich das militärische Umfeld die Art, über Computer nachzudenken, verseucht? Welche Fragestellungen und Begriffsbildungen konnten erst abseits der etablierten Hauptströmung der Computer Science gedeihen, dort kaum zur Kenntnis genommen? Welche für die herrschende Computer Science charakteristischen Mißverständnisse wurden von dem Umfeld begünstigt?

Es hieße, die Idee der Marktwirtschaft geringzuschätzen, wollte man hier nicht ebenso wie bei jeder anderen Produkt- und Technikentwicklung den Einfluß der größten Kunden auf das Produkt sehen. Paul Abrahams hat den militärischen Einfluß auch auf zivile Software-Produktion 1988 in einem Präsidentenbrief14 für die ACM wie folgt charakterisiert: Die grundlegende Arbeitsteilung zwischen Militär und Produktion, ihre Verschiedenartigkeit und der hypothetische Charakter der Kriegführung in Friedenszeiten habe dazu geführt, daß die Anforderungen an Rüstungsgüter wie militärische Softwaresysteme vor ihrer Herstellung in unmäßiger Genauigkeit vom Auftraggeber beschrieben werden.

Überspezifizierung rührt von der Annahme, daß alle Eventualitäten im voraus bedacht und berücksichtigt werden können und müssen.

Abrahams nennt auch die Folgen:

  1. Überbeanspruchung der Produkte durch Detailregelungen und Überladung mit Leistungsmerkmalen. Verletzung des Prinzips der Einfachheit und Sicherheit.
  2. Ein »Wasserfall«-Modell der gesamten Softwareentwicklung, bei der in strenger Hierarchie nachgeordnete Arbeitsschritte nur die Aufgabe und Kompetenz haben, übergeordnete Anforderungen zu befriedigen. Verletzung des Prinzips der Transparenz, der Kooperation und der iterativen Spezifizierung – Grunderfordernis der »evolutiven« Produktentwicklung des »rapid prototyping«.
  3. Die Unterdrückung kritischer Erörterung von Qualität: „Bei dem besonderen Verhältnis der Hersteller militärischer Software zu ihren Kunden haben die meisten Hersteller wenig Grund, den Wert der ihnen abverlangten Berge von Papier und des eigentlichen Produktes in Zweifel zu ziehen, und tatsächlich gute Gründe, diese Dinge nicht in Frage zu stellen.“
  4. Die Verseuchung der Lehrbuchliteratur und des ganzen Denkens und Vorgehens vieler Informatiker durch „die Denkweisen, die im Verteidigungsministerium heimisch und die eigentliche Ursache der Schwierigkeit sind. Ein bedenklicher Zug in einem Großteil der Software-Engineering-Literatur ist ihre unausgesprochene Annahme, daß die Software entsprechend militärischen Anforderungen zu bauen ist, und die implizite Annahme der Vernünftigkeit solcher Spezifizierungen.“

Wie groß auch in der Reinen Mathematik heutzutage die Rolle der marginalen Einwirkungen ist, der »Energiezuführung und Steuerung von außen«, läßt sich durchaus an den Hauptforschungsrichtungen z.B. der modernen Analyse, Geometrie und Topologie erläutern. Gewiß verhalten sich die meisten Theoreme unmittelbar auch nur zu Fragen, die von anderen Theoremen aufgeworfen wurden. Die grundlegenden Problemstellungen und übergeordneten Ziele, die laufend angestrebt werden, werden allerdings zu einem guten Teil außerhalb der Mathematik bestimmt – nämlich mit der Thematisierung der Komplexität an sich, wenn es sich nicht um die bewußte Verschleierung unmittelbar militärischer Problemstellungen handelt.15

Neu ist eben auch, daß teils als Voraussetzung, teils als Folge von Militarisierung, Maschinenorientierung und Bereitschaft zur Komplexität der gesamte Zusammenhang Mathematik und Gesellschaft »ins System« gebracht wurde: Von den Forschungsabteilungen der Industrieunternehmen über die Organisation staatlicher Regulierung, Aufträge, Zuschüsse und Lügen, um Mittel einzuwerben16, bis herab zur Umgewichtung im Schulwesen, wo der Wettlauf um die besten Mathematik- und Physiknoten z. B. die ideologischen Kriterien – Beherrschung der alten Sprachen der europäischen Sklavenhaltergesellschaften – als Selektionskriterium für den »Elitenachwuchs« verdrängt hat, sehen wir eine organisierte Segmentierung, die alle Akteure im unklaren über die Rolle, die sie spielen, und die Zusammenhänge, in die sie eingehen, läßt.

Die extremen und letztlich absurden Anforderungen der Vernichtungswissenschaft und des Wettrüstens haben Denken und Arbeitsstil von mehr als einer Generation von Mathematikern, Naturwissenschaftlern und Ingenieuren umgestülpt, auf die Erforschung und Gestaltung komplexer unverstandener Systeme orientiert und an die Verantwortungslosigkeit freien, ungebundenen Schöpfertums, an das Lavieren in Bereichen, wo weder Daten noch Theorie, sondern nur die graphischen Oberflächen in Ordnung sind, und an den Mut zu brauchbaren, wenn auch theoretisch unverstandenen Lösungen gewöhnt.17 So ist es vielleicht nicht verwunderlich, daß Wissenschaftsbetrieb, Technik und Medizin die militärische Lehre verinnerlicht haben und aus dem Handeln im Bereich des Nichtwissens eine Tugend machen. Hier kann der Mathematiker oder Ingenieur in einem Institut für Regelungstechnik schon von der unverantwortlichen Kreativität in komplexen Bereichen ergriffen sein, auch wenn er subjektiv ehrlicher Kriegsgegner, Pazifist, Grüner oder Sozialist ist.

Schließlich gibt es eine Reihe von Anzeichen dafür, daß diese soziologischen Veränderungen der Mathematik von wirklichen Umwälzungen in der Art, wie »mathematisiert« wird, begleitet werden. Die klassischen Triumphe der mathematischen Modellierung, der Anwendung eines mathematischen Formalismus, sind an die Fähigkeit geknüpft, einen mehr oder weniger komplizierten Sachverhalt, Pendel- oder Planetenbewegung, Handels- und Finanzbedingungen, auf einfache Begriffe und Beziehungen zu bringen: Masse und Beschleunigung, Zins und Wechselkurs. »Mathematisierung« und mathematische Modelle wurden (und werden) so vielfach mit exakter Behandlung, Beschreibung und Analyse ideal einfacher oder zweckmäßig oder – aus der Sicht der Kritiker – unzweckmäßig idealisierter Verhältnisse gleichgesetzt.

Wenn dagegen neuerdings zunehmend die Handhabung der Komplexität, ihre Erweiterung und Reduktion, und die Komplexität selbst thematisiert wird, dann ist für Ethik, Politik und Pädagogik dabei die entscheidende Frage, ob der mathematische Fortschritt der Wahrnehmung und Reduzierung – oder der Erzeugung oder Vertuschung von Komplexität dient.

Auf die militärischen Quellen für die moderne intellektuelle Risikobereitschaft und Fehlerakzeptanz hat auch Eric Burhop, langjähriger Mitarbeiter am britischen Atombombenprojekt und später Präsident der Weltföderation der Wissenschaftler aufmerksam gemacht. Er sieht eine wesentliche Quelle für die Risiken der zivilen Kernenergetik in ihrer militärischen Herkunft, wo wegen der Verwendung der Reaktoren für die Herstellung von Spaltmaterial für Bomben die ersten Entwicklungen unter strengster Geheimhaltung vorgenommen wurden, wodurch die verantwortlichen Ingenieure und Physiker vor dem kritischen Urteil der großen Mehrheit ihrer Kollegen über die von ihnen entwickelten Technologien abgeschirmt waren.18

Der Schutz überspannter Ideen und leichtsinniger Entwicklungen vor sachkundiger Kritik ist allerdings nicht auf den staatlich-militärischen Sektor beschränkt. So schreibt Harriet Kagiwada, eine Spezialistin in moderner militärischer Unternehmensforschung aus der Schule des großen Mathematikers Richard Bellman:

„Forschung und Entwicklung auf dem Gebiet des militärischen Modellierens und Rechnens sind auf den zivilen Bereich übergegangen. Wie groß der Einsatz auch sein mag, wirkt er doch ziemlich zerstückelt und kurzsichtig. Es gibt auch in manchen Firmen eine Neigung, die Veröffentlichung von Artikeln in der offenen Literatur zu meiden. Die Arbeit wird z.B. »Firmeneigentum« oder »wettbewerbssensitiv« genannt. Liegt dahinter nicht eigentlich eine Scheu vor der vollen Offenlegung gegenüber der Kritik und dem Urteil der kompetenten Fachkollegen?“ 19

Nach Klaus Oehlers Interpretation von Peirce (1878) besteht philosophiegeschichtlich der Fortschritt darin, daß man sich kein anderes Wahrheitskriterium als das kollektive, zwischen Menschen zu vermittelnde, Urteil der Interpretengemeinschaft leistet. Darin liegt eine zutiefst philosophische Begründung der Demokratie, die aber gegenstandslos wird, wenn durch extreme Steigerung der Komplexität die Gemeinschaft fachlich kompetenter Interpreten zu sehr verkleinert wird. Hier gibt es nur eine Lösung, eine bewußte Entscheidung für eine sehr konservative Technologiepolitik – konservativ nicht als ein Weitermachen im Stil der letzten Jahrzehnte, sondern eine Rückbesinnung auf die Zeitmaße von tausenden Jahren, die die Menschheit bisher zur Umstellung und Anpassung an veränderte Lebensbedingungen benötigte.20

Literatur

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Weizsäcker, C.F.v.: 1971, Die Einheit der Natur, München.

Anmerkungen

1) Mit der schwindenden Glaubwürdigkeit des Bedrohungsarguments hat der wissenschaftlich-militärisch-industrielle Komplex schon seit langem beim Lokomotivenargument Zuflucht gesucht, wonach die außerordentlichen Anforderungen von Rüstungs- und Raumforschung wissenschaftlich-technische Hochleistungen und entsprechende Spitzenpositionen auf dem Weltmarkt begünstigen. Zurück

2) Am markantesten bei Hegel, Lassalle und Nietzsche, wo es bis heute allerdings noch unklar scheint, was an diesen philosophischen Überhöhungen großer Wurf und was »läppisches Machwerk« (Marx über Lassalles zweibändige Heraklitbuch) ist; vgl. auch Weizsäcker (1971, S. 55), der als ehemaliger Atomphysiker merkwürdigerweise und gänzlich undistanziert gerade diesen Satz von Heraklit zur Erläuterung der Kopenhagener (Bohrschen) Auffassung von den Erkenntnisschwierigkeiten der modernen Physik – nämlich dem oft unlösbaren Zusammenhang zwischen Sinngebung eines Satzes und Vieldeutigkeit seiner Begriffe – gewählt hat, oder Jürss (1982, S. 196ff), der sich um die Entmythologisierung des Heraklitschen Denkens bemüht. Zurück

3) Marx (1858/1939, S. 29). Zurück

4) Booß, Høyrup (1984, S.33). Vgl. auch Lindner, Wohak und Zeltwanger (1984), die die Kulturgeschichte des »Rechnens« vom römischen Militärapparat bis zur Entwicklung des Computers für das Militär und den Einsatz der Großcomputer für die militärische Planung und die Steuerung von Großkonzernen nachzeichnen. Zurück

5) Vgl. Booß, Franke, Otte (1972), wobei die Mathematik und möglicherweise auch die Physik einen Sonderfall darstellen, während die anderen Naturwissenschaften, insbesondere Chemie, Genetik und Medizin von Anfang an umfassend in den faschistischen Staat eingebunden waren und durch ihn geprägt wurden. Zu einem eigentlichen Bündnis von Krieg und Mathematik, wie es sich dann in den angelsächsischen Ländern bilden sollte, konnte es im Nazi-Machtbereich schon wegen der Emigration nicht kommen. Z.B. emigrierten auf dem Gebiet der partiellen Differentialgleichungen, der Grundlagendisziplin für die weitesten Bereiche der mathematischen Physik mit einer riesigen Grenzfläche zur praktischen, numerischen Mathematik, fast alle führenden Köpfe, Richard Courant, Kurt Otto Friedrichs, Fritz John, Hans Lewy. Nur Franz Rellich und Ludwig Prandtl – beide keine Nazis – blieben. Rellich ließ sich bis Kriegsende völlig von seinen Lehrveranstaltungen absorbieren, und Prandtls Institut für Aerodynamik wurde ganz von der Universität abgetrennt und – trotz gewaltiger Expansion – unter militärischer Kontrolle auf ein sehr enges Forschungsprogramm festgelegt und letztlich isoliert. Siehe auch Reid (1976). Stärker standen in Nazideutschland Gebiete wie die komplexe Analyse, angeführt – neben der Prägung durch Carl Ludwig Siegel, der Deutschland erst 1938 verließ – von aktiven Nazis wie dem arrivierten Bieberbach oder fanatischen SS-Männern wie dem jungen Teichmüller, die trotz ihrer mathematischen Brillanz weder die notwendigen fachlichen Voraussetzungen mitbrachten, noch die entsprechende wissenschaftlich-militärische Umgebung vorfanden oder schaffen konnten, um in ein wirkliches Bündnis mit der Naziwehrmacht einzugehen. Zu groß war im Dritten Reich die Verachtung für selbständiges Denken, als daß das Regime Teichmüller eine andere Perspektive hätte weisen können, als gläubig an der Ostfront als Offizier zu fallen. Zurück

6) In der anglo-amerikanischen Öffentlichkeit, vor allem bei den Engländern, hat sich allerdings eine ganz andere Auffassung verbreitet, nämlich die Überzeugung, daß der Zweite Weltkrieg vor allem durch ihre überlegene Technologie gewonnen wurde. Zurück

7) Eine Personifizierung dieser giftigen Mischung hat man in der herausragenden Gestalt von John von Neumann: Seine eigene Arbeit wie seine Mitverwertung der besten Qualifikationen aller erreichbaren Kollegen zeugt von tiefer Klarsicht und bescherte ihm einen bedeutenden mathematisch-naturwissenschaftlichen Erfolg; seine Genialität befähigte ihn aber offensichtlich auch dazu, so leichthin von den Millionen von potentiellen Opfern seiner Arbeit abzusehen, die mögliche vollständige Entfesselung dessen, was er mit anderen zusammenbraute, einfach wegzuabstrahieren und auf diese Weise mit begeistertem Engagement unbeschwert seine Ziele zu verfolgen. Einsteins Gedanke, daß hier Kräfte entfesselt werden, für deren Beherrschung wir geistig, moralisch und materiell gar nicht vorbereitet sind und die uns daher schnell über den Kopf wachsen können (vgl. Straus, 1989), scheint von Neumann fremd gewesen zu sein. Seinen Eingang in die Geschichte – über die Geschichte der Mathematik hinaus – dürfte sich von Neumann als Paradebeispiel für jene Kombination von Wirksamkeit und blinder Rücksichtslosigkeit der scientistischen Tradition in den Naturwissenschaften erworben haben, einer Kombination, die Abscheu hervorruft, aber auch antiwissenschaftliche Züge des modernen Zeitgeistes fördert. Zu von Neumanns eigentümlichen Doppelcharakter vgl. Mahr (1984). Zurück

8) In der evolutionären Naturphilosophie des amerikanischen Pragmatikers Charles Saunders Peirce wird gerade das Verhältnis von Mensch, vorgefundener Komplexität und menschlichem Handeln thematisiert; vgl. Peirce (1903/1983), dessen Einleitung von Helmut Pape die folgende Passage entnommen ist: „Alle lebenden Wesen auf dieser Erde stehen in einem unverbrüchlichen Zusammenhang, der über die Evolution des Kosmos und des Lebens auf dieser Erde hineinreicht in die Gleichzeitigkeit der Wechselwirkungen zwischen allen lebenden Wesen und der Materie im gegenwärtigen Augenblick. Wir teilen mit allem Lebendigen eine gemeinsame Welt, und für diese Welt tragen wir Verantwortung, weil unser Handeln diese Welt in steigendem Maße verändert und sofern wir Menschen die einzigen Wesen sind, die in dieser Gemeinschaft des Lebens bewußt kontrollierten Zwecken folgen können. Für uns Menschen gilt: indem wir uns für Ziele entscheiden, legen wir fest, nicht nur wer wir sein werden, sondern wie unsere Welt beschaffen sein wird. Diese einfache Weise, die Ökologie menschlichen Erkennens und Handelns zu umreißen, führt zu dreierlei: Achtung und Würdigung der instinktiven, emotionalen Gemeinschaft aller Lebewesen und des Common Sense aller Menschen, dessen Orientierungsleistungen wir als Ausgangspunkt gemeinsam haben, zweitens konservative Behutsamkeit gegenüber den universellen Konsequenzen jedes Handelns, das dank technologischer Verstärkung durch Wissenschaft und Industrie zerstörerische oder wenigstens unabsehbare Konsequenzen gegenüber unserer gemeinsamen Welt hat, und schließlich intellektuellem Mut und revolutionärer Gesinnung bei dem Entwurf von Zielen, deren Verwirklichung unter den ökologischen Bedingungen in unserer gemeinsamen Welt unter der Kontrolle einer konkreten Vernünftigkeit sich entwickeln läßt.“ Wir verstehen unsere Kritik der militärischen Bedrohung der Mathematik durch marktschreierische Ankündigung, barocke Überladung, illusionäre Versprechungen und zynische Gleichgültigkeit gegenüber wissenschaftlichen und ethischen Qualitätskriterien als einen Beitrag zu dieser Peirceschen Ökologie von Kommunikation und anderen semiotischen Prozessen (Pape). Zurück

9) Vgl. das KI-Gerede über »maschinelle Intelligenz«, das auf Turing zurückgeht, als er auf die verzögerte Finanzierung durch die verarmte britische Nachkriegsregierung zur Fertigstellung des ersten modernen eigentlichen Universalrechners wartete und wegen offenbar unzureichender Beschäftigung mit den relevanten Grundlagenwissenschaften (aber auch in sarkastischer Polemik gegen biologistische Auffassungen von der »überlegenen Intelligenz« von Oberschichten und Herrenmenschen) die kognitive Leistung von Schachspiel und Dechiffrierung als paradigmatisch für menschliche kognitive Fähigkeiten unterstellte. (Man hatte damals für das Dechiffrierungsprogramm außer Mathematikern auch Schachmeister als besonders berufene Experten nach Bletchley Park geholt.) Ohne Turings unbestreitbare mathematische Autorität und seine Rolle in der theoretischen Vorgeschichte und der praktischen Realisierung der ersten Computer hätte sich diese unselige Begriffsbildung (und das Messen von Fortschritten in der »Maschinisierung der Kopfarbeit« an Verbesserungen bei der Programmierung von Schachcomputern) – wenn sie nur eine freie Erfindung etwa von M. Minsky gewesen wäre – kaum so schnell in gewissen akademischen Kreisen etablieren können. Immerhin war es bis dato nicht üblich gewesen, so hemmungslos zur Einwerbung der finanziellen Mittel noch vor Einleitung der Forschung Ergebnisse schon mitzuteilen. Siehe Hodges (1983), die erste fachlich kompetente Turingbiographie, die sich übrigens auf die Auswertung der eben erst freigegebenen britischen Kriegsarchive stützen konnte Zurück

10) Atiyah (1986, S. 48): Mathematics is really an Art – it is the art of avoiding brute-force calculation by developing concepts and techniques which enable one to travel more lightly. Zurück

11) Booß (1978) und Booß, Coy (1985). Zurück

12) Vgl. z.B. Booß (1978), Booß-Pate (1985) und Parnas (1985). Zurück

13) Nach Pate (1990). Für einen breiteren systematischen Ansatz vgl. Rilling (1989). Zurück

14) Abrahams (1988). Zurück

15) In der mathematischen Fachliteratur zu Differentialgleichungen gehört es heutzutage (vielleicht muß man sagen »erfreulicherweise«) zum guten Ton, politisch verharmlosend (und mathematisch irreführend) von den Schockwellen eines Tennisballs zu sprechen, wenn die Schockwellen eines Projektils oder einer Rakete gemeint sind. Auch liest man von Problemen der maschinellen Diagnose von unsicheren Daten in der Computertomographie (einem mathematisch und medizinisch ziemlich unsinnigem Projekt), wenn es um die maschinelle Identifikation von Truppenbewegungen und militärischen Objekten aus gestörten Daten der Satellitenfernaufklärung geht (ein Projekt, das in der gegenwärtigen Zeit sicher politisch völlig unsinnig ist, aber durchaus von mathematischem Interesse). Zurück

16) Weil Wissenschaftlerlügen gerne geglaubt werden, bleiben sie nicht bloßes Sprücheklopfen, sondern prägen den wissenschaftlich-militärisch-industriellen Komplex und bestimmen die Politik, werden politisch wirksam. Siehe z.B. Beusmans und Wieckert (1989). Zurück

17) Für den Bereich der modernen rechnergestützten Strömungsmechanik ist in Abbott, Basco (1989) in Anspielung an die Alchimie des Mittelalters der Begriff magischer Realismus geprägt worden – für den täuschenden Realismus von numerischen Simulationen auf der Grundlage nichtverstandener (oder verkehrter) physikalischer Gleichungen und nichtverstandener (oder unstabiler) Algorithmen. Zurück

18) Burhop (1980). Zurück

19) Kagiwada (1988). Zurück

20) Der vorstehende Aufsatz beruht auf dem Beitrag von Booß/Pate zum Wissenschaftlichen Symposium »Wissenschaft im Krieg – 50 Jahre danach« an der Philipps-Universität Marburg, 17.-18.11.1989. Zurück

Prof. Dr. Bernhelm Booß-Bavnbek ist Mathematiker und lehrt in Roskilde/DK; Glen Pate ist Mathematiker in Hamburg.