Rüstungsforschung im Etat 1987

Rüstungsforschung im Etat 1987

von Rainer Rilling

I. Benachteiligung von Wissenschaft und Forschung

Der Haushaltsentwurf 1987 setzt die bisherige Benachteiligung des Bildungs- und (zivilen) Wissenschaftsbereichs fort.

Gegenüber 1986 sieht er vor:

Ministerium 1986 (Mrd. DM) 1987 (Mrd. DM) Saldo
BMVg 49,91 51,3 +1,388
Darunter Mil. FuE 2,58 2,82 +240
BMFT 7,41 7,56 +149
BMBW 4,06 3,96 -100
Bund 263,48 217,00 +7520

Allein für militärische Forschung sollen 1987 fast fünf mal soviel Mittel zusätzlich zur Verfügung gestellt werden, wie für die Ministerien für Forschung und Bildung zusammen. Bemerkenswert ist vor allem die nun schon seit Jahren andauernde Stagnation bzw. Verminderung der Mittel des Ministeriums für Bildung Wissenschaft. Seit 1982 konnte das BMVg als einziges Bundesministerium seinen Anteil am Forschungsbudget des Bundes steigern, alle anderen Ministerien verloren zu Lasten der Militärforschung. Für die gesamte Legislaturperiode der gegenwärtigen Bundesregierung zeichnet die Haushaltsstatistik ein deutliches Bild. Der Etatentwurf 1978 ist der fünfte seit 1982, den die konservativ-liberale Koalition zu verantworten hat. Die in der Finanzplanung ausgewiesenen Funktionsbereiche zeigen eine krasse Verschiebung: zwischen 1982 und 1990 (unter Einschluß der neuen Finanzplanung) wachsen die Militärausgaben um über 10 Mrd., während die gesamten Bundesmittel für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Kultur um ganze 1,5 Mrd. DM zunehmen.

II. Die Ausgaben für militärische Forschung

Die im Kapitel 1420 des BMVg-Etats veranschlagten Mittel für militärische Forschung, Entwicklung und Erprobung nehmen seit Jahren überdurchschnittlich zu (1982: 1987 + 70%). 1986 wie 1987 wird mindestens jede fünfte Mark, die der Bund für Forschung und Entwicklung ausgeben wird, in den militärischen Bereich fließen.

Ausgaben für militärische
Forschung und Anteil an den FuE-Ausgaben des Bundes in Mrd. DM (Epl. 14 Kap.1420)
1982 1.644 +9,1 % 13,9 %
1983 1.858 +9,7 % 16,4 %
1984 1.948 +6,7 % 16,4 %
1985 2.499 +28,3 % 19,4 %
1986 2.579 +3,2% ca. 20,0 %
1987 2.837 +10.0% ca. 20,5 %

Das Gesamtbudget Rüstungsforschung ist jedoch wesentlich umfangreicher. Berücksichtigt man die an anderen Stellen des öffentlichen Haushalts ausgewiesenen Ausgaben, dann liegen die Ausgaben seit Jahren um über eine Mrd. DM höher als die Ansätze des Kapitels 1420.

Unter Einbeziehung weiterer Mittel – der Zuschläge für „freie Forschung“ und der vermutlich zunehmenden eigenfinanzierten industriellen Rüstungsforschung sowie der von anderen Ministerien in ziviler wie militärischer Nutzungsabsicht finanzierten Forschung – dürfte sich 1987 das Gesamtbudget Rüstungsforschung der 7 Mrd. DM Grenze nähern (Auftragsmittel des Pentagon für die SDI-Forschung nicht einberechnet).

Die technisch-naturwissenschaftliche Forschung wird – „von Einzelaufträgen in der Industrie und an den Hochschulen“ (BMFT, Faktenbericht 1986, S.144) abgesehen – in den grund- und zum Teil einzelauftragsfinanzierten staatlichen Einrichtungen der Militärforschung FhG, FGAN, DFVLR, ISL und FWG durchgeführt, die medizinische Militärforschung von Wissenschaftlern der Hochschulen und anderer ziviler Institutionen durchgeführt. Daneben werden im Rahmen der sogenannten Sonderforschung in eigenen Forschungseinrichtungen wehrmedizinische Forschungsvorhaben bearbeitet.“ (Ebd., S. 145).1nsgesamt aber gehen mittlerweile bereits über vier Fünftel der FuE-Mittel des BMVg in die Industrie; der Anteil der militärischen Forschung an den staatlichen Forschungsmitteln, die in die Industrie fließen, hat sich seit 1982 auf fast 40% nahezu verdoppelt: Rüstungsforschung wird immer mehr Rüstungsindustrieforschung. Vom Rückzug des Staates aus der industriellen Forschung bzw. ihrer Beeinflussung ist im Rüstungssektor nicht die Rede. Auch die regionale Konzentration der Mittel für Rüstungsforschung hält an: rund 67,6% der Mittel entfallen gegenwärtig auf Bayern und Baden-Württemberg, 18,0% auf Hamburg, Bremen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein,14,4% auf NRW, Rheinland-Pfalz, Hessen und das Saarland.

III. Die Wende wird fortgesetzt

In der Auseinandersetzung um eine Neuprofilierung der Forschungspolitik haben die Verfechter einer rüstungspolitisch orientierten Variante im letzten Jahr erheblich an Boden gewonnen.

1. Der Abschluß des SDI-Abkommens hat zu einigen ersten Abschlüssen geführt und wird die traditionell enge Verflechtung zwischen der amerikanischen und bundesdeutschen Rüstungsforschung mit Sicherheit verstärken. Die rüstungsindustrielle Machtbasis wurde durch Konzentration und Zentralisation verbessert (MBB, Daimler-Benz).

2. Die planerische und organisatorische Straffung des forschungspolitischen Rüstungsmanagements wurde fortgesetzt und mit dem Erlaß der 'Rüstungsbestimmungen für wehrtechnische Forschung und Technologie sowie der Forschungs- und Technologie-Leitlinie 1987 vorläufig abgeschlossen. Die Verbindungen zwischen ziviler und militärischer Forschungsförderung wurden verdichtet:

„Angesichts der Bedeutung moderner Technologien für militärische ebenso wie für zivile Anwendungen arbeiten beide Verantwortungsbereiche – der zivile und der militärische, das BMFT und das BMVg – auf einigen Teilgebieten eng zusammen. So werden z.B. die jeweiligen Planungen zur Weiterentwicklung elektronischer Bauelemente und der Datenverarbeitung der Ministerien aufeinander abgestimmt. Elektronische Bauelemente, moderne Rechnerstrukturen und Softwaretechnologie – um nur drei Beispiele zu nennen – sind sowohl zivil wie militärisch von größten Interesse und in den Grundkonzeptionen gleich.“ Hans-Hilger Haunschild, BMFT-Staatssekretär auf der 60. Arbeitstagung der Deutschen Gesellschaft für Wehrtechnik im April 1986 (Wehrtechnik 7/1986 S.61).

3. Obwohl etwa für das BMFT der „amerikanische Weg“, bei dem staatliche Finanzierung von Technologieentwicklungen ganz wesentlich über militärische Projekte erfolgt und über Entwicklungsaufträge der NASA… keine Alternative ist, da „der primär zivile Weg ebenso funktioniert“ (Haunschild), hat sich die BRD ein großes Stück zu diesem Weg bewegt, wie die Ressourcenentwicklung zeigt. Je nach Bezugsgröße hat die konservativ-liberale Regierung seit 1982 die Ansätze für Rüstungsforschung um 1-2 Mrd. DM angehoben. Wie tiefgreifend die Schwerpunktveränderung ist, kann man aus der Verteilung der zusätzlichen Ressourcen für Wissenschaft, Forschung und Entwicklung (außerhalb der Hochschulen) seit 1982 erkennen.

Von den rund 5,1 Mrd. DM, die per Saldo bis 1987 gegenüber 1982 zusätzlich für die großen Schwerpunktprogramme der Forschungsförderung des Bundes (=ca. 70% der Bundesausgaben für Forschung) sowie die Trägerorganisationen (DFG, MPG, FhG) ausgegeben wurden, gingen 3,4 Mrd. DM in die Rüstungsforschung. Knapp 60% der 446 Mio. die der Haushalt 1987 gegenüber 1986 an zusätzlichen Forschungsmitteln vorsieht, werden in den militärischen Bereich gelenkt (258 Mio.) Diese Quote liegt weit über dem momentanen Anteil der militärischen Forschung am Gesamtbudget Forschung der Bundesrepublik.

Überragendes Gewicht hat die Förderung des militärischen Bereichs. Mit großem Abstand folgt eine Reihe von industrierelevanten Programmen, die zum Teil ebenfalls militärisch relevant sind. Ökologisch und sozialpolitisch orientierte Programme spielen dagegen eine nachgeordnete oder unbedeutende Rolle.

Dr. Rainer Rilling, Soziologe, Geschäftsführer des Bundes demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler.

Rüstungsforschung an der Gesamthochschule Kassel: Denkwürdig! – Merkwürdig?

Rüstungsforschung an der Gesamthochschule Kassel: Denkwürdig! – Merkwürdig?

von Ralf Schaper

Seit letzten Sommer dringen immer wieder Nachrichten über ein Rüstungsforschungsprojekt aus der Gesamthochschule Kassel (GhK) an die Öffentlichkeit. Das Forschungsvorhaben am Institut für Mechanik ist im Sinne des Drittmittelgebers, des Bundesministers der Verteidigung (BMVg), sicherlich ein ganz normales Projekt, also keineswegs merkwürdig, im Bewußtsein vieler Angehöriger der GhK ist es jedoch sehr denkwürdig, und daher wird es auch für die andere Seite zunehmend des Merkens würdig.

Merkwürdig

Der offizielle Titel des Forschungsvorhabens lautet: „Untersuchungen über Kriterien zum Versagen von Werkstoffen bei ballistischen Beanspruchungen“. Das Wort ballistisch macht natürlich stutzig. Sowohl in der öffentlichen Diskussion als auch in amtlichen Schreiben wurde es von der anderen Seite sehr schnell ausgetauscht. Sogar die Hessische Landesregierung spricht in der Beantwortung einer kleinen Anfrage vor dem Landtag von „…einem Forschungsvorhaben auf dem Gebiet des Materialverhaltens bei hochdynamischer Beanspnuchung“. Der das Forschungsprojekt leitende Professor B. schreibt in einem offenen Brief: „Inhalt des Forschungsvorhabens ist … eine rein theoretische Untersuchung von mathematischen Modellen zur Beschreibung inelastischen Materialverhaltens unter besonderer Berücksichtigung hoher Verformungsgeschwindigkeiten. Eine Aufgabenstellung, die üblicherweise und ohne jeden Zweifel dem Bereich der Grundlagenforschung zuzuordnen ist und die – wie vieles aus der Hochtechnologie Anwendung bei zivilen wie auch bei militärischen Problemen finden kann.“

Hier tauchen sofort einige Fragen auf: Was wird denn untersucht: Materialien oder mathematische Modelle? Wozu werden Werkstoffe bzw. Materialien ballistisch beansprucht? Falls nicht Werkstoffe untersucht werden sollen, sondern „nur“ mathematische Modelle: Wozu lassen sie sich einsehen und welche Schlußfolgerungen lassen sich aus den Modellrechnungen ziehen? Und: Welches sind die Interessen des Geldgebers an den Modellen?

Die Auseinandersetzungen und Diskussionen um den „Fall“ vollziehen sich formal auf zwei Ebenen: der rechtlichen, d. h. hier insbesondere der personalrechtlichen, und der politischen, also insbesondere der hochschulpolitischen. Natürlich lassen sich die verschiedenen Aspekte nicht streng auseinanderhalten. Des besseren Verständnisses halber seien sie hier jedoch getrennt dargestellt.

Nach Vorgesprächen zwischen Professor B. und dem Bundesminister für Verteidigung beauftragt der BMVg im März 1985 die GhK mit dem o. g. Forschungsvorhaben. Der endgültige Vertrag zwischen GhK und BMVg wird von der GhK erst im Herbst 1985 unterzeichnet. Die Laufzeit des Projektes geht bis Ende 1986. Von den zur Verfügung stehenden ca. 390.000 DM fallen ca. 270.000 DM auf Personalkosten für mindestens zwei wissenschaftliche Mitarbeiter. Und bei diesem Einstellungsvorgang kommt das Projekt nun – natürlich unbeabsichtigt – an die Öffentlichkeit. Ursprünglich plante Professor B., die beiden Mitarbeiter mit sog. „Privatdienstverträgen“ einzustellen. Da jedoch die finanziellen Mittel von der Hochschule verwaltet werden sollten, mußten in diesem Falle sog. „Landesverträge“ aufgestellt werden – und dabei ist der Personalrat zu beteiligen. In intensiven Diskussionen und Gesprächen mit der Hochschulleitung wird der Fall im Personalrat behandelt. Gemäß Hessischem Personalvertretungsgesetz (HPVG) haben Dienststelle und Personalrat „alles zu unterlassen, was geeignet ist die Arbeit und den Frieden in der Dienststelle zu gefährden“. Deshalb und aus anderen mehr formalen Gründen lehnt der Personalrat am 18.6.1985 die Einstellung der beiden Mitarbeiter ab. Am selben Tage läßt sie der Präsident der GhK jedoch einstellen. Gemäß § 60 HPVG kann er „bei Maßnahmen die der Natur der Sache nach keinen Aufschub dulden, bis zur endgültigen Entscheidung vorläufige Regelungen treffen“. (Gegen diese Maßnahme klagt der Personalrat mittlerweile in zweiter Instanz.) Gleichzeitig ist ein sog. Stufenverfahren einzuleiten, an dem der Hauptpersonalrat beim Hessichen Minister für Wissenschaft und Kunst und das Ministerium selbst beteiligt sind. Die angerufene Einigungsstelle hat inzwischen aus formalen Gründen der Einstellung der beiden Mitarbeiter widersprochen und sich damit faktisch dem Spruch des Personalrats der GhK angeschlossen. Der Beschluß der Einigungsstelle ist vom Ministerium jedoch bisher nicht umgesetzt worden.

Daß es im Rahmen des normalen Verfahrens, etwa bei der Behandlung des Forschungsvorhabens im zuständigen Fachbereich, zu nicht alltäglichen Begebenheiten kam und auch andere – aber letztlich juristisch nicht relevante – Merkwürdigkeiten passierten, mag einschlägig Interessierte nicht verwundern und sei hier auch nur am Rande erwähnt.

Denkwürdig

Die Gesamthochschule versteht sich als Reformhochschule. Im Konvent besitzen die gewerkschaftlichen Gruppen von GEW und ÖTV zusammen mit einigen studentischen Gruppierungen die Mehrheit.

Im Rahmen der bundesweiten Friedenswoche im Herbst 1983 fand am 20.10. eine Hochschulversammlung statt, auf der der Präsident der GhK, Professor Franz Neumann, erklärte:

„Die Gesamthochschule Kassel muß und will eine Universität des Friedens sein.“

In einer verabschiedeten Resolution heißt es: „Wir erwarten,

  • daß sich alle Hochschulmitglieder in Lehre und Forschung für Frieden und Abrüstung einsetzen,
  • daß sie die Möglichkeit der Forschung für Rüstung und Krieg überprüfen, solche Forschung ggf. ablehnen und publik machen,
  • und daß sie wissenschaftliche Erkenntnisse einsetzen zur Entwicklung von Alternativen zur Rüstungsproduktion.“

Eigentlich hätte es jedeR klar sein müssen, daß aufgrund dieser Resolution sollte sie nicht nur ein schönes Papier für frohe Feste sein – und des Klimas an der GhK die Einwerbung eines Rüstungsforschungsprojektes zu erheblichen Auseinandersetzungen an der Hochschule führen mußte. Mittlerweile gibt es nicht nur zwei Anfragen im Hesssichen Landtag, der Konvent der GhK hat sich zweimal ausführlich mit dem Problem der Rüstungsforschung und dem speziellen Fall beschäftigt. Diskutiert wurde u.a. die gesellschaftliche Verantwortung von WissenschaftlerInnen und die Rolle von Öffentlichkeit und Kommunizierbarkeit von Forschung. Die öffentliche Diskussion war erregt und führte u. a. zu den unvermeidlichen Ausfällen in den Leserbriefspalten der örtlichen Presse. Gefordert wurde von der Mehrheit des Konvents die Rückgabe des Forschungsvorhabens an den Drittmittelgeber. Dies wurde aus formalen Gründen vom Präsidenten und aus inhaltlichen von Professor B. abgelehnt.

Innerhalb der Hochschulen allein können die Probleme der gesellschaftlichen Verantwortung von Wissenschaftler/inne/n und der Ambivalenz des Technikeinsatzes nicht gelöst werden. Die Gruppen, die an der GhK Rüstungsforschung ablehnen und verhindern wollen, versuchen z.B. durch sozialwissenschaftliche Anteile in den Technikstudiengängen den Studierenden Lösungsansätze darzustellen. Die Gruppen, zu denen Professor B. hochschulpolitisch gehört und die weiterhin Rüstungsforschung an der GhK betreiben wollen, fordern die Reduzierung des Projektstudiums und die Abschaffung eines von zwei Semestern berufspraktischer Studien. Die Einrichtung eines Interdisziplinären Zentrums „Mensch, Umwelt, Technik“ an der GhK versuchen die gleichen Gruppen nach wie vor zu hintertreiben.

Mancher mag jetzt fragen: Was habt ihr denn in den anderen Fällen von Rüstungsforschung an eurer Hochschule getan? Es gibt Vermutungen, daß es auch an der GhK noch andere Beispiele gibt; überzeugend bekannt geworden ist uns jedoch noch kein weiterer Fall. Doch: Gegebenenfalls werden wir uns wieder entsprechend dem hier Geschilderten verhalten und versuchen, die oben erwähnte Resolution zu erfüllen. Solidarität ist dabei hilfreich!

Dr. Ralf Schaper ist Akademischer Oberrat im Fachbereich Mathematik der Gesamthochschule Kassel.

Pentagon und Datenschutz

Pentagon und Datenschutz

von Helmut Weigel

Informationstechnik spielt im Weltraum, wie auf der Erde, heute eine Schlüsselrolle. Die zunehmende militärische Ausrichtung der Informationstechnikforschung wird hierzulande immer noch viel zu wenig beachtet. Das gilt leider auch für jene, die es eigentlich wissen müßten: Nur vergleichsweise wenige Software-Entwickler und Hardwaredesigner der Datenverarbeitungs- und Kommunikationsindustrie sind sah der massiven rüstungstechnologischen Ausrichtung von Forschungs- und Arbeitsprojekten ihres Fachgebietes bewußt. Groß dagegen ist das Heer von Technikern, die praktisch nie ihre Haltung gegenüber den gesellschaftspolitischen Zielen der Institution, für die sie arbeiten, in Frage stellen. Dabei gibt die jüngere Geschichte der Datenverarbeitung zahlreiche Beispiele für ausschließlich militärisch initiierte Innovationsschübe.1 2

Neben einer Veränderung der Forschungsinhalte gibt es wirksame Instrumente, die wieder verstärkt auf die Wissenschaft und die Handelsgeschäfte einwirken.

Präsidentendirektive NSDD 145

Schon im September 1984 unterzeichnete Präsident Reagan eine Direktive, die National Security Decision Directive 145 (NSDD 145), für eine weitreichende generelle Überwachung amerikanischer Computer- und Telekommunikationssysteme, die bezeichnenderweise erst im vergangenen Sommer in der amerikanischen Öffentlichkeit bekannt wurde. Die Ziele dieser Directive gehen nach dem Willen ihrer Schöpfer (Pentagon und National Security Agency, NSA) weit über das bisher übliche, politisch akzeptierte Maß an Schutz geheimer Regierungsinformationen hinaus. Ausdrücklich vorgesehen ist die Unterstützung in Sicherheitsfragen im privaten Sektor. Hierfür wurde eigens eine neue Informationskategorie geschaffen, und zwar unterhalb der traditionellen Geheimhaltungsstufen, die „sensible, aber nicht geheime Information“, welche die „nationale Sicherheit“ gefährden könne.

Für diesen „neuen Sicherheitsbedarf“ gibt es inzwischen eine von der NSA definierte, abgestufte Einteilung in Sicherheitsklassen, wonach beispielsweise allgemein zugängliche Software-Pakete nach den Kriterien des amerikanischen Verteidungsministeriums (DoD) klassifiziert werden.3 Als „sensible Informationen“ werden offiziell genannt: Wirtschaftsinformationen (z. B. Transaktionen von Banken oder mit den amerikanischen Währungsreserven), Informationen über Flugsicherheit und Berichte zur inneren Sicherheit (u. a. Listen über gefährliche Stoffe, Dateien zur medizinischen Versorgung und zur sozialen Sicherheit). Allein schon diese offiziell erwähnten Datenbestände mit dem Siegel der Verschwiegenheit zu versehen, kann Informationsvorsprünge schaffen gegenüber Dritten.

Zur Begründung der restriktiven Geheimhaltung von Computerinformation wird das düstere Gemälde eines durch Informationsverlust ausblutenden Amerikas gezeichnet.4 Beispielsweise soll die sowjetische Computerserie Ryad eine Kopie von IBM-Rechnern sein. Tatsächlich haben beide Rechnerfamilien eine 370-Architektur mit virtuellem Speicher und SNY-Kommunikation. Das sind aber weltweit verbreitete Konzepte, und sie gehören zum Standard moderner Computertechnologie. Genauso gut könnte man die IBM-Kompatibilität europäischer und japanischer Mitbewerber anklagen. Aber hier soll gezielt russisches Interesse an amerikanischer Hochtechnologie für militärische Zwecke „enthüllt“ werden. Wie will man denn sonst den eigenen finanziellen Aufwand für militärische Spitzentechnologieprogramme und deren absolute Geheimhaltung rechtfertigen?

Gemäß dem schablonenhaften Freund-Feind-Denken der Berichtschreiber zählt der Geheimdienst die Institutionen auf, wo man glaubt, daß die UdSSR Interessantes finden könnte: Das Massachusetts Insitute of Technology in Cambridge und die Carnegie-Mellon-Universität in Pittsburgh z. B. beides wichtige Zentren militärischer Forschung, ebenso die Datenbanken des Wirtschaftsministeriums, weil sie Kurzberichte über staatlich geförderte Forschungsprojekte enthalten, und allgemein wissenschaftliche Konferenzen.

Zur Realisierung der Direktive wurde eine ausgeteilte Organisationsstruktur geschaffen.5 Unter dem Vorsitz des Sicherheitsberaters des Präsidenten definierte eine Planungskommission für Systemsicherheit allgemeine Wunschvorstellungen. Für die Bewertung der Vorschläge und zur Klärung technischer Einzelfragen war ein 22 Mitglieder starkes „National Telecommunication and Information System Security Committee (Ntissc)„ zuständig. 10 der 22 Mitglieder dieses Expertengremiums, das vom stellvertretenden Sekretär des DoD und Direktor von NSA, Donald C. Latham, geleitet wurde, kamen vom Geheimdienst. Latham fiel gleichzeitig die Aufgabe zu, für die Akzeptanz und Einführung der von Ntissc erarbeiteten Rahmenbedingungen zu sorgen. Als oberster Schirmherr wurde Verteidigungsminister Caspar Weinberger ernannt. Mit dieser Kompetenzaufteilung hoffte man, die gesteckten Ziele am öffentlichen Unbehagen gegen die Directive vorbei durchsetzen zu können.

Aber Kongreßmitglieder, Interessenvertretungen und Bürgerinitiativen warnen vor einer offenkundig militärischen Dominanz bei Fragen des Datenschutzes und verurteilen die Mißachtung der Kongreßautorität durch die Reagan-Administration. Sie zeigen sich besorgt über den Widerspruch der Direktive zu bestehenden Gesetzesgrundlagen sowie über weitreichende Eingriffe in den privaten Handel und Wissenschaftstransfer.

Vor allem die Finnen, die nicht unmittelbar am Rüstungsgeschäft verdienen, aber dennoch von den im Juli 1985 verschärften Exportbeschränkungen betroffen sind, kritisieren die Direktive. Mehr als 200 000 sensible Geräte auf über 700 engbedruckten Seiten umfaßt mittlerweile die Commodity Control List, wo vom Pentagon alle Produkte zusammengetragen sind, die den Exportlizenzbestimmungen zu unterliegen haben. Die amerikanische Exportaufsichtsbehörde kann sich beim Exporteur im Zuge interner Kontrollmaßnahmen jederzeit Einsicht in alle Finanzunterlagen verschaffen. Von Importunternehmen erwartet man, daß es sich „freiwillig„ in seine Bücher schauen läßt. Zu Recht fürchten amerikanische Exporteure, daß ihnen dadurch Kunden abspringen.6

Standardisierung

Natürlich ist Datenschutz notwendig. Bei einem zunehmenden Markt für elektronische Fachinformation wachsen auch die Gefahren eines Mißbrauchs. Presseberichte über wirtschaftlich motivierte Computerkriminalität belegen das.

Auch gegen eine Standardisierung des Datenaustausches ist prinzipiell nichts einzuwenden. Das würde vielen Anwendern zweifellos das tägliche Geschäft erleichtern. Bedenklich ist nur, wer die Initiative hierzu ergreift. Das Pentagon drängt derzeit mit einem ganzen Bündel von Maßnahmen, um für sich einen weltweit standardisierten Datenaustausch zu errichten. 7 Standardisieren heißt in erster Linie, über die Datenkanäle nur noch chiffrierte digitale Informationen schicken zu können.

Die Aufträge für ein solches voll digitalisiertes Netzwerk sind bereits vergeben.8 Der Telefonbauer AT&T wird in seinen Bell Laboratories für das amerikanische Verteidigungsministerium ein Defense Commercial Telecommunications Network (DCTN) aufbauen, das Sprache, Daten und Video übertragen und digital verschlüsseln kann. Das gesamte Netzwerk soll aus fünfzehn Knoten bestehen, wobei jeder Knoten im Netzwerk 150 DCTN-Anwender unterstützt und über Satellitenverbindung verfügt. An den Knoten wird die Nachrichtenverteilung durch Software gesteuert. Überwacht werden soll das Ganze gemeinsam mit AT&T von der Defense Communications Agency. Geplant ist, technische Zeichnungen und Dokumente, die bislang auf Papier angefertigt wurden, elektronisch auf Datenbanken des Verteidigungsministeriums zu überspielen. Damit der elektronische Zugriffsschutz bei der Übertragung von Texten und CAD/CAM-Entwürfen der Waffenhersteller funktioniert, müssen sich die Kontraktoren des Pentagons den Netzwerkvorgaben anpassen. Außerdem möchte man den verschiedenen Waffengattungen im Einsatz logistische Unterstützung durch online Reparaturhandbücher geben (Computeraided Logistic Support, CALS). Schließlich sollen zukünftig die weltweit stationierten amerikanischen Armee-Einheiten sämtliche Gefechtsfeldinformationen, also mündliche Mitteilungen, Daten, Bilder, Skizzen und Landkarten untereinander abhörsicher austauschen können. Für diese Art der Kommunikation wird das vom französischen Elektrokonzern Thomson CSF entwickelte System „RITA“ (Reseau Integre de Transmissions Automatique) eingeführt.9

In dem Maße, wie die militärischen Optionen von den weltweit stationierten und vernetzten Kommunikationssystemen abhängen, wird Software zum bestimmenden rüstungstechnologischen Faktor. Für die Langzeitstrategie des DoD war es deshalb wichtig, eine standardisierte Programmiersprache einzuführen. Schon seit längerem ist die Verwendung der Programmiersprache ADA für alle Softwareaufträge des DoD fest vorgeschrieben. Für das im Aufbau befindliche globale Informationsnetz des DoD wurde der Prototyp eines Datenbank Management Systems (DBMS) in ADA geschrieben. Die hierzu notwendigen IBM Rechner werden jetzt installiert.10 Ab 1.1.1986, so der entsprechende Erlaß, wird die NATO ebenfalls alle militärischen Systeme ausschließlich in der Programmiersprache ADA implementieren.11 Mit dem weltweit einheitlichen Gebrauch von ADA zur militärischen Softwareentwicklung erhofft man sich eine Senkung der Kosten und Vorteile bei der Programmanpassung an die verschiedenen Waffensysteme durch hohe Zuverlässigkeit und Modularität.

Abhängigkeit

Welche Auswirkungen der neue amerikanische Kurs auf die bundesdeutschen Kommunikationsnetze haben wird, ist unschwer abzusehen. Die Abhängigkeit des alten Kontinents von amerikanischen Datenbanken ist heute schon enorm. 41 von 50 Datenbanken in der westlichen Welt, die allein Informationen über Patente enthalten, sind amerikanischen Ursprungs. Als Informationsanbieter sind europäische Firmen und Wissenschaftseinrichtungen immer willkommen, nur umgekehrt gelangen noch lange nicht alle Informationen und Ideen über den Atlantik, wie man bei der europäischen Weltraumbehörde ESA mit Sorge feststellte. Manche Länder, wie Griechenland und Österreich, sind von vornherein vom amerikanischen Datensegen ausgeschlossen. Das Pentagon koppelte sich 1983 von der zivilen Rechnerwelt ab und anrichtete ein eigenes Telekommunikationsnetz MILNET. „Externe Forscher„ dürfen ihre Daten über das R&D NET senden und empfangen.

Aller Gefahren einer wachsenden Abhängigkeit zum Trotz begrüßt das Bonner Verteidigungsministerium den NATO-Erlaß für ADA. Man setzt große Erwartungen in die neue Software des Pentagon, zumal „die Haushaltsmittel nicht mit dem ständig steigenden Bedarf an Software Schritt halten können“. Auch auf die „neue Sicherheitslage“ will sich die Bundesregierung offenbar einstellen. Im letzten Haushalt sind Mittel für die „Schulung von Firmenangehörigen in Fragen des Geheimschutzes“ und für die personelle Aufstockung des „Bundesamt für gewerbliche Wirtschaft“, sowie für das Embargo-Gremium COCOM vorgesehen.12

Die Diskussion über Datenschutz muß daher bei uns in zwei Richtungen geführt werden. Es gilt, sich gegen eine Einschränkung des wissenschaftlichen Informationsaustausches wegen militärischer „Sachzwänge“ (Einstieg in die Weltraumrüstung) ebenso einzusetzen, wie für eine Verhinderung der Preisgabe persönlicher Daten.13

Anmerkungen

1 R. Weiss: Von den Füßen bis zum Computer Geschichte der DV. Die Computerzeitung 17.10.83, S. 33-43 Zurück

2 J. Bickenbach et. al.: Militarisierte Informatik. Schriftenreihe „Wissenschaft und Frieden“ Nr. 4 (1985) Zurück

3 Computerworld, Nr.36 (1985); Zurück

4 Computerworld, Nr.39 (1985); S. 4 Zurück

5 Computerworld, Nr.27 (1985); Zurück

6 C. Cordoch: Hände weg von High Tech. OVD/online, Nr.9 (1985), S. 68-69; Zurück

7 Computerworld, Nr.49 (1985), S. 2; Zurück

8 Computerworld, Nr.52/1 (1985/1986), S. 99 Zurück

9 FAZ, 8.11.85, S. 5; Zurück

10 Computerworld, Nr.44 (1985), S. 2; Zurück

11 Computerwoche, Nr.1 (1986), S. 6 Zurück

12 Stellungnahme zum Rüstungshaushalt 1986. Schriftenreihe „Wissenschaft und Frieden“, Nr. 6 (1985). Zurück

13 R. Vollmer: Schmuggel: Keine Daten aus den Staaten. ÖVD/online, Nr.6 (1985), S. 40-43. Zurück

Dr. Helmut Weigel, Diplomchemiker, Hamburg.

Schützt das Grundgesetz die Rüstungsforschung?

Schützt das Grundgesetz die Rüstungsforschung?

von Gernot Böhme

Die Frage, ob Wissenschaft Wissenschaft für die Öffentlichkeit ist, ob sie dem Gemeinwohl dient, spitzt sich zu, wenn man sie für den Bereich Rüstungsforschung stellt. Das Baconsche Programm einer Verbesserung des menschlichen Lebens und der Gemeinschaft durch Wissenschaft und Technik, schloß ursprünglich ausdrücklich die Rüstung mit ein. Aber auch schon damals, d.h. im 17. Jahrhundert war diese Perspektive ein Widerspruch zum Konzept der „öffentlichen“ Wissenschaft. Als öffentliche Wissenschaft im Sinne von veröffentlichter oder zu veröffentlichender Wissenschaft war die neuzeitliche Wissenschaft als internationale bzw. universale entworfen worden. Als Mittel zur Verbesserung der Möglichkeiten der Kriegsführung oder auch der Verteidigung konnte sie nur als partikular verstanden werden: nützlich ist die Verbesserung einer Kriegstechnik nur dann, wenn sie nur die eigene Nation, nicht der Gegner besitzt – d.h. also, daß Kriegsforschung in jedem Fall im Konflikt zum universellen Charakter von Wissenschaft steht: Partikularisierung von Wissen, sprich Geheimhaltung ist unvermeidlich.

Dieser schon seit dem 17. Jahrhundert bestehende Widerspruch zwischen der neuzeitlichen Wissenschaft und ihrer militärischen Orientierung hat sich in unserem Jahrhundert ins Unerträgliche gesteigert. Die Gründe dafür liegen in der Verwissenschaftlichung des Krieges allgemein und der Entwicklung der Kernwaffen im besonderen.1 Bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts war der Krieg ein mit Kraft und Geist geführtes Handwerk. In unserem Jahrhundert hat sich die Verwissenschaftlichung des Krieges vollzogen, was zu einer weitgehenden Entwertung der klassischen Tugenden und Kompetenzen, die zum Kriege nötig waren, geführt hat. Auch heute noch spielt die Kraft, vor allem im Sinne von ökonomischer Leistungsfähigkeit eine große Rolle, aber die Kriegsführung selbst – oder auch die Verteidigung – ist eine Sache, die nicht mehr handwerklich, sondern auf wissenschaftlich-technischem Niveau und mit den Mitteln von Wissenschaft und Technik sich vollzieht. Und der Stand von Wissenschaft und Technik bestimmt die Mittel des Krieges selbst. Deshalb ist die Front, an der militärische Überlegenheit angestrebt wird, und vielleicht – vorübergehend – auch erzielt werden kann, die Front wissenschaftlich-technischer Entwicklung. Vorübergehend – denn auf Dauer wird jede Leistungssteigerung wissenschaftlich-technischer Kriegsführung vom Gegner übernommen oder durch eine entsprechende kompensiert. Die Verwissenschaftlichung des Krieges hat dazu geführt, daß prinzipiell auch die Kriegsmittel mit der Wissenschaft universalisiert wurden. Daraus folgt, daß jeder wissenschaftlich-technische Fortschritt, der militärisch relevant ist, sich über kurz oder lang gegen das eigene Lager richtet.

Zu derselben Konsequenz hat die Entwicklung von Kernwaffen geführt. Diese Waffen, die schon als einzelne in ihrer Wirkung schwer begrenzbar sind, haben zu einer Strategie gezwungen, die die Differenz von „den Freunden nützlich“ und „den Feinden schaden“, obsolet gemacht hat. (Nun gibt es Leute – um das in Klammem zu sagen die dieses Resultat als ein positives Resultat der Wissenschaft für den Krieg ansehen: gerade ihm hätten wir in Europa und die Supermächte in ihrer direkten Beziehung 40 Jahre Frieden zu verdanken!)

In jedem Falle aber folgt, daß eine weitere Entwicklung der wissenschaftlich-technischen Mittel für militärische Zwecke nicht im öffentlichen Interesse liegen kann. Sie würde universal das Vernichtungspotential steigern und das globale Gleichgewicht gefährden. Die Einsicht in diese Situation müßte zu einer Abrüstungspolitik führen die nicht auf technische Entwicklungen sich stützt.

Bevor ich nun von diesen allgemeinen Betrachtungen der Beziehung von öffentlicher Wissenschaft und Krieg zu solchen übergehe, die die Rahmenbedingungen dieser Diskussion in der Bundesrepublik betreffen, möchte ich kurz an einen Vorgang erinnern, der ein Licht auf diese Rahmenbedingungen geworfen hat.2 Der Senat der Fachhochschule Hamburg hatte am 15.12.83 bzw. am 26.01.84 einen Beschluß gefaßt, in dem es hieß: „Die Fachhochschule lehnt die Zusammenarbeit mit Firmen und Institutionen ab, deren militärische Zweckbindung erkennbar ist und führt keine Untersuchung durch und übernimmt keine Aufträge, die offensichtlich militärischen Zwecken dienen. Alle neuen Mitglieder sind auf diesen Beschluß hinzuweisen.“ Die Mitglieder des Senats der FH mögen sich von solchen Überzeugungen haben leiten lassen, wie ich sie soeben vorgetragen habe, nämlich daß jede weitere Steigerung der wissenschaftlich-technischen Fähigkeiten im militärischen Bereich dysfunktional ist. Oder sie mögen erkannt haben daß die Gemeinschaft der Wissenschaftler und Techniker selbst eine der stärksten Triebkräfte des Wettrüstens darstellt, so daß sie zu der Auffassung gekommen sein mögen, daß das weltweit geforderte Abrüsten im wissenschaftlich-technischen Sektor zu beginnen habe. Ihre Motive jedenfalls waren offenbar, die Sache von Frieden und Abrüstung zu fördern. Für unsere Fragestellung entscheidend ist, daß dieser Beschluß vom Hamburger Wissenschaftssenator unter Berufung auf das Grundgesetz aufgehoben wurde. Diese Tatsache wirkte und wirkt auf das unmittelbare Rechtsempfinden schockierend und paradox. Um das Paradox einmal auf eine kurze Formel zu bringen, könnte man vielleicht sagen: "Dienen sonst die Waffen dem Grundgesetz, so scheint hier plötzlich das GG den Waffen zu dienen." Diese erste und sicherlich zu grobe Artikulierung der Verletzung des Rechtsgefühls, die in diesem Vorgang für viele von uns geschehen ist, benennt jedenfalls eine Rangordnung, die man gemeinhin unterstellt: nämlich daß das Grundgesetz dem Militärwesen und allem, was dazugehört, im Rang der Werte vorgeht. Und ferner, daß das Militär ein bloßes Mittel ist, das Grundgesetz aber nicht als bloßes Mittel verstanden werden darf.

Um in die Analyse einzutreten, möchte ich zunächst eine Passage aus der Begründung des Wissenschaftssenators vorlesen: „Der Beschluß des Fachhochschulsenats verstößt gegen Artikel 5 Absatz 3 des Grundgesetz. Denn das Grundgesetz der Freiheit der Forschung und Lehre garantiert den einzelnen forschenden und lehrenden Mitgliedern der Fachhochschule auch die Beteiligung an Projekten und Untersuchungen mit militärischen Zwecken oder Zweckbindungen (…)“

Danach ist unsere Frage „Schützt das Grundgesetz die Rüstungsforschung?“ also eindeutig mit ja zu beantworten. Das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit schützt die Rüstungsforschung, jede Art von Rüstungsforschung. Ja, schützt denn, wird man sogleich fragen, das Grundgesetz jede Art von Forschung? Ja, im Prinzip ja. Den hier auf einen einstürzenden Fragen nach Massenvernichtungsmitteln, chemischen und bakteriologischen Waffen, Experimenten mit gekeimten menschlichen Zellen usw. wird man zunächst nur entgegenhalten können, daß die einzige explizite Einschränkung des Grundgesetzes der Wissenschaftsfreiheit sich auf eine gegen das Grundgesetz selbst gerichtete Lehre bezieht. Weitere inhaltliche Einschränkungen sind offenbar im parlamentarischen Rat nicht diskutiert werden.3 Auch in den Kommentaren tauchen entsprechende Überlegungen in der Regel nicht auf.4

Der Artikel 5 Abs. 3 des GG lautet „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung Dieser Abschnitt ist ein Abschnitt zum Recht der freien Meinungsäußerung. Diese Tatsache ist zunächst einmal ernstzunehmen – auch im Hinblick auf die Frage, ob die Benutzung dieses Artikels, um damit die Selbstbeschränkung einer wissenschaftlichen Institution zu verhindern, nicht seiner Intention völlig quer liegt. Die Wissenschaftsfreiheit gehört also zum Komplex der Redefreiheit. Diese ist ein zentraler bürgerlich-liberaler Wert und sicherlich für eine republikanische oder demokratische Verfassung konstitutiv. Denn die Herstellung von Öffentlichkeit, öffentlicher Meinung, volonte general setzt ja eben voraus, daß jeder Bürger sich frei äußern kann.

Mit der Idee bürgerlicher Öffentlichkeit ist auch noch die Freiheit der Kritik unmittelbar zu verbinden. Denn Kritik, und zwar öffentliche, muß möglich sein, wenn eine demokratische Fortentwicklung der bestehenden Verhältnisse und Gesetze möglich sein soll. Das wäre also die Freiheit der Feder, die Kant bekanntlich in seiner Schrift „Was heißt Aufklärung?“ noch über die allgemeine Redefreiheit stellte. Wissenschaft als Kritik wäre damit der Idee der bürgerlich liberalen Demokratie unmittelbar verbunden. Diese Tatsache sei zunächst einmal festgehalten – bevor ich hinzufüge, daß Wissenschaft nicht nur dies ist.

Wir müssen uns klarmachen, daß sich das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit aus den Ideen der Paulskirche 1849, und weiter zurück aus dem Geist der Aufklärung herleitet. In dieser Periode aber war die soziale Funktion der Wissenschaft vornehmlich ihre Weltbildfunktion, genauer ihre aufklärerische Funktion. In dieser Funktion galt den Vätern der Paulskirche die Wissenschaft als ein höchstes Gut. An Wissenschaft als Produktivkraft haben sie dabei nicht gedacht. Wissenschaft ist nicht nur Kritik, sondern Forschung. Wenn wir bedenken, daß wir es nicht mit Wissenschaft überhaupt zu tun haben, sondern mit dem Typ „neuzeitliche Wissenschaft“, dann müssen wir hinzufügen: Wissenschaft ist die Produktion von Wissen über Gegenstände zum Zwecke der Beherrschung dieser Gegenstände. Es ist sehr fraglich, ob die Abgeordneten der Paulskirche, ob die Verfasser der Reichsverfassung, ob die Mitglieder der Parlamentarischen Versammlung im Sinne hatten, Forschung in diesem Sinne, zu diesem Zweck und über beliebige Gegenstände zu schützen. Faktisch geschieht das aber durch Art. 5 Abs. 3 GG, ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts spricht sogar von der „absoluten Wissenschaftsfreiheit“.5

Ob Wissenschaftsfreiheit absolut sein darf, kann heute angesichts einer Wissenschaft, die Zerstörungswissen produziert und die Möglichkeiten zur Manipulation des Wesens Mensch entwickelt, bezweifelt werden. Als Bestandteil der Forderung nach Meinungs- und Redefreiheit wäre eine solche Freiheit jedenfalls nicht anzusehen, hätte also im Art. 5 des GG nicht ihren Ort. In den Kommentaren wird allerdings auch häufig versucht, in der Wissenschaftsfreiheit einen von der Idee der bürgerlichen Öffentlichkeit unabhängigen Wert zu sehen. Dieser Wert ist die Wahrheit.6 Wissenschaft wird dann verstanden als Wahrheitssuche. Nun ist aber – zu Recht oder zu Unrecht – in der herrschenden Wissenschaftstheorie, nämlich Poppers, von Popper selbst bis zu Laudan 7 die Bedeutung der Wahrheit in der Wissenschaft immer weiter herabgespielt worden. Auch in der Praxis dürfte Wissenschaft heute im allgemeinen nicht als Wahrheitssuche betrieben werden, sondern als Problemlösungsstrategie. Wissenschaft als Strategie zur Lösung von Problemen beliebiger Art – wenn sie das ist, wäre über zulässige und nicht zulässige, über legitime oder nicht legitime Lösungsstrategien zu reden.

Das führt uns zu der Frage, ob denn nicht irgendwelche inhaltlichen Einschränkungen der Wissenschaftsfreiheit denkbar sind. Solche sind – zwar nicht im Zusammenhang mit Kriegsforschung, was uns hier primär interessiert, wohl aber im Zusammenhang mit Humangenetik bzw. Gentechnologie diskutiert worden. Das Ergebnis dieser Diskussionen kann man wohl wie folgt zusammenfassen: Eine Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit durch spezielle Gesetze – also ein irgendwie geartetes „Verbot“ von Genforschung – ist nicht denkbar. Denn es stünde dann ja in Widerspruch zum Grundgesetz. Besondere Gesetze zur Wissenschaftsfreiheit könnten nur Konkretisierungen des Grundgesetzes sein.8

Eine andere Möglichkeit besteht aber, wenn man eine Grundrechtskollision feststellt. In eine solche Grundrechtskollision kann Forschung am Menschen bzw. mit menschlichen Keimen allerdings geraten, nämlich dann, wenn sie Art. 1 des GG oder Art. 2 Abs. 2 verletzt. Die Würde des Menschen und die Unantastbarkeit des Lebens eines Menschen müssen unbedingt respektiert werden. Nun ist allerdings der Begriff der Menschenwürde einer breiten Auslegung fähig und insofern auch möglicherweise der durch dies Grundrecht geschützte Bereich. Aber für unseren Zusammenhang lohnt es sich, auf eine kritische Einschränkung hinzuweisen: unter der Würde des Menschen wird nämlich im GG durchweg die Würde des Einzelmenschen verstanden. Dies kommt in den Diskussionen vor allem dort zum Ausdruck, wo erwogen wird, ob menschliches Keimmaterial erst von einer bestimmten Entwicklungsstufe an den Anspruch auf Menschenwürde erheben kann. Diese Tatsache, daß die Grundrechte, wie die Menschenrechte allgemein, als Rechte des Einzelmenschen gedacht und formuliert wurden, verhindert es faktisch zu behaupten, daß die Entwicklung von Massenvernichtungsmitteln gegen die Menschenwürde verstößt – was aber sicherlich weitgehend so empfunden wird.

Wenn überhaupt über Grundrechtskollisionen, so kann man also nicht von den Grundrechten derer her argumentieren, denen durch Rüstungsforschung und ihre Folgen etwas angetan wird. Es bliebe aber die Möglichkeit, nach der Menschenwürde des Forschers selbst zu fragen. Nun mag es moralisch einleuchten, daß Kriegsforschung u. U. eine Verletzung der Menschenwürde im Forscher selbst darstellt – aber kann man vom Staat erwarten, daß er den Einzelnen gegen die Verletzung der eigenen Würde schützt? So absurd dieser Gedanke erscheint – man muß doch feststellen, daß der Begriff der Menschenwürde durchaus auch nicht bloß als zugeschriebenes Recht, sondern auch als Verpflichtung verstanden wird. So tauchen in der verfassungsrechtlichen Interpretation der Menschenwürde auch Begriffe wie selbstverantwortliches Dasein oder „Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person“ 9 auf. Eine Ächtung von Wissenschaft für den Krieg ist also durchaus denkbar, so wie es ja Ächtung des Krieges im internationalen Recht längst gibt.

Angesichts der Schwierigkeit, das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit einzuschränken, hat man sich im Falle der Humangenetik und der Forschung an menschlichen Keimen auf eine Politik geeinigt, die die Selbstbeschränkung der Wissenschaft favorisiert. Es werden Initiativen und Beschlüsse im Wissenschaftsbereich angeregt und befördert, durch die die Wissenschaftler sich in ihrer Forschung selbst Schranken auferlegen. Dann – so meint man – wird man das schwierige Problem einer Grundrechtseinschränkung vermeiden können. Dieses Vorgehen ist nun für unseren Zusammenhang höchst interessant. Denn faktisch könnte ja ein einzelner Wissenschaftler sich durch die Selbstbeschränkungsbeschlüsse seiner Zunft in seinem Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit beschnitten sehen und sich entweder schlicht nicht daran halten oder sich durch eine Grundrechtsbeschwerde gegen eventuelle Oktrois wehren. Und sagen wir es deutlich: ein Wissenschaftssenator könnte sich gegebenenfalls im Zuge der Rechtsaufsicht genötigt fühlen, einen entsprechenden Beschluß aufzuheben. Damit haben wir offenbar erneut einen Kernpunkt des Problems getroffen. Bevor ich ihn noch näher betrachte, möchte ich folgendes hinzufügen: Daß ein kollektiver Selbstbeschränkungsbeschluß im Bereich der Humangenetik vermutlich nicht aufgehoben wird, wohl aber ein kollektiver Selbstbeschränkungsbeschluß im Bereich der Rüstungsforschung, macht deutlich, daß im ersten Fall offenbar ein gesamtgesellschaftlicher Konsens vorausgesetzt werden kann, im zweiten nicht: Es handelt sich also bei einer Aufhebung eines Selbstbeschränkungsbeschlusses im Bereich der Rüstungsforschung – näher besehen – nicht so sehr um einen verwaltungsrechtlichen, sondern um einen politischen Akt.

Kehren wir zu der jetzt neuerlich aufgetretenen Grundfrage zurück: Macht das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit kollektive Selbstbeschränkungsbeschlüsse in der Wissenschaft unmöglich? Die Antwort muß eindeutig: Ja lauten. Auch diese Antwort gibt man mit dem Gefühl, daß sie eigentlich nicht der Intention des Grundgesetzes entspricht. Woran liegt es, daß das Grundgesetz der Wissenschaftsfreiheit kollektive Selbstbeschränkungsbeschlüsse in der Wissenschaft verbietet? Es liegt daran; daß dieses Grundrecht als ein Grundrecht des einzelnen, des einzelnen Wissenschaftlers gemeint ist und bis heute verstanden wird. Man sollte eigentlich nicht von Wissenschaftsfreiheit oder der Freiheit der Wissenschaft sprechen, sondern von der Freiheit des Wissenschaftlers. Diese irgendwie schockierende Formulierung trifft aber den wahren Sachverhalt. Grundrechte sind Individualrechte, Rechte des einzelnen Menschen. Und zwar sollen sie einerseits den einzelnen gegen mögliche Übergriffe des Staates schützen – das sind die sog. bürgerlichen Grundrechte oder Freiheitsrechte – oder sie sollen dem Staat gewisse Fürsorgeverpflichtungen gegenüber dem einzelnen auferlegen – das sind die sogenannten sozialen Grundrechte. Also: das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit ist ein Freiheitsrecht des einzelnen gegenüber dem Staat. Diese Tatsache könnte Zweifel daran erwecken. ob man sich von staatlicher Seite auf das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit berufen kann, wenn man einen kollektiven Selbstbeschränkungsbeschluß aufhebt. Nun mag man allerdings argumentieren, daß der Staat auch eine Verpflichtung hat, mögliche Einschränkungen der individuellen Wissenschaftsfreiheit von dritter Seite abzuwehren.10 Aber der Fall der Humangenetik macht deutlich, daß das offenbar nicht selbstverständlich ist.

Nun ist aber überhaupt fraglich, ob diese in der Tradition des Grundgesetzes liegende Auffassung von Wissenschaftsfreiheit als Freiheit des einzelnen Forschers zu erforschen, was er will, die sog. „Eigeninitiative“ überhaupt der Sache Wissenschaft angemessen ist. In der Tat bedarf die Wissenschaft einer bestimmten, schützenswürdigen Freiheit, nämlich der Freiheit der Diskussion, der Möglichkeit unbeschränkter Veröffentlichung, der Freiheit von Zensur, der Freiheit gegenüber ideologischen Oktrois. Ohne diese Freiheiten kann sie nicht leben, nicht sein, was sie ist. Die Wissenschaftsfreiheit als Freiheit des Individuums zu formulieren, entspricht wiederum einem Stand der Wissenschaftsentwicklung, wie er bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts charakteristisch war. Wissenschaft als individuelles, noch zum Teil amateurhaftes Wahrheitsstreben, der Privatdozent als Idealfigur – „Einsamkeit und Freiheit“, um Humboldt zu zitieren. In den meisten Wissenschaftsbereichen, und zwar gerade in den hier zur Debatte stehenden, nämlich den Naturwissenschaften und der technologischen Forschung, ist aber Wissenschaft längst als ein kollektives Unternehmen der Wissensproduktion anzusehen. Die „Eigeninitiative“ 11 im strengeren Sinne findet nicht statt, und auch ohne kollektive Beschlüsse muß sich der Einzelforscher dem fügen, was das institutionell organisierte Kollektiv, zu dem er gehört, erforschen will oder soll. Das fängt schon bei Diplomarbeiten an, wenn beispielsweise ein Diplomand an einem flugmechanischen Institut praktisch keine andere Arbeit machen kann, als eine, die irgendwie in den Zusammenhang eines militärischen Projektes gehört. Da also faktisch Wissenschaft in diesen Bereichen kollektiv organisierte Forschung ist, so muß man fragen, ob es dann nicht umgekehrt zur Wissenschaftsfreiheit solcher Kollektive gehören muß, sich auch gegen bestimmte Forschungen zu entscheiden. Dabei müßte dann allerdings in Kauf genommen werden, daß einzelne Mitglieder des betreffenden Kollektivs überstimmt werden könnten – ein in einer Demokratie ja nicht ungewöhnlicher Prozeß.

Fassen wir zusammen: Das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit entstammt der bürgerlich liberalen Tradition und hat seinen Ort im Kontext bürgerlich demokratischer Öffentlichkeit. Es wurde deshalb als individuelles Freiheitsrecht, als Abwehrrecht gegenüber dem Staat formuliert. Eine Unbeschränktheit des Forschungszugriffs auf beliebige Gegenstände und zu beliebigen Zwecken sollte dadurch nicht gewährleistet werden. Angesichts einer Wissenschaft als kollektiver Produktion von Wissen zum Zwecke der Beherrschung von Gegenständen erscheint die Formulierung der Wissenschaftsfreiheit als individueller Freiheit als unangemessen und für demokratische Willensbildung im Wissenschaftssektor sogar dysfunktional.

Wir befinden uns heute in einer Situation, in der ein Konsensus darüber, ob eine Fortsetzung militärischer Forschung in irgendeiner Form dem öffentlichen Interesse entspricht, nicht mehr vorausgesetzt werden kann. In dieser Situation muß es als eine mögliche politische Auffassung respektiert werden, daß der Prozeß der Abrüstung primär im Wissenschafts- und Technikbereich anzufangen hat. Da ohnehin eine Abwehrverpflichtung des Staates gegenüber einer Einschränkung der individuellen Wissenschaftsfreiheit durch dritte nicht selbstverständlich ist, scheint man nicht wohlberaten, wenn man demokratische Prozesse, die auf Abrüstung im Wissenschaftssektor gerichtet sind, verhindert.12

Anmerkungen

Zum Grundrecht der „individuellen Eigeninitiative“ siehe den in Anm. 3 zitierten Kommentar, I, 614.

Gernot Böhme ist Professor der Philosophie an der Technischen Hochschule Darmstadt. Z. Zt. Gastdozent an der Erasmus-Universität Rotterdam

„Eine fadenscheinige Grenze“. Betrifft Eureka die Friedensbewegung?

„Eine fadenscheinige Grenze“. Betrifft Eureka die Friedensbewegung?

von Johannes Becker

„Eine fadenscheinige Grenze (mince frontiere) zwischen ziviler Forschung und militärischer Anwendung (potentialite militaire)“, konstatieren Michel Rudniansci und Christas Passadeos, Wissenschaftler an den Universitäten Reims und Paris, in ihrer Analyse des Eureka- Projekts in „Le Monde Diplomatique“ vom August 1985. Die westeuropäische Antwort auf Reagans vehemente Bündelung von US-amerikanischer Forschungs- und Entwicklungskapazität, die „European Research Coordination Agency“, scheint voranzukommen. Mitte Juli brachte Frankreichs Staatspräsident Mitterrand in Paris nach einem gewaltigen Medienspektakel Außen- und Forschungsminister aus 16 europäischen Staaten zusammen, überdies Vertreter der Brüsseler EG-Kommission. Frankreich sieht sich durch SDI in doppelter Weise herausgefordert: nicht nur Spitzenstellungen in Wissenschaft und Technologie scheinen bedroht, auch die Abschreckungsfunktion der „Force de frappe“, deren Schlagkraft die Regierung in Paris zu verfünffachen (!) begonnen hat, könnte obsolet werden.

In Paris legten die französischen Protagonisten auch erstmals eine Prioritätenliste möglicher – und von ihrer Seite aus verstanden: wünschenswerter – europäischer Gemeinschafts- Forschungsprojekte vor. In fünf Gruppen aufgegliedert fanden sich dort folgende Vorschläge:

  1. „Euromatique“

    • große Vektoren- Rechenanlagen
    • Rahmenarchtitekturen zur Parallelverarbeitung
    • synchrongetaktete Multiprozessoren
    • Massenspeicher
    • Zentren künstlicher Intelligenz
    • dedizierte, spezialisierte Schaltkreise
    • Anwendungsbereiche für Expertensysteme
    • mehrsprachige Informationssysteme
    • Führung, Steuerung großer Industrieprozesse/ -prozessoren
    • Europrozessor
    • 64 Megabit- Speicher („Memoire 64 Megabits“)
    • Europäisches Labor zur Entwicklung von Schaltkreisen (Halbleitern) auf Galliumarsenid (GaAs)-Basis
    • kundenspezifische Schaltkreise
  2. „Eurobot“

    • Roboter (der Dritten Generation) für zivile Sicherheit
    • landwirtschaftliche Roboter
    • automatisierte Anlagen
    • Laser auf CO2- und CO-Basis, Excimer Laser, Freie-Elektronen-Laser
  3. „Eurocom“

    • informatives Forschungsnetz (z. B. Literaturaufbereitung u. -nachweis)
    • europäische Computersprache
    • Breitband- Informatik und -Bürotechnik
    • Breitbandübermittlung
  4. „Eurobio“

    • künstliches Saatgut
    • Kontroll- und Regulationssysteme
  5. „Euromat“

    • Industrieturbine neuester Bauart.1

Was fällt bei den 24 französischen Vorschlägen für die „European Research Coordination Agency“ auf? Neben jedwedem militärischen Vokabular fehlt in der Aufzählung die direkte Erwähnung des Bereiches Raumfahrt. Dies hat vornehmlich zwei Gründe: Zum einen blüht die westeuropäische Zusammenarbeit ohnehin, man kann die euphorischen Lobeshymnen auf die ESA (European Space Agency) und das Ariane-Projekt in jeder Woche der gesamten Presse entnehmen; es mag den französischen Eureka Protagonisten um Staatspräsident Mitterrand, Außenminister Dumas und Forschungsminister Curien also nicht nötig erschienen sein, die Raumfahrt gesondert aufzuführen.

Zum zweiten erweist sich als ein dringendes Anliegen Staatspräsident Mitterands, den zivilen Charakter Eurekas hervorzuheben (seine einzelnen Ressortchefs drücken sich zuweilen mit anderer Tendenz aus) die Betonung der Raumfahrt im Konter Programm zu SDI würde den Kritikern einer Militarisierung der Wissenschaft, und deren gibt es eine wachsende Zahl in Frankreich, den Weg zu den Kritikern Eurekas insgesamt freimachen. Überdies würde ein offen militärischer Charakter Eurekas auch die europäischen Kooperationspartner dem Programm entfremden, die nicht zu den EG-, WEU- bzw. NATO-Partnern Frankreichs gehören, als da wären z. B. Österreich, Schweiz, Finnland und Schweden. Ein solcher Charakter würde schließlich partielle Möglichkeiten der Zusammenarbeit mit Japan ebenso ausschließen wie diesbezügliche Kontaktaufnahmen mit Ländern des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) – der Herold der „Vision Europa“ Mitterrand wäre der letzte, der die Verlautbarungen Erich Honeckers wie auch Michail Gorbatschows nicht einer ernsthaften Überprüfung unterzögen.2

Militärische Optionen

Ungeachtet des Verzichts auf die dezidierte Aufnahme euromilitärischer Aspekte in das Programm ist dennoch für die meisten der aufgeführten Einzelpunkte die Möglichkeit einer militärischen Nutzung der entsprechenden Forschungsergebnisse evident, wird auch von niemandem ernsthaft bestritten. Dies gilt für alle Projektgebiete mit Ausnahme des Bereiches „Eurobio“ (der im übrigen als – schwaches – Attribut Mitterrands an seiner Projektion von Eureka als Mittel der Verbesserung der Lage der Entwicklungsländer anzusehen ist).

Großcomputer, um beim Schlagwort „Euromatique“ zu beginnen, gehören zu jeder Art moderner Luftfahrt, ob zivil oder militärisch. Sie sind für Artillerie- und Raketenwaffen ebenso erforderlich wie zur Abstimmung einer konzertierten Panzeraktion.

Bei „Eurobot“ fallen in erster Linie die Angaben über Laser auf, der in der SDI der USA eine zentrale Rolle bei der Vernichtung von Flugkörpern spielen soll und dessen Erprobung beim „Discovery“-Flug am 21. Juni 1985 bereits begonnen hat.

Laser wäre, das Naheliegendste, für eine europäische Version des „Kriegs der Sterne“ einsetzbar; es bietet darüber hinaus vielfältige andere Verwendungsmöglichkeiten. So will bspw. die Bundeswehr langfristig ihre heutigen hochmodernen Flugabwehrwaffensysteme „Roland“ und „Gepard“ durch Laserwaffen ersetzen (…)

Daß schließlich („Eurocom“), eine Verbesserung des Kommunikationswesens, d.h. seine europäische Vereinheitlichung, von hohem militärischem Nutzen ist, liegt auf der Hand – unterschiedliche Kommunikationsmittel von der menschlichen Sprache bis zur Computersprache bilden eine große Erschwernis effektiver Kriegführung. Hier ist also ebenso wie im Bereich der Ausrüstung und Bewaffnung – bewegen wir uns weiter im Denken der Rüstungsplaner – Standardisierung vonnöten.

Frankreichs Forschungsminister Curien faßte die Überlegungen seiner Regierung im Juni 1985 folgendermaßen zusammen: „Die Regierung wird die Eureka zugedachten Finanzmittel dem Programm auf zwei Wegen zukommen lassen: durch direkte finanzielle Hilfen und durch die Öffnung staatlicher Marktsphären, eventuell militärischer.3

Wie nun ist Eureka nach dem derzeitigen Entwicklungsstand zu beurteilen? Und worin besteht ihre Bedeutung für Wissenschaft und Friedensengagement? Ist Eureka eine – freilich verkappte – französische Variante von Reagans SDI? Ist sie der Versuch der Pariser Regierung, unter Zuhilfenahme bundesdeutscher Kapazitäten wissenschaftlicher und finanzieller Natur, der US-amerikanischen und japanischen Bedrohung auf dem Weltmarkt (nicht nur auf dem Gebiet der neuen Technologien) zu kontern? Ist Eureka in erster Linie ein populärer Hebel Staatspräsident Mitterrands, seine militärpolitischen Westeuropa- Tendenzen auf ein zweites, ein forschungs- und wirtschaftspolitischen Bein zu stellen? Ist Eureka nicht schlicht und einfach ein erster Notwehr- Schritt Frankreichs, der völligen Entwertung seiner atomaren „Force de frappe“ im Falle des Zustandekommens einer weltraumgestützten Abwehr strategischer Raketen gegenzuhalten, in diesem Falle: mit einem technologisch gestärkten Westeuropa schließlich die hochentwickelte zivile Raumfahrt auch mit militärischen Komponenten zu versehen? Oder – zuletzt – handelt es sich im wesentlichen um eine Statistische Stimulationsinitiative zur stärkeren vornehmlich westeuropäischen Kooperation der großen nationalen Kapitale für Bereiche, in denen deren Einzelforschungskapazitäten überfordert scheinen?

Supercomputer und Roboter

Die Wirklichkeit Eurekas, wie sie sich heute, im Herbst 1985, abzeichnet, ist außerordentlich facettenreich. Die großen nationalen Unternehmen (die natürlich bereits heute sämtlich über internationale Verflechtungen verfügen) haben den französischen Vorstoß aufgegriffen und erste Sondierungen unternommen:

– Bereits Mitte Juni wurde auf einem deutsch- französischen Forum von Industrie und Politik in München, 4 an dem auch die Forschungsminister Riesenhuber und Curien teilnahmen, die gemeinsame (also deutsch- französische) Entwicklung eines Supercomputers anvisiert. Dieses Projekt soll anschließen an ein bundesdeutsches Großcomputerprojekt, das unter der koordinierenden Leitung der Gesellschaft für

Mathematik und Datenverarbeitung von den Unternehmen Krupp- Atlas und Stollmann kurz vor seiner Bewilligung durch das Bundesforschungsministerium steht und eine Fördersumme von 80 bis 100 Millionen DM umfaßt. Die Entwicklungskosten des deutsch- französischen Supercomputers, so das „Handelsblatt“, werden auf 500 Millionen bis 1 Milliarde DM geschätzt – ein Projekt, das für den öffentlichen Forschungshaushalt der Bundesrepublik, der 1985 etwa 20 Milliarden DM umfaßt, nur schwer zu bewältigen wäre.

– Weitere Projekte der Münchener Juni- Tagung waren, so ergänzt das deutsche Kapitalorgan, „die Entwicklung moderner elektronischer Elementarbausteine wie ein Chip 1995 oder ein sogenannter Pico-Chip, der die Pico-Sekunde (den billionsten Teil einer Sekunde) zählen kann, ein „Eurobot“, ein lernfähiger Roboter sowie eine „Fabrik 2000“ zur Entwicklung von Bausteinen für vollautomatische Bausteine.“

– Den ersten Eureka-Vertrag indes schlossen Ende Juni in Oslo der norwegische Konzern Norsk-Data und der teilverstaatlichte französische (vornehmlich Rüstungs-) Konzern Matra. Die beiden Unternehmen vereinbarten die Entwicklung eines Supercomputers („ordinateur vectoriel compact“) innerhalb der nächsten drei Jahre.5

Die englische Zeitschrift „Nature“ (Vol. 316 S. 8) machte unlängst eine Rechnung auf über das Projekt Matra/ Norsk Data. Der anvisierte Computer, der „Hunderte von Millionen Operationen in der Sekunde“ vollziehen könne, werde zwischen 400.000 und 4 Millionen DM kosten; ein entfernt vergleichbares Modell koste heute noch zwischen 4 und 40 Millionen DM.

– Die Unternehmen Bull (Frankreich) und Siemens vereinbarten Zusammenarbeit bei Großrechenanlagen, Thomson (Frankreich), Philips (Niederlande), General Electric (Großbritannien) und wiederum Siemens bezüglich Mikroporzessoren, die beiden ebenfalls stark im Rüstungsgeschäft engagierten Aerospatiale (Frankreich) und Messerschmitt- Bölkow- Blohm (MBB) wollen im Bereich neue Materialien zusammenarbeiten.

Eureka – Katalysator europäischer Forschung

Nachdem die Finanzierung von Eureka- Projekten bis dato als offenes Problem angesehen werden mußte, zeichnen sich jetzt doch die Konturen eines staatlich gestützten Forschungs- und Entwicklungsprogramms im europäischen Verbund ab. Staatspräsident Mitterrand hat für die Phase bis Ende 1986 eine Milliarde Francs (etwa 350 Mio. DM) zur Verfügung gestellt. Nach neuesten Meldungen soll sich auch eine Bonner Ministerrunde,- an der die Minister Genscher, Riesenhuber und Stoltenberg teilnahmen, auf erste Finanzierungsschritte geeinigt haben. Für den Etat 1986 sollen dem Forschungsministerium durch Umschichtungen 60 Mio. Mark zur Verfügung stehen. Nach 1986 sind ein bis zwei Milliarden DM im Forschungsetat als Verpflichtungsermächtigung vorgesehen.6

Neben den oben aufgezeigten vielfältigen Perspektiven Eurekas in rüstungstechnologischer Hinsicht – französische Überlegungen betreffend die Abwehr des Wertverlustes seiner „Force de frappe“ sicherlich eingeschlossen – muß das Programm in erster Linie als Katalysator, als Mobilisierungselement hin zu verstärkter europäischer Forschung und Entwicklung betrachtet werden. Die Großunternehmen der Bundesrepublik nehmen die europaorientierte staatliche Relais- Tätigkeit gerne an, freilich ohne auf SDI-Optionen zu verzichten.

Unlängst erklärte der Vorsitzende der Geschäftsführung von MBB, Hanns Amt Vogels, sein Interesse an SDI wie Eureka (FAZ am 26. Juli 1985: „Wasser auf die Mühlen des Hochtechnologiekonzerns MBB“), da sie beide „höchste Ansprüche an unser Entwicklungspotential“ stellen. Der Vorsitzende des Luft- und Raumfahrtkonzerns Dornier, Manfred Fischer, indes sprach sich stärker für das militärisch dominierte SDI aus: Wenn „geschützt“ werden solle, so Fischer, verstehe das jeder, Eureka sei ihm noch zu wenig konkret.7

Das „Handelsblatt“ faßte den Haupteffekt Eurekas bereits zu Beginn der Diskussion treffend zusammen, als es schrieb: „In der Tat hat der (SDI, J. M. B.) Vorstoß der USA, dessen bündnis- und verteidigungspolitischen Konsequenzen die europäischen Unternehmen zunächst wenig interessieren dürfte, die technologische Diskussion in der EG stärker belebt als jahrelange Träumereien der Berufseuropäer.“8

In der Tat: Beim Forschungsetat der Europäischen Gemeinschaft für 1985 konstatiert man ein Budget von lediglich etwa 1 Milliarde Ecu (1 Ecu = etwa 2,25 DM); etwa das zehnfache – so die Schätzung des „Handelsblattes“ – geben die EG-Mitglieder für ihre individuelle Beteiligung an anderen Projekten aus. Und noch einen Vergleich bringt das Blatt zur Demonstration relativer europäischer Schwäche: die gesamten (staatlichen) zivilen Forschungsausgaben betrugen 1984 in den USA 35 Milliarden Ecu, in Europa 27 und in Japan 20 Milliarden Ecu.

Ein großes Problem indes wird sich aus den bereits erwähnten internationalen Verflechtungen des europäischen Großkapitals auch mit US-Konzernen ergeben, nimmt man die Intention Mitterrands ernst, Europa, d. h. die europäische Forschung und Technologie, vor japanischer und US-amerikanischer Penetration zu schützen sowie den strategischen Wert der europäischen Atommächte, d. h. ihrer Bewaffnung, zu erhalten.

Die Verbindungen westdeutschen mit US-amerikanischem Kapital mag der Leser einschlägigen Veröffentlichungen entnehmen. Ich will am Beispiel des Unternehmens Matra im folgenden die Vielfalt der Entwicklungsfähigkeit Eurekas aufzeigen.

Matra gehörte zu den ersten französischen Konzernen, die zur Regierung Reagan und ihren SDI-Planern Kontakt aufnahmen; dies geschah zu einer Zeit, da Mitterrand, Dumas, Curien bereits in die Eureka-Offensive gegangen waren. Ende Juni 1985 allerdings beendete Staatspräsident Mitterrand die Doppelstrategie des verstaatlichten Rüstungs- Flaggschiffes und verfügte den Stopp solcher Vorstöße. „Die Welt“ resümierte (am 2. Juli): „In Paris zeigt sich somit eine veränderte Akzentsetzung.“

Ganz ohne Reibung wird jedoch die Interessenfindung in der Konzernleitung der „Mecanique-Aviation-Tractation“ in Paris, die trotz ihrer Verstaatlichung durch die Regierung Mitterrand 1981 weiterhin streng nach kapitalistischen Maßstäben geführt wird, nicht ablaufen: Der Gigant (über 20.000 Beschäftigte), der über die Hälfte des Gesamtumsatzes (1980; 7,5 Mrd. Francs) mit Rüstungsgütern bestreitet, die wiederum zu über 70 Prozent – vornehmlich in Entwicklungsländer – exportiert werden, steht in enger technologischer Kooperation mit US-Firmen wie Harris Semi-conductors, TRW und Hughes Aircraft, eine technologische Verbindung, die sich oft direkt gegen den (voll-) verstaatlichten Konkurrenten Aerospatiale richtet.

Matra – ein weiterer Beleg für seine Verflechtung – ist sowohl an der europäischen Ariane- Rakete als auch am US-Spacelab beteiligt, sein Generaldirektor J.-L. Legardere war folglich einer der ersten, die von der gegenseitigen „Ergänzungsfähigkeit“ (complementarite) von SDI und Eureka sprachen.

Ob der Versuch Mitterrands, Matra gezielt von SDI fortzuorientieren und in Eureka zu investieren, gelingt, scheint heute nicht entschieden. Der Konzern besitzt seit Ende 1980 die Mehrheit beim Verlagsriesen Hachette, hat Anteile an Zeitungen und dirigiert gleichsam alleine den Rundfunksender „Europe No.1“ und die Fernsehanstalt „Tele-Monte-Carlo“. An Artikulationsmöglichkeiten zugunsten besserer Profitquellen als Eureka mangelt es der Matra- Führung also keinesfalls.

Die Bundesregierung, die sich derzeit großen Pressionen der Reagan-Administration bezüglich der Unterzeichnung eines SDI-Abkommens auf Regierungsebene ausgesetzt sieht, laviert in gewohnter Art und Weise und betont – deckungsgleich mit den US-Protagonisten von SDI – die Vereinbarkeit beider Initiativen, ja – siehe Matra – ihre wechselseitige Ergänzung.9

Die bundesdeutschen Großunternehmen haben bis heute keinen einheitlichen Verhaltenskodex zu erkennen gegeben. Die Einschätzung der „Welt“, daß „deutsche Unternehmer, die an einer SDI-Kooperation interessiert sind, sich zum Teil von psychologischen Barrieren eingeengt sehen“10, ist sicherlich zu oberflächlich angelegt. Jedenfalls erwähnt sie nicht die berechtigte Furcht der BRD- Unternehmen vor den konstatierbaren protektionistischen Verhaltensweisen vor allem des Pentagon, vor den von Monat zu Monat rigider werdenden Geheimhaltungsvorschriften 11 vor allem jedoch die negativen deutschen Erfahrungen in der Raumfahrtkooperation mit den USA. Im übrigen hat sich auch an der häufig beklagten „Einbahnstraße“ im Waffengeschäft zwischen den USA und der BRD bzw. anderen westeuropäischen Ländern seit der „Einladung“ Ronald Reagans zu SDI nichts geändert.

Die Bundesrepublik und ihre Regierung befindet sich – das muß man ihr zugestehen – in einer wenig beneidenswerten Zwischenposition; zwei aktuelle Ereignisse machen dies deutlich: Da lassen die USA die SDI-Delegation ihres treuesten Verbündeten in der ersten September- Hälfte ihr geringes Interesse an wirklicher Forschungs- Beteiligung offen spüren – daß dies mit der Tiedge- Affäre verbrämt wird, ist nicht dazu angetan, solche Wunden rascher verheilen zu lassen. Aber auch vom engsten Eureka-Partner Frankreich verlauten inmitten aufwendiger Konferenzen Dissonanzen, wenngleich – nach außen hin – nur ein benachbartes Feld gemeint ist: nachdem den erfolggewohnten französischen Rüstungsproduzenten klargeworden war, daß sie beim geplanten (gesamt-)europäischen „Jäger 90“ nicht die dominierende Rolle spielen würden, zogen sie sich kurzentschlossen von dem Projekt zurück.

Die reibungsfreie, uneigennützige Kooperation kapitalistischer Staaten fernab der großen Gipfeltreffen wird wohl immer eine Sphinx bleiben.

Anmerkungen

1 Quelle: „Le Monde Diplomatique“, Aout 1985, S. 20 f. Das zugrundeliegende 70 seitige Dokument wurde Anfang Juli vom französischen Centre d'Etudes des Systemes et des Technologies Avancees (CESTA) veröffentlicht, das im Auftrag des Forschungsministeriums gearbeitet hatte. Hier findet sich eine Vielzahl von Details.Zurück

2 „Le Monde“ v. 8. Juni 1985.Zurück

3 „l´Humanite“ v. 25. 7. 1985.Zurück

4 „Handelsblatt“ v. 20. 6. 1985Zurück

5 „Le Monde“ v. 22. u. 27. 6., „l´Humanite“ v. 25. 6. 1985.Zurück

6 „Frankfurter Rundschau“ v. 6. 9. 1985, S. 1.Zurück

7 „FAZ“ v. 25. 6. 1985.Zurück

8 „Handelsblatt“ v. 31. 5. 1985.Zurück

9 Bspw. „FAZ“ v. 19. 6. 1985, „Le Monde v. 26/ 27. 5. 1985 und „l´Humanite“ v. 3. 7. 1985.Zurück

10 „Die Welt“ v. 2. 7. 1985.Zurück

11 Ich verweise auf den diesbezüglichen Beitrags R. Rillings im „Informationsdienst Wissenschaft und Frieden“, Marburg (BdWi),3 u. 4, 1984.Zurück

Johannes M. Becker, Dr. phil., ist Politikwissenschaftler in Marburg und arbeitet derzeit über die Außen- und Militärpolitik der Regierung Mitterrand.

Lawrence Livermore Laboratory. Rüstungsforschung und Politik

Lawrence Livermore Laboratory. Rüstungsforschung und Politik

von Wolfgang Liebert

Das in der Nähe von San Francisco beheimatete Lawrence Livermore National Laboratory (LLNL) ist ein Zentrum der amerikanischen Rüstungsforschung. Etwa 8000 Menschen sind beim LLNL beschäftigt, davon mehr als 1500 Naturwissenschaftler verschiedener Disziplinen. 1985 kann das Management des Laboratoriums fast 850 Millionen US-Dollar verbrauchen, eine riesige Summe, die zum größten Teil aus dem Etat des amerikanischen Energieministeriums und zu einem kleineren Teil vom Verteidigungsministerium und anderen Geldgebern stammt. Nach eigenen Angaben laufen etwa 2/3 der Arbeiten am LLNL im Rahmen von „defense programme“. Damit ist das LLNL das größte Kriegsforschungslaboratorium der Welt. Darüber hinaus ist es, zum Teil ungewollt, ein treibender politischer Faktor in der amerikanischen Sicherheitspolitik und in der Friedensbewegung geworden. Aktuell zeigt sich dies in der gezielten Beeinflussung der öffentlichen Debatte überein vollständiges Atomwaffenteststop- Abkommen und das Reagan-Tellersche Star-wars-Konzept (Strategische Verteidigungsinitiative SDI). Eine ganz andere Richtung verfolgen dagegen die gewaltfreien Aktionen amerikanischer Friedensgruppen vor den Toren das Livermore Laboratoriums.

In der Nachfolge des Manhattan-Project, wo in den Jahren 1942 – 1945 das geheime US-Atombombenprojekt gelang, übernahm die University of California die formelle Leitung des ersten großen amerikanischen Kernwaffenlaboratoriums in Los Alamos 1952 kam auf Drängen des unermüdlichen Edward Teller ein zweites Waffenlaboratorium in Livermore hinzu. Das erste Ergebnis dieser erwünschten „Konkurrenz“ war bald darauf die Entwicklung der Wasserstoffbombe.

Das amerikanische Arsenal an Massenvernichtungswaffen ist nunmehr angefüllt mit Sprengköpfen und Waffensystemen, die in Los Alamos und Livermore entwickelt worden sind. Auf das Konto des LLNL gehen unter anderem: Sprengköpfe für die U-Boot-Raketen Polaris und Poseidon und die Interkontinentalrakete Minuteman I Entwicklung der Mehrfachsprengkopfsysteme MIRV und MARV, Beteiligung an der Entwicklung des Antiraketensystems ABM. in die jüngste Zeit fällt die Entwicklung der Sprengköpfe für die Cruise Missile, für die strategischen Bomber B 52 und B 1 und für das MX-Raketensystem („Peacekeeper“), sowie die Entwicklung atomarer (Neutronenbomben-)Munition (155 mm- Artillerie und Lance- Rakete), die für das europäische Schlachtfeld bestimmt ist.

Hinzu kommen einige Programme, die für die Strategische Verteidigungsinitiative SDI wesentlich sind. Hierzu gehört die Entwicklung einer Teilchenstrahlenwaffe für den Weltraum unter Verwendung des 85 Meter langen 50 MeV-Linearbeschleunigers ATA (Advanced Test Accelerator), die Entwicklung eines sogenannten Freie-Elektronen-Lasers als Teil eines Abwehrsystems und die Entwicklung anderer sehr kurzwelliger Hochenergielaser (Novette, NOVA). Besonderes Aufsehen erregten in letzter Zeit die ersten, anscheinend erfolgreichen Experimente mit einem Röntgenlaser in der Wüste von Nevada. Hierbei handelt es sich um einen bislang unvorstellbar energiereichen Lasertypus, der mit einer Atombombe gezündet werden muß. Dabei wird eine Strahlung erzeugt, deren Wellenlänge bereits wesentlich kürzer ist als sichtbares Licht. Dieser „nuklear gepumpte“ Laser hat viele günstige Eigenschaften – außer der, daß er sich selbst vernichtet -, die für das SDI-Konzept erfolgversprechend erscheinen. Ironischerweise soll das SDI-Konzept allerdings jegliche Atomwaffen überflüssig machen.

Status der Forschung

Die Betriebskosten des LLNL belaufen sich für 1985 auf etwa 710 Millionen US-Dollar. (1979 waren es „erst“ 320 Millionen Dollar.) Davon entfallen auf Waffenforschung, -entwicklung und -test allein 344 Millionen Dollar. Zählt man die Mittel für weitere Verteidigungsprogramme und die Auftragsarbeiten für das Verteidigungsministerium hinzu und bewertet man mindestens die Hälfte der Ausgaben für das Laser-Isotopentrennungs-Programm als rüstungsbezogen, so werden etwa 70 % der Gesamtausgaben eindeutig für Waffenprogramme verwendet. Die direkten Waffenprogramme umfassen beispielsweise die unterirdischen Atomwaffentestprogramme in der Wüste von Nevada mitsamt der Entwicklung hochtechnologischer Auswertungsapparaturen (Gammastrahlen- und Neutronendetektoren), die Entwicklung neuartiger „maßgeschneiderter“ Atomsprengköpfe der dritten Generation mit veränderter Strahlenwirkung (Beispiel: Neutronenbombe), eine Reihe theoretischer Programme zur weiteren Klärung der thermonuklearen Prozesse, Erforschung des Elektromagnetischen Pulses (EMP), Modellsimulation von Atomkriegsfolgen, Entwicklung konventioneller panzerbrechender Waffen und vieles andere mehr.

Die Laserfusion, genauer Trägheitseinschlußfusion, wird im Haushaltsplan 1985 ebenfalls unter Waffenprogrammen geführt. Der Neodym-Glas-Laser NOVA soll in Kürze mit einer Leistungsdichte von mehr als 100 Terawatt pro Quadratzentimeter (104 W/cm2) eine mit schwerem Wasserstoff gefüllte Glasmikrokugel (Durchmesser etwa 1 mm) in konzentrischem Beschuß in Sekundenbruchteilen so sehr aufheizen können (einige Zehnmillionen Grad), daß der Wasserstoff unter Freigabe von Neutronen, Gammastrahlung und Energie zu Helium verschmilzt. Eine Wasserstoffbombe im Labormaßstab. Als ein Fernziel wird ein stromproduzierendes Fusionskraftwerk in Aussicht gestellt. Das erklärte Nahziel ist die Verwendung in der Nuklearwaffenforschung. Es wird dabei an Kernwaffeneffektsimulation (insbesondere Strahlenwirkung), Aufklärung der thermonuklearen Waffenphysik, Materialtests „unter extremen Bedingungen“ und die Entwicklung neuer, in ihrer Wirkung genauer kalkulierbarer Sprengköpfe gedacht.

Die Entwicklung eines neuartigen Isotopentrennverfahrens mit Hilfe von Lasertechnologie kann ebenfalls als weitgehend rüstungsrelevant angesehen werden. Der sogenannte AVLIS-Prozeß (Atomic Vapour Laser Isotop Separation) soll zur Urananreicherung dienen, d. h. durch die Trennung der Isotope U 235 und U 238 kann der im natürlichen Uranerz zu geringe U 235 Anteil so erhöht werden, daß es brennstofftauglich für Kraftwerke wird. Dies geschieht mit ungewöhnlich hoher Effizienz im Vergleich zu den bisher üblichen Trenn- und Anreicherungsverfahren. Nach dem Test einer Pilotanlage des LLNL, die nicht im Verbund mit einer Privatfirma (wie vor einigen Jahren vorgeschlagen) geplant wird, soll das Verfahren irgendwann in den 90er Jahren kommerziell nutzbar gemacht werden. Daneben gab es viel Geheimnistuerei um ein „spezielles“ Programm für Laserisotopentrennung. Inzwischen ist es offensichtlich, daß hier auf die baldige Anwendung des AVLIS-Verfahrens auf die Trennung der Isotope des Elements Plutonium hingearbeitet wird. Noch für dieses Jahrzehnt wird die Herstellung von besonders waffentauglichem Plutonium – vielleicht auch gewonnen aus abgebrannten Brennelementen von Kernkraftwerken – angestrebt.

Neben den „Waffenprogrammen“ gibt es auch einige andere wesentliche Forschungsprojekte am LLNL. An erster Stelle ist ein vielfältiges Fusionsforschungsprogramm zu nennen, das magnetische Plasmaeinschlußkonzepte für Reaktorentwicklungen verfolgt. Weiterhin gibt es Projekte im Rahmen der Atomtechnologie, der Umweltforschung, einige biomedizinische Programme und einige kleinere Projekte, die alternative Energiequellen erforschen sollen. Beispielsweise wird im Rahmen eines Umweltprogrammes die Wirkung einer Verdoppelung oder Verdreifachung des CO2 Gehaltes der Atmosphäre auf den Ertrag der Sojabohnen- und Maisernte untersucht. Der weltweit befürchtete „Treibhauseffekt“ scheint offenbar nicht der Erforschung wert zu sein.

Mächtige politische Wirkungen

Unbestreitbar treiben die meisten Entwicklungen des LLNL den gefährlichen Rüstungswettlauf an. Die Rüstungsspirale schraubt sich von Waffengeneration zu Waffengeneration immer höher, gleichzeitig glauben viele Wissenschaftler des LLNL, für die „Heiligsten Interessen der Nation“ zu arbeiten, indem sie für ein angeblich technisches Problem (Gleichgewicht des Schreckens als Sicherheitsgarant) eine technologische Lösung suchen. Die Wirkung des LLNL greift weiter. Auffällig ist die personelle Verflechtung mit dem militärischen Establishment. Ehemalige Direktoren des LLNL, wie Michael May, Herbert F. York, John St. Foster oder Harold Brown, waren Mitunterhändler bei Abrüstungsverhandlungen, wechselten auf hohe und höchste Posten im Verteidigungsministerium oder wurden zwischenzeitlich Direktoren in der Rüstungsindustrie. Im Rückblick erklären einige von ihnen, daß sie ausgehandelte Verträge durch ständige technologische Neuentwicklungen unterlaufen konnten.

Auch die direkte Beeinflussung des US-Präsidenten gehört zu den genutzten Möglichkeiten. So konnten 1957 Edward Teller, E. O. Lawrence und andere den damaligen Präsidenten Eisenhower von der Aushandlung eines begrenzten Atomwaffen- Teststop- Abkommens mit den anderen Kernwaffenstaaten abhalten. Sie wiesen damals darauf hin, daß ansonsten die Entwicklung von „sauberen“ Kernwaffen unmöglich gemacht würde. Heute wissen wir, daß bereits die Neutronenbombe gemeint war. 1978 überzeugten die Direktoren von Los Alamos und Livermore, Harold Agnew und Roger Batzel, den eigentlich schon entschlossenen Präsidenten Carter, daß der angestrebte totale Teststop gegen die Sicherheitsinteressen der USA gerichtet sei. Heute ist in Amerika die Debatte um einen möglichen vollständigen Teststop (Comprehensive Test Ban Treaty, CTBT) wieder in vollem Gange. Im Repräsentantenhaus ist eine Resolution eingebracht worden, die Präsident Reagan zu entsprechenden Verhandlungen mit der UdSSR bewegen soll. In einem teils öffentlichen, teil geheimen Schreiben vom Juli dieses Jahres versuchen wiederum die Direktoren der Waffenlaboratorien, Roger Batzel und Donald Kerr, den für die Beratungen zuständigen Kongreßausschuß zurückzuhalten. Es wird behauptet, ein solcher Teststop sei überhaupt nicht überprüfbar und die amerikanischen Waffenarsenale könnten nur unter Nutzung der erlaubten unterirdischen Tests betriebsbereit gehalten werden, denn im Gegensatz zu den robusten sowjetischen Systemen seien die amerikanischen recht komplex.

G. H. Miller, ein Direktor am LLNL, ließ in einem Tagungsvortrag durchscheinen, daß die Sorge bestehe, die Atomsprengköpfe der dritten Generation könnten nicht mehr ausreichend getestet und insbesondere der atombombengepumpte Röntgenlaser ohne die Erlaubnis unterirdischer Bombenexplosionen nicht mehr entwickelt werden. Viel steht auf dem Spiel: vordergründig die Sicherheit der „freien Welt“, aber dahinter die Bemühung um eine weitere „Vollbeschäftigung“ der Waffenlaboratorien und die wahnwitzige Idee der Strategischen Verteidigungsinitiative des Präsidenten.

Um so mehr Gründe für einen CTBT, wie es von Prominenten wie Hans Bethe, Paul Warnke, Jimmy Carter, Wolfgang Panowski und vielen anderen, z.T. ehemaligen Verantwortlichen für Atomwaffenprogramme gefordert wird. Alle Argumente der Waffenlobby gegen einen Teststop erscheinen aus ihrer Sicht völlig unhaltbar. Auch im Spitzenmanagement des LLNL gibt es nicht nur Befürworter der Strategischen Verteidigungsinitiative.

Eine weitere Wirkung des LLNL läßt sich beschreiben als die Verdunkelung der humanen Ansprüche von Wissenschaft. Im „Institutional Plan“ des LLNL aus dem Jahre 1978 steht der Satz: „Der tiefgreifende Zusammenhang zwischen Waffen-, Energie- und Umweltprogrammen ist ein Vorteil für jedes von ihnen.“ Damit wird die immer dringlicher werdende Forderung nach Unterscheidbarkeit von Forschungs- und Entwicklungsprogrammen nach ihren Grundlagen, Zielen, Absichten und Anwendungsmöglichkeiten abgewiesen und im Gegenteil die Verquickung und Grenzverwischung zwischen destruktiven und möglicherweise lebenszentrierteren Forschungsprogrammen geradezu als ein Vorteil herausgestellt. Hier wird verunklart, was geklärt werden müßte. Nicht zu unterschätzen ist die einschläfernde Wirkung auf die wachsenden Zweifel: im Bewußtsein vieler Wissenschaftler, die ihre Arbeit kritisch zu reflektieren lernen, durch diese Überstrapazierung der unglückseligen und oberflächlichen Ambivalenzthese, nach der nun einmal jegliche Wissenschaft so oder so, zum Guten oder zum Schlechten, verwendet werden könne.

Gegenströmungen

Im Gefolge der Studentenbewegung der 60er Jahre wurden die engen Bindungen der beide Waffenlaboratorien in Los Alamos und Livermore an der University of California erstmals in Frage gestellt. Der alle 5 Jahre zu verlängernde Vertrag, der die offizielle, lediglich formelle Leitung der Laboratorien durch die Universitätsoberen beinhaltet, sichert den Waffelaboratorien ein gutes Ansehen innerhalb der „scientific community“ und führt ihnen problemloser den notwendig gebrauchten wissenschaftlichen Nachwuchs zu. Aufgrund des starken Druckes der inner- und außeruniversitären Öffentlichkeit war 1981 erstmals eine Abstimmung im Leitungsgremium der Universität über diese Bindungen, von denen einige der an der Abstimmung Beteiligten indirekt profitierten, fällig. Sie ging deutlich zugunsten der Kriegsforschung aus. Im Oktober dieses Jahres muß wieder über die Vertragsverlängerung befunden werden. Ein denkbares Ende dieser Allianz zwischen Universität und Waffenlaboratorien könnte trotz geringer praktischer Konsequenzen wenigstens ein von vielen erhofftes Zeichen setzen.

Ein wesentlicher Schritt in der Bewegung gegen das Waffenlaboratorium in Livermore war die Einsetzung des University of California Nuclear Weapons Labs Conversion Project durch einige ortsansässige Friedensorganisationen und Angehörige der Universität im Jahre 1976. Drei Jahre später (1979) konnte eine Konversionstudie für das LLNL vorgelegt werden, in der die Randbedingungen für eine Umwandlung (Konversion) des Waffenlaboratoriums in ein Energieforschungslaboratorium, das insbesondere alternative Energiequellen erforschen sollte, angegeben wurden. Das Ziel war es, den Rüstungswettlauf an einer seiner wesentlichsten Quellen, der Atomwaffenforschung, aufzuhalten und den Wissenschaftlern, Technikern, Managern und Politikern einen anderen, gefahrloseren und lebenswichtigen Weg zu zeigen, der in einer gemeinsamen Anstrengung aller Beteiligten – also nicht nur der Politiker und Direktoren, sondern auch aller Beschäftigten und der Anwohner – gelingen könnte.

Die Ideen der Konversionsstudie, als konstruktive Alternative, sind bislang nicht zum Zuge gekommen. Als im Jahre 1981 klar wurde, daß auch die Bindungen der Universität an die Waffenlaboratorien nicht ernsthaft überprüft wurden, bildete sich konsequenterweise die Livermore Action Group, die mit gewaltfreien Aktionen ihren Auffassungen, die sich aus dem Konversionsprojekt ableiteten, Nachdruck verleihen wollte.

Nach vielen Aufklärungsaktionen und Gesprächen mit Angehörigen des LLNL wurde im Juni 1983 eine sehr aufsehenerregende gewaltfreie Blockade des Laboratoriums durchgeführt. Über tausend Menschen wurden dabei verhaftet. Weitere große und kleine Aktionen folgten. Ein wesentlicher Aspekt bei den Aktivitäten der Livermore Action Group war immer der Versuch, die Gegner nicht nur in ihrer Funktion als Kriegsforscher, Manager, Politiker oder Polizist zu sehen, sondern sie als Menschen anzusprechen, die ebenfalls ein vitales Interesse an der Überwindung der als gefährlich und bedrohlich gesehenen Situation haben (müßten). Angebote zu einer gemeinsamen, konsensfähigen Arbeit an der Lösung der Probleme ist ein konstitutiver Aspekt dieser aktiven, gewaltfreien Vorgehensweise. Ein denkbar großer Gegensatz zur Arbeits- und Vorstellungswelt innerhalb des LLNL.

Das Lawrence Livermore Laboratory konnte in demselben Zeitraum, dank der Politik der Reagan- Administration, erheblich expandieren und hat, wie wir gesehen haben, seine Forschungsprogramme ebenfalls weiter vorangetrieben. Langfristig wird aber die Haltung der Aktivisten der Livermore Action Group doch wesentlich werden können. Man übertrage sie nur einmal versuchsweise auf internationale Konflikte. Daß die Situation am LLNL nicht völlig hoffnungslos ist, zeigt auch die Existenz von „Abtrünnigen“ innerhalb des Laboratoriums, von denen Hugh DeWitt nicht der einzige ist.

(Jürgen Altmann danke ich für die Zurverfügungstellung vieler Materialien aus neuerer Zeit.)

Einige Quellen:

US Nuclear Weapons Labs Conversation Project, Shaping Alternative – Conversion Study, 1979 (c/o Livermore Action Group, 3126 Shattuck Avenue, Berkeley, CA 94705)
Lawrence Livermore National Laboratory, Energy and Technology Review – State of the Laboratory, July 1984
Hugh DeWitt, Debate on a comprehensive nuclear weapons fest ban – pro, Physics Today, Aug. 1983, S. 24
W. Liebert, Rüstungsforschung und Rüstungskonversion am Beispiel des LLNL, in: Naturwissenschaft und Rüstung, 1984 (Hrsg.: ifif e.V., Postfach 4532, 4000 Düsseldorf 1)

Wolfgang Liebert ist Diplomphysiker und arbeitet am Institut für interdisziplinäre Forschung und Ökologie e. V. Düsseldorf.

Looking inside

Looking inside

von Hugh De Witt

Während ihres mehrwöchigen USA-Aufenthaltes hatten Jürgen Altmann und Jürgen Scheffran die Gelegenheit eines Gesprächs mit Hugh DeWitt, einem langjährigen Mitarbeiter am Lawrence Livermore Laboratory. DeWitt hat sich auch in zahlreichen Veröffentlichungen als Rüstungskritiker profiliert.

Was tun Sie im Livermore Laboratory?

Meine Arbeit, die, für die ich bezahlt werde, ist Theoretische Physik, und man könnte mich als Experten in der statistischen Mechanik stark gekoppelter Plasmen bezeichnen, d. h. Plasmen im Innern von Sternen usw. Der größte Teil meiner wissenschaftlichen Arbeit behandelte flüssige Metalle, dreidimensionale Plasmen, auch ein wenig zweidimensionale Plasmen. Ich mache numerische Simulationen auf Großcomputern; ich habe zu tun mit der Mathematik der Lösung nichtlinearer Integralgleichungen. Anwenden kann man das auf die Zustandsgleichungen gewöhnlicher Sterne, Roter Riesen, von Sternen, die auf dem Weg zum Weißen Zwerg sind und sogar für die Krusten von Neutronensternen. Es zeigt sich, daß stark gekoppelte Plasmen, also Materie unter sehr hohem Druck, vom flüssigen in einen kristallinen Zustand übergehen können. Es gibt Hinweise, daß das Innere Weißer Zwerge und von Neutronensternen kristallisiert sind. Ich habe auch Reaktionsraten von Kernreaktionen studiert, wie sie im Sterninnern vorkommen.

Hat das etwas mit Waffenforschung zu tun?

Nein, nicht direkt. Aber natürlich, weil es Zustandsgleichungen bei sehr hohen Temperaturen wie ein Kiloelektronenvolt (Anm.: mittlere Energie pro Teilchen, d.h. Temperatur etwa 3 Millionen Grad) geht, schließt viel meiner Arbeit Zustandsgleichungen ein, die man für die Auslegung von Waffen braucht, vor allem für Fragen des Ionisationsgleichgewichts. Ich bin daher in der Abteilung Zustandsgleichungen. Die Grundlagenforschung, die Ergebnisse, die ich und andere veröffentlichen, bringen am Ende Nutzen für die Anlegung von Waffen.

Welche politische Arbeit machen Sie im Livermore Lab?

Meine politische Arbeit, die selbstverständlich nicht bezahlt wird und die ich in der Freizeit mache, ist vor allem, die amerikanische wissenschaftliche Community, die amerikanische Öffentlichkeit und den US-Kongreß zu informieren, was im Innern des Waffen- Establishments vor sich geht, vor allem, wie dort über Rüstungskontroll- und Teststop- Vertäge gedacht wird. Als ein Sprecher von innerhalb der Labors trete ich häufig mit Reden und Artikeln an die Öffentlichkeit, in denen ich mich für Teststop- Verträge und für ein Ende des nuklearen Wettrüstens ausspreche. Ich rede häufig mit Reportern der „New York Times“, der „Washington Post“, der „Los Angeles Times“ und anderer großer Zeitungen, auch mit dem Wissenschaftsmagazin „Science“. Ich war im Vorstand der „Federation of American Scientists“, habe Kontakte zur „Union of Concerned Scientists“, zum „Center für Defense Information“ und zu Gruppen wie der von Sidney Drell in Stanford (Anm.: Prof. Drell, Physiker, leitet das „Center für International Security and Arms Control“ an der Stanford University bei San Francisco). Ich habe eine ganze Menge öffentlicher Auftritte gehabt bei Gruppen wie „Ärzte für soziale Verantwortung“, „Vereinigung der Rechtsanwälte gegen Kernwaffen“, „Vereinigung der Rechtsanwälte für Rüstungskontrolle“, und ich habe einiges geschrieben, Artikel im „Bulletin of the Atomic Scientists“, gelegentlich für Zeitungen.

Was, denken Sie, ist die Rolle der Waffenlabors im Rüstungswettlauf?

In einem allgemeinen Sinn denke ich, daß die Waffenlabors, Livermore und Los Alamos, besonders Livermore, im Vorantreiben das Rüstungswettlaufs eine große Rolle spielen. Sie entwickeln immer neue Ideen für neue Waffensysteme, für die sie oft beim Pentagon werben, und dann gibt es eine ganz neue Runde der Waffenentwicklung. So ist es seit 35 Jahren gelaufen, und es ist ein natürlicher Prozeß. Manchmal wird es ziemlich extrem; was gerade jetzt passiert, ist wirklich extrem. Ich sage das, weil in meiner Sicht das SDI- über „Star-Wars“ -Programm durch Bemühungen von Lawrence Livermore Leuten zustande kam, besonders durch Edward Teller. Der hat es nämlich geschafft, weil er berühmt ist, die Aufmerksamkeit von Präsident Reagan zu erregen. Er warb dann bei Präsident Reagan für das Konzept von Defensivwaffen, unter Einschluß von Nuklearwaffen, der sogenannten Kernwaffen der dritten Generation, für die Raketenabwehr verwendet werden könnten. Sie nennen das den Röntgenlaser- Prozeß, der in Livermore und nirgendwo sonst entwickelt wird.

Denken Sie, daß die Wissenschaftler und das Waffenmanagement nicht nur Technik zur Verfügung stellen, sondern selbst politischen Einfluß ausüben?

Genau so ist es. Sie machen Politik. Sie werben für die neuen Waffenideen.

Woran liegt das?

Mehrere Gründe: Leute wie Edward Teller glauben sehr stark an eine technologische Lösung für Amerikas Sicherheitsproblem. Teller ist wirklich sehr, sehr extrem. Keiner ist so extrem und leidenschaftlich wie er. Aber andere Leute in Livermore fühlen ähnlich, und im allgemeinen ist das Livermore Labor ein Zentrum des Mißtrauens gegenüber den Russen, des Mißtrauens gegenüber Rüstungskontrollverträgen und des Glaubens, daß, wenn wir nur unsere Waffenestablishments stark halten, wir diese Waffen nie benutzen müssen – obwohl wir dabei mehr und mehr davon entwickeln – und daß es dafür nie ein Ende geben kann. In ihrer Sicht muß das Wettrüsten ewig weitergehen.

Können Sie etwas zur Rolle der Wissenschaftler in der SDI-Debatte sagen?

Mein Eindruck, meine Erfahrung ist, daß die Mehrheit der amerikanischen Wissenschaftler außerhalb des Rüstungsbetriebs, das heißt, die Wissenschaftler an den Universitäten, glauben, daß das ganze SDI-Programm Unsinn ist Diejenigen, die einigermaßen gut informiert sind, halten es für verrückt, absurd. Es gibt viele Wissenschaftler, die sich öffentlich dagegen wenden, führende Gruppen wie die „Union of Concerned Scientists“, Hans Bethe, Richard Garwin, Henry Kendall und noch viele andere. Die Anzahl der Wissenschaftler, die für SDI auftreten, ist sehr klein, und diese sind eher am Rand des Wissenschaftsbetriebs zu finden. Und, vielleicht mit der Ausnahme von Edward Teller, gibt es wirklich niemanden mit Ansehen, der für Star Wars eintritt.

Gibt es viele Wissenschaftler in den Labors, die kritisch über Star Wars denken?

Ja. Wenn Sie es schaffen mit Labor- Beschäftigten privat zu sprechen, dann äußern sie in der Regel große Skepsis darüber, ob das Programm jemals irgendeine realistische Raketenabwehr ergeben könnte.

Haben Sie im Labor Probleme wegen ihrer Meinung, z.B. mit dem Management?

Nun, in den letzten viereinhalb Jahren hatte ich keine Probleme. Ich habe wirklich Redefreiheit so vollständig, wie ich es will, so lange ich keine geheimen Informationen enthülle. Sollte ich irgendwann eine Zeile schreiben oder etwas sagen, das geheim ist, werden sie allerdings sofort zu mir kommen und mich ins Gefängnis stecken. Das ist mir vor fünf Jahren beinahe passiert, in dem „Progressive“-Prozeß (Anm.: diese Zeitschrift hatte Details der Wasserstoffbomben- Konstruktion veröffentlicht), als gegen mich ermittelt wurde. Ich erlebte eine extrem belastende Zeit, etwa ein Jahr lang, wegen meiner Aussage vor dem Bundesgericht. Man warf mir vor, daß sie geheime Informationen enthalten hätte.

Wird Ihre Arbeit durch die Geheimhaltung behindert?

Ja, sicher. Es ist durch die Geheimhaltung sehr schwierig, eine umfassende öffentliche Debatte über diese neuen Waffenideen zu bekommen. Die ganze Diskussion über den Röntgenlaser wird dadurch stark behindert, daß das so geheim ist Das Labor möchte es gerne „top secret“ haben; wenn es nach ihnen ginge, dürfte niemand im Labor etwas über den Röntgenlaser sagen.

Die Waffen- Wissenschaftler haben den großen Vorteil, daß sie wissen, wie die Waffen funktionieren; sie können zu jedem sagen: „Sie wissen da nicht Bescheid, Sie können das nicht beurteilen, weil das geheim ist.“

Ja, das ist richtig. Und das ist eine sehr große Gefahr. Leute wie Teller sagen: „Wenn Sie wüßten, was ich weiß, würden Sie nicht diese absurden Meinungen vertreten.“

Aber das verhindert Demokratie …

Genau. Und es ist sehr, sehr gefährlich. Daher bin ich ein Gegner der Geheimhaltung und tue, was ich kann, um dagegen zu kämpfen.

„Eureka“. Ein Zauberwort?

„Eureka“. Ein Zauberwort?

von Johannes Becker

Der französische Staatspräsident Mitterrand hat der offensiven US-amerikanischen Propagierung einer Militarisierung des Weltraums 1 und dem Angebot einer Beteiligung an ihrer Vorbereitung an die Adresse der Staaten Westeuropas einen forschungs- und militärpolitischen Akzent seiner „Vision Europas“ entgegengestellt. Die westeuropäischen Länder müßten sich zu einer „European Research Coordination Agency“, kurz Eureka genannt, zusammenschließen. Was will Eureka, und warum schlägt gerade Frankreich vor, der Regierung Reagan bei ihrer Suche nach Forschungs- und Entwicklungskapazitäten westeuropäischer Provenienz aus dem Ruder zu laufen?

Bei der Eureka- Initiative vom April 1985 handelt es sich keineswegs um einen neuartigen Vorstoß von Pariser Seite; die Regierung Mitterrand ist bereits des öfteren mit Offerten zu stärkerer Zusammenarbeit vornehmlich an ihren westdeutschen Nachbarn herangetreten: Erst am 5. Februar 1985 war Premierminister Fabius (der ab 1981 für das Finanzministerium, vor dem Juli 1984 für die Forschungs- und Technologiepolitik Frankreichs verantwortlich gewesen war) vor dem Deutschen Industrie- und Handelstag 2 mit einem flammenden Appell zur Stärkung der Achse Bonn- Paris aufgetreten; Außenminister Dumas war im September 1984 vielbeachteter Gast der Kruppschen Villa Hügel 3 gewesen.

Paris: Ein „technologisches Jalta“ verhindern

„Warum Eureka? Von der Notwendigkeit einer europäischen Technologie- und Forschungsgemeinschaft“ überschreibt die französische Regierung eine jüngst erschienene Presseerklärung 4. Darin heißt es: „Angesichts der dritten industriellen Revolution, die im wesentlichen von der Anfang der 70er Jahre eingeleiteten Entwicklung der neuen Informatik- Weltraum- und Telekommunikationstechnologien getragen wird, scheint die Zukunft Europas noch zwischen zwei gegensätzlichen Schicksalen zu schwanken: Wird es ein Markt werden, den sich die beiden dynamischsten Industriemächte der Welt, die USA und Japan, aufteilen, oder wird es, wie bei den beiden vorherigen industriellen Revolutionen, ein eigenständiger Akteur des sich ankündigenden wirtschaftlichen und sozialen Wandels werden? Natürlich geht es dabei auch um die politische Unabhängigkeit Europas.“

Die Regierung in Paris analysiert im folgenden Stärken und Schwächen der derzeit betriebenen europäischen Forschung. Zu den Schwächen zählt sie die Mikroelektronik („Europa praktisch ein Nichts“), die Informatik, die Unterhaltungselektronik, den Werkzeugmaschinenbau und die Biotechnologie („tritt Europa ebenfalls auf der Stelle, auch wenn sein Rückstand noch nicht als unaufholbar betrachtet werden kann.“).

Die Stärken bisheriger Koordination werden im Europäischen Weltraumprogramm der ESA und im Verkehrssektor (Airbus) gesehen. Der Bereich der Kernenergie wird mit dem Europäischen Kernforschungszentrum CERN in Genf wie auch mit national weit fortgeschrittenen Entwicklungsstadien in Frankreich und der Bundesrepublik angeführt; dies gelte auch für die Telekommunikation mit dem „Esprit“-Programm sowie „EG-Trumpfen“ in wiederum Frankreich, der BRD und Großbritannien. „Dennoch besteht kein Gleichgewicht zwischen Schwächen und Stärken“, heißt es weiter in der Studie. Insgesamt gesehen vergrößere sich dies wird auch an Hand der Anwendungen gezeigt – der technologische Abstand zwischen Europa und seinen Konkurrenten USA und Japan seit etwa 1970 wieder, „und das in einer Zeit, da die strategischen Markierungspunkte für die industrielle Macht im nächsten Jahrhundert gesetzt werden.“

Militärische Bezüge

Erstmals werden in „Warum Eureka?“ von der Pariser Regierung auch direkte Bezüge zu SDI hergestellt, dessen Investitionen „sicherlich die Eigenkräfte der amerikanischen Technologie stärken“ werden – Forschungen auf militärischem und zivilem Gebiet überschnitten sich dabei häufig. Wie SDI sich also auf den zivilen Bereich auswirken werde, so könne Eureka „ein ziviles Programm, die Entwicklung militärischer, insbesondere zu friedlichen Zwecken nutzbarer Geräte ermöglichen (…), zum Beispiel Beobachtungs- und Horchsysteme für den Weltraum, die unerläßlich sind für eine wirksame Kontrolle der Rüstung bzw. Abrüstung.“

SDI und Eureka schlössen sich aufgrund ihrer verschiedenen Schwerpunkte also keineswegs aus. Die Frage nach der europäischen Beteiligung an den amerikanischen Forschungsvorhaben allerdings könne nur so beantwortet werden, „daß mögliche transatlantische Kooperationen um so vorteilhafter für jene (europäische Staaten, J. M. B.) sein werden, die sich beteiligen möchten, je stärker Europa ist.“ Für die europawilligen Länder bestehe jedoch heute „bereits eine gewisse Dringlichkeit, denn es müssen Fachleute und Gelder auf dem europäischen Kontinent gebunden werden, die sich ohne ein wirklich attraktives Projekt bei uns zum amerikanischen Kontinent hingezogen fühlen könnten und dann für den wissenschaftlichen und technologischen Fortschritt ihres Landes verloren wären.“

Eureka und die „Variable Geometric“

Einer Präambel gleich formuliert die französische Regierung ihre Erfahrungen aus den jahrzehntelangen EG-Querelen in Bezug auf ihre Initiative: „Eureka soll keine neue Institution werden, auch keine gemeinsame Politik, mit den schwerfälligen Entscheidungsregeln und begrenzten Finanzierungsmöglichkeiten der EG. Eureka sollte vielmehr als gemeinschaftliches Vorgehen mit „variabler Geometrie“ betrachtet werden.“

„Variable Geometrie“ meint hier, daß das Projekt und seine Einzelvorhaben zwar der europäischen Integration dienen sollen, daß jedoch nur die Staaten mitsprache- und entscheidungsbefugt sind, die sich auch finanziell beteiligen. Die Finanzierung der Programme sollte neben den kommunalen EG-Haushalten vor allem durch Beiträge einzelner Länder bestritten werden. Die „Entwicklung eines politischen Willens der auf europäischer Ebene interessierten Länder“ sei eine Grundvoraussetzung für Eureka überhaupt, und: Dazu reichen allein die Kräfte des Marktes nicht aus.“ Das „Gewicht der Regierungen ist unerläßlich“ heißt es unter Verweis auf NASA in den USA und MITI in Japan.

Eureka konkret

Nach den Pariser Vorstellungen muß auf den Vorarbeiten der EG-Kommission aufbauend durch Zusammenarbeit von Industrie und Forschungszentren „ein Netz der Forschung und Entwicklung“ geschaffen werden, „das in seiner Effizienz mit dem in den Vereinigten Staaten bestehenden vergleichbar ist.“

Drei Gruppen von Schlüsselbereichen der Zukunft sieht die französische Regierung:

  1. die Informationstechnologien

    • Großrechenanlagen
    • wissenschaftliche Rechner und künstliche Intelligenz
    • schnelle Mikro- Informatik
    • optische Netze
    • Roboter der 3. Generation und elektronische Verfahrenstechnik.
  2. die Produktionstechnologien

    • Roboter der 3. Generation und elektronische Verfahrenstechnik
    • hochintegrierte flexible Werkstätten
    • Laser
    • Verfahrenstechniken für Arbeiten unter extremen Bedingungen
    • neue Werkstoffe.
  3. die Biotechnologien

    • neue Werkstoffe
    • Biotechnologien im Agrar- Nahrungsmittelbereich.

Warum gerade Frankreich?

Die Linksregierung aus Kommunisten und Sozialisten war 1981 mit großen Plänen in der Forschungs- und Technologiepolitik gestartet 5. Damals war das Ziel des berühmten Gesetzes Nr. 82- 610 gewesen, „Frankreich zur dritten Wirtschaftsmacht der Erde“ zu entwickeln, „dem Land zu helfen, der Krise zu entrinnen, den Weg eines (qualitativ) neuen Entwicklungsmodells zu öffnen“. 1985 sind die Ziele bescheidener geworden; Francois Mitterand versucht seit Mitte 1982, der Krise durch einen rigiden Austeritätskurs Herr zu werden – eine Politik, die auch am Ressort Forschung und Technologie nicht spurlos vorübergegangen ist. Der Dreijahresplan (1986-1988) formuliert nur noch das Ziel, Frankreich „in eine wettbewerbsfähige Lage gegenüber seinen vornehmen wirtschaftlichen Partnern zu versetzen.“6

War 1982 für die heutige Situation ein Anteil der Ausgaben für Forschung und Entwicklung von 2,5 Prozent am Bruttoinlandsprodukt vorgesehen (1981 unter Giscard: 1,8 %), so wurden lediglich 2,25 Prozent erreicht.

Diese Schwächepositionen wurden seit 1981 nur wenig abgebaut, die ökonomische Krise hingegen hat sich weiter verschärft: die Arbeitslosigkeit wuchs von (offiziell) 1,7 Millionen auf 2,5 Millionen, die Inflation blieb mit (nach Angaben der CGT) über 9 Prozent (1981: 14 %) auch im internationalen Vergleich sehr hoch 7.

In dieser Lage geht die französische Regierung, von Reagans SDI herausgefordert, in die unausweichliche Gegenoffensive. Frankreich sieht wesentliche Bereiche, in denen seine Forschung Spitzenstellungen einnimmt, wie z. B. die Raumfahrt, den gesamten Nuklearbereich und die Telekommunikation, von einer US- amerikanischen Sogwirkung bedroht; andere französische Hegemonialbereiche wie vor allem die Automobil- oder Textilbranche stecken bereits in einer tiefen Krise.

Französische Trümpfe

Die Regierung in Paris hält zwei Trümpfe in der Hand, deren Gewicht man im europäischen Rahmen nicht unterschätzen sollte und die den Eureka- Vorstoß gerade von französischer Seite noch verständlicher machen. Der erste liegt in den Entwicklungsmöglichkeiten seiner strukturellen Forschungsvoraussetzungen mit dem breiten verstaatlichten Bereich sowie in der nationalen Organisation seiner Forschung. Auch in den Bereich der Struktur gehört die Organisation der nationalen Forschung selbst: Der zentralistische Musterstaat Frankreich verfügt mit dem CNRS (Centre National de Recherche Scientifique) und seinen Verbundstellen über eine der größten staatlichen Forschungseinrichtungen der Erde. Von den 25.000 Beschäftigten des CNRS sind 10.000 Wissenschaftler, die am Centre selbst mit seinen 430 Instituten Grundlagenforschung betreiben. Das CNRS kooperiert mit etwa 985 weiteren nationalen Hochschul- und sonstigen Institutionen; die internationalen Kontakte sind hervorragend.

Der zweite Trumpf Frankreichs bei seiner Eureka- Offerte an die westeuropäischen Nachbarn liegt in seinem Atomwaffenmonopol auf dem europäischen Festland. Der sozialistische „Matin“ spekulierte im Anschluß an den Bonner „Weltwirtschafts- Gipfel, der mit einer Brüskierung Mitterrands durch Kohl und der weitgehenden Hofierung Reagans durch den deutschen Kanzler geendet hatte, und an das Konstanzer Treffen Mitterrand/ Kohl, „die Deutschen erwarten als Preis für ihren Verzicht auf die amerikanische SDI daß die Franzosen ihrerseits auf die grundlegende Autonomie ihrer Nuklearstreitmacht verzichten.“ 8

Eureka – Versuch einer vorläufigen Einschätzung

Ich will abschließend versuchen, die gegenwärtigen Auseinandersetzungslinien genauer zu bestimmen, denn „das wahre Eureka ist schwer zu finden“. (natura Vol., 315, 6 June 1985, p. 446)

  1. Die französischen Motive sind bestimmt von dem vorrangigen Interesse der Wahrung nationaler Souveränität und Größe. Der Ausbau weltpolitischer und weltwirtschaftlicher Positionen wird v. a. im Rahmen eines starken europäischen Verbundes erwartet und demzufolge angestrebt. Die Verteidigung einer superioren Stellung in Europa sieht Frankreich geknüpft an eine enge Koordination mit Bonn. Deshalb hat sich F. Mitterrand auch nach dem Mißklang des Weltwirtschaftsgipfels beeilt zu erklären, Eureka sei eine „deutsch- französische Erfindung“.
  2. Präsident Mitterrand und die französ. Regierung begreifen SDI in erster Linie als technologische Herausforderung, auf die Frankreich und Westeuropa reagieren müsse. Um ein Höchstmaß an europäischer Kooperation und Ressourcenmobilisierung zu erreichen, wird eine pragmatische Lösung vorgeschlagen: enge Zusammenarbeit der EG-Staaten in der Forschung und Technologieentwicklung bei Offenhaltung ziviler oder militärischer Optionen.
  3. In der stärkeren Ausrichtung auf zivilindustrielle Forschung und in der Betonung europäischer Souveränität bildet Eureka in der Tat einen Gegenpol zu SDI. Dennoch ist es nicht als prinzipielle A1ternative zum SDI- Programm zu sehen. Der Vorrang der Orientierung auf wirtschaftlich- technologische Konkurrenzfähigkeit steht nicht im Gegensatz zur militärischen Nutzung der Forschungsergebnisse. Auch neue militärstrategische Überlegungen sind unter der Hand damit verbunden. Demzufolge hat Verteidigungsminister Hernu erklärt, SDI werde durch Eureka nicht überflüssig. Es ist daher auch unklar, inwieweit mit Eureka die Positionen für einen späteren Einstieg verbessert werden sollten. „Irgendwann, so ist zu vermuten, wird Frankreich sich mit „Eureka“ an SDI beteiligen wollen.“(FAZ v. 7. 5. 1985, S. 12)
  4. In der Bundesrepublik sieht sich die Regierung durch die Debatte um SDI und Eureka in ein großes Dilemma gestürzt. Grundsätzliche Fragen künftiger Militärstrategie, des Ost- West- Verhältnisses, der forschungspolitischen Orientierung und der gesellschaftspolitischen Entwicklung (Kosten der SDI-Beteiligung!) sind auf die Tagesordnung gesetzt und drohen das Regierungslager zu spalten.

    Diejenige Gruppierung, die voll auf die gegenwärtige US-Politik und SDI setzt, versucht den für nötig erachteten Brückenschlag nach Paris über die Integration von Eureka in SDI zu erreichen. „Der forschungspolitische Sprecher der Unionsfraktion, Lenzer, hat sich dafür ausgesprochen, das vorgesehene europäische Programm für ausgewählte Spitzentechnologien (Eureka) so mit SDI zu verzahnen, daß Eureka der gemeinsame europäische Kooperationsbeitrag in der amerikanischen Weltraum- Initiative werden könne.“ (FAZ v. 30. 5. 1985, S. 2)
    Eine andere Gruppierung sieht neben Risiken im Ost- West- Verhältnis das Problem einer SDI- Beteiligung in einer politisch riskanten Umverteilung riesiger staatlicher Finanzmittel in den Militärsektor. Inwieweit SDI-Beteiligung Weltmarktpositionen erhalten bzw. verbessern kann, wird noch abwartend bis kritisch beurteilt. Von daher ergibt sich eine stärkere Gewichtung des Eureka- Projekts – zumal man hier an das inzwischen enge deutsch- französische Bündnis in der Raumfahrt und der Rüstungsproduktion anknüpfen kann.

  5. Die Oppositionspartei SPD setzt auf Eureka. Der Bundestagsabgeordnete Karsten Voigt hat erklärt, Eureka sei im Gegensatz zu SDI ein ziviles Programm. (FAZ, 30. 5. 1985, S. 2)
    Der Wunsch ist hier Vater des Gedankens. Der SPD geht es v. a. um den Nicht- Einstieg in SDI. Dazu werden vernünftige Argumente vorgetragen. Auch gegen eine enge westeuropäische Koordination der Forschungspolitik ist nichts einzuwenden. Dennoch sollte man nicht die Augen vor der Ambivalenz von Eureka verschließen. Die Alternative zu SDI ist und bleibt eine konsequente Rüstungskontroll- und Abrüstungspolitik.
  6. Die jüngste internationale Entwicklung scheint zu bestätigen, daß sich Mischformen zwischen SDI und Eureka anbahnen. Norwegen, Italien und Großbritannien haben inzwischen Kontakte zu den SDI-Planern und zum französischen Außenministerium aufgenommen.

Anmerkungen

Siehe zum Gesamtkomplex der französischen Linksregierung mein Buch „Das französische Experiment“, das im September beim Dietz (Nachf.)-Verlag in Bonn erscheinen wird.

Anmerkungen

1 Vgl. hierzu Informationsdienst Wissenschaft und Frieden 2/ 85.Zurück

2 Die Rede Fabius ist in autorisierter Form vom „Frankreich-Info“ (FI) der Französischen Botschaft veröffentlicht worden; Nr. 6/85 v. 11. 2. 1985 Zurück

3 FI 32/ 84 v. 26. 9. 1984 Zurück

4  Erschienen als FI 14/ 85 am 4. 6. 1985 Zurück

5  Vgl. hierzu die Beiträge Lucien Boubys im BdWi-Forum 1982, 50, S. 16 ff. sowie Erika Hüttenschmidts in Lendemains 8, 1983, 29, S. 15 ff. Zurück

6  Vgl. hierzu die CGT-Zeitschrift Options Nr. 90 v.28. 5. 1985, S. 9 ff. Zurück

7 Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 30. 5. 1 984 Zurück

8 Zit. nach „Matin“ v. 29. 5. 1985 Zurück

Johannes M. Becker, Dr. phil, ist Politikwissenschaftler in Marburg und arbeitet derzeit über die Außen- und Militärpolitik der Regierung Mitterrand.

Die Wende in der Wissenschaft

Die Wende in der Wissenschaft

von Rainer Rilling

Die Forschungsprojekte zur Militarisierung des Weltraums – seien sie nun transatlantisch (SDI) oder europäisch (WEU/EUREKA) organisiert – stoßen in neue Dimensionen vor. Allein das Volumen der „Strategic Defense Initiative“ entspricht den jährlichen Gesamtausgaben für Forschung in der Bundesrepublik Deutschland. Die „strukturelle Neuordnung der europäischen Forschungspolitik“ (L. Späth) durch die Etablierung einer militärisch relevanten Hochtechnologie- und Weltraumforschung wird die forschungspolitische Landschaft der BRD tiefgreifend verändern. Die Wende in der Forschungspolitik steht an.

SDI und Forschungspolitik

Seit einem Jahrzehnt nimmt der Anteil der militärischen Forschung an den nationalen Wissenschaftsbudgets aller entwickelten westlichen Industriestaaten ununterbrochen zu. Allein in den USA haben sich zwischen 1980 und 1985 die Mittel für militärische Forschung real nahezu verdoppelt (+88 %), während sie im zivilen Bereich um über 30 % zurückgingen. Diese Verlagerung, deren neues Symbol das SDI-Projekt ist, markiert die Durchsetzung eines „neuen“ forschungspolitischen Entwicklungsmusters – das freilich so neu nicht ist. Schon in der Zeit zwischen Kriegsende und Mitte der 60er Jahre spielte die Rüstungsforschung in der staatlichen Forschungspolitik der westlichen Industriestaaten die dominierende Rolle (Frankreich, England, USA, zunehmend BRD). In einer zweiten Phase setzte sich dann eine Auffächerung des Spektrums forschungspolitischer Staatsintervention durch, in deren Zeichen die Förderung zivilindustrieller, infrastruktureller und – mit Abstand – auch sozialstaatlicher Bereiche an die Spitze der Forschungsprioritäten rückte. Diese Entwicklung – ausgeprägt vor allem in der Bundesrepublik – wurde in den USA durch den Vietnamkrieg abgeschwächt bzw. zeitlich verschoben und damit zugleich abgekürzt, denn schon Mitte der 70er Jahre (1974/76) setzte der Übergang zu einer dritten Phase ein. In den USA ist unter der Regierung Carter der reale Rückgang der Aufwendungen für militärische Forschung nach dem Ende des Vietnamkrieges gestoppt und in eine stete Aufwärtsentwicklung umgekehrt worden, die unter der Regierung Reagan dann außerordentlich beschleunigt wurde und zu Lasten der sozialstaatlichen, aber auch infrastrukturell bzw. zivilwirtschaftlich ausgerichteten Forschungsförderung geht.

Ursachen des Strategiewechsels

Die gegenwärtige forschungspolitische Auseinandersetzung geht in allen entwickelten westlichen Industriestaaten um diese „Trendwende“. Sie bildet auch zunehmend den Hintergrund der Reprioritierung der Forschungsmittel zugunsten der Hochtechnologieförderung und „Spitzentechnologie“.

Die „Wende“ in der Forschungspolitik, deren Beginn in den USA etwa 1975/ 76 anzusetzen ist, hat zwei Ursachen: zunächst die Neubewertung der militär- und außenpolitischen Strategie in den Elitegruppen der USA, die in eine Aufwertung der Rolle militärischer Optionen zur Verwirklichung jenes außenpolitischen Einflußpotentials einmündete, das aufzubauen die entspannungspolitische Variante der frühen 70er Jahre nach Ansicht dieser Gruppen nicht imstande war.

Die für die USA negative Veränderung der Weltmarktposition und der Verlust einst unbestritten hegemonialer Positionen im Weltwissenschafts- und Weltproduktionssystem war der zweite Ursachenkomplex, der zum forschungspolitischen Strategiewechsel in Richtung auf verstärkte Rüstungsforschung führte.

Zur Begründung der neuen forschungspolitischen Strategie

Die konzeptionellen Begründungen und Merkmale der nunmehr dominierenden forschungspolitischen Strategievariante sind in den USA früh entwickelt worden.

  1. Militärtechnologische Überlegenheit ist die Voraussetzung für die Realisierung verschiedener militärstrategischer Optionen. Die Verwissenschaftlichung der Kriegsführung hat eine neue Entwicklungsstufe erreicht – Militärtechnik und „High Tech“ werden immer mehr Synonyme. Hochtechnologiepolitik wird entscheidend für die Realisierung der militärstrategischen Optionen – und treibt deren Ausarbeitung zugleich voran. Darüber hinaus ist ein qualitativ neuer, ausgreifender Zugriff der militärischen Seite auf die Wissenschaft notwendig: Der militärische Innovationszyklus verkürze sich, die Spanne zwischen Grundlagenforschung und militärischer Anwendung schrumpfe, die Grundlagenforschung sei daher in ganz anderer Weise militärisch relevant als noch vor zwei oder drei Jahrzehnten.
  2. Die neuen militärischen und zivilen Technologien konvertierten. Sie überlappten sich immer mehr. Die neue Technik sei multifunktional und daher für militärische wie zivile Verwendungszwecke geeignet („dual-use“). Diese Veränderung habe weitreichende forschungsstrategische Konsequenzen. Nicht nur bringe somit militärische Technologiepolitik in ganz anderer Weise als noch in den 50er und 60er Jahren einen zivilen „spin-off“ mit sich; auch bislang zivile Forschung und Technik werde jetzt militärisch nutzbar und damit relevant. Hier entsteht also eine bestimmte Vorstellung des Zusammenhangs von Technologie und militärischer Praxis: auf der einen Seite die ausschließlich oder vorwiegend zivile Forschung, auf der anderen Seite die eindeutig militärische Forschung und dazwischen ein wachsendes, mehr oder weniger breites Feld „sensitiver“, militärisch relevanter“ oder „kritischer" „Dual-Purpose-Technologie“. Diese Konzeption wurde bereits um die Mitte der 70er Jahre von der amerikanischen Militäradministration entwickelt. Anfang der 80er Jahre wurden von Seiten der CIA, der National Security Agency und auch des Handelsministeriums kurzweg Laser, Computer, Mikroelektronik, die gesamte Genforschung und die Luftfahrtforschung als militärische relevant bezeichnet.

Diese Einschätzungen führten zu forschungsstrategischen Konsequenzen, die sich in der Praxis militärischer Wissenschaftspolitik der USA zum Teil bereits seit Mitte der 70er Jahre beobachten lassen. Sie sind auch für die Entwicklung in der Bundesrepublik von Bedeutung.

Mehr Mittel für Rüstungsforschung

Vor allem seit 1980/81 wird der Anteil der Wissenschaftsressourcen in der Bundesrepublik, die für militärische Zwecke verwandt werden, rasch ausgedehnt. Das Gesamtbudget militärisch relevanter Forschung liegt in der BRD 1985 bei rund 6 Mrd DM. Die Bundeswehrplanung bzw. das neue FuE- Konzept des Bundesministeriums der Verteidigung sehen bereits heute für die nächsten Jahre beträchtliche Zuwachsraten vor.

Sollte sich die BRD auch nur mit einem Kostenanteil von 10 v. H. an der SDI-Forschung beteiligen, würden 1989 rund 52 v. H. der gesamten FuE-Ausgaben des Bundes für Weltraum- und Rüstungsforschung ausgegeben. Ganz offensichtlich würden auch nur Ansätze einer solchen Umverteilung von Forschungsmitteln den seit einigen Jahren sich vollziehenden Abbau solcher Forschungsbereiche außerordentlich beschleunigen die ein Potential zur Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Bevölkerung haben. In den USA ist dieser Prozeß seit 1981/82 in vollem Gange; auch in der Bundesrepublik wird der massive Ausbau der Rüstungsforschung über SDI die Lage der zivilen und insbesondere der sozial nützlichen Forschung rasch verschlechtern.

Bedeutungszuwachs der Hochtechnologiepolitik

Das Militär gibt der Förderung von Hochtechnologiebereichen ein zentrales Gewicht und ist in den USA innerhalb des staatlichen Förderungsapparats mittlerweile zur bei weitem wichtigsten Finanzierungs- und Planungsstelle der Hochtechnologiepolitik geworden. Zu den besonders Beförderten Gebieten zählen Biotechnologie, Elektronik, Lasertechnologie, Computer- und Robotertechnik sowie Weltraumforschung. Ähnliche Tendenzen vor allem auf dem Sektor der Informationstechnologien existieren auch in der Bundesrepublik.

Aufwertung der zivilindustriellen Funktion der militärischen Forschung

Die behauptete Konvergenz oder Koinzidenz militärischer und ziviler Technologie wird zum Anlaß einer offensiv gewendeten Argumentation: da das kommerzialisierbare Potential der Rüstungsforschung gegenüber der Situation noch vor einigen Jahrzehnten qualitativ gestiegen sei, müsse militärische Forschungsförderung als Industriepolitik konzipiert werden, d. h. als Versuch einer militärisch gesteuerten und kontrollierten Entwicklung solcher Hochtechnologiesektoren, die insbesondere in Japan, großenteils aber auch in der BRD gegenwärtig noch unter zivilindustriellen Vorzeichen gefördert werden. Wenn der Aspekt zivilindustrieller Kommerzialisierbarkeit der „dual-purpose“-Technologie in der militärischen Wissenschaftspolitik an Bedeutung gewinnt, dann geht es um direkte Industrieförderung. Das Rüstungskapital soll als Führungssektor auch zivil verwendbarer Technologie etabliert werden.

Allerdings scheint es fraglich zu sein, ob im SDI-Projektverbund der Aspekt einer Stärkung des zivilkommerziellen Potentials der amerikanischen Rüstungsindustrie eine so gewichtige Rolle spielt, wie etwa von der Bundesregierung behauptet wird.

Ausbau und militärische Kontrolle der zivilen Forschung

Wenn zivile und militärische Technologie sich funktionell zunehmend überlappen (dual-propose), kann der sichernde und steuernde Zugriff auf das zivile Forschungssystem militärisch entscheidend werden. So behauptet das DOD, daß der Bedeutungsverlust militärischer Forschung in den 70er Jahren begleitet gewesen sei von einer zunehmenden militärischen Relevanz der zivilen Forschung. Sie sei daher zu kontrollieren – daher die 1976 konzipierten, aber erst seit 1980 in der Realisierung begriffenen Versuche zur Ausdehnung der Geheimhaltung und Zensur über militärische FuE hinaus auf die „graue“ oder „sensitive“ zivile Forschung. Das DOD geht davon aus, daß aufgrund der wachsenden Verflechtung ziviler und militärischer Technologien wesentliche, militärisch relevante Innovationen im zivilen Sektor entstanden sind und weiter entstehen. Wenn nun – in weitaus ausgreifenderer Weise als bisher – der US-Militär-Industrie-Komplex auf eine Einbeziehung des westeuropäischen Rüstungskapitals in des SDI-Forschungsprogramm drängt, steht dahinter auch der Versuch der Aufschließung militärisch relevanter, auf dem zivilen Markt zugleich konkurrierender europäischer zivilindustrieller Technologien. Das bedeutet, daß auch in der Bundesrepublik bislang von – sekundärem – militärischem Verwertungsinteresse freie Sektoren der zivilen Forschung einem indirekten militärischen Nutzungsinteresse unterliegen werden.

Stärkung der militärischen Grundlagenforschung

Die Verteilung der Mittel für Rüstungsforschung nach Forschungsstufen zeigt zwar, daß in den USA der Anteil für militärische Grundlagenforschung am FuE- Budget des Pentagon rund 1/3 bis 1/4 niedriger liegt als der Anteil der Grundlagenforschung am nationalen FuE- Budget insgesamt. Auch geht die Verlagerung der Forschungsförderung auf den Rüstungssektor zunächst einher mit einer Benachteiligung der Grundlagenforschung. Das DOD gibt für Entwicklungsarbeiten den zehnfachen Betrag aus, als im zivilen Bereich dafür investiert wird. Rüstungsforschung schwächt die Grundlagenforschungsbasis, von der allein die Initiativen für grundlegende Basisinnovationen ausgehen können. Betrachtet man jedoch ausschließlich den Bereich der Grundlagenforschung, dann hat das DOD sein Engagement seit 1976/77 kontinuierlich verstärkt, da es davon ausgeht, daß mit der Verkürzung des militärischen Innovationszyklus zumindest einzelne Sektoren der Grundlagenforschung unmittelbar militärisch relevant werden. Die Mittel für militärische Grundlagenforschung sind von 305 Mio Dollar in 1975 auf 982 Mio Dollar „Soll“ in 1986 gestiegen. In der Bundesrepublik würde der Aufbau eines großen Programms militärischer Weltraumforschung zur Etablierung eines breiten Sektors militärischer Grundlagenforschung führen, den es bisher so noch nicht gibt.

Wachsende Einflußnahme auf die Hochschulen

Bereits 1980 stammte in den USA jeder dritte Dollar, der an den Hochschulen für Forschung ausgegeben wurde, vom Pentagon. Diese enge Verbindung der amerikanischen Hochschulen mit dem DOD ist nicht neu, sondern entstand im zweiten Weltkrieg und vertiefte sich in den 50er Jahren. Hochschulen und Colleges haben das Pentagon und die Welt mit einer endlosen und erschreckenden Serie von Diensten und Waffen versorgt, einschließlich Radar, Lenkwaffen (Raketen), Napalm, Atombomben. Innerhalb der Hochschulforschung steigt das Gewicht der Rüstungsforschung. Das „neue“ Interesse des Militärs an der Grundlagenforschung betrifft auch in der Bundesrepublik in erster Linie die Hochschulen, an den 70-80 % der gesamten Grundlagenforschung durchgeführt wird. Damit aber wird sich die Rolle der Hochschulen im System der Rüstungsforschung der BRD wesentlich ändern: die Zeit, in der für ihre Arbeit Forschung und Entwicklung für Militär- und Rüstungszwecke vergleichsweise irrelevant war, ginge dann zu Ende. Die über die Novellierung des Hochschulrahmengesetzes verfolgte „Erleichterung“ der Drittmittelforschung an den Hochschulen und die sich damit vollende vollziehende Abkoppelung der Drittmittelforschung von inneruniversitärer öffentlicher Kontrolle sichert dann – ob beabsichtigt oder nicht – diese Veränderung ab. Rüstungsforschung wie militärisch relevante Forschung werden dann ein weit höheres Gewicht innerhalb der Hochschulforschung erhalten. Ausdehnung der Rüstungsforschung bedeutet auch Vordringen von Geheimhaltung.

In der Bundesrepublik hat der Konflikt um die technologie- und forschungspolitische Absicherung der Weltraumrüstung erst begonnen. Sie wird die wissenschafts- und wahrscheinlich zunehmend auch die hochschulpolitische Diskussion in den nächsten Jahren immer stärker prägen. Die Gegenkräfte zur avisierten „Neuordnung“ beginnen sich erst zu formieren. Ihre Chancen stehen angesichts des Gewichts der Friedensbewegung im Wissenschaftsbereich nicht schlecht.

Dr. Rainer Rilling ist Privatdozent für Soziologie an der Universität Marburg und Geschäftsführer des BdWi.

„SDI“ – Wird Europa totgeforscht?

„SDI“ – Wird Europa totgeforscht?

von Jürgen Scheffran

Abzusehen war, daß die USA eine Zustimmung ihrer europäischen NATO-Verbündeten zu ihrem „Star-Wars“-Programm neuerdings auch „Strategische Verteidigungsinitiative“ (SDI) genannt, einfordern würden. Überrascht hat jedoch viele in welchem Tempo und mit welcher Unverfrorenheit es geschah: In nur drei Monaten – von der Wehrkundetagung Anfang Februar bis zum Reagan- Besuch Anfang Mai – soll eine Entscheidung Westeuropas erzwungen werden. Die Öffentlichkeit soll vor vollendete Tatsachen gestellt werden, bevor die Friedensbewegung ihre Aufklärungsarbeit breit entfalten kann.

Der Wilkinson Report

Während sich die westeuropäischen Regierungen zunächst skeptisch bis kritisch äußerten, bastelten SDI-Enthusiasten hinter den Kulissen eifrig an einem Star-War-Programm für Europa. Dabei sollten vor allem die Bestrebungen zur Reaktivierung der Westeuropäischen Union und ihre Entwicklung zu einer Rüstungskoordinationsbebörde genutzt werden.

Der Engländer Wilkinson stellte seinen Report „The military use of space“ im Juni 1984 der WEU-Versammlung vor und empfahl ein militärisch orientiertes Raumfahrtprogramm der Europäer.1

Die zivile ESA sollte dabei von einbezogen werden: Was aus der NASA seit ihrer engen Zusammenarbeit mit dem Pentagon wurde, ist bekannt (…)

Zum Aufbau einer Weltraummacht Westeuropa sollten eingeplant werden: eine bemannte Raumstation, die Ariane-Rakete, ein Mini-Shuttle („Hermes“), und verschiedene Satellitenprogramme. Zum „Schutz“ dieser Satelliten wurden Anti- Satelliten- Waffen gefordert. 2 Die in diesem Report ausgesprochene Unterstützung für das Programm Präsident Reagans wurde im Wilkinson-Report/Teil 2 im Dezember 1984 konkretisiert und der WEU vorgelegt.3 Doch in der damaligen Erklärung wurde auf Initiative Frankreichs noch ein Verbot von Waffensystemen im Weltraum unterstützt.

Nächste Station: Die Wehrkundetagung

Mittels einer großen, auf Publicity ausgerichteten Wehrkundetagung wollten die SDI-Befürworter am 9./10. Februar 1985 in München diese Schwierigkeiten aus dem Weg räumen.4 Bundeskanzler Kohl war die Rolle zugedacht, mit einer Grundsatzrede die Bundesrepublik zum Vorreiter zu machen. Kohl hob den „philosophisch- moralischen Ansatz“ der Initiative und das „zutiefst persönliche Engagement Präsident Reagans“ hervor. Er stellte fest: „SDI wird, unabhängig, ob die Forschungsarbeiten zu den beabsichtigten Zielen führen, einen erheblichen technologischen Innovationsschub in den Vereinigten Staaten bewirken. Ein hochindustrialisiertes Land wie die Bundesrepublik Deutschland und die übrigen europäischen Verbündeten dürfen nicht technologisch abgehängt werden.“

Es ist nicht unnütz, die Bedingungen Kohls für eine Unterstützung der SDI unter die Lupe zu nehmen:

  • Volle Berücksichtigung der strategischen Einheit des Bündnisses
  • Vermeidung strategischer Instabilitäten, insbesondere in einer Übergangsphase
  • Vermeidung einer Erstschlagsfähigkeit und Verzicht auf strategische Überlegenheit.
  • Bekräftigung des ABM-Vertrages
  • Drastische Reduzierungen und Begrenzungen der nuklearen Interkontinental und Mittelstreckenwaffen
  • Verhinderung eines Rüstungswettlaufs im Weltraum
  • Vor der Stationierung von Raketenabwehrsystemen Verhandlungen mit der Sowjetunion

Abgesehen davon, daß insbesondere die letzte Forderung an den NATO-„Doppelbeschluß

1979 erinnert, enthalten die anderen Punkte doch einiges von dem, was star- wars- Kritiker vorbringen. Der Widerspruch zwischen den Forderungen Kohls und der US- Weltraumrüstung ist alles andere als eine Garantie für eine Weigerung Bonns, mitzutun. Aber die Friedensbewegung sollte bei jeder Gelegenheit auf ihn hinweisen.5 Dies auch deshalb, weil es noch beträchtliche Widerstände gegen SDI innerhalb der NATO gibt. Der französische Verteidigungsminister forderte ein fünfjähriges Moratorium für Strahlenwaffen im Weltraum. Der britische Außenminister wiederholte seine grundsätzlichen Bedenken und Außenminister Genscher unterstützte ihn vorsichtig. Beide mußten sich herbe Schelte durch amerikanische Regierungsvertreter und rechtslastige Presse gefallen lassen.

Das Ultimatum

Zur Tagung der Nuklearen Planungsgruppe der NATO Ende März in Luxemburg brachte US-Verteidigungsminister Weinberger einen Brief mit, in dem die NATO-Staaten, Australien, Japan und Israel aufgefordert wurden, binnen 60 Tagen ihr Verhältnis zur SDI zu klären. Dänemark und Australien lehnten sogleich ab. Die Bundesregierung zeigte sich zunächst etwas pikiert über die Form der Einladung, legte aber dann eine hektische Geschäftigkeit an den Tag.

Minister Wörner hatte sogleich einen Bericht parat, der eine mögliche Beteiligung der bundesdeutschen Industrie in 11 Technologiebereichen untersuchte. In fünf Bereichen (optische Sensoren, Spiegel oder Reflektoren, Hochfrequenztechnik und Signalverarbeitung, Systemkomponenten für extrem beschleunigende Hochgeschwindigkeitsraketen, Werkstofforschung) sei der Stand so gut, daß die USA auf deutsches know how nicht verzichten könnten. Im Rückstand befinde sich die Rüstungsforschung auf sechs Gebieten, darunter der Informationstechnik, der Miniaturisierung und bei Leichtbauweisen. 6

Rund 30 Firmen könnten sich „mit Aussicht auf Erfolg“ beteiligen, darunter AEG, Siemens, Zeiss, MBB, Nixdorf und Dornier. Die angesprochenen Firmen haben bereits großes Interesse signalisiert. „Sinnvoll wäre eine europäische oder deutsche Beteiligung nur, wenn wir in einem größeren Umfang Kenntnisse für uns gewinnen.“ hebt der Planungschef von Dornier, Holstein, einschränkend hervor, befürwortet aber im Prinzip die SDI-Beteiligung. 7 Es scheint danach nur noch darum zu gehen, ob sich die USA „zu fairen Bedingungen für eine Forschungspartnerschaft bereitfinden“.

Spitzentechnologie durch Weltraumrüstung?

Daß es den USA nicht nur um militärische Überlegenheit über die Sowjets geht, sondern auch um entscheidende Wettbewerbsvorteile auf dem Weltmarkt, beschreibt H. Gremliza in „konkret“ wie folgt: 8 „Wer soviel Staatsknete in ein Forschungsprojekt steckt, muß die technologische Konkurrenz aus dem Feld schlagen. Die Feinde werden totgerüstet, die Freunde totgeforscht.“ Die „Freunde“ scheinen jedoch nichts Eiligeres zu tun zu haben, als in diesen „Wettlauf“ einzusteigen. Besonders Baden- Württembergs Ministerpräsident Späth, der das Ländle zum Technologie- Eldorado der Nation ausbauen möchte, wie über die SDI- Beteiligung in ein neues technologisches Zeitalter vorstoßen.

„Die Initiative Präsident Reagans stellt die bislang umfangreichste und konsequenteste forschungspolitische Folgerung des Westens aus der Tatsache dar, daß moderne zivile und militärische Produkte auf weitgehend identischen Basistechnologien beruhen. Computer- und Sensortechnik, Laser-, Infrarot- und Röntgentechnologie, neue Werkstoffe und Verfahren bilden die Grundlage Für innovative Entwicklungen sowohl im zivilen wie im wehrtechnischen Unternehmensbereich.“ schreibt Späth im „SPIEGEL“.9 Etwas realistischer als Edward Teller, der von einem 90- prozentigen Transfer der SDI-Resultate in den zivilen Bereich ausgeht (!), 10 schätzt Späth den sog. „spin-off“ auf 50 Prozent. Damit ist zugleich gesagt, daß ein Anteil von 50 % des investierten „Geistkapitals“ zu militärischen Zwecken vergeudet worden ist. Warum es dann nicht einfacher und effizienter ist, die horrenden Summen direkt in die zivile Forschung fließen zu lassen, hat noch kein „spin-off“- Theoretiker plausibel begründen können. Dennoch wird weiter mit diesen Verheißungen gearbeitet. So verspricht ein Artikel in „International Herald Tribune“ eine „reiche Ernte von Spin- off- Entdeckungen und Zubehör, von denen viele den Fortschritt in Medizin, Industrie und Grundlagenforschung vorantreiben.“11 Dabei werden Wissenschaftler aus den Waffenlabors Lawrence Livermore und Los Alamos als Kronzeugen herangezogen, nach deren Auffassung ihre Forschung vielfältige Anwendungsmöglichkeiten biete. So könnten Röntgenlaser nicht nur zur Zerstörung von Raketen eingesetzt werden, sondern auch als Bestandteil eines „Supermikroskops“ zur Untersuchung des genetischen Kodes einer lebenden Zelle. Ein anderes Beispiel sei der Freie- Elektronen-Laser in Livermore, dessen Strahl geeignet sein soll, Obst und Gemüse haltbarer zu machen, indem die Parasiten durch hohe Energiezufuhr abgetastet würden. Warum in beiden Fällen Leistungen im Megawatt- Bereich oder unterirdische Nuklearexplosionen sowie eine bis auf Mikrorad feine Zielgenauigkeit notwendig sein sollen und was mit den derart bestrahlten Früchten und Zellen geschieht, bleibt unerfindlich. Gemeinsam ist den genannten Beispielen, daß die Waffentechnologien immer auf eine spezifische militärische Anwendung hin konzipiert wurden und werden. Direkten Nutzen für zivile Zwecke bringen sie in der Phase ihrer Endfertigung allemal nicht. Auch die Teilsysteme bei der Entwicklung müssen oft noch modifiziert werden, was natürlich zusätzliche Ausgaben erfordert.

Amerikanische Vorherrschaft in der Forschung?

Die Behauptung, die USA zögen mit dem SDI-Programm technologisch uneinholbar davon und daher sei westeuropäische Beteiligung geboten, ist vor diesem Hintergrund schlicht falsch. Das Beispiel Japans – dort werden bislang nicht mehr als 1 % des Etats Für militärische Zwecke eingesetzt – zeigt eher das Gegenteil: Nur wenn Westeuropa auf direkte Förderung nutzbringender ziviler Forschung setzte, könnte es mithalten. Die Integration des westeuropäischen Forschungspotentials in SDI würde das technologische know how der USA stärken und die ohnehin beschränkten Haushaltskapazitäten der Bündnispartner über alle Maßen strapazieren.

Es ist gut daran zu erinnern, daß der Technologie- und Wissenstransfer in der letzten Zeit besondere Einschränkungen erfährt:12

  • Durch verschärfte Sicherheitsbestimmungen des Koordinationskomitees für den Ost- West- Handel COCOM ist der Export hochwertiger Technologie zunehmend Beschränkungen unterworfen. Weinberger prägte den Satz, daß sogar elektronisches Kinderspielzeug auf die „schwarze Liste“ gehöre. Die Bundesrepublik gilt den USA als gewisses Sicherheitsrisiko, das strengen Kontrollen unterworfen werden muß.13
  • Zu wissenschaftlichen Konferenzen über bestimmte Technologien werden fast nur noch Staatsbürger der USA zugelassen.
  • Innerhalb der NATO setzen die USA bevorzugt ihre eigenen Systeme durch, auch wenn Andere „leistungsfähigere“ entwickelt haben – wie der Streit um das Freund- Feind- Flugerkennungssystem zeigt.
  • Im Raumfahrtsektor wird dies besonders deutlich: Das fast fertige bundesdeutsche Infrarotlabor GIRL wurde infolge der Beteiligung an der amerikanischen Raumstation gestrichen. Uneingeschränkter Zugang zu den Ergebnissen der Weltraumforschung wird bislang verweigert. Selbst Forschungsminister Riesenhuber fragt sich, wie die Kooperation dann erst bei der hochsensiblen SDI-Techologie aussehen soll.14

Angesichts der jüngsten Entwicklungen sollten die Europäer ihren Willen zu größerer Autonomie stärken. In diesem Sinne heißt es in einer Stellungnahme des SPD-Präsidiums vom 2.3.85.15

„Ein Wettlauf der Westeuropas um Beteiligung am Weltraumrüstungsprogramm in der Hoffnung auf technologische Teilhabe wäre politisch grotesk … Es ist eine Illusion anzunehmen, die Westeuropäer könnten an der technologischen Forschung dieses Programms teilnehmen, ohne die militärische Verantwortung, Konsequenzen und Lasten mittragen zu müssen. Technologiepolitisch wären die Westeuropäer besser beraten, ihre begrenzten Mittel im Bereich der europäischen Grundlagenforschung und der zivilen Weltraumfahrt einzusetzen, statt Milliardenbeträge in ein politisches und militärisches Programm zu investieren, dessen Nutzen für sie selbst fragwürdig ist.“

Anmerkungen

1 Wilkinson-Report, Military Use of Space vorgestellt auf der WEU-Versammlung Juni 1984, „Proceeding“ Assembly Documents Zurück

2 Wilkinson- Report, Military Use of Space, Part II, Assembly of Western European Union, „Proceedings“ December 1984 Star Wars- Koalition, „Bonner Energiereport“, 19. März 1985 Zurück

3 J. Scheffran, Die Europäische Weltraumgemeinschaft – Aufbruch in die Zukunft? „Blätter 2/85, S. 169 Zurück

4 Die für die Wehrkundetagung relevanten Dokumente, insbesondere die Reden von Kohl, Herne und Weinberger finden sich in: „Europa-Archiv“, Folge 6/1985 Zurück

5 Eine Auseinandersetzung mit den Argumenten der SDI-Befürworter findet Achim: E. Siecker, W. Zellner, „Strategic Defense Initiative“ – Aufbruch in die falsche Richtung, „Blätter“ 4/85, S. 490 Zurück

6 „Der Spiegel“, Nr. 14/1985, S. 21 Zurück

7 Dornier- Planungschef für Beteiligung an SDI-Forschungsprogramm, DDP 11.April 1985 Zurück

8 H. L. Gremliza, Stars and Stripes War „Konkret“, März 1985 Zurück

9 L. Späth, Wissen die Europäer was sie riskieren?, „Der Spiegel“, Nr. 1/1985, S. 128 Zurück

10 „Der Spiegel“, Nr. 15/1985, S. 21 Zurück

11 M. W. Browne, Star Wars Technology Promisses Host of Peaceful Inventions „International Herald Tribune“, 11. April 1985 Zurück

12 Siehe hierzu auch die Artikelserie von Rainer Rilling: Rüstung und Wissenschaftsfreiheit in den USA, „Informationsdienst“ 3/ 84, 4/ 84, 5/ 84 Zurück

13 COCOM: Boykott mit Folgen, „Wirtschaftswoche“, Nr. 9, 22.2.1985 Zurück

14 Auch das Forschungsministerium wünscht den „ungehinderten Technologietransfer“, „FAZ“ v. 12.4.1985 Zurück

15 Stellungnahme des SPD-Präsidiums zur strategischen Verteidigungsinitiative, „Vorwärts“, 2.3.85 Zurück

Jürgen Scheffran ist Dipl. Physiker und Stipendiat der VW-Stiftung.