STEALTH II

STEALTH II

von Ulrich Albrecht

Das »Dossier Stealth« im Informationsdienst hat ein bemerkenswertes Echo gehabt. Ein freundlicher Kommentar kam selbst aus der Vorstandsetage des neuen Rüstungsmulti Daimler-Benz („sehr informative Arbeit“). Ein substantieller Hinweis erfolgte auf Illustrationen zur Radarerfassung aus unterschiedlichen Winkeln der Stellung von Empfangsantennen sowie unterschiedlicher Stellung eines von Radar erfaßten Objektes. Abb. 1 gibt als gut nachvollziehbares Beispiel die Radarechos eines mittleren Kriegsschiffes wieder. Umrundet eine Radarantenne ein Schiff um 360°, so variiert das Echo: Bug (0°) und Heck (180°) geben verständlicherweise schwächere Echos als wenn das Schiff voll von der Breitseite erfaßt wird (bei 90° und 270°). Dort treten nicht überraschend die stärksten Echos überhaupt auf. Wegen des Vorhandenseins einer Anzahl planer Reflektorflächen bei Bug und Heck liegen hier keineswegs die Minima der Radarreflektionen. Diese werden vielmehr bei leichter Schrägsicht auf das Kriegsschiff erzielt.–Die Echos sind ferner (so Abb. 1) vom Azimut des Radarsignals abhängig. Die drei Linienkreise zeigen Radarechostärken bei drei unterschiedlichen Azimuten und ergeben, daß die Charakteristika der Reflektionen mit Bezug auf die Stellung des Schiffes voll erhalten bleiben. Der »Radarquerschnitt« eines Objektes ist mithin ein Mittelwert, wird er als einfache Zahl angegeben, und man muß genau fragen, ob er für minimale Reflektionsbedingungen, für Frontalsicht oder eine andere Stellung des erfaßten Objektes angegeben wird.

Solche Mittelwerte sind in der Abb. 2 wiedergegeben. Der Wert für den Menschen (1m2) erscheint überraschend hoch. Die Leistung der STEALTH-Ingenieure wird erkennbar, wenn man zur Kenntnis nimmt, daß der Radarquerschnitt für Jäger nunmehr auf 0,01 m² geschätzt wird. Das entspricht einer Platte von 1 cm² oder, an vorhandenen Werten gemessen, dem von einem Singvogel erzeugten Radarecho.1

Stealth-Projekte in der UdSSR

Am substantiellsten bleiben die Hinweise, daß es auch in der UdSSR Stealth-Projekte gibt. Diese Hinweise konzentrieren sich auf das MiG-Team, die im Jägerbau legendäre Ingenieurgruppe, welche einst von Artem Mikojan (von diesem Bruder des sowjetischen Politikers stammt das »Mi« in der Teambezeichnung) und Gurewitsch (einem Mathematiker, »G«) begründet wurde. Der jetzige Leiter dieses Teams, Rostislaw Apollosowitsch Beljakow, äußerte auf dem Pariser Aerosalon in Bezug auf den Radarquerschnitt senkende Kunststoffe beiläufig: „Ich bin ein Fan der Verbundwerkstoffe. Sie sind widerstandsfähig, korrosionsfest und belastbar. Man kann Spezialbeschichtungen verwenden, die für STEALTH gut sind.“ 2 Im gleichen Zusammenhang ist von Forschungsprojekten die Rede, die auch STEALTH-Technologien einschließen.

Westliche Nachrichtendienste geben erstaunliche Details an. Das erste sowjetische Stealth-Flugzeug sei von dem MiG-Team konstruiert worden. Amtlich trage es die Bezeichnung MiG-37 (da gemäß russischem Brauch Kampfflugzeuge mit »männlichen«, ungeraden Zahlen durchnummeriert werden, hieße dies, daß nach der letzten bekannten MiG-Konstruktion, der MiG-31, zwei weitere neue Kampfflugzeuge entwickelt werden). Die NATO bezeichnet die sowjetische Stealth-Maschine als Jäger und hat ihr den Code-Namen »Ferret« (Frettchen) gegeben. Haben die Nachrichtendienste Recht, dann gibt es gar schon Untertypen (in einer japanischen Darstellung wird eine »B«-Variante von einer »E«-Variante unterschieden). Daraus wäre zu folgern, daß das sowjetische Flugzeug ähnlich wie sein amerikanisches Gegenstück, die Lockheed F-117, seit geraumer Zeit fliegt–und die sowjetische Technik auf diesem Gebiet nicht soweit hinterherhinkt, wie allgemein vermutet wird. Abbildungen der MiG-37 zeigen den für Stealth-Konstruktionen erforderlichen, im Vergleich mit herkömmlichen Flugzeugen ungewohnten Aufbau: Die Konstruktion vermeidet scharfe, besonders rechtwinklige Kanten und ist überall sorgfältig gerundet. Das kombinierte Höhen- und Seitenleitwerk (so wird eine Ruderfläche als Radarreflektor gespart) ist schräg am Rumpf angesetzt. Die Triebwerkeinläufe sind oberhalb der Tragflächen angeordnet, um ihre Erfassung durch Bodenradar von vorn und unten zu erschweren. Besonders aufwendig ist das Rumpfheck konstruiert. Die heißen Abgase der beiden Düsentriebwerke werden durch größere an der Rumpfoberseite angebrachte Schlitze sowie kleinere Zuführungen an der Unterseite mit Kaltluft vermischt. Eine weit nach hinten gezogene Schürze deckt die Triebwerkenden gegen eine Erfassung von unten ab, so daß die Infrarotkennung des Flugzeugs weitgehend abgeschwächt wird. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist solch ein Flugzeug ferner außen mit radarabsorbierenden Kunststoffen beschichtet.

Auch fertigungstechnisch hatten die sowjetischen Ingenieure bei der Stealth-Technologie dazuzulernen (der amerikanische Northrop-Bomber B-2 gilt besonders wegen der Innovationen bei seiner Herstellung als technisch revolutionär). Seit Ende der siebziger Jahre experimentiert man in der UdSSR mit Verbundwerkstoffen im Militärflugzeugbau. Zunächst tasteten sich die Ingenieure an die neuartigen Materialien mit Erfahrungen aus dem Metallflugzeugbau heran: radarabsorbierende Platten wurden in herkömmlicher Weise mit Nieten und Schrauben aus Metall befestigt. Das ergab Probleme bei der Verträglichkeit der sehr verschiedenartigen Materialien. Mittlerweile sollen anspruchsvolle Herstellungsverfahren (wahrscheinlich Klebetechniken) Verwendung finden.

Wie sein amerikanisches Gegenstück kann auch die sowjetische Maschine nicht aerodynamisch stabil fliegen. Die klassische Leitvorstellung im Flugzeugbau, gutes Flugverhalten sei durch Stabilität gekennzeichnet, und nach einer kleinen Störung (etwa durch eine Windbö) kehre ein solches Flugzeug von allein in den Geradeausflug zurück, muß aufgegeben werden. Für mehr Stabilität wären zusätzliche Steuerflächen nötig, und die sollen ja gerade wegen ihres überdurchschnittlich großen Radarechos vermieden werden. Der Generalkonstrukteur des MiG-Teams, Beljakow, bestätigte die Instabilität zumindest indirekt: „Die MiG-31 ist das letzte aerodynamisch stabile Flugzeug, welches wir herstellen werden.“ 3

Die Folge: das Stealth-Flugzeug benötigt eine umfängliche und anspruchsvolle Elektronik, da der Pilot allein die Maschine nicht in der Luft halten kann. Bei der MiG-31 werden als Hilfen für den Flugzeugführer ein „cleverer Autopilot“ (Beljakow) sowie mechanisch verstärkte Steuerungen eingesetzt. Für neuere sowjetische Stealth-Flugzeuge, ob sie nun MiG-37 heißen oder nicht, sind technologisch anspruchsvollere Mittel zur Aussteuerung von Instabilitäten um die verschiedenen Achsen erforderlich. Es wird interessant sein, diese aus westlichen Quellen stammenden Abbildungen später einmal mit der wirklichen MiG-37 zu vergleichen, wenn »Glasnost« zur Freigabe von Fotos dieser hochgeheimen Konstruktion führt.

Radarquerschnitte im Mikrowellenbereich

Objekt m2
Insekt 102
Vogel 0,01
Luft – Luft 0,5
Mensch 1
Einmotoriges Sportflugzeug 1
leichtes Jagdflugzeug 2
Fahrrad 2
schweres Jagtflugzeug 6
Großes Motorboot 10
Mittlerer Bomber 20
Schwerer Bomber / Verkehrsflugzeug 40
Jumbojet 100
PKW 100
LKW 200

Anmerkungen

1) Daten nach Bill Sweetman, Stealth Aircraft, Osceola, Wis. (Motorbooks International) 198, S. 35. – Sweetman ist US-Korrespondent des als bestinformiert geltenden englischen Dienstes »Jane`s Defence Weekly«; diesen Hinweis verdanke ich Jürgen Altmann, Bochum. Zurück

2) „Mikoyan Design Group Upgrading MiG-29 With Fly-by-Wire Controls, New Cockpit“, in: Aviation Week & Space Technology, June 5, 1989, S. 81 Zurück

3) Zit. nach ebd. Zurück

Dr. Ulrich Albrecht ist Professor für Politische Wissenschaften an der FU-Berlin

Der Militär-Industrie-Komplex (MIK)

Der Militär-Industrie-Komplex (MIK)

Nachdenken über die Rolle der Wirtschaft im Prozeß der Rüstungsdynamik1 / Unzufriedenheit mit dem MIK-Konzept

Dirk Ipsen

In der Friedensforschung der jüngsten Zeit spielt das MIK-Konzept im Unterschied zu den 60er und 70er Jahren keine nennenswerte Rolle mehr. Abgesehen von den Beiträgen einiger marxistischer Autoren ist damit auch die Thematik der endogenen, wirtschaftlich induzierten Rüstungsdynamik leider wieder in den Hintergrund getreten.

Es wäre sicherlich etwas zu vordergründig argumentiert, wenn man diesen Sachverhalt allein darauf zurückführen wollte, daß die Friedensforschung nun einmal überwiegend von Politikwissenschaftlern betrieben wird, denn es hat durchaus eine intensive Diskussion um das MIK-Konzept gegeben, und aus dieser Diskussion folgte eine nennenswerte Zahl von Kritikpunkten.

Es ist die Auffassung des Verfassers, daß mit der eher peripheren Behandlung von Wirtschaftsinteressen in der Friedensforschung eine Erklärungslücke entstanden ist, die uns umso mehr zu schaffen machen wird, als wir durch die veränderte Sicherheitspolitik der sozialistischen Länder vermehrt mit dem Sachverhalt konfrontiert werden, daß der westliche Rüstungsprozeß eine große Beharrlichkeit gegenüber Änderungen in der »Systemumgebung« aufweist – also offensichtlich starke endogene Kräfte am Werke sind.

Diskussion: Rüstungsdynamik

Das krasse Mißverhältnis zwischen den allenthalben spürbaren Möglichkeiten der Rüstungsreduzierung und den Schwierigkeiten der Verwirklichung hat der Frage nach den Triebkräften des Wett- bzw. Aufrüstens neue Aktualität verliehen. In der kritischen Friedensforschung der späten 60er und der 70er Jahre gab es bereits eine intensive Debatte über die Ursachen der Rüstungsdynamik. Welches sind die bestimmenden Faktoren? Außenpolitische Konstellationen oder innergesellschaftliche Strukturen? Kommt den ökonomischen oder den politischen Verhältnissen Primat zu? Gibt es eine »Eigendynamik« des wissenschaftlich-technischen Fortschritts? Einen wichtigen Diskussionsstrang im Kontext dieses Streites bildete die Theorie vom »Militärisch-Industriellen Komplex«. Der Darmstädter Ökonom Dirk Ipsen hat versucht, sich kritisch mit den bisherigen Positionen auseinanderzusetzen. Dabei sollen bestimmte Einsichten der MIK-Theorie für die neuerliche Diskussion fruchtbar gemacht werden. Seine Thesen bilden den Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung, die wir in den nächsten Heften zu diesem Thema führen wollen.

Um die Diskussion vorwärts zu bringen, muß die Intention des MIK-Konzepts mit seiner Betonung der endogenen, besonders wirtschaftlich induzierten Rüstungsdynamik aufgegriffen werden, jedoch unter Berücksichtigung wichtiger Kritikpunkte der vorausgegangenen Diskussion.

In diesem Sinne möchte ich über das MIK-Konzept nachdenken und prüfen, inwiefern es zu einer Integration von Änderungen in der Lage ist, die sich aus der MIK-Kritik ergeben.

Welches sind nun die zentralen Kritikpunkte am MIK-Konzept? Auskunft gibt hier vor allem ein von St. Rosen herausgegebenen Sammelband unter dem Titel „Testing the Theory of the Military-Industrial Complex“, in dem wesentliche Argumente bereits im Jahre 1973 vorgetragen worden sind:

  • Das MIK-Konzept neige zu einer ideologischen Position, indem es in einer politisch motivierten Vorwegentscheidung der sowjetischen Rüstung einen reaktiven und defensiven Charakter unterstelle und auf dieser Basis den expansiven Prozeß der westlichen Rüstung erkläre.
  • Die im Terminus »Komplex« zusammengefaßte Einheit von militärischen-administrativen und wirtschaftlichen Interessengruppen verdeckte die Fragen nach der inneren Struktur dieses »Komplexes« und seiner Wirkungsweise. So werde die Umsetzung dieser Interessen in politisches Handeln nicht erklärbar. Anstelle einer Erklärung werde der unbeschränkte Einfluß dieses Interessenkomplexes einfach unterstellt.
  • Auch wenn man von einem solchen Interessenverband ausgehe, bleibe doch zu beachten, daß dieser Komplex im politischen Bereich in Konkurrenz zu einer Reihe weiterer Komplexe trete (z.B. der Agrarwirtschaft, der Exportwirtschaft usw.) und damit die Frage der Einflußstärke einer besonderen Erklärung bedürfe, zumal es letztlich immer um die Verteilung knapper Haushaltsmittel gehe.
  • Die Ebene internationaler Politik und die Ost-West-Konflikte dürfe als aktives Element in der Erklärung der Rüstungsdynamik nicht ausgeblendet werden (vgl. z.B. Müller 1985).
  • Das Eigeninteresse von Politikern, bei Rüstungsentscheidungen eine Reihe von politischen Nebenzielen zu verfolgen, sei gleichfalls ein wichtiger Erklärungsbestandteil der Rüstungsdynamik; man denke an regionalpolitische und technologiepolitische Aspekte der Rüstungsproduktion (Mechtersheimer 1977).

Die meisten dieser Kritiken konzedieren durchaus, daß die Wirtschaftsinteressen „irgendwie“ von Bedeutung sind, relativieren jedoch die Betonung der Dominanz wirtschaftlicher Interessen, die in der Rezeption des MIK-Konzepts – vor allem in der Bundesrepublik – vorherrscht (Grünewald 1988).

Der Verfasser – zumal als Ökonom – möchte sich mit diesem „irgendwie“ des wirtschaftlichen Einflusses nicht abfinden, und deshalb geht die Frage dahin, ob das MIK-Konzept so „geöffnet“ werden kann, daß es zur Formulierung von Hypothesen und zur Operationalisierung des wirtschaftlichen Einflusses auf die Rüstungsdynamik kommen kann. Dabei soll der Gefahr widerstanden werden, unmittelbare, plausible, ad hoc-Behauptungen zu formulieren, sondern methodologische Überlegungen anzustellen, die es erlauben und reizvoll erscheinen lassen, Forschungsaktivitäten in dieses Feld zu investieren. Entscheidend erscheint es mir hierfür, den Begriff des Komplexes von Interessen aufzulösen und in seine wichtigen Bestandteile zu zerlegen. Anstelle der a priori Annahme einer Interessenidentität von Rüstungswirtschaft und Politik (mit der Administration als Transmissionsinstanz) treten dann folgende Fragestellungen:

Welches sind die Elemente des wirtschaftlichen Interesses, sowie des politischen Interesses an der Rüstungsproduktion?

Unter welchen Bedingungen kann eine Interessenkoalition erwartet werden?

Wirtschaftliches Interesse an der Rüstungsproduktion

Zur Bestimmung des wirtschaftlichen Interesses gibt es den Vorschlag von J.R. Kurth (1972, 1973), das Interesse an der Auslastung von in der Rüstungsproduktion gebundenen Kapazitäten in den Vordergrund zu stellen (»follow-on-principle«). Das setzt die Unterscheidung zwischen der aktuellen Produktion (P) und der Rüstungskapazität (K) voraus; der Auslastungsgrad der Kapazitäten (K/P) liegt im Bereich kleiner/gleich 1. Sinkt der Auslastungsgrad infolge des Auslaufens eines Rüstungsmodells, so engagieren sich die Rüstungsfirmen in der Entwicklung eines Nachfolgemodells und organisieren mit Hilfe der Rüstungsadministration einen Nachfolgeauftrag, dessen Spezifikation ähnliche Strukturen aufweist wie die vorausgegangenen.

Impliziert wird hier auch offensichtlich eine politische Grundentscheidung für die Aufrechterhaltung einer nationalen Rüstungskapazität, die die Politiker in ihrer Entscheidungsfreiheit einengt auf die Optionen einer Erhaltungssubvention ohne Produktionsauftrag oder eben einen »follow-on«-Auftrag.

Nicht unproblematisch ist bei diesem Vorschlag die Annahme gegebener Rüstungskapazitäten, denn streng genommen bedeutet das eine kontinuierliche Produktion auf gegebenem Niveau; es handelt sich also um ein statisches Prinzip. Aus betriebswirtschaftlicher Sicht des Managements ist das jedoch in mehrfacher Hinsicht problematisch: Zum einen gehört es zu den Aufgaben des Managements, die vorhandenen Kapazitäten wirtschaftlich abzuschreiben, so daß am Ende einer Produktionsserie die investierten Mittel (und ein Gewinnaufschlag) wieder zurückgeflossen sind. In diesem Sinne gibt es also keine fixen Kapazitäten. Zum anderen ist die Rüstungsproduktion fast immer nur ein Teil einer umfassenderen Produktpalette von zumeist großen Unternehmen. Das Interesse des Managements richtet sich deshalb auch eher auf die relative Rentabilität des eingesetzten Kapitals in den verschiedenen Produktionszweigen. Die Rüstungsproduktion müßte demgemäß mindestens die gleiche Rendite erbringen wie in den alternativen zivilen Produktionsbereichen.

Wenn es also nicht haltbar ist, von einer gegebenen Rüstungskapazität in technischer oder wirtschaftlicher Hinsicht zu sprechen, so stellt sich die Frage, in welchem Sinne überhaupt von einer gegebenen Kapazität gesprochen werden kann. Ich vermute, daß diese Kapazitäten letzten Endes in dem vorhandenen Potential an qualifizierten Arbeitskräften bestehen – also der sogenannten Kernbelegschaft einschließlich des Managements der Rüstungsabteilung. Der Auf- und Abbau dieses Potentials bei diskontinuierlicher Rüstungsnachfrage würde erheblichen Aufwand bedeuten; insbesondere könnte die „Wiederbeschaffung“ von qualifizierten Arbeitskräften in einer einigermaßen florierenden Ökonomie zu erheblichen Schwierigkeiten, zusätzlichen Kosten und nennenswerten zeitlichen Verzögerungen in der Produktionsbereitschaft führen.

Gehen wir also davon aus, daß von politischer Seite eine hinreichende Rendite der laufenden Rüstungsproduktion zugesichert wird (Kalkulation zu Selbstkosten plus Gewinnaufschlag als Vertragsgrundlage), so besteht das unternehmerische Interesse darin, trotz diskontinuierlicher Waffennachfrage seitens des Staates, die »qualitative Rüstungskapazität« in der Form des Potentials qualifizierter Arbeitskräfte aufrecht zu erhalten. Die unternehmerischen Handlungsmöglichkeiten hierfür bestehen im Prinzip in den folgenden Alternativen:

  1. Bei Auslaufen einer Produktionsserie werden die Kernbelegschaften innerhalb des Mischkonzernes umgesetzt (interner Arbeitsmarkt), bis ein neuer Rüstungsauftrag eingeworben worden ist.
  2. Die Kernbelegschaft verbleibt im Rüstungsbereich und wird dort neben Wartungs- und Ersatztätigkeiten vor allem mit der Neuentwicklung von technisch überlegenen Nachfolgemodellen beschäftigt.

Welche der beiden Alternativen dominiert, hängt dann stark von den Expansionschancen in den zivilen Produktionsbereichen ab. Je geringer die Wachstumserwartungen dort sind, desto mehr verlagert sich der Druck auf die zweite Alternative. In dieser zweiten Alternative liegt jedoch ein erheblicher rüstungsdynamischer Effekt verborgen, denn jede erfolgreiche Rüstungsinnovation läßt die vorhandenen eigenen wie gegnerischen Waffen veralten: Der »qualitative Rüstungswettlauf« hat hier sein institutionelles ökonomisches Fundament.

Durchsetzungschancen im politischen Bereich

Ein explizites wirtschaftliches Interesse an der Aufrechterhaltung eines qualitativen Rüstungspotentials darf noch nicht gleichgesetzt werden mit der Umsetzung dieses Interesse in politische Entscheidungen für die Beschaffung von Rüstungsgütern oder die Vergabe von Entwicklungsaufträgen. Macht man Ernst damit, die innere Struktur des »Komplexes« zu beleuchten, so stellt sich die Frage nach den politischen Eigeninteressen an der Rüstungsproduktion und schließlich nach der Kompatibilität von politischen und wirtschaftlichen Interessen (Koalitionsbildung). Ich referiere hier aus den vorhandenen Untersuchungen folgende Elemente des politischen Interesses:

1. Das Element der Souveränitätswahrung enthält auch die Entscheidung für eine nationale Rüstungswirtschaft (s.o.) und schließt von vornherein die Wahlmöglichkeiten der Beschaffung von Waffen auf dem internationalen Markt aus.

2. Das Element der Wahrung der politischen Identität in ideologischer Hinsicht enthält auch eine Einschätzung der Bedrohungslage und beeinflußt im konkreten Fall das Abstimmungsverhalten in den Parlamenten. So zeigten Untersuchungen zum Abstimmungsverhalten US-amerikanischer Senatoren bei Rüstungsentscheidungen, daß die politische Grundauffassung sogar über lokale Interessen dominiert (Cobb 1973). Auf diese Weise nimmt die internationale Spannungslage indirekt Einfluß auf die Durchsetzungschancen wirtschaftlicher Interessen.

3. Da die bedeutenden Rüstungsentscheidungen stets auch staatliche Finanzmittel bindet, ohne einen für die Wähler unmittelbar spürbaren Vorteil zu gewähren, haben Politiker ein Interesse an der Verfolgung von politischen Sekundärzielen bei Rüstungsaufträgen wie Regionalförderung, Technologieförderung, Exportförderung (Mechtersheimer 1977).

Während das erste Element des politischen Interesses eine Einschränkung des politischen Handlungsfeldes bedeutet und eine grundlegene politische Verpflichtung gegenüber der nationalen Rüstungswirtschaft mit sich bringt, wirken die beiden weiteren Elemente eher in die Richtung einer Verbreiterung der politischen Akzeptanz bei konkreten Rüstungsentscheidungen: Je beängstigender die Bedrohungslage und je notwendiger die Verfolgung von Sekundärzielen ist, desto stärker wird die Akzeptanz von Rüstungsaufträgen in politischen Gremien sein.

Hypothesen und Systemkonstellationen

In diesem Abschnitt der Überlegungen soll gezeigt werden, wie vor dem Hintergrund der vorgenommenen Differenzierungen und Spezifizierungen möglich ist, zu Hypothesen über Zusammenhänge von Systemzuständen und Aufrüstungsdruck zu kommen und verschiedene Typen von Systemkonstellationen zu unterscheiden. Dies sollte beispielhaft verstanden werden, denn der konkrete Untersuchungsfall erfordert sicherlich weitergehende Spezifikationen.

Aus dem Vorausgegangenen kann man schließen, daß ein beobachtbarer Aufrüstungsvorgang entweder einseitig induziert sein kann – sei es von der politischen oder von der wirtschaftlichen Interessenlage dominiert, oder beidseitig durch eine »große Interessenkoalition« hervorgerufen wird2. Folgende Beispiele sollen das illustrieren:

1. Wirtschaftlich induzierter Aufrüstungsdruck

Die wirtschaftliche Lage ist dann durch folgende Variablen gekennzeichnet:

  • Die Kapazitätsauslastung im Rüstungsbereich sinkt.
  • Die Renditerelation (R) zwischen ziviler und militärischer Produktion (R = rz/rm) sinkt. Das bedeutet eine verringerte Möglichkeit und Attraktivität der Konversion in zivile Bereiche und impliziert vermutlich eine sich verschlechternde gesamtwirtschaftliche Lage (rz sinkt) bei gleichbleibendem institutionellem Modus bei der Abwicklung von Rüstungsaufträgen (rm=konst.);
  • Die Rüstungsproduktion ist in wenigen großen Unternehmen konzentriert, so daß eine hohe »Entscheidungskonzentration« vorliegt. Die wirtschaftliche Seite bildet also potente Verhandlungspartner und kann leichter koalieren. Dadurch wird die Transmission des wirtschaftlichen Rüstungsinteresses in den politischen Bereich begünstigt.

Diese wirtschaftliche Interessenlage trifft auf eine politische Konstellation, die nur bedingt koalitionsbereit ist und zumindest nicht selbst aktiv die Rüstungsexpansion betreibt. Wir könnten als Beispiel folgende Konstellation vorfinden:

  • Die Rüstungspolitik verfolgt grundsätzlich die nationale Option;
  • Die internationale Spannungslage hat keine negativen Veränderungen erfahren;
  • Wenn die Rüstungsproduktion eine bedeutende regionale – oder branchenmäßige Konzentration aufweist, spielen die politischen Nebenziele eine aktive Rolle, zumal die wirtschaftliche Gesamtlage schlechter wird (s. Renditerelationen).
  • Die Finanzbeschränkungen des staatlichen Haushalts sind aber gravierend und lassen sich durch Neuverschuldung nicht hinausschieben.

In dieser Konstellation gibt es einen eindeutig aktiven Part der Rüstungswirtschaft und eine zumindest partielle Interessenüberlappung zwischen beiden Bereichen.

2. Politisch induzierter Aufrüstungsdruck

Dieser Fall stellt gewissermaßen die Umkehrung des ersten Falles dar. Die politische Seite wird aktiv und stößt auf eine eher passiv agierende Rüstungswirtschaft. Hier müßte zumindest R größer 1 sein, eventuell begleitet von einer niedrigen Entscheidungskonzentration, so daß die Rüstungswirtschaft zivile Produktionen präferiert.

Dagegen wäre die politische Seite durch ein aktives Aufrüstungsinteresse charakterisiert (bedrohliche Spannungslage, nationale Option); auch wären die finanziellen Restriktionen gering, beziehungsweise die Bereitschaft zur Neuverschuldung groß.

Diese Konstellation erinnert in einigen Zügen durchaus an die erste Phase der Wiederaufrüstung der Bundesrepublik Deutschland, als von wirtschaftlicher Seite deutliche Bedenken wegen des damit verbundenen Ressourcenproblems – vor allem der Arbeitskräfteknappheit – geäußert wurden. Auch die staatlichen Bemühungen zur Erhöhung der Rüstungskonzentration passen in dieses Bild.

3. Große Aufrüstungskoalition

Dieser Fall stellt gewissermaßen die größte Annäherung an die Vorstellung des MIK dar; hier treffen sich ein aktives wirtschaftliches und politisches Rüstungsinteresse in Kombination der beiden obigen Fälle. Allerdings kann in dieser Konstellation eher von einer Koalition als von der Dominanz einer der beiden Parteien gesprochen werden.

Vor diesem Hintergrund könnte auch die gegenwärtige Situation untersucht werden, in der viele Merkmale auf einen Aufrüstungsdruck verweisen, sich jedoch gleichzeitig die Spannungslage entschärft hat. Wichtige Rüstungsentscheidungen scheinen sich zur Zeit von der internationalen Lage abzukoppeln und verweisen darauf, daß hier – rein aus der Forschungsperspektive gesehen – ein Testfall für die Stärke der endogenen Kräfte im Prozeß der Rüstungsdynamik entsteht.

In politischer Hinsicht stellt sich natürlich die Frage, ob die hier vorgeschlagene Vorgehensweise geeignet ist, politische Eingriffsmöglichkeiten in den Prozeß der Rüstungsdynamik aufzuweisen. Obgleich man zurückhaltend sein muß mit der unmittelbaren Anwendung solcher abstrakten und methodischen Überlegungen, möchte ich auf einige solche Eingriffsmöglichkeiten hinweisen:

Die Eingriffsmöglichkeiten mit dem Ziel, die Dynamik des Rüstungsprozesses zu stoppen und zumindest einen stationären Zustand zu erreichen, variieren je nach Systemkonstellation. So bietet die Konstellation der großen Aufrüstungskoalition naturgemäß fast keine Eingriffsmöglichkeiten aus dem System heraus. Es ist dies eher die Zeit für außerparlamentarische Bewegungen. Auch der Fall 2 einer politisch induzierten Aufrüstung verbietet es, an eine Politik der Rüstungsbegrenzung zu denken. Am günstigsten scheinen noch die Chancen im Falle eines wirtschaftlich induzierten Aufrüstungsdrucks zu sein, weil politische Interessen hier zumindest prinzipiell eine alternative Politik durchführen könnten. Dazu gehört nicht so sehr die heroische Ablehnungsgeste, sondern ein Bündel von weitreichenden Entscheidungen: Zu denken ist in erster Linie an die Aufhebung der nationalen Beschaffungsoption, die ohnedies angesichts multinationaler Blöcke und der Zerstörungsdrohung binnen Stunden keine reale Bedeutung bei der Wahrung der nationalen Souveränität besitzt, sondern eher eine symbolische Geste darstellt, die allerdings ungeahnte Folgewirkungen nach sich zieht. Darüber hinaus müßte eine systematische Veränderung der Renditerelation zugunsten ziviler Produktion und gegebenenfalls auch neu zu schaffender Betätigungsfelder (Entwicklungsländer, Umwelt usw.) das wirtschaftliche Eigeninteresse an Konversion zum Tragen bringen. Mit Sicherheit müßte ergänzend eine aktive Regional- und/oder Branchenstrukturpolitik betrieben werden, um die Folgewirkungen starker Anpassungs- und Umstellungsvorgänge bei der heute vorherrschenden hohen Wirtschaftskonzentration abzufedern. Damit muß die Gefahr unheiliger Allianzen von Arbeitnehmern, die um ihre Arbeitsplätze bangen und den etablierten Rüstungsinteressenten verhindert werden.

Vorstellbar und konzipierbar wäre dies alles, vorausgesetzt, die internationale Spannungslage entwickelt sich weiterhin zum Positiven und die MIK-Konstellation ist tatsächlich nicht der Standardfall, sondern einer von mehreren Systemzuständen, dessen Bedeutung also zu relativieren wäre. Für die Friedensforschung liegt hier ein wichtiges Betätigungsfeld, das die Zusammenarbeit von Naturwissenschaftlern und Sozialwissenschaftlern erforderlich macht.3

Literaturhinweise:

Cobb, St.: The United States Senate and the Impact of Defense Spending Concentrations, in: Rosen, St. (s.u.) pp. 197-223
Grünewald, J.: Der Militärisch-Industrielle Komplex: Überblick über die theoretische Diskussion und der Versuch der empirischen Nachweise in der BRD, Manuskript Darmstadt 1988
Kurth, J.R.: The Political Economy of Weapons Procurement: The Follow-on Imperative, in: Am. Ec. Review, Paper and Proceedings 1972, pp 3o4-311
Ders.: Aerospace Production Lines and American Defense, in: Rosen, St. (s.u.) pp 135-156
Mechtersheimer,A.: Der militärisch-industrielle Komplex und das Rüstungsprogramm MRCA, in: K.E. Schulz (Hrsg.), Militär und Ökonomie, Göttingen 1977
Müller, E.: Rüstungspolitik und Rüstungsdynamik: Fall USA, Baden-Baden 1985
Rosen, St. (ed.): Testing the Theory of Military-Industrial Complex, Toronto, London 1973

Anmerkungen

1 Dieser Beitrag stellt die ausgearbeitete Form eines Vortrags auf dem Kongreß der Naturwissenschaftler-Initiative in Tübingen vom 2.-4.Dezember 1988 dar. Zurück

2 Die Interessen der militärischen Führung und der Rüstungsadministration wurden in den Ausführungen nicht explizit eingeführt. Das mag im konkreten Untersuchungsfall als Ergänzungsbedarf auftreten. Es gibt jedoch auch ein inhaltliches Argument hierfür: Das im militärischen und administrativen Bereich angelegte »worst-case-thinking« läßt im Zweifel mehr und bessere Waffen stets als besseren Zustand erscheinen. Insofern treten diese Interessen nicht als Beschränkungen in diesem System auf. Zurück

3 Es sei hier auf das Projekt einer interdisziplinären Forschungsgruppe zu naturwissenschaftlich-technischen Aspekten der Sicherheitspolitik an der TH-Darmstadt hingewiesen. Zurück

Dr. Dirk Ipsen ist Hochschullehrer im Fach Volkswirtschaft an der Technischen Hochschule Darmstadt.

Wie tief fliegt der Jäger ’90?

Wie tief fliegt der Jäger ’90?

Der Jäger 90 im Einsatzkonzept der Luftwaffe

von Otfried Nassauer

„Machen wir uns keine Illusionen. Heute sind es die Tiefflüge, morgen sind es die Manöver, übermorgen wird die gesamte Bundeswehr in Frage gestellt.“ Wo Herr Professor Doktor Scholz, Bundesminister der Verteidigung a.D., recht hat, da hat er recht. Und mit obigen Worten hat der Herr Minister ade Professor Doktor gar nicht so unrecht. Er weist nämlich darauf hin, daß der Ärger über die Symptome des Molochs Militär schnell zum politischen Widerstand gegen die Ursache, also das Militärische selbst werden kann. Ganz soweit führt dieser Artikel nicht, wohl aber möchte er die Notwendigkeit verdeutlichen, den Ärger über das verschwenderische Jagdflugzeug der neunziger Jahre und über den Lärmterror des Tieffluges in politische Opposition gegen eine der wesentlichen Ursachen beider Ärgernisse zu verwandeln: die nukleare Abschreckung, die NATO-Strategie der flexiblen Antwort und die in diese eingebettete Luftwaffendoktrin der NATO-Staaten.Diese politisch festgelegten militärischen Konzepte nämlich, machen beide, den Tiefflug und den Jäger 90 erforderlich und die sogenannte atomare »Modernisierung« darüberhinaus ebenso.

Die Phantom ist für ihr überaus lautes Triebwerk bekannt. Es ist so laut, daß gegen Ende der siebziger Jahre zwecks Lärmreduzierung eigens für die Phantom und den Starfighter eine gesonderte Mindestflughöhe im Tiefflug von 245 Metern (sonst gilt 150 Meter) verordnet wurde. 1980 wurde diese Maßnahme wieder aufgehoben; das Triebwerk aber blieb unverändert. Heute fliegt der Donnervogel – laut wie eh und je – so tief wie alle anderen Kampfflugzeuge auch: 150 m bzw 75 m in den Tieffluggebieten.

Fliegt der Jäger 90 tief?

Wenn er nicht vorher aus politischen oder wirtschaftlichen Gründen abstürzt, lautet die Antwort „JA!“. Das neue Jagdflugzeug soll in einer »Zweitrolle« als Jagdbomber dienen, es soll zudem „Begleitschutz für den Tornado“ fliegen. Zumindest für diese beiden Aufgaben ist es erforderlich, tief zu fliegen. So stehen denn auch „gute Tiefflugeigenschaften“ in der taktischen Forderung für das neue Milliardenprojekt.

Aber so einfach wollen und können wir es uns nicht machen. Denn mit guten Argumenten behaupten militärische Fachleute, daß moderne Jagdflugzeug-Technik die Tiefflugnotwendigkeit reduziert und modernste Triebwerke leiseren Lärm machen.

Dies macht eine genauere Betrachtung des Einsatz- und Aufgabenspektrums für das neue Jagdflugzeug sowie der Luftwaffendoktrin der NATO erforderlich.

Luftverteidigung im Tiefflug?

Hauptaufgabe des Jäger 90 ist – laut Darstellung der Bundeswehr – der Jagdkampf, also die Bekämpfung gegnerischer Flugzeuge in der Luft, vorrangig über dem Gebiet der Bundesrepublik. Jäger sollen Luftüberlegenheit herstellen, möglichst gar Luftherrschaft, über eigenem Territorium, aber auch in den gegnerischen Luftraum hinein. Das bemannte Flugzeug ergänzt dabei Flugabwehrgeschütze und -raketen, schließt Lücken in der Luftverteidigung, wenn der Gegner die bodengestützte Flugabwehr überwindet, eilt zu Hilfe, wenn mehr gegnerische Flugzeuge angreifen, als die Raketen und Geschütze bekämpfen können.

Weder dieses Bedrohungsbild noch die daraus abgeleitete Rechtfertigung der Arbeiten am Jäger 90 sind hier Gegenstand der Argumentation und Kritik. Gefragt werden soll nach der Rolle des Tieffluges bei diesen Aufgaben.

Heute ist für diese Aufgabe Tiefflug erforderlich. Der Jäger und Jagdbomber Phantom F-4F erfüllt sie zur Zeit. Die Bundesluftwaffe setzt ihn in vier Geschwadern dazu ein.

Gegnerische Jagdbomber fliegen zum Schutz vor frühzeitiger Entdeckung und zur Verkürzung der Zeit, in der sie von der Flugabwehr bekämpft werden können, so tief und so schnell wie möglich. Im Krieg liegen die Einsatzgeschwindigkeiten um 1000 km/h und die Einsatzhöhen zwischen 30 und 60 Meter, wenn möglich sogar darunter. Im Frieden ist die Ausbildung eingeschränkt. Mindestens 150 Meter Höhe (75 m für den simulierten Zielanflug in 7 Areas) und maximal 835 km/h, so lauten die Vorschriften.

In der Jagdflugaufgabe ist Tiefflug vor allem wegen der technischen Auslegung der Phantom erforderlich. Das ältere Radar hat eine relativ kurze Reichweite und kann tieffliegende Flugzeuge aus größerer Höhe nicht eigenständig gegen den Erdhintergrund von oben orten. Zudem unterstützt es nur Luft- Luftraketen relativ geringer Bekämpfungsreichweite. Eine Phantom muß Tiefflieger im Tiefflug bekämpfen, nachdem sie aus ihrem Warteraum an sie herangeführt worden ist. Wie ein Habicht stürzt sie dann auf ihren Gegner herab und versucht durch komplizierte Flugmanöver in eine günstige Schußposition für ihre Bordwaffen zu kommen.

Jagdflugzeuge modernerer Bauart – oder besser mit moderneren Radaren und Bordwaffen – können auf viele dieser Tiefflugmanöver verzichten: Ihre Radare erkennen auch den tieffliegenden Gegner schon aus großer Höhe und erlauben die Bekämpfung mehrerer Flugzeuge aus vielen Winkeln sowie auf große Entfernungen, selbst jenseits des optischen Horizontes, auf 50-80 km Entfernung. Das alles geht sehr schnell. Für den eigentlichen Luftkampf z.B. des Jägers 90 werden Treibstoffreserven für nur 2-3 Minuten als ausreichend erachtet.

Beim Jäger 90 ist ein solch modernes Hochleistungsradar vorgesehen; zwei Firmenkonsortien wetteifern seit Jahren verbissen um den Auftrag. Der Jäger 90 wird ein »look down shoot down« Radar erhalten. Beide Radarvorschläge unterstützen Jagdflugzeuge bei der Bekämpfung von oben nach unten und über große Distanzen mit Luft-Luft-Raketen mittlerer Reichweite. Die für den Jäger 90 vorgesehene Waffe dieser Art heißt AMRAAM (Advanced Medium Range Air to Air Missile).

Die neuen Fähigkeiten des Radars werden sicher viele heute im Tiefflug stattfindende Luftkämpfe überflüssig machen. Der Jäger 90 wird also weniger Tiefflug für die Luftverteidigungsaufgabe absolvieren müssen als die Phantom heute. Jedoch: Die Einrüstung des modernen amerikanischen APG-65-Radars (dessen Weiterentwicklung auch für den Jäger 90 angeboten wird) und der AMRAAM-Rakete sind auch schon bei der Kampfwertsteigerung der für den Jagdauftrag eingeplanten Phantom F4-F vorgesehen, die die Bundesluftwaffe ab 1991 durchführen will. Mit der Einführung des Jäger 90 wird die Tiefflugnotwendigkeit im Jagdkampf im Vergleich zur kampfwertgesteigerten Phantom also nicht nochmals wesentlich reduziert. Abzuwarten bleibt, ob des Jägers Triebwerk leiser Lärm machen wird.

Luftangriff – der Kern der Tiefflugaufgabe

Die von der NATO angenommene Bedrohungslage spiegelt auch die eigenen operativen Pläne. Man unterstellt dem Gegner ein Konzept, das man selbst durchzuführen gedenkt. „Unter dem Zaun der gegnerischen Luftabwehr hindurch“, die Deckung durch das Gelände nutzend, sollen NATO-Jagdbomber wie die F-16, der Tornado oder zukünftig die F-15E Strike Eagle ihre Ziele in der DDR, CSSR, in Polen und der UdSSR anfliegen. Der Jagdbomber bekämpft gegnerische Streitkräfte am Boden. Er stellt das eindeutig offensiv operierende Element der Luftstreitkräfte dar. Dabei sind verschiedene Aufgabenbereiche und Zielkategorien in verschiedener Tiefe im gegnerischen Hinterland zu unterscheiden.

1. Jagdbomber fliegen Luftnahunterstützung. Dies beinhaltet die direkte Bekämpfung gegnerischer Truppen aus der Luft in Unterstützung der eigenen Frontverbände. So kann man die eigene Verteidigung stärken, aber auch eigene Angriffe zu verwirklichen helfen. Feindliche Panzer und Kampftruppen sind die Hauptziele. Während die USA diese Aufgabe mit dem teilgepanzerten A-10 Kampfflugzeug (Remscheid) wahrnehmen, setzt die Bundesluftwaffe Alpha Jets und Phantom für diese Aufgabe ein.

Der tieffliegende Jagdbomber über oder knapp jenseits der Front ist Gefährdung durch die massierte Frontluftabwehr ausgesetzt. Je moderner die kleinen, tragbaren Flugabwehrraketen in der Vergangenheit wurden, desto gefährlicher wurden diese Einsätze. Die USA diskutieren noch, ob sie in der Zukunft ein speziell für diese Aufgabe konstruiertes Flugzeug weiter einsetzen wollen. Die Bundesluftwaffe hat entschieden, den leichten Jagdbomber Alpha Jet nicht zu modernisieren und diese Luftwaffenaufgabe zu reduzieren. Phantom und zusätzlich geplante Tornados sollen die Aufgabe – wo unbedingt erforderlich – übernehmen.

Diese Entscheidung fiel angesichts der steigenden Fähigkeit der Heeresartillerie, präzise und genau auch weiter entfernte Ziele zu bekämpfen. Die evolutionär-revolutionär verlaufende Entwicklung halb- und intelligenter Munition, zeitverzugsloser Aufklärung und moderner Raketenwaffen hat dies ermöglicht. Das Gefecht „in die Tiefe“ – wie in der US-amerikanischen AirLand Battle-Doktrin und der FOFA (Follow on Forces)- Doktrin der NATO angelegt – kann heute bereits mit moderner Artilleriemunition und Raketenwerfern wie MARS sehr effektiv geführt werden. Die Leistungskraft der Landstreitkräfte wird durch die Einführung konventioneller ATACMS-Systeme (Army Tactical Missile System, ein Zweifachraketenwerfer mit ca 150-200 km Reichweite, der zu Beginn der 90er Jahre eingeführt werden soll) weiter steigen. Eine enorme Steigerung der Heereskampfkraft entwickelt sich auch aus der zunehmenden Einführung von Kampfhubschraubern.

Sowohl in den USA als auch z.B. bei der Bundeswehr sind aus diesen Entwicklungen erste Schlußfolgerungen gezogen worden. Begann in der Vergangenheit die Planungshoheit der Luftwaffen (gegenüber der der Heere) ca 30 km jenseits der vorderen Linie der eigenen Verbände, so wird der Planungsbereich des Heeres nunmehr auf 100 km erweitert, eine Auswirkung der zunehmenden Durchsetzung der offensiven operativen und taktischen Vorstellungen der AirLand Battle Doktrin in der NATO.

In der Zukunft wird mit dem weiteren Zulauf modernster und effektiver Heeresartillerie der Bedarf an Luftnahunterstützung zurückgehen. Die Luftwaffe wird vor allem und wenn möglich nur noch bei Bedarf einer umfangreichen Schwerpunktbildung in dieser Aufgabe eingesetzt werden. Dies gilt insbesondere, wenn ein feindlicher Durchbruch durch die eigenen Reihen verhindert werden soll oder wenn eigene Verbände einen Durchbruch durch die gegnerische Front durchführen wollen. Die Einführung von Abstandswaffen mit intelligenten Submunitionen auch bei den Luftwaffen soll dabei die Notwendigkeit reduzieren, in den Wirkungsbereich der gegnerischen Luftabwehrwaffen einfliegen zu müssen. Der Anflug zum Einsatzgebiet wird trotzdem weiter im Tiefflug geschehen.

2. Jagdbomber riegeln das Gefechtsfeld ab. Hier werden Flugzeuge eingesetzt, um die gegnerischen Fronttruppen von ihrem Nachschub abzuschneiden. Treibstoffe, Munition, Material und frische Verbände, die in großer Zahl an die Front herangeführt werden müssen, sollen angegriffen und zerstört werden, bevor sie die Front erreichen. Mobile Ziele wie LKWs, Tankfahrzeuge, Truppentransporter und Kampffahrzeuge sind in großer Zahl zu bekämpfen, ebenso wie stationäre Ziele, z.B. frontnahe Depots, Befehlszentralen, Verkehrsknotenpunkte und -engpässe oder Einsatzflugplätze. Diese Ziele liegen bereits tiefer auf gegnerischem Territorium, 15, 30, 100 km von der eigentlichen Front entfernt. Moderne konventionelle Munitionen und Aufklärungsmittel machen auch auf diese Entfernungen schon heute effektive Bekämpfung möglich. In der Zukunft werden diese Möglichkeiten weiter steigen, nicht nur für die Luftwaffen, sondern auch für die Heeresraketenartillerie.

Der Flug ins gegnerische Hinterland erfolgt im Tiefstflug. Je weiter die Ausrüstung der Luftwaffen mit modernsten konventionellen Munitionen voranschreitet, desto deutlicher werden hier Schwerpunkte gesetzt werden. Dem Erfolg der Abriegelungseinsätze wird entscheidender Einfluß auf den Erfolg der Bodentruppen beigemessen. Die Bundesluftwaffe setzt für diese Aufgabe alle Typen von Jagdbombern ein, die ihr zur Verfügung stehen, den Alpha Jet, die Phantom und den Tornado. Auch der Jäger 90 – in seiner Zweitrolle als Jagdbomber – wird in diesem Aufgabenspektrum zum Einsatz kommen.

3. Jagdbomber haben die Aufgabe der Abriegelung. Die Abriegelung unterscheidet sich von der Gefechtsfeldabriegelung vor allem durch die noch größere Entfernung der Ziele, die bekämpft werden sollen. Diese liegen oft Hunderte von Kilometern jenseits der Front. Es handelt sich auch hier um stationäre Ziele wie Depots, Verkehrsknotenpunkte, Engpässe wie z.B.die Eisenbahnspurwechselzone zwischen der UdSSR und Polen oder wichtige Flußbrücken, bedeutende Infrastruktureinrichtungen und Kommandozentralen. Zum Teil gilt es auch, Verstärkungen der Frontkampftruppen auf dem Wege nach vorne zur Front zu bekämpfen. Schwerpunktwaffe der Bundesluftwaffe für diesen Aufgabenbereich ist der Tornado. Andere Jagdbomber können ergänzungsweise eingesetzt werden.

Erneut ist der Tiefflug das wesentliche Mittel zur Durchsetzung gegen die gegnerische Luftverteidigung. Abriegelungseinsätze haben einen sehr hohen Tieffluganteil.

4. Jagdbomber bekämpfen die gegnerische Luftwaffe am Boden. Gleich zu Beginn eines Krieges wird ein entscheidendes Gefecht ausgetragen – das um die Luftüberlegenheit. Dieses findet aber nicht nur in der Luft – Kampfflugzeug gegen Kampfflugzeug – statt. Der ehemalige Luftwaffeninspekteur und heutige stellvertretende NATO-Oberbefehlshaber Eberhard Eimler machte dies schon im Juni 1984 so deutlich: „Der Durchbruch im Kampf um die Luftüberlegenheit muß jedoch durch Initiative und ständige Offensive erreicht werden. Diese Forderung steht am Anfang der Luftkriegslehre.(…) Alle Kampfflugzeuge der Luftwaffe haben die Fähigkeit, zum initiativ geführten Kampf gegen Luftstreitkräfte beizutragen. Mit dem Tornado und seiner modernen Bewaffnung werden wir auf lange Sicht ein hervorragendes System mit guter Erfolgsaussicht auch im Kampf gegen die Basen (d.h. Flugplätze) einsetzen können.“

Der Gedanke ist klar und einfach: Entscheidend ist, die gegnerische Luftwaffe zu bekämpfen bevor sie abheben kann, sie zumindest aber zu zwingen, auf Hilfsflugplätze auszuweichen. Gleich zu Beginn eines Krieges also gilt es, des Gegners Haupteinsatzflugplätze auszuschalten. (Hier lauert die Gefahr eines Wettlaufes um einen Präventivschlag.) Dies geschieht im Tiefflug, da diese Flugplätze tief im gegnerischen Hinterland liegen und über eine ihrer Bedeutung entsprechende eigene Luftabwehr verfügen. Moderne, wirksame, konventionelle Submunitionen, speziell für die Zerstörung von Startbahnen und Flugzeugbunkern ausgelegt, gehören deshalb schon heute zur Bewaffnung der Jagdbomber. Zukünftig sollen Abstandswaffen, also Raketen und Cruise Missiles mit diesen Submunitionen bestückt werden, um die Wirksamkeit der Luftwaffe im Kampf gegen die gegnerischen Luftstreitkräfte am Boden weiter zu verstärken.

FOFA – Der Tiefflug gewinnt an Bedeutung

FOFA – der Angriff auf die nachfolgenden Kräfte – ist seit 1984 Bestandteil der NATO-Strategie und der Luftwaffendoktrinen. Im Gefolge der Einführung der AirLand Battle Doktrin beim US-Heer und der Air Superiority Doktrin bei der US-Luftwaffe mit ihren Akzentsetzungen bei Angriffen auf Ziele im gegnerischen Hinterland, ist FOFA die komplementäre Ergänzung und Anpassung auf NATO-Ebene. FOFA beinhaltet eine deutliche Schwerpunktsetzung bei Angriffen der Land- und vor allem Luftstreitkräfte auf Ziele tief im gegnerischen Hinterland und verstärkt die Offensivorientierung der NATO-Luftwaffendoktrin. Vorrangig sind die Bekämpfung gegnerischer Luftstreitkräfte am Boden und Abriegelungseinsätze, je nach Definition fallen auch Einsätze zur Gefechtsfeldabriegelung darunter.

Dieser neue Akzent erfordert in erheblich gesteigertem Umfang Tiefflugeinsätze.

Der INF-Vertrag wird durch Tiefflug kompensiert

Der INF-Vertrag führt zur Beseitigung atomarer Mittelstreckenraketen mit 500-5500 km Reichweite, soweit diese an Land stationiert sind. Die NATO verliert dadurch wesentliche Teile ihrer Möglichkeiten, Ziele tief im Gebiet der Warschauer Vertragsorganisation und insbesondere in der UdSSR von Westeuropa aus atomar bedrohen zu können. Seit Abschluß des Vertrages laufen deshalb intensive Gespräche und Untersuchungen, wie die verlorenen Möglichkeiten zurückgewonnen werden können.

Unter der irreführenden Überschrift »nukleare Modernisierung« plant die NATO, dies im Kern durch folgende Schritte zu erreichen:

  • durch die Stationierung zusätzlicher nuklearfähiger Jagdbomber
  • durch die Einführung nuklearer Abstandsflugkörper für Flugzeuge
  • und ein Lance-Nachfolgesystem mit knapp 500 km Reichweite für Ziele in geringerer Entfernung.

Der Schwerpunkt liegt eindeutig bei den luftgestützten Systmen. Sie sollen, soweit möglich, die Aufgaben der »Nach“Rüstungswaffen übernehmen. Hier liegt auch eine Ursache dafür, daß die NATO bei den Wiener Verhandlungen über konventionelle Rüstung nicht über ihre überlegenen Jagdbomberstreitkräfte verhandeln will; hier liegt eine Ursache dafür, daß die USA bei den START-Verhandlungen luftgestützte Atomwaffen mit weniger als 1500 km Reichweite ausklammern und eine neue Grauzonen-Rüstung schaffen wollen.

Diese Rückverlagerung wichtiger nuklearer Abschreckungsaufgaben zu den Jagdbomberverbänden wird die Tiefflug„notwendigkeit“ erneut steigern. Dies kommt bereits in der Absicht der USA zum Ausdruck, neue F-15E Jagdbomber in Bitburg und zusätzliche F-111 in Großbritannien zu stationieren. Es wird den Ruf nach zusätzlichen Tornados in nuklearer Rolle bei der Luftwaffe lauter werden lassen, da beim Schwerpunkt FOFA mit der Hauptwaffe Tornado mit konventioneller Munition ja keine Abstriche gemacht werden sollen.

Der Tornado braucht Hilfe

Die Aufgaben des Tornados wachsen, seine Qualität als Tiefflugjagdbomber wird immer mehr gefragt. Im Gegensatz dazu aber wachsen die Zweifel, ob der Tornado kann, was er soll.

Schon seit geraumer Zeit fürchtet die Bundesluftwaffe, daß gesteigerte Fähigkeiten der gegnerischen Luftabwehr ihr die Freude am Besitz des noch „teuersten Waffensystems seit Christi Geburt“ vergällen könnte. Man fürchtet, zu viele der Milliardenvögel würden abgeschossen, wenn sie für ihre umfangreichen FOFA-Aufgaben immer wieder und in großer Zahl in den gegnerischen Luftraum eindringen müssen. Gefahr droht insbesondere

  • von der gegnerischen Luftabwehr in Frontnähe
  • von starker Luftverteidigung rund um wichtige Ziele im Hinterland
  • von den Jagdfluzeugen der Warschauer Vertragsorganisation, die jetzt auch mit "look down shoot down" – Radaren ausgerüstet werden.

Die Luftabwehr rund um wichtige Ziele soll der Tornado künftig meiden, indem er mit Abstandswaffen ausgerüstet wird. Er braucht das Ziel dann nicht mehr direkt zu überfliegen. Gegen die Luftverteidigung in Frontnähe bekommt der Tornado einen Verwandten als Begleiter, den ECR-Tornado, von dem gerade 35 für über 3 Mrd. DM beschafft werden. Der ECR-Tornado (Electronic Combat and Reconnaissance) soll die gegenerische Luftverteidigung elektronisch blenden und durch moderne Raketen bekämpfen, eine Schneise für nachfolgende normale Tornados schlagen und zugleich Aufklärung betreiben. Gegen moderne Jagdflugzeuge aber hilft das alles nichts. Diese können dem Tornado nur durch eigene Jäger als Begleitschutz vom Halse gehalten werden. Deshalb hat der Jäger 90 die Aufgabe, bis zu Entfernungen über 1000 km für den Tornado Begleitschutz zu fliegen.

Der Jäger 90 ist ein Mehrzweckflugzeug

Und welche Rolle hat der Jäger 90 nun bei alledem? In wieweit muß er zum Tiefflug geeignet sein? Hier sind mehrere Aufgabenfelder zu unterscheiden.

1. In seiner Primäraufgabe »Jagdkampf« wird der Jäger 90 (s.o.) erheblich weniger Tiefflug absolvieren müssen als eine Phantom heute. Dies ist die Folge moderner Bewaffnungen und moderner Bordradare.

Das gilt nicht, wenn der Jäger 90 als Begleitschutz für den Tornado eingesetzt wird. Auch er muß dann im Tiefflug in den gegnerischen Luftraum eindringen, danach allerdings steigt er, um seine Schutzaufgabe wirkungsvoll erfüllen zu können, auf mittlere Höhe auf.

2. In seiner "Zweitrolle" als Jagdbomber wird der Jäger 90 seine Tiefflugeigenschaften beweisen müssen. Diese Zweitrolle wird seitens der Bundesluftwaffe schamhaft versteckt. Sie sei ein »Abfallprodukt«, da jedes Jagdfluzeug auch Jagdbomberaufgaben erfüllen könne. Die Konstruktion des Flugzeuges werde nur von der Jagdrolle bestimmt, nicht aber von der Jagdbomberrolle.

Doch was scheinbar nur ein Nebenprodukt modernen Kampfflugzeugbaues ist, spielt nur in der Öffentlichkeit keine Rolle. Wer hinter die Kulissen schaut, wird schnell feststellen, daß der Jäger 90 ein Mehrzweckkampfflugzeug sein wird und ein ganz schön formidabler Jagdbomber. Dafür sprechen eine ganze Reihe von Fakten: Die Bundesluftwaffe führt seit geraumer Zeit ein Untersuchungsprogramm für die Luft-Boden-Bewaffnung des Jägers durch, also für die Jagdbomberrolle. Zu den industrieseitig für den Jäger 90 vorgesehenen Bewaffnungen gehört auch die Modulare Abstandswaffe (MSOW/ MAW), eine zukünftige Hauptwaffe für den Tornado. Der Jäger 90 erhält ein Radar, das insbesondere Forderungen nach einer guten Zielauflösung am Boden entsprechen soll und mit entsprechenden Betriebsarten ausgestattet sein soll. Argumente, der Jäger erhalte nicht einmal einen Bombenrechner, sind irreführend, denn das integrierte Steuerungs- und Operationsführungssystem eines modernen Kampfflugzeuges ist in Verbindung mit einem modernen Radar in der Lage, diese Aufgabe mit zu erfüllen. Und – zuguterletzt – das Jagdflugzeug 90 wird von Gewicht, Größe und Zuladungskapazität so ausgelegt, daß seine Eignung zum Jagdbomber kaum in Zweifel gezogen werden kann. Exportinteressen werden ein Übriges tun, die Betonung der Jagdbomberrolle nicht zu kurz kommen zu lassen, denn Luftangriffsflugzeuge lassen sich nun einmal besser verkaufen als „reine“ Luftverteidigungsflugzeuge.

Im Kontext der Veränderungen der Schwerpunktsetzungen in der NATO-Luftwaffendoktrin wird also auch der Jäger 90 zu einer Aufrechterhaltung der Tiefflugbelastung in der Bundesrepublik erheblich beitragen.

Ansätze für Schlußfolgerungen

Tiefflug ist – in der Logik der NATO-Strategie – zwingend notwendig. Ohne Tiefflug läßt sich die Luftwaffendoktrin der NATO-Staaten in ihren wesentlichen Teilen nicht durchführen. Diese wesentlichen Teile sind die offensiv-orientierten, gegen Ziele tief im gegnerischen Hinterland gerichteten Luftwaffeneinsätze. Die Tiefflugnotwendigkeit orientiert sich durch die technologischen Entwicklungen immer weitergehend auf die Durchführung dieser offensiven Doktrinbestandteile. Für die defensiven Doktrinanteile wird er zukünftig noch weniger Bedeutung haben. So standen schon Mitte der achtziger Jahre trotz der älteren Radare nur etwa 30 Tiefflugeinsätze bei Jagdflugzeugen etwa 80 solchen beim Tornado im taktischen Jahresausbildungsprogramm gegenüber. Der Jäger 90 ist zukünftig in die Durchführung solcher offensiven Operationen eingebunden. Argumentationen, die dieses Flugzeug öffentlich als »Defensivsystem« par excellence rechtfertigen, stehen auf tönernen Füßen. Dasselbe gilt für Behauptungen, die Einführung des Jäger 90 werde eine signifikante Reduzierung des Tieffluges zur Folge haben. Die Bedeutung offensiv orientierter Tiefflugeinsätze steigt:

  • Im Rahmen von FOFA werden konventionelle Einsätze gegen wichtige militärische Ziele im Hinterland immer wichtiger. Dies wird verstärkt, weil der INF-Vertrag konventionelle landgestützte Mittelstreckenraketen ebenso wie atomare verbietet.
  • Nach dem INF-Abkommen spielen nuklear verwendbare Flugzeuge mit hoher Eindringfähigkeit ins gegnerische Hinterland eine entscheidende Rolle bei der Wiedergewinnung der durch den INF-Vertrag verloren gehenden militärischen Optionen, Ziele in Polen und bis tief in die UdSSR selektiv und nuklear bedrohen zu können. Für die Bundesregierung kommt der Bereithaltung solcher Systeme unter dem Gesichtspunkt der Erhaltung und Ausweitung ihrer »nuklearen Teilhabe« große Bedeutung zu. Sie wird ihr Engagement zu erhöhen suchen.

Eine Kritik, die schlicht am Fluglärm ansetzt, nicht aber nach den Ursachen, nach der Begründung für Tiefflug fragt, greift deshalb zu kurz. Im Rahmen geltender NATO-Strategie kann nur an den Symptomen kuriert, über Tiefflugbe- und einschränkungen diskutiert werden. Wünschen nach Reduzierung werden zurecht immer wieder Forderungen nach Intensivierung als von der fliegerischen Auftragserfüllung her geboten entgegengehalten werden können. Und das Ergebnis ist vorgezeichnet: Ein Kompromiß, der keinesfalls das Ende des Tieffluges, allenfalls dessen Beschränkung, Verlagerung ins Ausland oder »gerechtere Verteilung« zur Folge haben wird.

Die Kritik in neue Bahnen lenken

Es mag ein Vermittlungsproblem bestehen. Aber ohne an der Kritik der NATO-Strategie der flexiblen Antwort und deren Umsetzung in der Luftwaffendoktrin anzusetzen, kann ein „Stopp aller Tiefflüge“ einschließlich des Verzichtes auf den Lärmexport ins Ausland nicht begründet, geschweige denn durchgesetzt werden. Überspitzt formuliert, kann gesagt werden: Gleichgültig ob

  • es um den Verzicht auf den Jäger 90
  • um einen Stopp der Tiefflüge
  • oder um eine Verhinderung der als »Modernisierung« getarnten neuen Runde atomarer Aufrüstung

geht: Diese Ziele sind nur überzeugend proklamierbar, wenn die Kritik der NATO-Strategie in den Vordergrund rückt. Sie sind nur rational begründbar im Hinblick auf einen Abschied von der Strategie der flexiblen Antwort. Dies schließt die notwendige Überwindung der Abschreckung zwangsläufig mit ein. Immanente Kritik bei scheinbarer oder indirekter Anerkennung der NATO-Strategie greift zu kurz und leitet Motivationen, Energien und Phantasien vieler Menschen fehl.

Betroffenheit mobilisiert vergleichsweise kurzfristigen Widerstand. Langer Atem in der Opposition bedarf der Motivation durch rationale Analyse, durch Kritik, die an die Ursachen geht. Langer Atem braucht manchmal gar den Mut, auf den schnellen Mobilisierungserfolg zu verzichten, damit eine langfristige wirkungsvolle Orientierung entstehen kann. Diese Chance besteht – es gilt sie zu nutzen, damit unser Herr Professor Doktor Bundesminister a.D. auch wirklich recht behält, wo er gar nicht so unrecht hat. Abgewandelt: „Machen wir uns keine Illusionen. Heute sind es die Tiefflüge, morgen ist es der Jäger 90 und die Luftwaffe, und übermorgen wird die gesamte NATO und ihre Strategie in Frage gestellt.“

Otfried Nassauer ist Militärexperte und Journalist in Hamburg

Aus der Innenwelt der Waffenlabors

Aus der Innenwelt der Waffenlabors

von Josephine Anne Stein

Auf dem 2. Internationalen Naturwissenschaftler-Kongreß, der vom 2.-4.12.1988 in London stattfand, beschäftigte sich die amerikanische Wissenschaftlerin Josephine Stein mit der exklusiven Welt der Waffenforscher. Welche Mechanismen wirken hier? Von welchen Motiven sind die Wissenschaftler getrieben? Wie müssten verantwortungsbewußte Wissenschaftler einzuwirken versuchen? Der Beitrag wurde von der Redaktion übersetzt, leicht gekürzt und bearbeitet.

Heute möchte ich über die Welt der Erforschung und Entwicklung von Atomwaffen reden. Ich möchte denjenigen, die hinter dem Stacheldraht und dem elektromagnetischen Zaun arbeiten, ein menschliches Gesicht verleihen. Ich möchte vorweg versichern, daß ich niemals mit Absicht an Waffen gearbeitet habe.

Es gab ein paar dicht dabei liegende Anforderungen, es gab einen Nachmittag der Messungen an einem Wärmetauscher, der ausgelegt war, große Mengen an Wasserstoff und Fluor freizusetzen. Als ich begriff, daß meine Kalkulationen in die Auslegung einer chemischen Laserwaffe hineinreichten, geriet ich aus der Fassung, wurde physisch krank und weigerte mich, weiter an dem Projekt zu arbeiten. Bei einer anderen Anforderung arbeitete ich an einem »In-House«-Zielerfassungs- und Bahnverfolgungssystem (closed-loop pointing and tracking system), das für die Benutzung im Weltraum konstruiert war. Die Aufgabe war, eine Fernerkundungskamera mit hoher Auflösung auf den Kern des Kometen Halley im Vorbeiflug zu richten. Die relative Geschwindigkeit des Raumfahrzeugs und des Kometen betrug dort zig Kilometer pro Sekunde. Die Vereinigten Staaten jedoch verzichteten darauf, ein Raumfahrzeug zum Kometen Halley zu senden. Mein Ziel- und Verfolgungssystem wurde in die Strategische Verteidigungsinitiative (SDI) übergeleitet. Ich hatte allerdings zu dieser Zeit bereits das Projekt verlassen, um in die Lehre zurückzukehren.

Was ich über die Waffenwelt weiß, basiert zu großen Teilen auf Diskussionen mit Freunden und Kollegen aus den Waffenlabors; überwiegend aus dem Lawrence Livermore Laboratorium in Kalifornien. Einige dieser Wissenschaftler sagten ihre Meinung frei heraus, andere nur auf vertraulicher Basis. Ich werde daher – mit wenigen Ausnahmen – keine Namen nennen. Sie mögen einige Individuen wiedererkennen, oder denken, Sie würden es tun, aber ich lege Ihnen nahe, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen. Ich zehre von den Erfahrungen von etwa drei Dutzend Wissenschaftlern.

Meine Freunde aus der 0-Gruppe

Meine Begegnung mit der Welt der Rüstungsforschung und -entwicklung begann vor zehn Jahren, als einige meiner Freunde und Kollegen vom MIT nach Livermore gingen, um in einer Elitegruppe für »spezielle Projekte« zu arbeiten. Diese Gruppe, die von Livermore mit dem Buchstaben »O« gekennzeichnet wurde, hat seitdem traurige Berühmtheit erlangt: als eine Quelle von Erfindungen auf dem Feld der Nuklearwaffen, die half, SDI zu befördern.1

Wir waren 22 Jahre alt oder jünger, als wir nach Kalifornien gingen. Ich traf die Zimmergenossen und Freunde meiner MIT-Freunde, von denen die meisten gleichfalls in der O-Gruppe waren. Ich war eingeschrieben in der Fakultät für Mechanical Engineering an der Universität von Kalifornien in Berkeley; meine Livermore-Freunde arbeiteten entweder im Labor während der Sommer- oder anderer Semesterferien oder arrangierten, ihre Forschungen als Graduierte dort durchzuführen. Weder meine Freunde noch ich selber wußten viel über Livermore und seine Geschichte. Auch hatten wir keine Ahnung von der Natur der Beziehungen zwischen der Rüstungsforscher-Gemeinschaft und den politischen Entscheidungsstrukturen in Washington. Es war in der Nach-Vietnam-Ära, als Livermore sich nicht sonderlich anstrengte, die eigene Verwicklung in die atomare Waffenwelt an die große Glocke zu hängen. Ich hatte nie gehört von Edward Teller, der treibenden Kraft hinter der Gründung des Labors 1952, seinem Direktor von 1958-1960 und dem Miterfinder der Wasserstoffbombe.

Sicher, es gab Filter zwischen meinen Diskussionen mit den Freunden und der Arbeitswirklichkeit im Waffenlabor, besonders wegen der Geheimhaltungsbarriere. Ich wußte nicht in jedem Detail, woran meine Freunde arbeiteten. Meine Freunde betonten, daß ihre Arbeit in keiner Beziehung zur Entwicklung von Waffen stünde und sie auch nicht vorhätten, an Waffen zu arbeiten. Diese Arbeit, erklärten sie, würde von den alten Käuzen in den A- und B-Abteilungen getan. Was sie dagegen tun würden, sei nur Grundlagenphysik; daß ihnen verboten war, mir die Spezifika dieser Physik zu beschreiben, betrachteten sie als eine ärgerliche Marotte der Regierung. Wenn es ihnen gelänge, den Finanziers der Waffen Gelder für harmlose Physik zu entlocken, umso besser: Sie wären smarter als ihre Sponsoren. Ich war nie zufrieden mit den verdrehten Erklärungen meiner Freunde aus der O-Gruppe. Wie konnte es „nur Physik“ sein, wenn es diesen schwarzen Humor über Tod und Zerstörung und über russische Spione gab und wenn ihr Chef verglichen wurde mit dem bösen Charakter „Darth Vader“ aus dem Film „Star Wars“? „Darth Vader“ war Lowell Wood, eine der zerstörerischsten Personen, der ich je begegnet bin. Er konnte große wissenschaftliche Herausforderungen vorgeben, sie als »trivial« beschreiben und die jungen Wissenschaftler unter Druck setzen, diese Aufgaben gefälligst in unrealistischer Zeit zu lösen. Fehlende Resultate brachte den Wissenschaftlern brutale, sarkastische Beleidigungen und erneute Pressionen ein. Es kann kein Zweifel bestehen, daß Wood in der Lage war, einen mächtigen Corpsgeist unter den O-Gruppenmitgliedern zu erzeugen. Doch dieser Geist hatte einen grausamen Beigeschmack. Die jungen Männer der O-Gruppe wurden in eine Art konkurrenzhafte Kameraderie hineingezogen, bei der sie ständig versuchten, sich gegenseitig auszutricksen und einander Streiche zu spielen. Z. B. sabotierten sie gegenseitig ihre Computerprogramme. Meine Livermore-Freunde schienen furchtbar sensibel bei der Frage nach der Moral der (nuklearen) Waffenforschung. Als Freundin spürte ich Kümmernis und in einigen Fällen tiefes Unglücklich-Sein, das über die normalen Ängste in der Hochleistungsforschung hinausging.

Der nukleare Kreuzzug des Mr.Teller

Im nachhinein ist es nur zu leicht zu sehen, wie Livermore, noch besser als Los Alamos, den Funken der Kreativität in der Kernforschung nach dem Manhattan-Projekt, das im Kriege die Atombombe hervorgebracht hatte, weitertrug. Nach dem Krieg waren die meisten brillanten Wissenschaftler von Los Alamos zu mehr traditionellen akademischen, wissenschaftlichen Beschäftigungen zurückgekehrt. Diejenigen, die in Los Alamos blieben, sahen sich mehr als Hüter des Atomtempels denn als nukleare Kreuzzügler. Edward Teller jedoch war zurückgeblieben mit einem unerledigten Job – die thermonukleare Bombe zu schaffen. Teller schlug die Warnungen von Oppenheimer und anderen Wissenschaftlern in den Wind. Er arbeitete an der Errichtung eines Konkurrenzlabors in Livermore und rekrutierte die Leute, die den nuklearen Kreuzzug ausführen sollten. Der Feind der Livermore-Wissenschaftler wandelte sich von den besiegten Deutschen und Japanern zum sowjetischen Bären. Wie ein stolzer Großvater war Edward Teller für meine Freunde aus der O-Gruppe. Teller hatte eine ganze Gruppe von »Protegees« in Livermore aufgebaut und gepflegt, die er mit seiner besonderen Mission betraute, der sowjetischen Bedrohung mit Nuklearwaffenforschung zu begegnen. Einer von Teller`s hingebungsvollsten Jüngern ist Lowell Wood, der seinerseits das Teller-Dogma an meine Freunde weitergab. Die »Livermorons«, wie sie sich selber nennen, stürzten sich in die Arbeit, viele Stunden lang – rund um die Uhr. Ein Wissenschaftler geriet in einen Arbeitsrhythmus von 20 Stunden am Stück, nach Hause kam er nur zu einer zehnstündigen Unterbrechung, um zu schlafen und zu essen. Die Wochenenden verloren jegliche Bedeutung. Sein Dreißig-Stunden-Tag brachte ihn völlig aus der Synchronisation mit der Umdrehung der Erde – und der meisten ihrer menschlichen Bewohner. Die Mitglieder der O-Gruppe zeigten Verachtung für ihre Kollegen in Los Alamos, die die Kapazitäten ihrer Supercomputer für die Nacht verkauften. (…) Als der Kontakt mit der Außenwelt zurückging, begannen die Wissenschaftler der O-Gruppe ein gemeinsames Weltbild zu entwickeln, das bemerkenswert der Weltsicht von Teller glich. In dieser Weltanschauung war der technologische Rückstand der Sowjetunion Beleg für das Scheitern des repressiven Sowjetsystems. Die Motivation hinter der »O-Gruppe« war der Kampf für Wahrheit, Gerechtigkeit und den »american way« durch die Erlangung technologischer Überlegenheit. Es ist eine Motivation, die merkwürdigerweise mit der US-Politik zur Aufrechterhaltung der technologischen Vorreiterrolle gegenüber der UdSSR gleichläuft.

Die O-Leute scherzten, daß sie niemals Teller und Wood in den Film „Star Wars“ mitnehmen würden, weil sonst Teller sich in „Death Star“ verlieben würde, ein Maschinenungetüm, das die Planeten mit einem einzigen Energiestrahl zerstört. Ich begann zu argwöhnen, daß diese jungen Männer, so brillante Köpfe sie auch sein mochten, einfach benutzt wurden. Ich fühlte, daß, früher oder später, einige oder alle von ihnen zur Entwicklung der Technologien nuklearer Zerstörung beitragen würden – ob gewollt oder nicht. Vielleicht war ich als Außenstehende besser in der Lage zu verstehen, was meine Freunde sich selber nicht zugeben konnten.

Trotz der unterschwelligen Konkurrenz mit dem bedrohlichen sowjetischen Feind betrachteten die Livermore-Wissenschaftler ihre sowjetischen Gegenspieler merkwürdigerweise als Kollegen. Viele der Arbeiten in Livermore über den Röntgenlaser und die Kernfusion gründeten letztlich auf der theoretischen Arbeit sowjetischer Wissenschaftler. Wissenschaftler von Livermore besuchten die sowjetischen Laboratorien und empfingen sowjetische Besucher in geheimen Bezirken des Labors. Die »O-Leute« fanden es höchst amüsant, daß die US-Regierung versuchte, ein Gespräch über Kernfusion an einem amerikanischen Waffenlabor mit L.I.Rudakov, einem sowjetischen Wissenschaftler, als geheim einzustufen.2

Eine noch befremdlichere Einstellung in der O-Gruppe war ihre äußerste Verachtung für ihre Forschungsförderer in Washington. Für sie waren ihre Vertragspartner in der Administration und im Kongreß unfähig, Physik zu verstehen und daher wertlose Menschen. Stories wie folgende wurden erzählt: als ein Finanzantrag für einen hochentwickelten Computer mit der Begründung abgelehnt wurde, daß zu viel Geld für Computer ausgegeben würde, benannte Wood das Projekt in „programmierbare digitale Filter“ um, unterbreitete den Antrag erneut und bekam die Geldmittel.

Die Wahrheit über Livermore zu erkennen, war für uns alle ein schmerzlicher Prozeß. Als eine Erfindung der »O-Gruppe«, ein Röntgenlaser, in einer Nuklearexplosion im November 1980 getestet wurde, war es unmöglich geworden, den Vorwand länger aufrechtzuerhalten, es ginge um „reine Physik“

Die Livermore-Lüge

Als Präsident Reagan seine Strategische Verteidigungs-Initiative im März 1983 ankündigte, hatte ich ein heikles Gefühl im Magen, das durch die Nennung des Namens Teller in Verbindung mit dieser Rede ein paar Tage später verstärkt wurde. Ich konnte nur vermuten, was passiert war.

Seitdem ist es ja eine gesicherte Tatsache, daß Teller mit dem Präsidenten einige Male vor der »Star-Wars-Rede« zusammengetroffen war. Diese Meetings waren Teil einer massiven Kampagne von Teller und Wood, um die Röntgenlaserwaffe an die höchsten Stellen in Washington zu verkaufen. Die Details dessen, was Teller dem Präsidenten sagte, sind nicht bekannt, aber es ist wahrscheinlich, daß Teller den Eindruck erweckte, der Röntgenlaser könnte benutzt werden, um sowjetische Raketen zu zerstören. Damit würde eine »Strategische Verteidigung« technisch erreichbar. In einem Brief an George A. Keyworth, dem wissenschaftlichen Berater des Präsidenten, vom 22. Dezember 1983, schrieb Teller: „wir treten nun in die Entwicklungs- und Konstruktionsphase des Röntgenlasers ein“, und implizierte damit, daß die wissenschaftlichen Fragen komplett gelöst seien und die militärische Brauchbarkeit demonstriert worden sei. In einem Brief an Botschafter Paul Nitze, Leiter des U.S. Rüstungskontroll-Verhandlungsteams, schrieb Teller ein Jahr später, daß „es möglich sein könnte, mehr als 100.000 unabhängig steuerbare Strahlen von einem einzigen Röntgenlasermodul zu generieren, jede von ihnen könnte ziemlich tödlich sein, sogar für ein weit entferntes, gehärtetes Flugobjekt“ und „daß ein einziges Röntgenlasermodul in Schreibtischgröße…in der Lage sein könnte, die gesamte, landgestützte Raketenstreitmacht der Sowjetunion zu zerstören, soweit es im Blickfeld des Moduls gestartet würde.“

Wie nimmt sich nun das Teller`sche Statement aus, verglichen mit dem aktuellen Stand des nukleargepumpten Röntgenlaser-Programms? Bis jetzt hat es nur eine Handvoll Tests des Röntgenlasers in Nevada gegeben. Es gab ernste Probleme mit der diagnostischen Instrumentierung, bei zwei Tests versagte die Laserdiagnostik völlig. Es gab Kontaminationen, die starke röntgenfluoreszierende Linien produzierten, die die Aussendung des Lasers verschleierten und zu übertriebenen Schätzungen über die Helligkeit des Lasers führten. Ein anderer Testkanister wurde so arg aus der Form gebracht, als Arbeiter an der Nevada Teststätte Kies in die Testhöhle schütteten, daß es fast keine Laserdaten gab.

Die Livermore-Wissenschaftler haben etwa 10 Jahre und 1 Milliarde Dollar in den nuklear gepumpten Röntgenlaser investiert. Ich vermute, daß sie – um Erfolge vorweisen zu können – wenig mehr erreicht haben als den Nachweis des Lasers, einiger Spektren und einige grobe und bloß temporäre Messungen. Die Messungen der experimentellen Helligkeit sind um einige Größenordnungen von denjenigen entfernt, die nach Schätzungen benötigt würden, um sowjetische Raketen zu zerstören; Schätzungen, die, wie ich hinzufügen möchte, ihrerseits suspekt sind. In Begriffen des Fortschritts in der experimentellen Physik ist der nicht-nukleare Labor-Laser, mit mächtigen Lasern gepumpt, viel weiter fortgeschritten. Offizielle in Livermore schätzen, daß noch mindestens zehn Jahre des Experimentierens erforderlich wären, um die Funktionsfähigkeit einer Röntgenlaser-Waffe zu bestimmen. Was die Waffe anbetrifft, die fähig wäre, die gesamte, landgestützte sowjetische Raketenkapazität zu zerstören, so konnte sich Tellers Erklärung auf keinerlei experimentelle Daten stützen. Dies wurde enthüllt durch niemand anderes als den Direktor des Laboratoriums, Roger Batzel, in einer Erklärung vor dem Kongreß.3

Die Wissenschaftler von Livermore waren sich der irreführenden Krämertätigkeit von Teller und Wood völlig bewußt, aber die meisten behielten ihre Bedenken für sich. In privaten Gesprächen sagte ein Physiker, „die wenigen wissenschaftlichen Ergebnisse, die wir erzielt hatten, wurden grob verfälscht dargestellt, um den phantastischen Ansprüchen an den Röntgenlaser gerecht zu werden, die außerhalb des Labors aufgestellt wurden“. Ein anderer Wissenschaftler nannte zentrale Erklärungen von Teller und Wood in Washington „total falsch“. Ein anderer Physiker beschrieb, wie theoretische Schätzungen der Laser-Helligkeit kalkuliert wurden, ohne Verluste in Rechnung zu stellen, was zu Annahmen führte, die um Größenordnungen zu hoch waren.

Die Story des Röntgenlasers ist nurmehr ein weiteres Kapitel in einer langen Geschichte der Täuschungen durch die Rüstungsforscher. Edward Teller und sein Clan haben seit fast vier Jahrzehnten – verkleidet als Beratung der politischen Führung – einen steten Strom der Propaganda für Waffen, gegen die Sowjets, gegen einen nuklearen Teststopp ins Werk gesetzt. Seit Livermore auch geheimdienstliche Einschätzungen der sowjetischen Waffenprogramme vornimmt, sind die Rüstungsforscher in der einzigartigen Position, die konservativsten Bedrohungsanalysen abliefern und gleichzeitig Ratschläge erteilen zu können, wie der Bedrohung mit neuen Waffen zu begegnen ist. Immer wieder waren ihre Argumente irreführend, obskur und beugten die Wahrheit – nur um Teller`s nuklearen Kreuzzug fortzuführen. Die Taktiken von Teller, Wood und der Pro-Waffen-Forscher werden in der scientific community so gut verstanden, daß mir ein Physiker sagte, das Phänomen sei bekannt als „Die Livermore-Lüge“. Sogar Leute im Militär wissen Bescheid. Generalmajor Thomas Brandt von der US-Luftwaffe sagte: „Es gibt drei Arten von Lügen: Lügen, große Lügen und Aussagen, die von Laser-Entwicklern gemacht werden.“4

Methoden der Unterdrückung: der Fall Woodruff

Probleme in einem Nuklearwaffen-Forschungs- und Entwicklungsprogramm und gescheiterte Experimente sind hinter dem Schleier der offiziellen Geheimhaltung leicht zu verbergen. Die Spezifika eines Livermore Waffenprojekts könnten durch Los Alamos-Gutachter nachdrücklich angefochten werden, nicht aber die zugrundeliegende Begründung für die Entwicklung der Waffe. Ein Physiker bezeichnete es als „Ehre unter Gaunern“. Es gibt nur sehr begrenzte Möglichkeiten für unabhängige technische Bewertung, und die Gutachter sind an sehr strenge Sicherheitsprüfungen gebunden. Ein erfahrener Waffenforscher schrieb,„wenn technische Information zur Geheimsache erklärt wird, wird die Technikkritik unweigerlich zu einem Streit zwischen konkurrierenden Autoritäten degradiert.“5 Wenn die Dispute bis Washington reichen, wissen die Advokaten der Atomwaffen, daß sie an konservative politische Instinkte appellieren können, die ihnen im Zweifelsfalle immer recht geben werden.

Gewöhnlich reichen die internen Mechanismen aus, um Dispute innerhalb des Waffenforschungsestablishments niederzuhalten. Ein Wissenschaftler demonstrierte, sowohl theoretisch als auch experimentell, daß den Zerstörungswirkungen des nuklearen Röntgenlasers physikalische Grenzen gesetzt seien. Der Effekt eines Röntgenlaserimpulses wird begrenzt durch Verdampfungsvorgänge. Ein Röntgenlaser kann womöglich Teilchen der Raketenhaut absprengen, die Grundstruktur würde jedoch unbeschädigt bleiben. Der Report, der darüber verfasst wurde, wurde unterdrückt und erreichte niemals unabhängige technische Gutachter.

Livermore hat seine Wege, um Wissenschaftler, die von der Linie der Teller-Partei abweichen, zu bestrafen.

Ein Wissenschaftler wurde gebeten, bestimmte strategische Aspekte von SDI zu präsentieren. Er unterbreitete eine ehrliche Analyse und bot eine extrem kritische Darstellung. Es war sein Pech. Er wurde in eine Arbeit im »Feindaufklärungsbereich« (intelligence area) verbannt. Die neue Arbeitszuweisung hielt ihn von seinen Kollegen fern und verhinderte Diskussionen über seine Arbeit, die strengster Geheimhaltung unterlag.

Ein anderer Wissenschaftler, der an der exzessiven Röntgenlaser-Kampagne von Teller und Wood Anstoß nahm, unternahm den Versuch, den irreführenden Angaben, mit denen die beiden in Washington hausieren gingen, entgegenzutreten. Er schrieb an Keyworth und Nitze, um die Teller-Briefe richtigzustellen und ein Gegengewicht zu schaffen. Dieser Wissenschaftler, Roy Woodruff, war niemand anderes als der Associate Laboratory Director in Livermore, der für das ganze Waffenprogramm einschließlich des Röntgenlasers verantwortlich war. Er wurde von der Versendung der Briefe durch den Laboratoriumsdirektor Roger Batzel abgehalten. Woodruff verließ schließlich seinen Posten; er formulierte es so: „aus Prinzip …hatte ich keine andere ethische Wahl“. Woodruff wechselte zu der »Aufklärungs“sektion und dann begannen die finanziellen Repressalien. Seine Arbeitsbereiche wurden beschnitten und er wurde auf die Eingangsstufe als »Analytiker« abgruppiert.

Wie die anderen Wissenschaftler, die in ihrer Kritik vom Pfad abgewichen waren, wurde Woodruff von seinen früheren Kollegen abgeschnitten – durch seine Isolation und die hochgradig geheime Tätigkeit in der »intelligence area«. Weil Woodruff in Ungnade gefallen war und verbannt wurde, drehten ihm andere Wissenschaftler den Rücken zu und sprachen nicht mehr mit ihm. (…)

Die Waffenentwickler schließen die Reihen gegen Einen, der in Mißgunst gefallen ist. Für das Verbrechen, Washington die Wahrheit gesagt zu haben, wurde Woodruff in die innere Emigration geschickt. Einer seiner Kollegen hängte ein Schild mit der Aufschrift „Gorki West“ an seine Bürotür. Woodruff begann ein internes Beschwerdeverfahren, um für seine berufliche Existenz zu kämpfen und damit auch für seinen Standpunkt gegen die nuklearen Exzesse von Teller und Wood. Die Auseinandersetzung kam in die Öffentlichkeit, als Dokumente aus diesem Verfahren zur Southern California Federation of Scientists, einer Friedensgruppe in Los Angeles, durchsickerten. Damals arbeitete ich als Beraterin des Kongreßabgeordneten George E. Brown, Jr. und die Gruppe, die mein Interesse kannte, übermittelte mir diese Dokumente. Zwei Kongreßuntersuchungen wurden in Gang gesetzt, eines davon durch die oberste Rechnungsbehörde; das andere durch den Streitkräfteausschuß. Als der Kongreß eingeschaltet und Öffentlichkeit über den Fall hergestellt war, wuchs die Einsicht, daß Woodruffs Besorgnisse berechtigt waren. Woodruff wurde sogar wieder als Leiter des Verifizierungsprogramms des Laboratoriums eingesetzt. Als es danach aussah, daß er »rehabilitiert« werden würde, ging interessanterweise so etwas wie eine frische Brise durch das Laboratorium. Waffenforscher, die mit Woodruffs Position sympathisierten, begannen sich aus der Deckung zu begeben. Wissenschaftler begannen, an das Büro des Kongressmannes Brown zu schreiben oder dort anzurufen, um Woodruff zu unterstützen. Unglücklicherweise hat Livermore einen neuen Direktor, John Nuckolls, dessen Verbindungen zu Teller am besten durch das Faktum illustriert werden können, daß er Tellers 80. Geburtstagsparty organisierte. Das Klima von Repression und Furcht ist zurückgekehrt. Woodruff fand es schwierig, mit Nuckolls zu reden und hatte keine institutionelle Unterstützung für seine Verifikationsprogramme. Tatsächlich ist das Verifikationsprogramm im gegenwärtigen Livermore-Laboratoriums-Report nicht einmal erwähnt.6

Die repressive Atmosphäre in Livermore erinnert an zwei Gesellschaften, die wir mit massivem Töten verbinden. Eine davon waren die Nazi-Todeslager, als Wissenschaft und Medizin in eine geheimbündlerische, ausgeklügelte Maschinerie für den Massenmord pervertiert wurden. Die Zeit erlaubt es mir nicht, eine Anzahl von verblüffenden Übereinstimmungen herauszuarbeiten. Ich möchte nur einen Manager des Atomwaffenentwicklungsprogramms in Livermore zitieren, der sagte:

„Es gibt nicht viele Leute, die glücklich über diesen Job waren – bis sie total eingetaucht waren und von der Technik hypnotisiert wurden, so völlig verzaubert von der Physik, daß sie nicht mehr ihre Köpfe erhoben, um sich umzuschauen.“

Er zitierte Albert Speer, den Nazi-Rüstungsminister:

„Im Grunde beutete ich das Phänomen aus, daß Techniker oft ihrer Aufgabe blind ergeben sind. Wegen der scheinbaren moralischen Neutralität der Technik hatten diese Leute keine Skrupel wegen ihrer Aktivitäten.“

Ein anderer Livermore-Wissenschaftler, der über die Verhaltensweisen in Teller`s Klüngel sprach, sagte:

„Diese Leute würden großartige Nazis abgeben. Sie glauben nicht an die Freiheit der Rede. Sie glauben nicht an die Freiheit der Presse.“

Die andere Gesellschaft, mit der wir massives, brutales Töten verbinden, ist natürlich Stalin`s Rußland, das, bis zur Führerschaft Gorbatschows, das gängige Image des Sowjetregimes prägte.

Es ist fürwahr Ironie, daß das Bild der grausamen, repressiven Sowjetgesellschaft, das die Rüstungsforscher inspiriert, ihrem tödlichen Geschäft nachzugehen, so feinsäuberlich in den Waffenlabors selbst widergespiegelt wird.

Die Atomwaffenforscher gehören einer kleinen, abgekapselten Gemeinschaft an, in der grimmige Konkurrenz herrscht. Das Wort „Hai“ ist oft gebraucht worden, um gegeneinander kämpfende Wissenschaftler zu beschreiben. In den vergangenen zwei Jahren wurde die Gemeinschaft durch Korruptions- und Drogenskandale erschüttert. Wissenschaftler wurden mit einigen sehr interessanten Dingen zum persönlichen Gebrauch aus dem Modelladen in Rocky Flats (Colorado) erwischt. Man vermutet, daß dort praktische Studienmodelle für das Atomwaffendesign erstellt werden. Unter diesen Gegenständen waren Medallions, Krüge, Weinpressen etc.. Das »General Accounting Office» (Bundesrechnungshof) fand heraus, daß Waffenforscher einer Gesetzesverletzung sehr nahe gekommen waren, als sie den Kongreß mit unerbetenen »Informationen« über den vollständigen Teststopp direkt vor einer Schlüsselabstimmung versahen. Und Livermore, Los Alamos und Sandia, ein privates Waffenlabor, haben alle ihre Drogenprobleme. In Livermore benutzten Beschäftigte die Laborausrüstung, um illegale Drogen herzustellen. Es gab eine große Untersuchung, die zu sechs Festnahmen und zehn Entlassungen führte.7

Warum arbeiten Wissenschaftler in einer Bombenfabrik?

Viele von ihnen, wie meine Freunde aus der O-Gruppe, realisierten nicht, auf was sie sich eingelassen hatten. Ich habe zahllose andere Wissenschaftler und Ingenieure getroffen, die Jobs in staatlichen Laboratorien und in der Industrie angenommen hatten und denen nicht bewußt war, daß sie an nuklearen Waffen arbeiteten. Ein Wissenschaftler in Livermore bestand – das Laboratorium verteidigend – darauf, daß die O-Gruppe eine Abweichung von der Regel sei. Die O-Gruppe mag ein Extremfall sein, aber viele meiner Freunde in Livermore machten ähnliche Erfahrungen mit der Arbeit an Waffen. Andere begeben sich hinein, wohl wissend, daß die Labors an Nuklearwaffen arbeiten, aber im Glauben, daß sie erfolgreich „ihre Hände sauber halten“ können. In den meisten Fällen sind sie nicht erfolgreich und bleiben zurück wie Lady MacBeth mit ewig befleckten Händen.

Warum finden sich die Livermore Wissenschaftler mit den Lügen, den Gaunereien und dem repressiven Charakter der Waffenarbeit ab? Warum kündigen sie nicht auf der Stelle? Es ist keine leichte Sache, eine hochbezahlte Arbeit in einem üppig ausgestatteten Labor zu verlassen und den Weg für einen neuen Job zu bahnen. Wie es ein Wissenschaftler ausdrückte: `Nuklearwaffen-Wissenschaftler`, die an geheimen Programmen gearbeitet haben, haben für ihre gesamte Karriere nur wenige „Wiederaufnahmemöglichkeiten“.

Andere Gründe sind eher persönlicher Art. Teller und Wood sind auf ihre Art Mentoren, die von ihren Schülern verehrt werden. Einer von Teller`s früheren Studenten, der glaubt, daß er seine Karriere Teller verdankt, weigerte sich, an nuklearen Waffen zu forschen als Teller versuchte, ihn dafür zu rekrutieren. Der Bruch mit Teller war so schmerzlich, daß der Physiker noch zwanzig Jahre später nur unter Schwierigkeiten darüber reden kann. Drei andere, viel jüngere Wissenschaftler gingen nach Livermore, um als »undergraduates« in Sommerferienjobs zu arbeiten. Als ihre Sicherheitsprüfung abgeschlossen war und sie mitbekamen, wie ihre Arbeit in Waffenforschungsprogramme eingepasst war, versuchten sie auszusteigen. Nachdem alle Versuche des Lab-Managements, sie umzustimmen, gescheitert waren, gab man dem Personalbüro die Schuld („Sie meinen, sie haben es Ihnen nicht gesagt?“) und die Wissenschaftler wurden in der nicht-waffenbezogenen Entwicklung eingesetzt. Sie gingen an die Universität zurück – verbittert und erschüttert. Es war eine solch schwere Prüfung, daß sie auch Jahre danach lieber nicht darüber reden.

Einige Wissenschaftler hatten niemals vorgehabt, an Waffen zu forschen, aber wurden hineingezogen, wie meine Freunde von der O-Gruppe. Einige blieben dabei, weil sie sich nun überzeugt glaubten, nur ein politisches Mandat auszuführen, das aus einem demokratischen Prozeß hervorgegangen sei.

Dean Judd, ein Wissenschaftler in Los Alamos, der zu einem führenden Wissenschaftler bei SDI wurde, sagte: „Wir sind keine Fänger mit Netzen und Ketten. Menschen kommen hierher, um für ihr wissenschaftliches Ansehen zu arbeiten. Und sie kommen, weil Waffen zu konstruieren ein Dienst an unserem Land ist. Deshalb tun wir es.“8

Der Direktor des Los Alamos Lab, Siegfried S. Hecker, beschrieb die Rolle der Waffenlaboratorien so:

„Das Los Alamos Laboratorium dient der Nation als wissenschaftliche und technische Quelle zur Lösung komplexer Probleme von großer nationaler Bedeutung. Wir werden fortfahren,…schnell und effektiv auf nationale Erfordernisse zu antworten.“9

Teller hatte über eine lange Zeit und mit viel Einfluß die Fäden gezogen, mit deren Hilfe er zu manipulieren verstand, was „nationale Erfordernisse“ in puncto Waffenentwicklung sind.

Unglücklicherweise wird das Wettrüsten nicht mit dem Abgang von Dr. Teller verschwinden. Teller hat sorgfältig Wood, Nuckolls und andere gefördert und eingesetzt, um seinen nuklearen Kreuzzug fortzusetzen. Und dann gibt es noch viele andere Wissenschaftler, die, obgleich weniger berühmt als Teller, dieselbe Taktik einsetzen.

Es gibt hunderttausende Wissenschaftler und Ingenieure im Waffengeschäft und sie sind nicht notwendigerweise Amerikaner. Es gibt 14.000 Beschäftigte in den Einrichtungen der britischen Verteidigungsforschung.10 Auch sind nicht alle Wettrüster im Bereich der Atomwaffen tätig. Sie arbeiten an »Durchbrüchen« bei den biologischen und chemischen Waffen gleichermaßen.

Was können wir, besorgte Wissenschaftler und Ingenieure, die sich außerhalb befinden, tun?

Wissenschaftler und Ingenieure, die an diesem Kongreß teilnehmen, sind sich dessen bewußt, daß wir eine Menge für die Beendigung des Wettrüstens tun können, durch öffentliche Debatten und Teilhabe am demokratischen Prozeß. Wir können und sollen die Politik der Bewahrung „technologischer Überlegenheit“ über die Sowjets herausfordern, wenn die Konsequenzen der Waffenentwicklung und -stationierung der Sicherheit zum Schaden gereichen. Wir können unseren Beitrag leisten in der Zusammenarbeit mit sowjetischen Kollegen, um das Bild des sowjetischen Feindes weiter aufzulösen. Es ist ja merkwürdig genug, daß ja diese Zusammenarbeit durch die Waffenentwickler selber betrieben wird: in der Form des Joint Verification Experiment, bei dem US-amerikanische und sowjetische Wissenschaftler die Detonationsstärken der jeweils anderen Nukleartests mit hydrodynamischen Experimenten vor Ort messen.

Eine Basis der Verständigung schaffen

Vielleicht ist es noch wichtiger, die Kollegen in den Gulags der Waffenlabors zu erreichen. Die erste Herausforderung besteht darin, eine Basis der Verständigung zu schaffen. Die Isolation und die Vorbehalte der Waffengemeinschaft zu durchbrechen und einen Dialog zu beginnen, ist kein einfacher Prozeß. Die Wissenschaftler »drinnen« müssen erst überzeugt sein, daß du von der Sache, über die du sprichst, etwas verstehst – sonst bist du gleich abgeschrieben. Du musst bereit sein, unbefangen in das Gespräch zu gehen, genau und respektvoll zuzuhören. Du musst bereit sein zuzugestehen, daß die Rüstungsforscher auch in bestimmten Punkten recht haben können.

Die Quäker haben ein Sprichwort, wonach der einzige Weg, um einen Feind dauerhaft loszuwerden, darin liegt, ihn oder sie zu deinem Freund zu machen. Verhandlungen mit der Sowjetunion, Austausch, die Gelegenheiten, die glasnost und perestroika bieten, haben einen bedeutenden Fortschritt bei der Verwandlung der Feinde in Freunde möglich gemacht. Wir mögen unsere Differenzen mit dem sowjetischen Volk haben, aber wir alle nennen uns menschliche Wesen. Das gilt auch für die Waffenentwickler.

Wir müssen die Prinzipien von glasnost und perestroika auf die Waffenlabors selber anwenden. Die Öffnung der Laboratorien würde es den Rüstungsenthusiasten schwieriger machen, von fiktiven Waffen zu künden und die politischen Entscheidungsträger zu beeinflussen; es würde ebenso die soziale Isolation durchbrechen, die für organisiertes Massentöten so charakteristisch ist.

Perestroika, angewandt auf die Waffenlabors, braucht sowohl Zuckerbrot als auch die Peitsche, um das Wettrüsten zu stoppen. Ein vollständiger nuklearer Teststopp ist der beste Weg, um die Entwicklung der Atomwaffen zu stoppen. Diese »Peitsche« ist durch den politischen Prozeß erreichbar, aber sie muß begleitet sein von wissenschaftlicher Transparenz (glasnost), um zu verhindern, daß die Rüstungsforscher mit falschen Ausreden einen Teststopp verhindern.

Geradlinige technische Analyse ist nützlich, aber sie kann zu Kompromissen führen, die den Punkt verfehlen. Die Seismologen in der Waffengemeinschaft wissen sehr gut, daß die gegenwärtige 150 Kilotonnen-Grenze bei den Tests gesenkt und dies mit hoher Verläßlichkeit verifiziert werden könnte. Die Forscher außerhalb der Waffenlabors denken, daß sie das Wettrüsten stoppen können durch den Aufbau eines seismischen Netzwerks, das fähig sei, Explosionen bis herunter zu einer Kilotonne festzustellen. Dieses Limit würde die Entwicklung der Zünder für thermonukleare Bomben verhindern. Die Waffenforscher reden über 50, 30 oder sogar 15 Kilotonnen als neuem Grenzwert. Aus politischen wie technischen Gründen mag diese oder jene Konvergenz der Standpunkte erreicht werden – aber das würde das Wettrüsten nicht stoppen. Wie auch immer die Schwelle festgelegt würde, Nukleartests würden den Wissenschaftlern erlauben, weiterzumachen und »Durchbrüche« zum Vorschein zu bringen. So lange wie geheime, isolierte Waffenforschung weitergeht, werden wir noch erfolgreicheren Versuchen der »Livermore-Lüge« ausgesetzt sein.

Die »Zuckerbrot«-Seite der Perestroika ist es, alternative Forschungstätigkeiten für die Waffenlabors zu finden. Ich habe z.B. an einem Gesetz des US-Kongresses zur Unterstützung des Internationalen Thermonuklearen Reaktor-Programmes gearbeitet, eines nicht-waffenbezogenen Projekts der Nuklearfusion, für das Livermore die Führung innerhalb der USA übernehmen sollte. Ich habe auch vorgeschlagen, daß der Bundesstaat Kalifornien, dessen Universitätssystem nominell Livermore und Los Alamos für das Energieministerium managt, Umweltforschung an den Laboratorien finanzieren soll…

Es gibt positive Anzeichen, daß Los Alamos sich um Geld für die Energieforschung bemüht, da SDI und Nuklearwaffenforschung gestrafft werden. Aber es gibt auch eine negative Seite der Budgetkürzungen. Los Alamos hat bereits hunderte von Beschäftigten entlassen. Livermore hat Möglichkeiten des frühzeitigen Ruhestandes angeboten; Entlassungen liegen in der Luft. Die Waffenhändler könnten ihre Washingtoner Lobby-Tätigkeit mit noch weniger glaubhaften Waffenkonzepten intensivieren. Unter den gegebenen Umständen werden die Rüstungsforscher wahrscheinlich ihre Differenzen mit der Teller-Crew nicht öffentlich artikulieren, weil sie Angst haben, ihre Jobs zu verlieren.

Es ist eine besondere Herausforderung, den Waffenwissenschaftlern mit persönlicher Unterstützung beizustehen, damit sie mit dem Verlust des Feindbildes und den veränderten nationalen Prioritäten fertig werden können. Ich möchte Sie alle bitten, an dem Aufbau von Partnerschaften mit den Kollegen in den Gulags der Waffenlabors mitzuarbeiten, damit wir eine alternative Forschung entwickeln können, die auf echte Erfordernisse der internationalen Sicherheit gerichtet ist. Wir können den Terror des nuklearen Wettrüstens nur eliminieren in der Kooperation mit jenen, die am meisten in die nukleare Waffenentwicklung involviert sind. Falls Sie sich in diesem Sinne in dem Dialog mit den Rüstungswissenschaftlern engagieren, werden Sie meiner Meinung nach herausfinden, daß Sympathie, Verantwortungsgefühl und gegenseitige Unterstützung entwaffnender sein werden als konfrontative Taktiken des Protests.

Anmerkungen

1 Star Warriors: A Penetrating Look Into The Lives of the Young Scientists Behind Our Space Age Weaponry, William J. Broad, Simon and Schuster, New York 1985 Zurück

2 Claiming the Heavens: The New York Times Complete Guide to the Star Wars Debate, Philip M. Boffey, William J. Broad, Leslie H.Gelb, Charles Mohr, and Holcomb B. Noble, New York, 1988 Zurück

3 Roger Batzel, Testimony before the U.S. House Armed Services Comitee, February 1986 Zurück

4 Mission Control, Military Space, April 25, 1988 Zurück

5 Strengthening the Weapon of Openness, Arthur Kantorowitz, unpublished paper, Dartmouth College, March 31, 1986 Zurück

6 The State of the Laboratory, Energy and Technology Review, Lawrence Livermore National Laboratory, July-August 1988 Zurück

7 Congress Probes Drug Abuses at Weapon Labs, Vincent Kiernan, The Scientist, September 19, 1988 Zurück

8 Bomb Makers See Duty in Job, Deborah Blum, The Sacramento Bee, August 2, 1987 Zurück

9 Siegfried S. Hecker, Director`s Statement, Research Highlights 1986, Los Alamos National Laboratory, 1986 Zurück

10 New Scientist, November 1988 Zurück

Dr. Josephine Stein ist Physikerin und arbeitet z.Zt. in der Science and Engeneering Policy Studies Unit, Royal Society, London.

Aufrüstung in bundesdeutschen Reagenzgläsern

Aufrüstung in bundesdeutschen Reagenzgläsern

von Manuel Kiper

Krieg mit Genen und Mikroben, das Schlachtfeld im Zeitalter von Gen- und Biotechnik, wird auf den stoffwechselphysiologischen Reißbrettern der Geningenieure und Wehrmediziner schon entworfen. Die SDI-Verteidigungsoffensive im Weltraum wird ergänzt durch eine Verteidigungsoffensive im Reagenzglas. Die Mittel für die Erforschung des Kriegs mit Genen und Mikroben sind trotz eines fast weltweit geltenden B-Waffenverbotsabkommens seit 1978 in den USA um über 500% gestiegen; in der Bundesrepublik wurden seitdem die Ausgaben nahezu vervierfacht. Die Bundesregierung und die beteiligten Wehrmediziner haben es bislang verstanden, über die B-Waffenforschung einen Schleier der Geheimhaltung zu legen. Der Griff der Bundeswehr zur Gentechnik und die Schutzoffensive aus dem Reagenzglas werden kaschiert. „Die Unsichtbaren – Krieg mit den Genen und Mikroben“ unter diesem Titel ist im November ein von mir herausgegebenes Buch im Kölner Volksblatt Verlag erschienen, das die bislang geheimen Dinge öffentlich macht. Hier sollen einige Aspekte angerissen werden.

Die bundesdeutsche B-Waffen-Schutzforschung

Die wehrmedizinische Forschung wird – wie es die Bundesregierung darstellt – „überwiegend als Vertragsforschung von Wissenschaftlern der Hochschulen und anderer ziviler Institutionen durchgeführt. Daneben werden im Rahmen der sogenannten Sonderforschung in eigenen Forschungseinrichtungen wehrmedizinische Forschungsvorhaben bearbeitet.“1 Im Bereich der wehrmedizinischen Forschung wird also kräftig gestreut. Über zweihundert bundesdeutsche Wissenschaftler publizierten für das Verteidigungsministerium von 1969-1986 Forschungsberichte aus der Wehrmedizin.2 Weitere blieben im Dunkeln.

Für das BMVg auf dem Sektor Wehrmedizin haben nicht nur das Frankfurter Battelle Institut für Landarbeit und Landtechnik, die Bayerische Impfanstalt, das Max-Planck-Institut für Landarbeit und Landtechnik, die Deutsche Sporthochschule etc. gearbeitet, sondern fünfzig Universitätsinstitute an den Universitäten und Hochschulen in Bonn, Gießen, München, Heidelberg, Hohenheim, Tübingen, Mainz, Kiel, Hannover, Essen, Ulm, Würzburg, Freiburg, Düsseldorf u.a.

Für das BMVg forschten sogar so friedlich klingende Anstalten wie die Bundesanstalten für Fleischforschung in Kulmbach und die für Milchforschung in Kiel.

Zum Jahreswechsel 1987/88 liefen wenigstens 150 Forschungs- und Entwicklungsvorhaben der Wehrmedizin. Die geheim eingestufte Liste umfaßt die Vorhaben „Prophylaktika gegen Clostridientoxine“, „Früherkennung hochmolekularer Toxinkampfstoffe“, „Immunisierung mit Clostridien-Toxoiden über den Respirationstrakt“, „Untersuchungen über die Tenazität von luftgetragenen Mikroorganismen… um Aussagen zu bekommen über die Persistenz von infektiösen Erregern in der Luft nach aerogener Ausbringung“, „Untersuchungen zum Schnellnachweis von kombinierten Toxinkampfstoffen“, „Entwicklung einer Therapie gegen Vergiftungen durch neuartige Kampfstoffe“ und viele andere.

Die Projekte konzentrieren sich auf die Entwicklung von feldverwendungsfähigen Schnellnachweisen, Mehrfachimpfstoffen, vereinfachten, z.B. intranasalen Immunisierungsverfahren und auf Untersuchungen zur Charakterisierung von Toxinen und potentiellen B-Waffen und Überprüfung der Schutzvorkehrungen unter Realbedingungen, was im internationalen Verständnis kein Verstoß gegen die 1972er B-Waffenkonvention darstellt.

Allerdings wird auf dem Wege zur Entwicklung von Schutzmaßnahmen für das Militär das Know-How über B-Waffen angehäuft; es fallen sogar neuartige Erreger und Kampfstoffe in kleinen Mengen an, die allerdings unter geänderten politischen Bedingungen oder in der Hand von Geheimdiensten, Terroristen oder interessierter Staaten leicht zu Offensivzwecken genutzt werden könnten. Dies soll exemplarisch verdeutlicht werden.

Genese von B-Waffen-Know-how

Zur Veranschaulichung sei hier das Beispiel von Prof. Lothar Leistner angeführt, der mit 750 Veröffentlichungen auf seinem Gebiet als Kapazität zu gelten hat. Prof. Leistner arbeitet ganz unmilitaristisch an der Bundesanstalt für Fleischforschung in Kulmbach/Bayern. Er ist Leiter des dortigen Instituts für Mikrobiologie, Toxikologie und Histologie. In dieser Funktion wird er desöfteren für das Verteidigungsministerium tätig. Sein Spezialthema sind Toxine, insbesondere Mykotoxine. Dies sind Pilzgifte, die nicht erst seit dem Wirbel um den »gelben Regen« besondere militärische Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben. Im Zwischenbericht zu seinem Forschungsvorhaben „Untersuchungen zur Verbesserung des Nachweises neurotoxischer Mykotoxine“, dem Forschungsvorhaben des BMVg unter der Projektnummer InSan I-1476-V-4378, heißt es: „ Von den 30 neurotoxischen Mykotoxinen stehen uns bisher 12 Toxine mit geringen Substanzmengen zur Verfügung. Die Herstellung von 4 dieser Mykotoxine ist in unserem Laboratorium möglich; die von uns entwickelten Produktionsverfahren werden mitgeteilt. Die Herstellung von weiteren 6 neurotoxischen Mykotoxinen erscheint in unserem Laboratorium prinzipiell möglich und wurde vorbereitet… Die Untersuchung der Kombinationswirkung – die erhebliche Toxinmengen erfordert – konnte bisher nur bei T-2 Toxin, in der Kombination mit Aflatoxin B1, Ochratoxin A und Patulin, untersucht werden … Es zeigt sich, daß die Kombination T-2 Toxin oder Ochratoxin bei Eintagsküken einwandfrei synergistisch (potenzierend) wirkt, während bei den anderen biologischen Systemen die geprüften Kombinationen eine additive Toxizität ergaben“3

Beachtenswerterweise sind diese Zwischenergebnisse bereits fast 10 Jahre alt. Sie deuten uns aber an, daß das BMVg sich ein enormes Know-How über Kombinationskampfstoffe hat erarbeiten lassen, für die aktuell Schnellnachweise entwickelt werden. In ähnlicher Weise wird die Reindarstellung aller Toxinkampfstoffe und die Mikroverkapselung von B-Kampfstoffen zur Stabilisierung der Krankheitserreger betrieben, die Überlebensfähigkeit infektiöser Erreger nach aerogener Ausbringung untersucht und Massenimunisierung mit Mehrfachimpfstoffen vorbereitet, die den ungefährlichen Einsatz von B-Kampfstoffen z.B. auf Seiten von Einsatztruppen überhaupt erst denkbar machen.

Was den Umfang der verfügbaren und bearbeiteten Erreger anbelangt, ist aufschlußreich, daß sich auch eines der erfolgreichsten Projekte des Nato-Programms »Wissenschaft für Stabilität« in der Türkei mit der Erforschung von Mykotoxinen beschäftigt. „Es wurden Methoden und Techniken zur Entnahme von Proben und für die Analysen entwickelt, die bereits zur Identifizierung und Isolierung von über 1500 Arten von Schimmel geführt haben“4. Damit eröffnet sich den Militärs ein breites Arsenal kriegsverwendungsfähiger Toxine.

Bundesdeutsche gentechnische Projekte

Als sich am 16. Dezember 1985 die Enquetekommission Gentechnologie des Deutschen Bundestages mit der möglichen militärischen Nutzung der Gentechnik befaßte, lief erst ein einziges Projekt der Bundeswehr, das Genmanipulation als Technik nutzte. Es handelte sich um das früher (s.u.) bereits beschriebene Arbovirenprojekt an der Tierärztlichen Hochschule Hannover. Dr. Sailer, der Vertreter des BMVg, begründete die militärische Ressortierung solcher Projekte: „Wenn wir z.B. einen Arbovirus-Impfstoff entwickeln, dann doch nur deshalb, weil die anderen Bundesressorts daran kein Interesse haben… Von uns aus gesehen, springen wir nur in die Schutzlücke, wenn irgendein anderes Bundesministerium oder ein anderes Land so einen Impfstoff nicht entwickelt.“5 In Antwort auf eine Anfrage der Grünen im Deutschen Bundestag erklärte die Bundesregierung: „Da das überwiegende Interesse für solche Impfstoffe beim BMVg liegt, wird dort die Entwicklung veranlaßt.“6 „Wenn kein anderes Ressort… den benötigten Impfstoff entwickelt, dann hängen wir uns“, wie Sailer vom BMVg ausführte, „an die Impfstoffentwicklung der Amerikaner an.“7 Gerade im »Anhängen« an die amerikanischen Militärforschungen liegt auch die besondere Brisanz des Arbovirenprojekts, geht es dem Pentagon doch bei dem Einsatz der Gentechnologie um offensiven B-Waffen-Schutz.

In Beantwortung einer Anfrage der Grünen im Bundestag gab die Bundesregierung am 15.4.88 bekannt, daß inzwischen drei gentechnische Projekte mit Haushaltsmitteln des Verteidigungsministeriums finanziert würden.

„Es handelt sich hierbei um die

– Entwicklung eines Impfstoffes gegen Arbo-Viren-Infektionen,

– Entwicklung eines Impfstoffes gegen einen Grasbranderreger,

– Anwendung molekularbiologischer Methoden zur Erkennung und Behandlung des zellulären Strahlenschadens.“8

Genauere Angaben macht das BMVg wenige Tage später gegenüber einem auserlesenen Kreis von Haushaltsexperten des Deutschen Bundestages: „Das Vorhaben, »Immunprophylaxe gegen Arbovirus-Infektionen« befaßt sich mit der Entwicklung eines Impfstoffes gegen die Gruppe der Alphaviren, die zu den Arboviren gehören. Ziel der Arbeiten ist, die für ein gruppenspezifisches Antigen kodierenden DNS-Abschnitte zu ermitteln, mit diesen das Antigen zu erzeugen und auf seine Schutzfunktion als Impfstoff zu untersuchen. Das Projekt „Untersuchungen zur aktiven Immunisierung gegen das A-Toxin von Clostridium perfrigens“ verfolgt das Ziel, einen für eine antigene Wirkung des Gasbranderregers Clostridium perfrigens kodierenden DNS-Abschnitt zu ermitteln und damit einen toxinfreien Impfstoff herzustellen.

Bei dem dem Gebiet A-Schutz zuzurechnenden Vorhaben geht es um die Aufklärung molekularer Mechanismen, die bei durch Einwirkung ionisierender Strahlen hervorgerufener Radikalbildung ablaufen. Ziel der Untersuchungen ist die Erforschung zellulärer Substanzen, die an Schädigungs- und Reperaturmechanismen beteiligt sind, einschließlich der DNS-Abschnitte des Zellkerns und der Mitochondrien. Es gilt als gesichert, daß die wichtigsten strahlenbedingten Effekte, die zum Zelltod führen, durch Schädigungen der DNS hervorgerufen werden. Auf der Grundlage der zu erforschenden Pathomechanismen können sowohl eine molekulare Diagnostik des Strahlenschadens aufgebaut als auch Erkenntnisse über therapeutische Ansätze zur Behandlung des Strahlenschadens erwartet werden. Die Untersuchungen sollen sowohl an Saccharomyces cerevisiae (Bierhefe), Drosophila-Fliegen als auch an Zellkulturen durchgeführt werden. Das umfangreiche Gesamtvorhaben wird unter dem Titel „Cytodiagnostik von Schäden nach Einwirkung externer Noxen unter Bildung freier Radikale“ geführt.“

Wenn somit von Seiten des BMVg nur drei seiner Projekte bislang als gentechnische eingestuft werden, so muß doch davon ausgegangen werden, daß von den gegenwärtig beauftragten 150 Projekten der B-Wafffenschutzforschung und Wehrmedizin wenigstens 40 Projekte wohl auf gentechnische Verfahren im weiteren Sinne zurückgreifen werden.

Clostridientoxine: der gentechnische Schritt zu neuen B-Waffen

Obwohl in Genf eine C-Waffenkonvention bis zur Unterschriftsreife ausgehandelt worden ist, ist zur Zeit nicht mehr abzusehen, daß die USA einer solchen Konvention zustimmen würden. Im Dezember 1987 begannen sie nach 16jähriger Unterbrechnung wieder mit der Produktion von C-Waffen im Rahmen ihres erklärtermaßen offensiven C-Waffenprogramms. Hierbei handelt es sich nunmehr um die sogenannten Binären C-Waffen, bei denen die Gifte sich erst durch die Reaktion zweier relativ ungiftiger Ausgangsstoffe nach Zündung des Projektils entwickeln. Nach Einschätzung der Experten bieten hier Toxine bakteriellen oder pilzlichen Ursprungs, insbesondere aber auch gentechnisch maßgeschneiderte Giftgene dem Militär noch weitergehendere technische Perspektiven, zumal die Frage, inwieweit solch modifizierten Toxine der B-Waffenkonvention unterliegen, juristisch umstritten ist. Clostridientoxine, insbesondere das Botulin, hatten bereits im zweiten Weltkrieg das Interesse der Militärs auf sich gezogen und standen in den letzten Kriegstagen den USA zur Bombardierung Japans zur Verfügung. Dieses Botulinumtoxin ist sechzigmal giftiger als Seveso-dioxin TCDD-2,4,7,8, die Toxizität der anderen Clostridientoxine bewegt sich in ähnlicher Größenordnung. Solche Toxine sind damit um viele Größenordnungen giftiger als herkömmliche C-Waffen. Ihre mangelhafte chemische Stabilität könnte nunmehr nach Auffassung der Militärs gentechnisch kompensiert, ihre militärische Einsetzbarkeit und Verfügbarkeit damit erhöht werden. Im Rahmen der B-Waffenschutzforschung wird deshalb intensiv an Clostridientoxinen geforscht. Es wundert nicht, daß nicht nur bezüglich Arbovirenforschung die Kooperation zwischen deutschen Hochschulforschern und Pentagonforschern in Fort Detrick klappt. Am 8.10.1985 hatte Prof. Moennig aus Hannover dort eine Besprechung mit den Herren Leduc, Middlebrook und Crumrine von USAMRIID. Thema: Schnellnachweis für Botulinum-Toxin. „Zu Beginn wies Dr. Leduc“, wie Moennig dem BMVg schrieb, „auf die außerordentliche Bedeutung eines Schnellnachweises für Botulinum-Toxin hin… Am USAMRIID besteht die Absicht, die Toxingene der Typen C und D zu klonieren… In diesem Zusammenhang sind die amerikanischen Kollegen an deutschen Vorräten von gereinigtem Toxin interessiert. Ich bin beauftragt worden, entsprechende Informationen bezüglich Toxintyp und Reinheitsgrad zu beschaffen… Die amerikanischen Wissenschaftler sind an einer engen Zusammenarbeit mit der Wehrwissenschaftlichen Dienststelle interessiert.“9

Wie eine Anfrage in Nutzung des Akteneinsichtsrechts 1987 beim Pentagon ergab, werden von dort zur Zeit zwei gentechnische Clostridium-Botulinum-Toxin-Klonierungs-Projekte finanziert. Das In-House-Projekt am USAMRIID hat den Titel „Die Klonierung nichttoxischer Fragmente der Botulinneurotoxine und ihre Auswertung als neue sichere Impfstoffe“. Das andere Projekt wird vom National Marine Fisheries Service abgewickelt und hat den Titel „Die Rolle von Plasmiden und Bakteriophagen bei der Giftentwicklung von Clostridium botulinum und Charakterisierung der transformierenden Bakteriophagen“. Die Projekte dienen der Charakterisierung der Giftgene. Die Giftgene werden in Bruchstücken auf Darmbakterien übertragen, wobei dann die entstehenden Kolonien auf Giftigkeit untersucht werden, allerdings nur mit den nicht toxischen Kolonien weitergearbeitet werden soll. Daß die toxischen neuen Bakterienstämme vernichtet werden, ist allerdings nicht zu erwarten. Vielmehr ist ihre Übernahme in eine »Bibliothek« üblich, die dann jederzeit die Stammkultur für neue B-Waffen abgeben könnte. Spätestens dann wäre die blauäugige Aussage widerlegt, mit der Oberstveterinär Sailer noch vor drei Jahren die Befürchtungen der Gentechnik-Kommission des Bundestages hatte zerstreuen wollen. Er könne sich, hatte er damals beteuert, „nicht vorstellen, daß irgendein Land gentechnologisch neue Krankheitserreger entwickelt.10

Die 150er Liste des BMVg weist eine Fülle von clostridialen Toxinprojekten auf. Eines dieser Projekte, bei dem das Tetanustoxingen in Darmbakterien kloniert wurde, wird in Gießen von Prof. Habermann abgewickelt, angeblich im Auftrag des Bundesinnenministeriums. Der Bundesminister weiß davon nur gar nichts, wie er auf Anfrage mitteilte. Das Projekt läuft nämlich über eine Waschanlage im Bundeshaushalt und wird dem Zivilschutz zugeschlagen. Prof. Habermann, als Leiter der Schutzkommission beim Bundesamt für Zivilschutz, wäscht sich seine Hände in ziviler Unschuld. Die Gesundheitssicherstellung für den Krieg soll denn auch per Gesetz schon seit Jahren betrieben werden. Insofern ist es nicht verwunderlich, daß Militärforschungen nicht als solche gekennzeichnet werden, sondern zivil getarnt werden. Das BMVg profitiert im Stillen von Prof. Habermanns Faible für „die giftigsten aller Gifte“ und von seinem Engagement im Zivilschutz.

Bundesdeutsche B-Waffenschmieden

Während in den USA der Bau eines Höchstsicherheitslabors, das für die Handhabung auch genetisch manipulierter Krankheitserreger die notwendige Logistik bereitstellen sollte, auf öffentlichen Protest stieß und gerichtlich vorläufig gestoppt wurde, wurde, wie die Grünen im Bundestag auf einer Pressekonferenz am 11.12.1987 publik machten, in der Bundesrepublik ein Hochsicherheitslabor L3 bereits seit 1978 in der WWDBw geplant und soll Ende des Jahres 1988 in Betrieb gehen. Während der Vertreter des BMVg der Enquetekommission Gentechnik des Deutschen Bundestages entsprechende Pläne vorenthielt, wurde einem erlesenen Kreis von Haushaltsexperten des Deutschen Bundestages anläßlich der Haushaltsplanberatung 1988 vertraulich reiner Wein eingeschenkt. Wie es im geheimen Blatt 208 zum Regierungsentwurf des Kapitels 1420 hieß, wurde die Genehmigung für den Bau haushaltsmäßig bereits 1977 erteilt, war 1978 Baubeginn und wurde 1986 der Rohbau fertiggestellt. Der größte Teil des Gebäudes besteht aus Labors der Sicherheitsstufe L1 und L2. Einige Laborräume in dem B-Laborgebäude werden in der Sicherheitsstufe L3 ausgerüstet… Die Notwendigkeit, an einer Stelle im Bereich der Wehrtechnik über L3 Labors zu verfügen, ergibt sich daraus, daß technischer Schutz gegen gewisse Erreger der Risikogruppe III (z.B. Milzbrand) erforderlich ist, bevor medizinisch eingreifen muß und zumindest in der Bundesrepublik Deutschland nicht alle Untersuchungen an zivile Labors vergeben werden können“.(Die Wirrnis der Worte ist Originalzitat!). Für welche der Fragestellungen aus dem Bereich 310-Toxikologie/Strahlenbiologie der WWDBw mit ihren Dezernaten für Toxikologie, Mikrobiologie, Bakteriologie, Virologie u.a. oder aus den Dezernaten 422-Aerosoltechnik oder 424-Ausbreitung von Aerosol und Gasen das an der WWDBw zutreffen mag, läßt das BMVg in seiner Erläuterung offen. Immerhin vertraute das BMVg einem kleinen Kreis von Haushaltsexperten bei der Haushaltsplanberatung 1988 an: „Die WWDBw in Munster betreibt keine Forschung an Mikroorganismen und Krankheitserregern. Gegenstand der wissenschaftlichen Arbeit sind vielmehr technische Maßnahmen

– zur Erkennung und Identifizierung von B-Kampfstoffen…

– zur technischen Schutzausrüstung für Truppe und Meßgruppen…

– zur Entseuchung und Entgiftung von Wehrmaterial..“

Erhellend fuhr das Verteidigungsministerium fort: „derartige Aufgaben zu bearbeiten ist nicht möglich, ohne über entsprechende biologische Erkenntnisse und Erfahrungen zu verfügen. Auch internationaler Know-How-Transfer entsteht nur in der Partnerschaft Fähiger. Die Durchführung einer Vielzahl von Untersuchungen, insbesondere die Erprobung von Schutzvorkehrungen unter annähernd realistischen Bedingungen, erfordert das Arbeiten

– mit höheren Konzentrationen von nicht-bedrohungsrelevanten Mikroorganismen und Erregern

– mit keimhaltigen Aerosolen

– sowie mit bedrohungsrelevanten Keimen.

Hierzu müssen“, wie das BMVg in seiner Begründung des Hochsicherheitslabors in Munster vertraulich ergänzte, „in der WWDBw speziell ausgestattete Laborräume vorhanden sein,die je nach Gefährdung des Personals und der Umwelt durch die verwendeten Erreger entsprechende Sicherheitsvorkehrungen aufweisen müssen“.

Die staatliche Bauleitung Munster machte in ihrem Ausschreibungstext für den Bau des »Biologielabors in drei Geschossen« mit den gestellten Anforderungen nach DIN 58956 (6 Stück Durchreichesterilisatoren Typ 3 und Typ 4 einschließlich Wandeinbauzargen und luftdichtem Einbau in vorhandene Wandöffnungen, entsprechend 3 Gassterilisatoren für Laboratorien Typ 3 und 4) deutlich, daß das geplante Hochsicherheitslabor L3 in Munster de facto sogar nach Kriterien eines Höchstsicherheitslabors L4 ausgerüstet würde, wie denn auch Bauleistungen für Laboratorien Typ L3 und Typ L4 zur Teilnahme an der beschränkten Ausschreibung vorgewiesen werden sollten.11

In Antwort auf eine Große Anfrage der Grünen im Deutschen Bundestag stellte die Bundesregierung am 22.4.88 klar:„ Die Bundesregierung errichtet in Munster ein Laboratoriumsgebäude für notwendige mikrobiologische Arbeiten auf dem Gebiet des technischen B-Schutzes und nicht zur Durchführung gentechnischer Experimente. Die Bundeswehr plant im Bereich der Wehrtechnik keine Arbeiten, für die ein »Hochsicherheitslabor« notwendig ist.“ In ihrer Vorbemerkung zu ihren Antworten auf Fragen der Grünen klärte die Bundesregierung die Öffentlichkeit mit der Feststellung auf, daß „es nicht zutrifft, daß die Bundeswehr bei der WWDBw in Munster

– ein geheimes Laboratoriumsgebäude errichtet und

– ein »Hochsicherheitslabor« erstellt “

Nach Bekunden der Bundesregierung ist vielmehr „richtig, daß

– ein Laboratoriumsgebäude errichtet wird, das im Rahmen eines Routine-Infrastrukturprogramms nicht mehr instandhaltungswürdige Gebäude ersetzt,

– dieses Bauvorhaben als Einzelprojekt nie geheim eingestuft war,

– ein Laboratoriumsgebäude erstellt wird, in dem mikrobiologische Laboratorien der Sicherheitsstufe L3 enthalten sind,

– alle Projekte der Bundeswehr, bei denen gentechnische Arbeitsmethoden angewandt werden »offen“betrieben werden“.

Vertraulich erklärte das BMVg zwei Tage früher allerdings jenem erwähnten Kreis von Haushaltsexperten des Deutschen Bundestags, daß „keine zusätzlichen baulichen Anforderungen erfüllt werden müssen, wenn in einem derartigen Laboratorium gentechnische Arbeitsmethoden angewandt werden sollen“. Und weiter: „Bei der zur Zeit nicht absehbaren rapiden Entwicklung gentechnischer Arbeitsmethoden kann nicht ausgeschlossen werden, daß mittel- bis langfristig diese Methoden alltäglicher Laborstandard werden können, und damit als etablierte Methoden routinemäßig in die Laboratorien der Bundeswehr Eingang finden“12

Unterstellt dem Bundesamt für Wehrtechnik und Beschaffung und unter Dienstaufsicht der Rüstungsabteilung des Bundesverteidigungsministeriums verschafft sich die Bundeswehr also eine technische Infrastruktur für gentechnische Manipulationen an Krankheitserregern. Die Enquetekommission Gentechnik des Deutschen Bundestages wurde übrigens in dieser Hinsicht diskret genasweist. Dort erklärte Oberstveterinär Sailer für das BMVg am 16.12.85: „Die Bundeswehr selbst hat im eigenen Bereich kein gentechnisches Labor, noch werden wir solche gentechnischen Experimente im eigenen Bereich durchführen“. Bereits kurze Zeit später allerdings ging in München an der Sanitätsakademie der Bundeswehr für ABC-Schutz ein gentechnisches L2-Labor in Betrieb. Abgewickelt wird dort das wehrmedizinische Projekt »Cytodiagnostik von Schäden nach Einwirkung fremder Noxen unter Bildung freier Radikale«: gearbeitet wird gentechnisch, finanziert wird ausschließlich vom BMVg. Großzügigerweise hat die Bundeswehr die Labors in ihrer Münchener »Liegenschaft der Akademie des Sanitäts- und Gesundheitswesens der Universität Ulm überlassen«. Womit immerhin die Form gewahrt blieb und die Universität Ulm nun in München eine Dependence hat.

Agentien Nummer 0007

Oberstveterinär Dr. Sailer konnte die Enquetekommission Gentechnik des Deutschen Bundestages beruhigen: „Auf dem wehrmedizinischen Sektor forscht die ganze NATO öffentlich. Da gibt es nirgends die geringste Einschränkung. Wie bei der Industrie gibt es aber eine gewisse Einschränkung. Wenn man nämlich erkennt, daß etwas zu einem Patent werden wird, dann wird man nicht gleich publizieren, sondern es erst zum Patentamt tragen. Das ist die einzigste Einschränkung; aber die ist nicht größer als bei der Industrie“.13

Der Vertreter des BMVg verschwieg etwas. Der kleine Unterschied lag bei der Nummer 0007. Es gibt bei der NATO die Cocomliste, eine internationale Kontrolliste, die Ausfuhr militärisch wichtiger Güter in Nicht-NATO-Länder regelt und beschränkt. Diese findet ihren Niederschlag in der bundesdeutschen Ausfuhrliste zur Außenwirtschaftsverordnung. Obwohl nach Artikel X der 1972er B-Waffenkonvention die Bundesregierung verpflichtet ist, „den weitestmöglichen Austausch von Ausrüstungen, Material und wissenschaftlichen und technischen Informationen zur Verwendung bakteriologischer (biologischer) Agenzien und von Toxinen für friedliche Zwecke zu erleichtern“, dürfen in der Bundesrepublik die Produkte der B-Waffenschutzforschung nicht frei gehandelt werden. Obwohl die beteiligten Wehrmediziner vor Ort mit Vorliebe darauf hinweisen, daß ihre Impfstoffe , monoklonalen Antikörper, Testsets u.a. ja auch im Ostblock zugänglich würden, unterwirft die Ausfuhrliste zur Außenwirtschaftsverordnung diese Produkte eindeutig der Genehmigungspflicht und be- oder verhindert ihren Export. Im Teil IA, der Liste für Waffen, Munition und Rüstungsmaterial wird – pikanterweise unter der Ziffern 0007 – aufgeführt: „Toxikologische Wirkstoffe oder Augenreizstoffe sowie zugehörige Ausrüstung wie folgt und besonders entwickelter Software hierfür:

a) biologische, chemische und radioaktive Stoffe für den Kriegsgebrauch (zur Außergefechtssetzung von Menschen oder Tieren oder zur Vernichtung von Ernten);

b) Ausrüstung besonders konstruiert und bestimmt zum Ausbringen der in Unternummer a) beschriebenen Stoffe;

c) Ausrüstung, besonders konstruiert für die in den Unternummern b) und c) genannte Ausrüstung“14

Hieran ist folgendes bemerkenswert:

1. Der Waffen- bzw. Rüstungscharakter der B-Waffenschutzmaterialien wird explizit zugegeben.

2. Der zivilen Begründung militärisch initiierter B-Waffenschutzforschung wird jeglicher Boden entzogen; die Verharmlosungsstrategie der Wehrmediziner vor Ort wird demaskiert.

3. Es wird impliziert, daß in der Bundesrepublik biologische, chemische und radioaktive Stoffe für den Kriegsgebrauch (zur Außergefechtsetzung von Menschen oder Tieren oder zur Vernichtung von Ernten) produziert werden bzw. produziert werden dürften. Damit wäre aber ein Verstoß gegen das 1983 vom Bundestag ratifizierte B-Waffenabkommen von 1972 gegeben, wodurch ausdrücklich verboten ist, „biologische Agenzien, die nicht durch Vorbeugungs-,Schutz- oder sonstige friedliche Zwecke gerechtfertigt sind,…zu entwickeln, herzustellen, zu lagern oder in anderer Weise zu erwerben oder zurückzubehalten.“ Offensichtlich sind in der Bundesrepublik Schritte zur Stärkung der B-Waffenkonvention und ihrer Einhaltung nötig.

Anmerkungen

1 Faktenbericht 1986 zum Bundesbericht Forschung, DS 10/5298 vom 9.4.1986,S.144/145. Zurück

2 Dokumentationszentrum der Bundeswehr; Forschungsberichte aus der Wehrmedizin (FBWM), Gesamtverzeichnis 1969-1986; Bonn 1987. Zurück

3 L.Leistner: FBWM, 79-10, Hresg. BMVg, Untersuchungen zur Verbesserung des Nachweises neurotoxischer Mykotoxine Zurück

4 J.S. Walker, Partner in der Wissenschaft, Das NATO-Programm »Wissenschaft für Stabilität«, NATO-Brief, 3/1986, S. 26-31. Zurück

5 Fachgespräch. Deutscher Bundestag, Enquete-Kommission Gentechnologie, Protokoll der 24. Sitzung/Teil1, Fachgespräch über die mögliche militärische Nutzung der Gentechnologie, S. 16 Zurück

6 3718 Deutscher Bundestag vom 12.8.1985; Wehrmedizinische Entwicklungsaufträge und Forschungen im Bereich von B-Waffen Zurück

7 Fachgespräch, a.a.O. S.54 Zurück

8 DS 11/2188, a.a.O. Zurück

9 V. Moennig, Bericht über einen Besuch am US Army Medical research Institute for Infectious Deseases (USAMRIID) in Frederick, Maryland, v. 7.-9.10.1985 Zurück

10 Fachgespräch, a.a.O., S. 10. Zurück

11 Submissionsanzeiger, 25.3. 1987, 12701 Zurück

12 56 BMVg, Schreiben vom 20.4.1988 in Beantwortung von Fragen zum Thema Gentechnologische Labors der Bundeswehr. Zurück

13 Fachgespräch, a.a.O.,S. 53. Zurück

14 DS 11/2151, Aufhebbare Neunundfünfzigste Verordnung zur Änderungen der Ausfuhrliste – Anlage AL zur Außenwirtschaftsverordnung, verkündet am 12.4.1988 im Bundesanzeiger Nr. 68. Zurück

Manuel Kiper ist Biologe und zur Zeit tätig als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Bundestagsfraktion der GRÜNEN.

Frankreichs EUREKA (II)

Frankreichs EUREKA (II)

Zielsetzungen

von Achim Seiler

“Wir müssen im zivilen wie im militärischen Bereich die 100 Milliarden für FuE, die wir jährlich ausgeben, bestmöglich nutzen. Zum Glück arbeiten wir in gutem Einvernehmen mit dem Forschungsministerium und wir sind ausgezeichnet darüber informiert, was sich in den »guten« zivilen Laboratorien tut.(…) Nach diesem Muster werden die Industriellen des alten Kontinents in eine Zusammenarbeit einwilligen müssen. Das ist vielleicht das, was am schwierigsten zu erreichen sein wird.“1 Katalysatoren für die französische Technologieinitiative Eureka waren die amerikanischen Weltraumrüstungspläne, die mit SDI verbundene technologie- und industriepolitische Herausforderung sowie die befürchteten rüstungsökonomischen und militärstrategischen Konsequenzen für die nukleare Mittelmacht Frankreich.

Parallel zur Ankündigung des im Zusammenhang mit Eureka geplanten Baus von Aufklärungs- und Beobachtungssatelliten lud der französische Verteidigungsminister Hernu die Europäer zur Mitarbeit bei einem als »Sternenfrieden« (paix aux étoiles) bezeichneten militärischen Weltraumvorhaben ein. Die inhaltliche Konzeption bewegt sich hierbei zunächst zwischen einem Netz von 5-10 Aufklärungssatelliten (VEC)2 und Maßnahmen zur Schaffung der wissenschaftlich-technischen Voraussetzungen für den Aufbau eines eigenen französischen Antisatellitensystems (ASAT). Die ausbaufähige Weltraumkonfiguration VEC soll nach französischer Intention vermutlich das Herzstück einer franco-europäischen Verteidigungsinitiative werden.3

Durch die Kombination weltraumgestützter Aufklärungs- und Führungsmittel mit einem signifikant ausgebauten und weltweit dislozierten Verteidigungspotential soll zunächst die »Glaubwürdigkeit« der französischen Nuklearstrategie zu Beginn des nächsten Jahrhunderts sichergestellt werden. Die Verlagerung der französischen Nuklearstrategie in den Weltraum gewinnt für Frankreich eine ähnliche historische Bedeutung wie der Bau eigener Nuklearwaffen nach dem 2.Weltkrieg.

„Wenn Eureka fehlschlägt, was wird Frankreich dann machen? “Wir werden“, sagt Roland Dumas, „vor einer historischen Entscheidung stehen wie in den 50er Jahren, als Pierre Mendes-France sich entschied, den ersten Beschluß zur französischen Atombombenforschung zu unterzeichnen.“ Mit oder ohne Europa wird Frankreich seinen Weg gehen und ein Verteidigungssystem suchen (entwickeln), das den neuen Regeln des Weltraum(zeitalters) angepaßt ist.“4

Strategisches Ziel des französischen Eureka-Vorschlages ist die europaweite Bereitstellung, Akkumulation und Abschöpfung der notwendigen innovativen Kenntnisse in ausgewählten Schlüsseltechnologiebereichen, die Frankreich für den Bau und die Dislozierung seiner weltraumgestützten Verteidigungskomponente und die eventuelle Erweiterung der Weltraumkonfiguration VEC zu einem integrierten europäischen Verteidigungssystem unter der militärpolitischen Führung durch Paris benötigt.

Die forschungs- und industriepolitischen Zielsetzungen bestehen zum einen darin, die europäischen FuE-Anstrengungen zu bündeln, Kohärenz in die Vielzahl transnationaler Vorhaben zu bringen, Doppelarbeiten künftig zu vermeiden und synergetische Effekte zu erzielen sowie zum andern in der Vehikelfunktion Eurekas für eine Vereinheitlichung von Normen und Standards und den Aufbau eines Europas mit zwei oder mehr Geschwindigkeiten.5

Sowohl im Hinblick auf eine Teilnahme europäischer Industrieunternehmen bei der amerikanischen Weltraumrüstung wie auch hinsichtlich des europäischen Binnenmarktes sollten projekt- oder themenorientiert Industriekonsortien (Eurokonglomerate) geschaffen werden. Auf diese Weise wurden, jeweils ergänzt durch Vertreter aus zivilen und militärischen Forschungsadministrationen, die europäischen Rüstungs- Elektronik- und Weltraumkonzerne, zunächst funktional, miteinander vernetzt und somit auch die geeigneten Verhandlungsplattformen geschaffen für eine gleichberechtigte technologische Zusammenarbeit europäischer, insbesondere französischer Unternehmen bei SDI.

Die französische Technologiestrategie

Die Ausführungen Curiens, die großen vertikalen Forschungsvorhaben müßten nach Ariane-Vorbild in internationaler Arbeitsteilung und unter der Kontrolle von kompetenten (französischen) Hauptauftragnehmern abgewickelt werden6, war ein politisches Signal an die französischen Konzerne, die Führungsrolle bei Eureka zu übernehmen und gleichzeitig ein weiteres Indiz für die Existenz einer kohärenten Technologiestrategie, die Frankreich im Rahmen seines Technologievorschlages zu verfolgen beabsichtigt. Der hierbei anvisierte Umfang französischer Eureka-Projekte wird sich in den ersten 5 Jahren auf insgesamt ca. 300 Vorhaben belaufen bei einer projizierten Gesamtlaufzeit Eurekas von vermutlich insgesamt 10 Jahren7; bislang nimmt Frankreich erst bei 1128 Projekten mit fast überwiegend französischer Projektführung teil.

Die von Paris vorgeschlagenen Technologiefelder, die im Rahmen von Eureka vorrangig erforscht werden sollen, waren im Weißbuch der französischen Regierung konzeptionell konkretisiert, in modulartige Segmente zerlegt und in einzelne Forschungsprojekte aufgeteilt worden, wobei die angestrebten Wunschkonstellationen der zukünftigen FuE-Projektpartner bereits explizit genannt wurden. Die Affinität zu den in Frankreich im gleichen Zeitraum angestellten ersten Kalkulationen über den Aufwand an Wissenschafts- und Kapitalressourcen, deren europaweite Bereitstellung, Konzentration und Steuerung für eine SDI-unabhängige Europäische Verteidigungsinitiative als notwendig erachtet wurde, sind verblüffend.9 Auch hier waren die gleichen großen ausländischen Konzerne (Elektronik- und Rüstungsunternehmen) genannt worden, auch hier wurde mit Nachdruck die Notwendigkeit betont, das wissenschaftlich-technische Potential der EFTA-Staaten miteinzubeziehen, welches für den Aufbau einer EVI/EVG unerläßlich sei.

Analog zur Segmentierung der von Frankreich verfolgten Technologiestrategie in Teilziele wurden die großen vertikalen Projektvorhaben wie etwa die Weltraumfabrik, die vermutlich am Ende der FAMOS-Prototypkette stehen wird, modulartig in Einzelprojekte zerlegt. Die in den verschiedenen Eureka-Forschungsvorhaben gewonnenen wissenschaftlich-technischen Erkenntnisse werden anschließend zu einem komplexen Großsystem integriert.

Die Einrichtung eines interministeriellen Koordinationskommittees in Paris soll dem Staat weiterhin die Rolle des politischen Antriebs und der intersektoralen Mobilisierung Eurekas ermöglichen. Der nationale Eureka-Beauftragte und Eureka-Projektkoordinator Yves Sillard ist Generalsekretär dieses Komitees.10

Für den Rüstungsmanager Sillard, der in Frankreich über die Konkordanz der als Eureka-Projekte vorgeschlagenen Forschungsvorhaben mit den in Hannover vereinbarten Grundsätzen und damit über das Zustandekommen eines Eureka-Projektes entscheidet, ist das Kriterium der zivilen Finalität zumindest von soweit untergeordneter Bedeutung, daß es in seinen öffentlichen Stellungnahmen keine Erwähnung findet. Vielmehr ist das Ziel Eurekas nach seinen Aussagen dann erreicht, wenn in der Öffentlichkeit sämtliche Bezüge zur Rüstungsforschung vermieden werden können.

Der europäische Konsesbeschaffungsprozeß

Neben den vielfältigen zusätzlichen Schwierigkeiten, die beim innereuropäischen Verhandlungsprozeß zu erwarten gewesen wären, wenn man die rüstungsökonomischen und militärpolitischen Bezüge sowohl zu SDI wie auch zur französischen Militärplanung hätte offenlegen müssen (besonders die Bundesregierung zeigte sich besorgt über die zu erwartende öffentliche Reaktion), wäre der französische Vorschlag sehr schnell an grundsätzlichen militärstrategischen Differenzen zwischen Bonn und Paris gescheitert. In diesem Falle hätte nämlich geklärt werden müssen, ob Eureka als Grundstein für eine Europäische Verteidigungsinitiative11 und Verhandlungsplattform europäischer Konzerne bei SDI eine militärische Verlängerung12 in Form des von den Amerikanern vorgeschlagenen SDI-Anhängsels EUROBMD, oder aber im Rahmen einer von Frankreich geführten EVI/EVG13 finden sollte, deren technologische Grundlage mit Eureka, die politische durch die Einübung des neuen europäischen Politikmusters der »géometrie variable« gelegt werden sollte.

Die grundsätzlichen Diskrepanzen im Bonner Kabinett, die eine klare bundesdeutsche Zusage zu Eureka – wie auch zu SDI – lange Zeit verhindert hatten, hatten sich an der Frage entzündet, ob die europäische Technologiebasis zuerst autochthon aufgebaut und anschließend gemeinsam in das amerikanische Weltraumrüstungsvorhaben SDI eingebracht werden sollte (Genscher14), oder aber bereits in ihrer Aufbauphase konzeptionell als das europäische Standbein bei SDI ausgelegt und organisiert werden sollte, wobei das Weltraumtechnologievorhaben Eureka und die Bemühungen um eine europäische Verteidigungsinitiative teilweise identisch sein sollten (Kohl15, Lenzer16).

Während sich die Bundesregierung im ersten Fall dem Dilemma der Unvereinbarkeit der zugrundeliegenden sicherheitspolitischen und militärstrategischen Konzeptionen noch nicht sofort stellen mußte, hätte die zweite Variante eine frühzeitige transatlantische Festlegung der westdeutschen Außen- und Sicherheitspolitik bedeutet – zulasten der deutsch-französischen Beziehungen.

Genscher konnte nun lediglich versuchen, zusammen mit den Ressortchefs für Forschung und Verteidigung beider Länder, unter dem Zeitdruck des 60-Tage-Ultimatums die in Europa politikfähigste Variante des französischen Technologievorschlages auszuloten und für die Option der Integration einer möglichst großen Bandbreite formaler und informeller Zielvorstellungen die prinzipielle Unterstützung der Bundesregierung zu erreichen, die für das politische Überleben der französischen Idee unabdingbar war.

In einem programmatischen Aufsatz seines Planungschefs Seitz hatte sich das Auswärtige Amt bemüht, sich politisch abzusichern und die von Mitterand bereits angesprochenen Brücken zwischen beiden Vorhaben inhaltlich zu konkretisieren. Ungeachtet der dezidierten Ablehnung von SDI durch Genscher – zum damaligen Zeitpunkt und unter den gegebenen Umständen – betonte Seitz die Komplementarität von SDI, EVI, Eureka und den Anstrengungen zum Bau eines deutsch-französischen Aufklärungssatelliten.17

Der pragmatische Ansatz der Konsensbeschaffung durch Problemausblendung hat wesentlich zur politischen Akzeptanz durch die großen Industriestaaten (GB, BRD) beigetragen. Die Implementierung informeller Koordinationsmechanismen und die durch die vereinbarte Satzung gedeckte Option, bei Eureka auch rüstungs- und SDI-relevante Forschungsvorhaben unterzubringen, haben dem französischen Technologievorschlag in seiner widersprüchlichen Entstehungsphase schließlich zu unerwarteter Dynamik verholfen18.

Ungeachtet der diversen anderslautenden Sprachregelungen19 bedeutete dies für die nun folgenden Bemühungen zur Ausarbeitung möglicher Projekte die gezielte Kombination von militärischen und zivilen Technologievorhaben im Rahmen von Eureka, um, entweder unter Ausnutzung der Dual-Use-Fähigkeiten der Hochtechnologien, oder über die modulartige Zerlegung militärischer Großsysteme in zivil ökonomisierbare Segmente kostensenkende Synergieeffekte zu erzielen und somit die Verhandlungsposition der europäischen Rüstungsindustrie gegenüber den USA zu stärken und darüberhinaus der NATO zu helfen, Entwicklungskosten zu sparen.

Formale und informelle EUREKA-Organisationsstrukturen

Zentrale Elemente der inoffiziellen Koordinationsmechanismen sind die politisch induzierten Rahmenvereinbarungen europäischer Industrieunternehmen20, die Möglichkeit, Eureka-Projekte auch geschlossen zu präsentieren, sowie nationale Eureka-Agenturen in allen 19 Mitgliedsstaaten. Die Arbeitsbereiche dieser Agenturen sind zwar in der Grundsatzerklärung indirekt erwähnt (nicht die Agenturen selbst), sind jedoch beliebig durch zusätzliche, in der Satzung nicht genannte Kooperationsfelder erweiterbar. Sie ermöglichen eine themengebundene multivariate Vernetzung ziviler wie militärischer Forschungsadministrationen, staatlicher Forschungseinrichtungen und Industrieunternehmen in Europa. Formale Instrumente sind die Industrieforen,21 ein relativ funktionsloses internationales Eureka-Sekretariat und eine Gruppe hoher Regierungsbeamter für die operationellen Interimstreffen zwischen den turnusmäßig wechselnden Eureka-Ministerkonferenzen, auf welchen die neuen Projekte jeweils formal bekanntgegeben werden. Die Bedeutung der informellen Eureka-Strukturen besteht in der hierdurch geschaffenen Möglichkeit der Einlösung von industrie- und technologiepolitischen Optionen, die entweder mit der Grundsatzerklärung von Hannover nicht vereinbar sind (militärische Projekte), oder aber bei den kleineren EG-Ländern zu handels- und wettbewerbspolitischen Befürchtungen führen würden (Marktabsprachen, französisch-deutsche Dominanz).

Ohne die Berücksichtigung dieser informellen Kooperationsmuster ließe sich auch nicht die große Resonanz des laut Satzung seiner militärischen Zielorientierung beraubten Technologievorhabens Eureka bei den europäischen Rüstungs- und Weltraumunternehmen plausibel erklären. Die skizzierten normativen Zielvorstellungen (Vehikelfunktion für die Vereinheitlichung von Normen und Standards) klingen zwar plausibel und sind in der öffentlichen Diskussion immer wieder als industriepolitische Rationale genannt worden, doch wurde von kompetenter Seite auch Skepsis angemeldet, ob Eureka als ein neuer Mechanismus zur Beschleunigung von politisch zu regulierenden Standardisierungs- und Anpassungsprozessen erfolgreicher sein wird, als die mühseligen und stockenden Versuche der EG-Kommission.22

Das offizielle Eureka kann jedenfalls laut Satzung ohne flankierende Unterstützungsmaßnahmen durch die EG-Kommission nicht funktionieren, geschweige denn die angestrebten industrie- und strukturpolitischen Erfolge erringen. Es dürfen daher durchaus auch Zweifel artikuliert werden, ob in der genannten Vehikelfunktion tatsächlich der eigentliche Motor Eurekas liegt.

EUREKA als Baustein einer europäischen Technologiegemeinschaft

Abgesehen von militärischen Eureka-Projekten23 sowie der gezielten Bereitstellung und Abschöpfung rüstungsrelevanten know hows24, erlauben die beschriebenen industriellen Eurokonglomerate direkte militärische Verlängerungen.

Teure Rüstungsvorhaben wie beispielsweise die Aufklärungs- und Beobachtungsatelliten25 lassen sich über die im Rahmen von dual-use-fähigen Eureka-Forschungsvorhaben bereitgestellten wissenschaftlich-technischen Erkenntnisse und die zivile Kommerzialisierung von Teilkomponenten (etwa im Bereich Elektronik, Sensorik, div. Software-Anforderungen) volkswirtschaftlich attraktiv zwischenfinanzieren – an nationalen wie europäischen Kontrollinstanzen (Parlament, WSA, etc.)26 vorbei.

Die Konfigurationen aus Rüstungs- und Weltraumindustrie, Vertretern des Wissenschaftsmanagements und der Politik ermöglichen jedoch nicht nur direkte militärische Projekt-Verlängerungen, sondern auch einen gemeinsamen transnationalen Vorlauf im Bereich der Grundlagenforschung. Der Übergang zum bottom-up-approach bei ausgewählten EG-FuT-Einzelprogrammen wie ESPRIT, RACE oder BRITE, bei dem die Industrie nun weitgehend selbst definiert, welche FuT-Vorhaben in Angriff genommen werden, sowie der erklärte Wunsch von EG-Kommission, Industrie- und Regierungsvertretern, Doppelarbeiten zu vermeiden und auf synergetische Strukturen zu achten, legen diesen transnationalen Vorlauf auch nahe.

Im Idealfall entstehen somit sektorbezogene Industriekonsortien, die – möglichst unter französischer Projektführung – in allen Phasen des FuE-Kontinuums in gleicher Konstellation zusammenarbeiten (dem Projektführer zuarbeiten). Die Grundlagen- und angewandte Grundlagenforschung (Esprit II) wird zu 50% von der EG-Kommission mitfinanziert bei weitreichender Projektgestaltungsautonomie der Industrie, die Entwicklung im Rahmen von Eureka-Vorhaben in individueller Absprache mit den nationalen Regierungen und über die zivile Kommerzialisierung einzelner Produkte (Komponenten). Entweder bereits in parallelen Arbeitsschritten oder unmittelbar nach Ende des FuE-Prozesses des zeitlich aufwendigsten zivil kommerzialisierbaren Teilstücks, können dann die Technologiemodule in ein komplexes militärisches Gesamtsystem integriert werden.

Die technologiepolitische Funktion der ursprünglich geplanten staatlich-industriellen Lenkungsausschüsse wurde auf den relevanten Technologiefeldern jeweils durch ein franco-europäisches Industriekonsortium übernommen – vermutlich in allen Fällen unter der Leitung eines Rüstungsmanagers des Rüstungsbeschaffungsamtes DGA – mit dem industriepolitischen wie rüstungsökonomischen Ziel, das in Frankreich implementierte intersektorale Technologiebereitstellungs- Steuerungs- und Abschöpfungsmuster europaweit zu verlängern.

Ausblick

Den französischen Technologiestrategen ist es gelungen, den unter dem Druck des Weinberger-Ultimatums viel zu früh präsentierten Eureka-Vorschlag trotz der politischen und finanziellen Anziehungskraft des amerikanischen Konkurrenzvorhabens in Europa besser zu vermarkten, hierbei eine Vielzahl divergierender Interessen miteinander in Einklang zu bringen und bei Ausblendung der sicherheitspolitischen Aspekte eine kritische Diskussion der Rüstungsrelevanz der von Frankreich mit VEC/Eureka verfolgten Zielsetzungen in der Öffentlichkeit bislang zu verhindern.

Nachdem der informelle Versuch Frankreichs, VEC/Eureka den Europäern als militärpolitische Antwort auf die politisch-strategische Herausforderung durch die amerikanischen Weltraumrüstungspläne zu präsentieren, vor der WEU im April 1985 zunächst einmal gescheitert ist, erfüllt Eureka dennoch zentrale rüstungsökonomische und militärpolitische Funktionen:

  1. Eureka fungiert als Rahmen für eine konzertierte europäische Reaktion und als gemeinsame Verhandlungsplattform europäischer Industrieunternehmen gegenüber den Amerikanern. Als Antwort auf die technologiepolitische Herausforderung durch SDI soll Eureka die technologischen und politischen Ausgangspositionen stärken vor einer politisch durchaus erwünschten industriellen Zusammenarbeit bei SDI.
  2. Die französische Regierung arbeitet parallel zu den Bemühungen um eine Begrenzung der Weltraumrüstung der Supermächte an der Schaffung der technologischen und politischen Voraussetzungen für eine integrierte Gesamtarchitektur einer (Franco)-Europäischen Verteidgungsinitiative in Europa. Während es folglich sehr plausibel erscheint, daß mit den von den französischen Politikern immer wieder erwähnten »militärischen Verlängerungen« die gezielte und systematische Bereitstellung, Abschöpfung und Integration von im Rahmen von Eureka gewonnenen Teiltechnologien in militärische Großsysteme gemeint sind, sprechen deutliche Hinweise auch für konkrete Absichten zur Integration militärischer Systeme/Subsysteme/Teiltechnologien in einen übergeordneten militärpolitischen Zusammenhang als Verlängerung der gesamten Eureka-Initiative nach Ende der Laufzeit der bislang längsten Projektvorhaben (ca. 1995).

Dies wird, vorbehaltlich der Lösung des bundesdeutschen sicherheitspolitischen Dilemmas, entweder in Form einer Anbindung VEC/Eurekas an ein konventionalisiertes SDI (EUROBMD) geschehen, oder aber im Rahmen einer eigenständigen EVI/EVG unter französischer Führung, wenn »en passant par la technologie civile« nicht nur die technologischen, sondern mit der Einübung des Politikmusters der »variablen Geometrie« vor allem die politischen Voraussetzungen hierfür in Europa geschaffen worden sind.

-> Teil I

Anmerkungen

1 Auszug aus einem Interview mit Victor Marcais, dem Direktor der Rüstungsplanungsabteilung im französischen Rüstungsbeschaffungsamt DGA, in: L'Usine, Nr.19, 07.05.87 Zurück

2 Voir, écouter, comprendre Zurück

3 Zum Zusammenhang von Eureka und EVI vgl.: Seiler, Achim: EUREKA – zum forschungspolitischen und rüstungsökonomischen Stellenwert der französischen Technologieinitiative, in: antimilitarismus information, Heft 9/10 1988, S. III-167 – III-176 Zurück

4 Zit.: Le Nouvel Observateur, 19.04.85 Zurück

5 Wie bereits im ersten Teil erwähnt, war das Politikmuster der »variablen Geometrie« von den Berufseuropäern in Brüssel heftig bekämpft worden, da hiermit die traditionellen Bemühungen um eine einheitliche Weiterentwicklung der Gemeinschaft zu einer Europäischen Union konterkariert wurden. Nach den Vorstellungen der französischen Sozialisten ist die Europäische Union jedoch keinesfalls mit der 12er-Gemeinschaft identisch. Sie wird zumindest in ihrer Anfangsphase deutlich weniger Mitglieder haben, dafür jedoch bereits ein oder zwei EFTA-Staaten umfassen. Ziel ist nach dieser Konzeption der Aufbau einer Europäischen Union mit einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (ab 1995) an den EG-Institutionen vorbei. Auch der »gemeinsame Binnenmarkt« hat nur einen funktionalen Stellenwert. Zurück

6 Financial Times, 15.07.85 Zurück

7 Der Hinweis auf die Gesamtlaufzeit findet sich in der französischen Presse. Auch EG-Kommissionspräsident Delors hatte nach der Pariser Gründungskonferenz eine militärische Verlängerung des EUREKA-Gesamtvorhabens nach einer 10-jährigen Laufzeit erwähnt; vgl.: La Tribune de l'Economie, 11.10.85. Die Projektlaufzeit der längsten Eureka-Forschungsvorhaben beträgt ebenfalls 10 Jahre. Bei einem Gespräch mit Madame Le Gall von IFREMER in Paris im Juni 1988 wurde dem Verfasser allerdings versichert, daß die Technologieinitiative Eureka zeitlich nicht begrenzt sei, doch waren auf der 6. Ministerkonferenz in Kopenhagen (Juni 1988) keine neuen Projekte bekanntgegeben worden, deren Projektlaufzeit insgesamt den Zeithorizont von 1995 überschreitet. Ebenfalls 1995 soll mit der Dislozierung der Weltraumkonfiguration VEC begonnen werden. Zurück

8 Stand: Kopenhagen Zurück

9 vgl.: Le Monde, 17.07.85 Zurück

10 AFP Sciences, Nr.497, 27.02.86 Zurück

11 Daß Eureka nach den Intentionen seiner französischen Planer die skizzierten integrations- und militärpolitischen Funktionen tatsächlich erfüllen soll – bei vorläufiger Konzentration auf die technologischen Aspekte – machte der französische Außenminister bei seiner Eureka-Reise in die VR China deutlich.
In Gesprächen mit seinem chinesischen Amtskollegen sowie dem Weltraumminister Li Xue (29.08.85) lud er die VR China zur Mitarbeit bei den Weltraumtechnologievorhaben ein. Von beiden Politikern wurden die Möglichkeiten gemeinsamer Projektkooperationen im Rahmen von Eureka ausgelotet, wobei die chinesische Regierung das Weltraumvorhaben Eureka als die Vorstufe der Europäischen Verteidigungsinitiative willkommen hieß und als einen weiteren Schritt zur Einhegung der sowjetischen Dominanz auf dem europäischen Kontinent begrüßte. Zurück

12 Le Quotidien de Paris, 22.04.85; La Lettre de l'Expansion, 22.04.85 Zurück

13 Europäische Verteidigungsinitiative/Europäische Verteidigungsgemeinschaft; vgl. besonders: Le Monde, 17.07.1985 (!) Zurück

14 Le Nouvel Economiste, Nr.488, 03.05.85 Zurück

15 Libération, 02.05.85; Le Matin, 04./05.05.85 Zurück

16 Le Monde, 31.05.85 Zurück

17 Seitz, Konrad: SDI – die technologische Herausforderung für Europa, in: Europa-Archiv, Folge 13/1985, S.381 – 390 Zurück

18 So hatte man sich in Abweichung des ursprünglichen französischen Vorschlages schließlich auch auf die Mindestteilnehmerzahl von 2 Projektpartnern verständigt. Hierdurch sollte gewährleistet werden, daß sich der Beginn der jeweiligen transnationalen Forschungsvorhaben nicht unnötigerweise verzögert. Zurück

19 Erst auf Intervention der Schweiz und Schwedens wurde in der Grundsatzerklärung schriftlich verankert, daß Eureka-Forschungsvorhaben zivilen Zwecken dienen sollen. Das Postulat dieser Finalität ist allerdings angesichts des dual-use-Charakters der Hochtechnologieprojekte von relativer Bedeutung. Es sind zudem laut Satzung die jeweiligen nationalen Regierungen bzw. Eureka-Projektkoordinatoren, welche eine Überprüfung der eingereichten Projektvorschläge mit den von der Satzung angesprochenen Kriterien vornehmen. Eine Einspuchsmöglichkeit dritter, am jeweiligen Projekt nicht beteiligter Regierungen existiert nicht. Eureka-Projekte kommen schließlich durch den Ablauf einer 45-Tage-Frist zustande. Zurück

20 So schlossen beispielsweise die fünf großen europäischen Luft- und Raumfahrtkonzerne Aérospatiale, British Aerospace, MBB, Aeritalia und CASA eine Rahmenvereinbarung, die u.a. den Bau von Kipprotorflugzeugen, Weltraumfabriken, Solarenergiezentren und großen Strukturen im Orbit vorsieht. Die Forschungszusammenarbeit dieser Konzerne sollte mit gemeinsamen Projekten zur Entwicklung einer integrierten Produktionsstrategie (PARADI) sowie zur papierlosen, interventionssicheren Zirkulation sensibler Informationen (APEX) begonnen werden. Zurück

21 Die Industrieforen wurden auf der 6. Eureka-Ministerkonferenz im Juni 1988 in Kopenhagen durch Arbeitsgruppen ersetzt. Auch sie folgen dem Strukturmuster der variablen Geometrie. Zurück

22 Mr. Paillon: „When Mitterand has launched the idea of Eureka, I think he has imagined that Eureka can solve all the problems. And he said that there is a need in Europe to enhance research cooperation in Europe in order to provide technology on the mondial level. These are words. He has forgotten all the things who are as the standards essential for the development of technology in Europe. And in fact Eureka has started rather quickly and they have launched projects but this were projects which in fact have been negotiated since 5 or 6 years before, which were not new projects, so this is a kind of (Potemkinsche Dörfer ??,A.S.). So this question of projects is for me secondary. The real problem are these questions of additional measures and now we face this problem in the Eureka framework. All the discussions from Stockholm in last december are more or less blocked by these questions. This is not a personal feeling. But we can not say that it is quiet blocked, but they are paralysed. Now they are facing the problems which we have been faced for ten years in the commission. And they can not avoid it.“ Auszug aus einem Interview des Verfassers mit dem Vertreter der EG-Kommission im Eureka-Sekretariat, Mr.Paillon. Zurück

23 z.B. MENTOR – expert system für die weltraumgestützte militärische Bedrohungsanalyse (Verwendungszweck laut der regierungsamtlichen französischen Projektbeschreibung: »pour la défense pacifique«); Zurück

24 Teile des Infrastrukturvorhabens Prometheus (vollautomatisches Auto) werden in der Bundeswehrhochschule in München abgewickelt; die am EUROLASER-Applikationsverbund beteiligten Französischen Firmen/Institute arbeiten teilweise direkt in militärischen Forschungseinrichtungen. Zurück

25 In der bundesdeutschen Presse findet sich der Hinweis auf die geplante Entwicklung von Segmenten für den Jäger 90 im Rahmen von Eureka. Der Jäger 90 war Gesprächsthema sämtlicher Gipfeltreffen zwischen Kohl und Mitterand in der Entstehungsphase von Eureka. Diskrepanzen in den unterschiedlichen Anforderungsprofilen verhinderten zu jener Zeit allerdings eine politische Einigung über eine systematische Zusammenarbeit mit Frankreich beim Bau dieses Flugzeuges im Rahmen von Eureka. Zurück

26 WSA=Wirtschafts- und Sozialausschuß des Europaparlaments Zurück

Achim Seiler ist cand. rer. pol, FU Berlin

Eureka I

Eureka I

von Achim Seiler

Die Entstehung von Eureka

Am 17. April 1985 präsentierte der französische Außenminister Roland Dumas dem französischen Kabinett eine Mitteilung von Staatspräsident Mitterand, in welcher dieser die unverzügliche Schaffung einer europäischen Technologiegemeinschaft Eureka vorschlug.1 Mit Blick auf die politische und technologische Herausforderung durch Japan und die USA – hier insbesondere im Zusammenhang mit dem Weltraumvorhaben SDI – forderte Mitterrand eine kohärente europäische Zusammenarbeit auf den Gebieten Optronik, Neue Materialien, Superrechner, Hochleistungslaser, künstliche Intelligenz und superschnelle Mikroelektronik.2

In einem Brief des französischen Außenministers Roland Dumas an seine Amtskollegen in den 10 EG-Staaten sowie an die Außenminister der Beitrittskandidaten Spanien und Portugal und an EG-Kommissionspräsident Delors 3 wurden die Europäer zu einer Teilnahme bei Eureka eingeladen 4 Aber auch eine Teilnahme der EFTA-Länder, insbesondere Schwedens und der Schweiz, war sehr erwünscht. Bereits zu Beginn der Entstehungsphase von Eureka ging die geographische Projektion somit über die Grenzen der EG hinaus. Eine unmittelbar an die Ankündigung anschließende Werbetournee Dumas durch die 12 EG-Metropolen 5 sollte die Seriosität des französischen Vorschlages unterstreichen und klarmachen, daß es sich bei Eureka nicht lediglich um das „jüngste Produkt der europäischen Traumfabrik“6 handelte.

Die Eureka-Initiative der französischen Regierung

Der Ankündigung der französischen Technologieinitiative in Paris am 17 April 1985 waren zahlreiche offizielle und offiziöse Treffen zwischen bundesdeutschen und französischen Politikern und Industriellen vorausgegangen – zuletzt ein Industrieforum im September 1984, veranstaltet von der Krupp-Stiftung in Essen.

In einem getrennten Briefwechsel zwischen Dumas und Bundesaußenminister Genscher, der als Verfechter einer engeren technologiepolitischen Kooperation in Europa und SDI-Gegner bekannt war, waren die Positionen des Auswärtigen Amtes und die Interessen in Paris grob aufeinander abgestimmt worden.7 Die der Ankündigung Eurekas unmittelbar anschließende Abreise einer französischen Expertengruppe in die bundesdeutsche Hauptstadt 8 sollte eine weitere inhaltliche Annäherung zwischen Bonn und Paris erleichtern und Eureka gleichzeitig den Charakter einer deutsch-französischen Initiative verleihen, obgleich es in Wirklichkeit keine einheitliche Position der Bonner Regierung gab.

Unter Berücksichtigung des Engagements Genschers für eine Technologiegemeinschaft in Europa – zuletzt wenige Tage zuvor bei der Eröffnung der 36. Internationalen Saarmesse in Saarbrücken 9– sowie der oben erwähnten Korrespondenz der Diplomatie in Bonn und Paris 10 erscheint die Verwendung des Begriffs „Dumas-Genscher-Initiative“ oder Genscher-Dumas-Initiative“ für den französischen Technologievorschlag Eureka als gerechtfertigt.. Mitterrand: „Il ne feut pas oublier qu´a l´origine c´est une Idee qu´on paarmit appeler franco-allemande. Lorsque Roland Dumas, ministre des Relations exterieures, a annonce Eureka, c´est-a-dire le ministre des Affaires etrangeres allemand.“11

Die politisch intendierte Verwendung der Bezeichnung „deutsch-französische Technologieinitiative“ sollte dem nebulös-konturlosen Eureka in seiner widersprüchlichen Entstehungsphase zusätzliche Dynamik verleihen und gleichzeitig die Substanzdefizite verschleiern, ist aber angesichts der zähen Grabenkämpfe zwischen Eureka- und SDI-Protagonisten in Bonner Kabinett und Regierung keinesfalls gerechffertigt.12

Trotz Absprachen in begrenztem Umfang zwischen Bonn und Paris muß Eureka in seiner Entstehungsphase also als eine strikt französische Initiative bezeichnet werden.13 Mit Ausnahme Bonns, das zuvor kontaktiert worden war, schienen die Partner im europäischen Ausland von den Vorschlägen Mitterrands eher überrascht zu sein. 14 Dies um so mehr, als inhaltlich komplementäre Technologievorschiäge der EG-Kommission 2 Wochen zuvor beim Europäischen Rat in Brüssel (29./30. März) ausgeschlagen worden waren. 15 Die Vorschläge der Kommission hatten – ebenfalls mit Blick auf SDI eine Verstärkung der technologischen und industriellen Zusammenarbeit in Europa zum Ziel gehabt, allerdings eine Verdoppelung des Gemeinschaftsetats für FuT-Programme vorgesehen und waren damit unverzüglich an den Einwänden Großbritanniens gescheitert. In der Umgebung Mitterrands schien man die Vorschläge der EG-Kommission nicht einmal gelesen zu haben, 16 und auch in den übrigen EG-Mitgliedsstaaten waren sie nicht weiter beachtet worden.17 Sie spielten jedoch, in konzeptionell konkretisiertet Form, als „Gegenprogramm“ zur französischen Eureka-Initiative im weiteren Verlauf eine wichtige Rolle.

Der französische Eureka-Vorschlag

Der Dumas-Vorschlag sah die Schaffung einer Agentur zur Koordinierung der europäischen Forschungsvorhaben vor. Dahinter standen die französischen Vorstellungen, diese Agentur mit einer eigenen Rechtspersönlichkeit und einem eigenen Programmbudget auszustatten.18 Es wurden 7 konkrete Forschungsbereiche genannt, in welchen die Agentur die FuT-Aktivitäten der an Eureka interessierten Länder koordinieren sollte: Optoelektronik (Optronik), neue Materialien, Hochleistungslaser, Superrechner, künstliche Intelligenz, Hochgeschwindigkeits-Mikroelektronik, Raumfahrt.19 Für jeden Bereich sollte innerhalb dieser Agentur ein eigener Lenkungsausschuß eingesetzt werden 20 der sich aus Regierungsvertretern, den Unternehmen und Forschungsinstituten zusammensetzt, mit der Aufgabe, ein koordinierten europäisches Programm zu beschließen.21

Als Finanzierungsmodus wurde das im EG-Rahmen bereits seit langem erfolgreich praktizierte Kostenteilungsverfahren vorgeschlagen; eine Mischfinanzierung, bei der jeweils 50 % der Kosten von privater Seite und von öffentlichen Stellen getragen werden.22 Hierbei soll nach dem Grundsatz verfahren werden, daß sich das Mitspracherecht der Länder bei der Gestaltung und Durchführung der Projekte nach der Höhe der von ihnen bereitgestellten Finanzmittel richtet.23

Die gemeinschaftliche Durchführung der Eureka-Vorhaben sollte einer von Projekt zu Projekt veränderten Struktur folgen, mit einer jeweils unterschiedlichen Anzahl von Projektteilnehmern, wobei die Teilnahme nicht auf die 10 bzw. 12 Mitgliedstaaten der EG begrenzt sein sollte (variable Geometrie). Damit war die französische Initiative bereits in ihrer Entstehungsphase außerhalb des institutionellen Rahmens der EG angesiedelt. „Eureka soll keine neue Institution werden, auch keine gemeinsame Politik, mit den schwerfälligen Entscheidungsregeln und begrenzten Finanzierungsmöglichkeiten der EG. Eureka sollte vielmehr als gemeinschaftliches Vorgehen mit variabler Geometrie betrachtet werden.“ (Herv. i. O., A. S.) 24

In Abgrenzung zum Rüstungsforschungsprogramm SDI, von dem auch eine signifikante zivilökonomische Stärkung der US-amerikanischen Volkswirtschaft erwartet wird – zu Lasten der europäischen Industrienationen -, wurde Eureka als ein ziviles Programm bezeichnet, welches auch mit militärischen Applikationen verbunden ist: „Das bedeutet, daß die strategische Verteidigungsinitiative, ein militärisches Programm, sich auch auf den zivilen Bereich auswirken wird – ebenso wie Eureka, ein ziviles Programm, die Entwicklung militärisch, insbesondere zu friedlichen Zwecken nutzbarer Geräte ermöglichen kann, zum Beispiel Beobachtungs- und Horchsysteme für den Weltraum, die unerläßlich sind für eine wirksame Kontrolle der Rüstung bzw. Abrüstung.“25

Es wurde bezeichnenderweise explizit versichert, daß der ESA – deren Tätigkeitsbereich ja vertraglich auf zivile Weltraumvorhaben beschränkt ist – als einem „ausgereiften“ forschungspolitischen Instrument durch Eureka keine Konkurrenz gemacht werden soll.

Bereits die offizielle Präsentation der technologiepolitischen Vorschläge der französischen Regierung dokumentierte, daß Eureka zum Transporteur eines Kaleidoskops von Motivationssträngen gemacht werden sollte, die nicht klar voneinander zu trennen sind.

Sie reichen von der Stimulierung transnationaler Forschungskooperation bei industriellen Schlüsseltechnologien im Zeitalter globaler ökonomischer Transformationsprozesse über die Schaffung der politischen Rahmenbedingungen für einen europäischen Wissenschafts- und Forschungsraum bis hin zur Forderung nach einem einheitlichen europäischen Binnenmarkt.

In der ersten und für lange Zeit einzigen regierungsoffiziellen Stellungnahme aus Frankreich wurde bereits implizit auf die Ambivalenz des Beziehungszusammenhanges zwischen Eureka und SDI hingewiesen. Unter dem Aspekt einer konzertierten europäischen Antwort auf die industriepolitische und zivilökonomische Herausforderung durch SDI sowie unter dem Blickwinkel der Dokumentation europäischen Selbstbehauptungswillens traten notwendigerweise die sich ausschließenden Momente beider Vorhaben in den Vordergrund, auch wenn sie nicht expliziert wurden: „(…) So zeigt sich, daß der technologische Abstand zwischen Europa und seinen wichtigsten Konkurrenten, der sich zwischen 1960 und 1970 verringert hatte, seit etwa 10 Jahren wieder größer wird, und das in einer Zeit, da die strategischen Markierungspunkte für die industrielle Macht im nächsten Jahrhundert gesetzt werden. Die von Präsident Reagan eingeleitete Strategische Verteidigungsinitiative SDI verdeutlicht diese Kluft ganz besonders. (…) Doch welches strategische Konzept, das übrigens noch weitgehend unbekannt ist, auch dahinterstehen mag, diese Arbeiten werden sicherlich die Eigenkräfte der amerikanischen Technologie stärken.“26

Auf der forschungspolitischen Ebene wurden jedoch eher die konvergenten Elemente beider Vorhaben in den Vordergrund gestellt und die Funktion Eurekas als europäisches Standbein bei SDI unterstrichen.

„(…) Man sieht also, daß sich ein europäischer Raum der Forschung und Technologie sowie die amerikanische Verteidigungsinitiative keineswegs ausschließen oder daß letztere keine Antwort auf die erstere ist – die Ziele und Erfordernisse sind durchaus unterschiedlich. Die Vorbereitung der zukünftigen Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie ist ein völlig eigenständiges Unterfangen. Bei diesem Vergleich stellt sich nur die Frage nach der europäischen Beteiligung an den amerikanischen Forschungsvorhaben, und darauf kann man zum jetzigen Zeitpunkt nur antworten, daß mögliche transatlantische Kooperationen um so vorteilhafter sein werden, die sich beteiligen machten, je stärker Europa ist.“27

Mit diesen oder ähnlichen sibyllinischen Sprachwendungen sollte möglichen Friktionen mit transatlantisch orientierten Industrieinteressen der europäischen Partnerstaaten beim politischen Marketing von Eureka vorgebeugt werden. Auch der frühe Hinweis auf die militärischen Nutzanwendungen der wissenschaftlich-technischen Erkenntnisse aus den Eureka-Projekten (s.o.) war ebenfalls ein Indikator für einen mehrdimensionalen und potentiell problembehafteten Beziehungszusammenhang zu SDI.

Die zentralen Strukturelemente des französischen Eureka-Vorschlages

Agenturprinzip: Als Mitterrand dem französischen Ministerrat den Vorschlag zur Schaffung einer European Research Coordination Agency unterbreitete, orientierte er sich am Strukturmuster der ESA bzw. der NASA. Die Vorbildfunktion der beiden Weltraumorganisationen wurde von ihm mehrfach expliziert und fand auch in den schriftlichen Ausführungen der französischen Regierung ihren Niederschlag. Auch auf der technologisch-inhaltlichen Ebene lag ein Vergleich mit ESA bzw. NASA nahe, wurde Eureka von Mitterrand doch als ein (ziviles) Programm zur Beherrschung des Weltraums bezeichnet.

Die Inkonsistenz und Unausgereiftheit des französischen Agenturvorschlages zeigt sich daran, daß einerseits Effizienz und Funktionalität der Organisationsstruktur der ESA als vorbildlich gerühmt wurden, gleichzeitig jedoch explizit versichert wurde, daß der europäischen Weltraumagentur durch die Schaffung einer zweiten, weit umfassenderen europäischen Agentur zur Koordinierung von weltraumbezogener FuE – die angeblich ebenfalls einer zivilen Zielorientierung folgt – keine Konkurrenz gemacht werden soll und auch Doppelarbeiten vermieden werden sollen.

Sektorbezogene Technologielenkungsausschüsse, zusammengesetzt aus Regierungsvertretern und den Repräsentanten der Unternehmen und Forschungsinstitute, hätten die Aufgabe gehabt, die europäischen FuT-Anstrengungen auf den einzelnen Technologiefeldern zu koordinieren und konkrete FuE-Programme zu beschlieen.28

Durch den angestrebten supranationalen Charakter von Agentur und Ausschüssen sollte zum einen der Aufbau einer kohärenten (franco)-europäischen Technologiestrategie ermöglicht werden sowie die gezielte Abschöpfung des gewonnenen innovativen Wissens aus den vertikalen Großforschungsvorhaben gewährleistet werden. Hierdurch sollte ein Höchstmaß an Effizienz und Funktionalität bei der FuE-Kooperation sichergestellt sein. Durch hierauf abgestimmte, flankierende politische Maßnahmen sollten ferner die Rahmenbedingungen verbessert werden, so daß die abgeschöpften wissenschaftlich-technischen Erkenntnisse möglichst schnell in die traditionellen Sektoren einsickern und dort horizontal umgesetzt werden können in neue Produkte, Verfahren oder Dienstleistungen.29

Vor dem Hintergnund der negativen Erfahnungen, die die französische Regierung mit ihren früheren Vorschlägen für eine konzertierte Technologie- und Industriepolitik in der EG (1983) bzw. zur Schaffung einer militärischen Weltraumgemeinschaft in Europa (1984) gemacht hatte, war auch in der französischen Debatte von vornherein klar, daß die Einrichtung einer Supranationalen Behörde am Widerstand Bonns und Londons scheitern würde. Die Bürokratismusvorbehalte Bonns gegen die Halbierung eines neues, schwerfälligen Verwaltungsapparates, die Unvereinbarkeit mit dem wirtschaftsliberalistischen Dogma der britischen Regierung sowie das Unbehagen beider Staaten gegen eine potentielle französische Dominanz ließen es als opportun erscheinen, das Agenturprinzip überhaupt nicht mehr zu erwähnen und die Frage nach der Organisationsstruktur weitgehend offen zu lassen.

Abgesehen von der Ankündigung Eurekas durch Mitterrand, dem Rundschreiben von Außenminister Dumas sowie der indirekten Erwähnung im Akronym wurde die Agentur seit Beginn der französischen Diskussion nicht mehr erwähnt.

Um unter dem Zeitdruck durch das Weinberger-Ultimatum beim politischen Marketing des französischen Gegenprojektes eine möglichst hohe Akzeptanz bei den europäischen Partnern zu finden, wurde das Agenturprinzip in der offiziellen Sprachregelung durch den „offenen Korb“ ersetzt, der hinsichtlich der Organisationsstruktur alle Optionen offen ließ und nichts präjudizierte.30

Es bestand jedoch Konsens darüber, daß die Strukturen locker und attraktiv, aber gleichwohl effizient sein müßten. In der französischen wurde eine Aufgabenteilung vom Typ Ariane favorisiert, bei der das jeweils kompetenteste Partnerunternehmen die Projektführerschaft übernehmen solle. Hier wurde auch die Möglichkeit zur Einrichtung kleiner, dezentraler Projektsekretariate gesehen.31

Die Art der Implementierung von Forschungsprogrammen im Rahmen von Eureka blieb auch im europäischen Kontext schließlich noch lange Zeit unklar. Das von der französischen Regierung zum Mailänder Europa-Gipfel vorgelegte Eureka-Weißbuch (CESTA-Studie) äußerte sich zu dieser Frage ebenfalls nur sehr vage.

Geometrie variable: Ein zentrales Strukturelement, welches in Frankreich und – von wenigen Ausnahmen abgesehen32– auch im europäischen Ausland nie kontrovers diskutiert wurde, war die variable Projektarchitektur (variable Geometrie). Sie besagt, daß verschiedene Eureka-Projekte mit unterschiedlichen Projektpartnern durchgeführt werden, die Partnerkombination also von Projekt zu Projekt variiert und auch Teilnehmer aus den Nicht-EG-Ländern mit einbezogen werden können. Industrieunternehmen aus mindestens drei europäischen Staaten mit komplementären Forschungs- oder Entwicklungsinteressen, gehen für die Dauer des Projektes eine funktionale Kooperationsvereinbarung ein.

Der Hintergrund für das variable Vorgehen bei Eureka war der Wunsch, daß das Zustandekommen oder die Abwicklung eines Forschungsvorhabens nicht von einem zeitaufwendigen Konsensbeschaffungsmechanismus abhängig gemacht wird, bei welchem die Zustimmung von Regierungsvertretern aus Drittstaaten eingeholt werden müßte, deren Industrie u.U. gar kein Teilnahmeinteresse hat. Die bürokratische Verwaltungsarithmetik mit fachfremden Ausgleichsleistungen nach dem do-ut-des-Prinzip, welche zu jenem Zeitpunkt noch faktische wie formale Grundlage der EG-FuT-Politik war, sollte vermieden werden.

Die variable Geometrie ist der Bauplan für ein Europa a la carte, wo sich je nach Interessenslage komplementäre Partner aus Wirtschaft oder Staat zu funktionalen Oligopolen zusammenfinden und ihre Tätigkeiten zweckbestimmt koordinieren – sei es zu einzelnen Forschungsvorhaben im Rahmen von Eureka, sei es zu konzertierten Aktionen auf anderen Politikfeldern.

Die Geometrie variable war unter europapolitischen Gesichtspunkten von den Entscheidungsträgern der EG-Kommission in Brüssel bereits lange Zeit bekämpft worden, da sie eine strukturelle Prädisposition für die Nichtbeachtung und die Benachteiligung der jeweils schwächeren Staaten in der EG institutionalisierte und somit zu einem „Europa mit verschiedenen Geschwindigkeiten“ führt.

Die Einsegnung der geometrie variable im Zusammenhang mit dem französischen Eureka-Vorschlag mußte alle integrationspolitischen Bemühungen um die Schaffung einer Europäischen Union konterkarieren. Der Wunsch, die historische Implementierung der Geometrie variable in Europa (nochmals) zu verhindern, war ausschlaggebend für die Geschwindigkeit und Flexibilität, die die Brüsseler Bürokratie bei der Ausarbeitung ihres angekündigten Gegenprojektes demonstrierte bzw. für die Versuche der EG-Kommission, das französische Eureka-Projekt auf der Grundlage der bestehenden Verträge institutionell in die EG einzubinden und somit zu „vergemeinschaften“. „La Commission devraitpresenter d'ailleurs, (…) ses propres projets de Communaute europeenne technologique destines a ramener le Programme Eureka sous l´egide communautaire en repondant a toutes les preventions des trois GRANDS.“33

Der wettbewerbspolitische Verdacht der Kommission, das variable Vorgehen bei Eureka sei Teil einer industriepolitischen Gesamtkonzeption, in deren Rahmen zu einem frühen Zeitpunkt bereits Absprachen der Projektpartner über die Aufteilung künftiger Absatzmärkte getroffen werden können, von der in erster Linie Großbritannien, Frankreich und die Bundesrepublik profitieren würden, wurde gestützt durch die spezifische Ergänzung, die die geometrie variable durch die Kompensation globale in der französischen Diskussion erfuhr. „Geometrie variable veut dire, a precise le ministre, que dans chacun des Programmes participent ceux qui sont directement Interesses, etpas necessairement toutle monde. Compensation globale signifie que, pour l´ensemble de tous les Programmes, tous les psys europeens paissent etre impliques.“34

Die Hypothese, daß die Schaffung einer europäischen Technologiegemeinschaft erster und zweiter Klasse den industrie- und europapolitischen Intentionen der Eureka-Protagonisten zumindest nicht widersprach, wurde weiter erhärtet durch die namentliche Erwähnung der gewünschten ausländischen Industriepartner im Eureka-Weißbuch der französischen Regierung. Kompetente Unternehmen aus den kleineren Ländern, die als Projektpartner für eine transnationale Forschungszusammenarbeit auf den Eureka-Technologiefeldern ebenfalls in Betracht kamen, waren in der CESTA-Studie „vergessen worden“, obwohl sie ihr Kooperationsinteresse deutlich signalisiert hatten. „Le ministre francais a note certains etats d´ame de la part des petits psys de la Communaute devant la possibilite de langer des Programmes aux quels ne participeraientgas foroement taus les Etats membres des la Communaute Pour les rassurer,, il faudra centrer quelques projets surdes domaines qui les interessent particalierement´, a estime M. Curien.“35

Abgesehen von der europa- und industriepolitischen Dimension hatte die variable Architektur noch eine pragmatisch-verkaufstechnische Funktion im Kontext der europäischen SDI-Diskussion zu erfüllen.

Die Frage nach der Kompatibilität oder Konkurrenz beider Technologievorhaben blieb lange Zeit offen. Insbesondere war unklar, ob eine Teilnahme beim (zivilen) Weltraumprogramm Eureka eine gleichzeitige Teilnahme beim amerikanischen Rüstungsforschungsprogramm SDI ausschloß oder nicht. Entsprechende Stellungnahmen hierzu kamen von Staatspräsident Mitterrand und dem Leiter der amerikanischen SDI-Behörde, Generalleutnant Abrahamson, erst zu einem relativ späten Zeitpunkt und völlig unerwartet.

Die für die Implementation der französischen Technologie-Vorschläge notwendige politische Unterstützung wurde somit eher gewährleistet, wenn den europäischen Partnern, die sich mit dem Gedanken einer Teilnahme bei SDI trugen, keine en-bloc-Zustimmung zu einem partiell möglicherweise inkompatiblen Eureka abverlangt wurde, sondern lediglich klare Zusagen über ein finanzielles und ressourcenmäßiges Engagement bei einzelnen, individuell besonders attraktiven Forschungsvorhaben: „Selon ma conception, indique M. Mitterrand, chaque pays n´aureit pas a deeider d'adherer ou non a Eureka, mais de participer ou non a tel ou tel programme precis en y consacrant des hommes et des ressources.“36

Eine variable Projektarchitektur erlaubte ein versatzstückartiges Zerlegen der von Frankreich mit Eureka verfolgten Weltraumstrategie (pour maitriser l'espace). Die Segmentierung der in ihrer Rüstungsrelevanz problembehafteten Ausrichtung des französischen Vorschlages in technologische Teilziele, findet ihre Entsprechung im Strukturmuster der nationalen französischen FuT-Politik. Bereits seit langem versucht Frankreich, seine rüstungsökonomischen Schwierigkeiten durch die Implementierung einer nationalen FuE-Struktur in den Griff zu bekommen, die eine gezielte Abschöpfung der in den zivilen Forschungslabors gewonnenen wissenschaftlich-technischen Erkenntnisse ermöglicht.

Diese Strukturformel erlaubt nicht nur eine systematische ex-post-Evaluierung der Rüstungsrelevanz des gewonnenen innovativen Wissens, sondern über die Implementation modulartiger Teilstrategien auch bereits in der Planungsphase eine immanente Ausrichtung der zivil-privatwirtschaftlichen Forschungsvorhaben auf staatlich-rüstungsökonomische Erfordernisse.

Es erschien daher aus französischer Sicht plausibel, den eigenen Abschöpfungsmechanismus auch auf benachbarte Industrieländer auszudehnen. Vor dem Hintergrund des ursprünglichen französischen Eureka-Vorschlages, der nach SD10

Vorbild eine juristisch eigenständige Agentur, sektorbezogene Technologielenkungsausschüsse und eine Programmfinanzierung vorgesehen hatte, muß die in der französischen Diskussion entwickelte Konzeption einer variablen Projektarchitektur als Immunisierungsversuch interpretiert werden. Es sollte vermieden werden, daß das Weltraumvorhaben Eureka inhaltlich in allzu große Nähe zu SDI gerückt wird; die Rüstungsrelevanz der in Teilziele untergliederten französischen Technologiestrategie sollte kaschiert werden.

Die Strukturelemente „compensation globale“, die Projektführerschaft, der Vorschlag der Einrichtung dezentraler Projektsekretariate begleitet von der Präsentation eines regierungsoffiziellen Kataloges der französischen Wunschpartner bei ausgesuchten FuE-Vorhaben sowie die faktische Diskriminierung potentieller Kooperationspartner aus den kleineren EG-Staaten, signalisieren den zweigleisig-selektiven Charakter dieser Konzeption.

„Question: „La France serait ainsi a la tete de ce programme? (…)“

Curien: „(…) Eureka c´est une ensemble de themes informatique, communications, espace, etc. A la tete de chaque projet a geometrie variable, il y aura un leader. (…) La France, comme les quatre grands psys europeens, a les moyens d´etre impulseur.“

Question: „Plus precisement dans quel domaine la France pourrait-elle etre maitre d'ceuvre?“

Curien: „L´espace bien sur je pense aussi a un projet tres avance en informatique – un gros ordinateur – et a un projet avance de telecommunications.“ “37

Die Kontroverse um die Konkurrenz oder Konvergenz des Beziehungszusammenhanges zwischen Eureka und SDI verlagerte sich weg von der Programmebene und reduzierte sich auf eine Expertendiskussion über die technologischen Anforderungsprofile einzelner FuE-Projekte. Sie wurde damit tendenziell dem Blick einer kritischen Öffentlichkeit entzogen.

Dadurch wurde die Sophistik der amtlichen Sprachregelungen (ziviles Programm), die je nach Interessens

und Motivationslage unterschiedliche Formeln bereithielt (militärische Applikationen, Verhandlungsplattform fr eine Teilnahme bei SDI), erleichert.

Die Miteinbeziehung der Neutralen bei einzelnen, potentiell SDI-relevanten Eureka-Projekten eröffnete darüber hinaus diesen Staaten eine Möglichkeit, indirekt am amerikanischen Rüstungsforschungsprogramm SDI teilzunehmen, ohne politische Verwicklungen mit der Sowjetunion befürchten zu müssen.38

Die Budgetfinanzierung

Ein weiteres zentrales Strukturelement war die Finanzierung von Eureka. Nachdem der ursprüngliche französische Vorschlag einer kostenteiligen Budgetfinanzierung auf den Widerstand Londons gestoßen war und auch in Bonn wenig Gegenliebe fand, blieb die Frage einer Mittelzuweisung lange Zeit offen. Frankreich hatte vorgeschlagen, einen gemeinsamen Fond einzurichten, aus welchem die Eureka-Projekte finanziert werden sollten. Die nationalen Mitspracherechte bei der Projektgestaltung (sowie die Zugriffsmöglichkeiten auf die wissenschaftlich-technischen Erkenntnisse), sollten sich nach der Höhe der finanziellen Einlagen richten.

Die Einrichtung eines Eureka-Fonds sollte somit eine Budgetfinanzierung nach SDIO-Muster gewährleisten und die über die Technologielenkungsausschüsse aufzubauende Technologiestrategie materiell absichern.

Wie das Agenturprinzip und der Vorschlag zur Einrichtung sektorbezogener Koordinationsausschüsse scheiterten die französischen Finanzierungsvorstellungen an prinzipiellen Einwänden der beiden wichtigsten Partnerstaaten Frankreichs, der Bundesrepublik und Großbritannien. Schien die ablehnende Haltung Bonns Teil der bundesdeutschen Gesamtargumentation gegen die Etablierung einer neuen, schwerfälligen Forschungsbürokratie zu sein, und wurde hier erst an zweiter Stelle die (finanzielle) Konkurrenz der zu SDI geltend gemacht, verhielt es sich im Falle Londons genau umgekehrt.

Die Argumentationsmuster in der französischen Diskussion verloren im Zeitablauf ihren alarmistischen Charakter und nahmen unter dem Einfluß unerwarteter exogener Entwicklungen pragmatischere Züge an. Trug das Szenario der Bereitstellung von 26 Mrd. FuE-Dollar für Rüstungsvorhaben im Rahmen einer ersten 5 jährigen SDI-Forschungsphase deutlich zweckpessimistische Z

ge, so wurde die zivilökonomische Bedrohung durch die konstatierte gigantische amerikanische Industriesubvention schnell relativiert unter Hinweis darauf, daß hiervon lediglich 10 Mrd. zusätzliche Mittel seien, der Rest lediglich Umschichtungen im US-Haushalt zugunsten von SDI.

Es gelte nun, in Europa ein Äquivalent an Forschungsmitteln zusammen zu bringen, welches sich auf 90 Mrd. Francs (= 10 Mrd. Dollar) belaufen würde, und kostanteilig von der Industrie und der öffentlichen Hand aufgebracht werden müßten. Diese Forschungsgelder hätten gegenüber SDI allerdings den Vorteil, auf direktem Weg die Modernisierung der Volkswirtschaften zu fördern, ohne den teuren Umweg über die Entwicklung von Rüstungsgütern.

Die zentrale Frage nach der Bereitstellung der von Frankreich angepeilten FuE-Mittel sowie die Modalitäten der Finanzierung von Eureka-Vorhaben (Fond/Mischfinanzierung/indirekt-spezifische Forschungsförderung, begleitende Marktöffnungsmaßnahmen etc.) blieb ebenso offen wie diese Vorhaben selbst und wurde als ein zentraler Bestandteil des unreifen Eureka-Vorschlages Gegenstand bilateraler Verhandlungen beim politischen Marketing des französischen Projektes.

Zur gleichen Zeit, als die Pentagon-Emissäre bereits erfolgreich Kontakt aufnahmen mit den für sie interessanten europäischen Luft- und Raumfahrtunternehmen, versuchte ein französisches Team unter Vorsitz des ehemaligen NATO-Botschafters Claude Arnaud, in multiplan, bilateralen Einzelgesprächen mit Vertretern der europäischen Regierungen, jeweils eine Konkordanz herzustellen zwischen den unterschiedlichen nationalen Vorstellungen hinsichtlich einer Teilnahme bei Eureka und/oder/anstatt SDI sowie der gewünschten Organisationsstruktur und den Finanzierungsmodalitäten.

In zahlreichen Einzelgesprächen, die Arnaud mit Politikern und Repräsentanten der Industrie in den europäischen Hauptstädten führte, kristallisierte sich schnell heraus, daß die Finanzienung der noch zu klärenden Eureka-Vorhaben, wenn überhaupt, dann primär eine Sache der Industrie und der europäischen Kapitalmärkte sein sollte, öffentliche Zuwendungen lediglich subsidiären Charakter tragen sollten.

Abgesehen von politischen Vorbehalten der Regierung Thatcher und des Bundeskanzleramts gegen den „antiamerikanischen Kampfcharakter“ Eurekas wurde in der Argumentation die klare Festlegung Großbritanniens gegen Industriesubventionen ins Feld geführt. (In weniger prononcierter Form findet sich dieses Argumentationsmuster auch bei Riesenhuber.) Mit ordnungspolitischen Einwänden hatte Großbritannien unmittelbar zuvor beim europäischen Rat in Brüssel (30. März) auch den Vorschlag der Kommission nach einer Aufstockung der EG-FuT-Mittel abgelehnt. Auch im Bundesforschungsministerium in Bonn bestand man darauf, daß FuE-Vorhaben im Rahmen von Eureka primär durch Eigenmittel der Industrie finanziert werden sollten und lediglich Projekte mit hohem Amortisationsrisiko durch öffentliche Mittel mitgetragen werden sollten. Stimulus für die transnationale Forschungskooperation sollte nicht eine durch einen Fonds abgestützte Versorgungshaltung der Unternehmen werden, sondern die Marktnähe der angepeilten Eureka-Projektvorhaben.

Die im benachbarten Ausland artikulierten ordnungspolitischen Einwände gegen die Etablierung kostenintensiver Subventionsmechanismen für transnationale Forschungskooperation in Europa widersprachen nicht völlig den industriepolitsichen Intentionen der französischen Regierung, da auch Paris mittelfristig an einer Reduzierung seines überdurchschnittlich hohen Staatsanteils bei nationaler FuE interessiert war.

Der Vorschlag eines Eureka-Fonds und einer darauf abgestützten Programmfinanzierung war ebenso unausgegoren wie das Agenturprinzip und beruhte wesentlich auf einer Fehlkalkulation von situativem Kontext und politischem Umfeld.

Durch die Mobilisierung neuer Subventionsmilliarden für ein attraktives Großprojekt europäischen Zuschnitts sollte zwar kurzfristig die Abwanderung von wissenschaftlichen Kapazitäten und Ressourcen nach Nordamerika verhindert werden, doch hatte Frankreich die Bereitschaft der europäischen (Rüstungs-) Industrie und der nationalen Regierungen überschätzt, sich langfristig auf ein inhaltlich völlig unausgereiftes, französisch dominierten Technologievorhaben festlegen zu lassen, welches für die Industrie zudem mit einem erheblichen Finanzaufwand verbunden sein sollte, während gleichzeitig die Einladung zu einer Mitarbeit an einem politisch glaubwürdigen, drittmittelfinanzierten (Pentagon-) Forschungsvorhaben vorlag, welches identische Technologiefelder abdeckte.

Solange weder die Frage einer konzertierten europäischen Antwort auf das Weinberger-Ultimatum geklärt war, noch die Modalitäten einer einzelstaatlichen SDI-Beteiligung geregelt waren, insbesondere die Möglichkeit der Erhebung von staatlicher „entrance fees“ durch das Pentagon, drohten beide Projekte zusammen für die nationalen Regierungen teuer zu werden.

Die relevanten europäischen Rüstungs- und Weltraumunternehmen drängten auf eine Teilnahme an SDI unter der Voraussetzung der Etablierung partnerschaftlicher Kooperationsstrukturen (Technologietransfer in beide Richtungen) und der Verhinderung ihrer Funktionalisierung zu transatlantischen Zulieferern innovativen Wissens mit dem Status von subalternen Unterauftragnehmern.

Die Haltung der Unternehmen gegenüber dem französischen Eureka-Projekt reichte überwiegend von Skepsis bis Ablehnung, insbesondere solange die Organisationsstruktur unklar und die Finanzierung völlig offen war. Ansonsten plädierte die europäische Industrie für eine komplementäre Gestaltung beider Technologievorhaben, besonders explizit artikuliert durch Repräsentanten staatlicher französischer Rüstungskonzerne (und schwedischer Unternehmen; vgl. Fußnote 38).

Der ungeklärte Beziehungszusammenhang zu SDI

Der monetäre Dollpunkt war Teil des Gesamtproblemkomplexes „Kompatibilität oder Konkurrenz von Eureka und SDI“. Der ursprüngliche französische Versuch, Eureka den europäischen Partnerstaaten als Plattform für die angestrebte konzertierte Antwort auf die „Vorschläge von Herrn Weinberger“ zu präsentieren, war bereits wenige Tage nach dem Schreiben des französischen Außenministers Dumas an seine Amtskollegen gescheitert. Bei der ersten, informellen Präsentation Eurekas auf der WEU-Tagung in Bonn (22./23.4.85) hatte sich Großbritannien ablehnend gezeigt und unter Berufung auf die Unausgereiftheit des gesamten Vorschlages die namentliche Erwähnung Eurekas im Abschlußkommunique verhindert.

Mit Blick auf die wankelmütige Haltung der Bundesregierung – Bundeskanzler Kohl stand nach Bitburg in der Bringschuld der Amerikaner – erklärte sich Frankreich schließlich dazu bereit, Eureka den gegen SDI gerichteten Charakter zu nehmen und politisch neutraler zu präsentieren.

In offiziellen Stellungnahmen deutete der französische Staatspräsident die Möglichkeit an, Brücken zu schlagen zwischen beiden Projekten, und versuchte, über ein zunächst rhetorisches Junktim seine dezidierte Ablehnung gegen eine französische Staatsbeteiligung am amerikanischen Weltraumrüstungsvorhaben sukzessive wieder zu relativieren – wohl auch im Hinblick auf die Interessen der französischen Rüstungsindustrie, die faktisch bereits an SDI-relevanten Experimenten in White Sands beteiligt war.39

Neben der regierungsoffiziellen Aussöhnung von diplomatischen Erfordernissen und rüstungsökonomischen Sachzwängen ebnete Mitterrand hierdurch auch politisch den Weg für eine Teilnahme der Bundesrepublik (und Großbritanniens) an beiden Projekten. „Le Gouvernement Transeis va tres prochainement donner offciellement son Neu vert aux industriels francais interesses par la „guerre des etoiles“. Une decision qui libera bien des esprit au moment ou differents entreprises, Matra en tete, manifestent ouvertement le desir de participer aux deux programmes technologiques du futur que sont la „guerre des etoiles“ et Eureka. une Position tactique et diplomatique visant a proteger au maximum les interets francais et le savoir-faier national, tout en ne revenant pas sur l'attitude adoptee per la France lors du sommet de Bonn.“40

Ungeachtet der moderateren Haltung der französischen Regierung, die schnell und flexibel auf die unterschätzten Schwierigkeiten beim politischen Marketing ihrer Eureka-Idee reagiert hatte, kam die pragmatische, multipel-bilaterale Verhandlungsarbeit von Botschafter Arnaud nur sehr mühsam voran und stand permanent unter dem Konkurrenzdruck der Emissäre des Pentagons, die den europäischen Kontinent zur selben Zeit bereisten.

Die französische Regierung riskierte, mit ihrem Eureka-Vorschlag alleine zu stehen, sollten sich die europäischen Partner unter dem Einfluß der ihnen in Aussicht gestellten SDI-Forschungsgelder zu einer individuellen Teilnahme am amerikanischen Weltraumrüstungsvorhaben entscheiden und sollte es nicht rechtzeitig gelingen, Eureka politische Dynamik zu verleihen.

Hier erhielt Frankreich die völlig unfreiwillige Unterstützung durch die USA, die mit wenig Sensibilität für die Befürchtungen der Europäer versuchten, ihre eigenen amerikanischen Vorstellungen einer transatiantischen Forschungskooperation im Rahmen von SDI durchzusetzen. Die Konkretisierung der SDI-Teilnahmemodalitäten führte in Bonn und London zu erheblichen Desillusionierungen und ließ die industriepolitischen Befürchtungen Frankreichs sehr plausibel erscheinen.

a) Äußerungen von Pentagon-Vertretern zufolge sollten weniger als 5 % der Gesamtsumme von 26 Mrd. Dollar für europäische Auftragsforschung bereitgestellt werden. Diese Summe war von der französischen Regierung schnell auf die Gesamtzahl möglicher Teilnehmer umgerechnet worden, und es stellte sich heraus, daß für europäische Rüstungsunternehmen maximal bis zu einer Höhe von 10 Mio. US-Dollar (über einen Zeitraum von 5 Jahren) SDI-Forschungsaufträge zu erzielen wären. Damit jedoch verlor das amerikanische Projekt bei den Europäern bereits deutlich an Attraktivität.

b) US-Präsident Reagan hatte in einer Unterredung mit dem französischen Staatspräsidenten Mitterrand im Verlauf des Bonner Weltwirtschaftsgipfels (2.-4.5.85) klargemacht, daß bei SDI für die Europäer lediglich an eine Rolle als Unterauftragnehmer gedacht war. „Mitterrand: „Subcontractors! That´s what I heard from Reagan. That confirmed my intuitions.“ “

d) Auch eine von Bonn nach Washington abgesandte Kommission unter Vorsitz von Kanzlerberater Teltschik erbrachte für die bundesdeutschen Industrieunternehmen keine erfreulicheren Nachrichten.

Solange in bezug auf eine konzertierte europäische oder eine national-einzelstaatliche Teilnahme bei SDI noch nichts entschieden war, in bezug auf das ungeklärte Verhältnis zwischen SDI und Eureka keine dezidierte Stellungnahme aus Washington vorlag, Abrahamson die Äußerungen des französischen Staatspräsidenten hinsichtlich der Kompatibilität beider Technologievorhaben nicht grundsätzlich bestätigt hatte und darüber hinaus zugesichert hatte, bei einer nationalen Teilnahme am amerikanischen Weltraumrüstungsprojekt keinerlei „entrance fees“ zu erheben, die zu gigantischen Doppelbelastungen führen mußten, trat die „Vermarktung“ der Eureka-Idee durch den französischen Botschafter Arnaud in den europäischen Hauptstädten auf der Stelle.

„European plans for cooperation on the development of new technologies are in no way incompatible with Washingtons Strategic Defence Initiative research programme, Lt-Gen James Abrahamson, the director of SDI, said yesterday (…) Countering suggestions tbet Eureka couid be seen as competition to the SDI research programme, in which other Western countries have been asked to participate by the US., Lt-Gen Abrahamson said he sew it rather as an attempt „to tie the western allies together“. It would enable them to move forward together in developing new technologies and thus strengthening both their economies and ability to defend themselves … No entrance fee wouidbe charged forcountries or companies wishing toparticigate in the programme, although they would be welcome to make a financial investment in them if they so desired. Nor was there any intention of establishing „a percentage plan“, under which particigants share of the research would be in direct proportion to the amount of money they had put up.“43

Die auch für Frankreich völlig überraschende Äußerung Abrahamsons zum Schlüsselproblem des Beziehungszusammenhanges von SDI und Eureka war in Paris eher mit gemischten Gefühlen aufgenommen worden. Man vermutete hinter diesem Durchbruch die diplomatischen Aktivitäten der Briten, die stets betont hatten, daß beide Projekte kompatibel gestaltet werden müßten. Doch gewann Eureka erst jetzt an politischer Glaubwürdigkeit, und die bilateralen Verhandlungen Arnauds über Organisationsstruktur, Modalitäten der Finanzierung und mögliche Eureka-Forschungsvorhaben fingen an, sich zu konkretisieren und bis zur Eureka-Gründungskonferenz in Paris am 17 Juli 1985 Substanz zu gewinnen.

-> Teil II

Anmerkungen

1 Vgl.: Le Monde, 18.4.85 Zurück

2 ebda.; LaTribune, 19.4.85 Zurück

3 Vgl.: Le Monde, 23.4.85 Zurück

4 Vgl.: La Croix, 19.4.85 Zurück

5 Vgl.: Le Monde, 18.4.85 Zurück

6 Vgl.: Le Matin, 18.4.85; Liberation, 19.4.85 Zurück

7 Vgl.: La Tribune, 19.4.85 Zurück

8 Vgl.: LaTribune,19.4.85 Zurück

9 Vgl.: SZ, 15.4.85; Welt 20.4.85, bereits am 6 Oktober 1984 hatte Genscher vor der Jahresversammlung der deutschen Sektion Liberal International für die EG ein „Zukunftsprogramm Technologie“ gefordert. Die Trägerfunktion dieser Technologiegemeinschaft müsse gemeinsam von Frankreich und der Bundesrepublik übernommen werden. In: fdk, Ausgabe 200, 6.10.84 Zurück

10 Vgl.: La Tribune, 19.4.85: Laut einem Bonner Regierungssprecher war die französische Initiative minutiös zwischen Dumas und Genscher vorbereitet worden. Zurück

11 Zit.: L´Humanite, 1.6.85 Zurück

12 Vgl.: Le Monde, 20.4.85 Zurück

13 Vgl.: Liberation, 19.4.85; Le Monde, 20.4.85 Zurück

14 Vgl.: La Croix,19.4.85 Zurück

15 Vgl.: Le Monde, 19.4.85, Les Echos, 24.4.85; Electronique Actualites, 26.4.85 Zurück

16 Vgl.: Le Monde, 19.4.85 Zurück

17 Vgl.: Ouest France, 19.4.85; Les Echos, 24.4.85 Zurück

18 Vgl.: Die Welt, 20.4.85; Le Monde, 20.4.85 Zurück

19 Vgl.: Le Monde, 20.4.85; Die Zeit, 14.6.85 Zurück

20 Vgl.: Die Welt, 17.6.85 Zurück

21 Vgl.: Le Monde, 20.4.85 Zurück

22 Vgl.: Le Monde, 20.4.85 Zurück

23 Vgl.: Frankreich-Info Nr. 14/85 Zurück

24 Zit.: Frankreich-Info Nr. 14/85 Zurück

25 Zit.: Frankreich-Info Nr. 14/85 Zurück

26 Zit.: Frankreich-Info Nr. 14/85

(26) Zit.: Frankreich-Info Nr. 14/85 Zurück

27 Vgl.: Die Welt, 20.5.85 Zurück

28 Zurück

29 „Curien: „Il faut definir des objets et des systemes ambitieux c´est cela l'idee d´Eureka, tirer la technologie europeenne vers l´avant grace 3 des projets ambitieux. L´exemple d´Hermes est clair: ce sera une locomotive de la technologie europeenne. Autre exemple: la maitrise de la micro-electronique qui permet de faire des systemes d´armes performants, des calculateurs, des fusees de la nouvelle generation, la robotique des ateliers flexibles. Il doit resulter d´Eureka dans dix ou quinze ans un savoirfaire tres avance de nos industries.“ “ Vgl.: Le Quotidien, 5.6.85 Zurück

30 „Curien: „Nous avons tenu 3 nous presenter devant nos partenaires avec une corbeille ouverte pour que le projet soit veritablement europeen.“ “, In: Le Quotidien, 5.6.85 Zurück

31 „Eureka ne passera pas dans le moulinet des fonctionnaires de Bruxelles. Les Francais visent en effet a faire se rencontrer, theme par theme, les meilleurs industriels europeens d´un secteur. A eux de definir des programmes et des prototypes en vue de leur industrialisation. Le partage des taches sera du type Ariane: la maitrise d´reuvre a celui qui est le plus competent, quelle que soit sa nationalite. Or, quoi qu´on ait dit, la competition est deja ouverte entre Eureka et IDS.“ In: Le Point, Nr. 665, 17.6.85 Zurück

32 Ausnahmen waren die Benelux-Staaten, Italien und die EG-Kommission. Zurück

33 Zit.: La Tribune, 6.6.85 Zurück

34 Zit.: La Voix du Nord, 27.6.85 Zurück

35 Zit.: Le Monde, 6.6.85 Zurück

36 Zit.: Le Quotidien, 13.6.85 Zurück

37 Zit.: Le Quotidien, 5.6.85 Zurück

38 Volvo-Chef Peer Gyllenhammer, der den Vorsitz des „roundtable“ innehat, einer institutionalisierten halbjährlichen Zusammenkunft der Vorstände der 12 größten europäischen (Elektronik-) Konzerne, sprach sich für die Teilnahme der europäischen (EFTA inclusive) Industhe bei beiden Projekten aus. Der „roundtable“, auf dessen Initiative auch das EG-Grundlagenforschungsprogramm ESPRIT ins Leben gerufen wurde, solle die europäischen Konzerne dazu animieren, sich bei SDI und Eureka zu engagieren, AFP Sciences, 20.6.85, Nr. 461 Zurück

39 „Mitterrand: „Ce la ne signifie pas que nous naus separons a jamais sur cette route (…) Il paut y avoir des passerelles, des ponts, d´un projet a 1´autre.“ “ In.: Le Monde, 7.5.85 Zurück

40 Zit.: La Tribune, 5.6.85 Zurück

41 Zit.: Time, 27.5.85 Zurück

42 Zit.: Time, 27.5.85 Zurück

43 Zit.: Financial Times, 24.5.85 Zurück

44 c) Äußerungen des amerikanischen Verteidigungsministeriums, daß auch im Falle Großbritanniens keine Sonderregelung möglich sei, eine Forschungsbeteiligung britischer Unternehmen lediglich auf der Grundlage von Unteraufträgen möglich sei. „(…) a Pentagan briefing last week left officials of the British Defense Ministry with the impression that the UK would be (…) well, a subcontractor.“(42) Zurück

Achim Seiler; cand. rer. pol.. FU Berlin

Militarisierungsschub für die Informationstechnik

Militarisierungsschub für die Informationstechnik

von Karlheinz Hug

Der Einzelplan 14

Die »Wehrtechnik« begrüßt den »positiven Trend« des 22. Finanzplans der Bundesregierung als »echte Verbesserung der Finanzlage der Bundeswehr«.1 Die Ausgaben des »Einzelplans 14« (Epl.14) sollen um 3,7 % wachsen, die 1988 erstmals gesenkten verteidigungsinvestiven Ausgaben wieder steigen.2 Zwar entfällt der größte Teil der zusätzlichen Mittel auf die Personalausgaben, aber den mit 305 Mio. DM zweitgrößten Teil erhält der Ausgabenbereich Forschung, Entwicklung und Erprobung. Die durch das Auslaufen des MRCA-Tornado-Programms freiwerdenden Mittel aus dem Beschaffungsbereich werden wie in den letzten Jahren in den Bereich der F&E umgeschichtet.

Das Kapitel 1420 des Epl. 14 mit den Ausgaben für Wehrforschung, wehrtechnische und sonstige militärische Entwicklung und Erprobung war jahrelang durch überproportionale Steigerungsraten gekennzeichnet. Dieser Trend wurde zwar 1988 unterbrochen, wird aber 1989 so fortgesetzt, daß der Rückgang von 1988 wieder aufgeholt wird.

Die Ausgaben für das Forschungs- und Technologie-Konzept (F&T-Konzept) in Kapitel 1420 steigen 1989 nicht so stark wie Kap. 1420, aber stärker als die verteidigungsinvestiven Ausgaben. Das Anwachsen der F&T-Mittel um 37 % in den letzten fünf Jahren (bezogen auf die Ausgaben von 1984) zeigt, daß das BMVg der Entwicklung neuer Technologien für die dritte Waffengeneration der Bundeswehr nach wie vor hohe Priorität zuordnet. Dem technologischen Schwerpunkt Informationstechnik wurden in der F&T-Leitlinie 1987 37 % der F&T-Mittel zugewiesen.3 Eine entsprechende Rechnung mit dem Ansatz des Haushaltsentwurfs 1989 ergibt einen Betrag von 319 Millionen DM, die im Rahmen des F&T-Konzepts für Elektronik, Informations- und Kommunikationstechnik ausgegeben wurden.

Tabelle 3 zeigt eine Schätzung des Anteils der Gebiete Elektronik, Informations- und Kommunikationstechnik am Kapitel 1420.4 Für Forschung, Entwicklung und Erprobung in diesen Gebieten will das BMVg unter Kapitel 1420 also schätzungsweise 933 Millionen DM ausgeben. Die Zuwachsrate gegenüber 1988 liegt mit ca. 11 % in der Größenordnung der Zuwachsrate von Kap. 1420. Innerhalb der letzten fünf Jahre ergibt sich eine Zuwachsrate von 50 % (bezogen auf den Schätzwert von 1984 von 620 Mio. DM). Die meisten der zusätzlichen Mittel werden jetzt in die Entwicklung des Jäger 90 gepumpt. Dies wirkt sich schon spürbar auf dem Arbeitsmarkt aus: Die an diesem Milliardenprojekt beteiligten Firmen suchen nach qualifizierten Fachkräften und entziehen diese den zivilen Bereichen.

Mit weiteren Aufwendungen für Betrieb und Infrastruktur von F&E-Einrichtungen (Kap. 1405, 1412) in Höhe von schätzungsweise 72 Mio. DM ergeben sich für den Bereich des BMVg geschätzte Mindestausgaben für militärische Forschung, Entwicklung und Erprobung in den Gebieten Elektronik, Informations- und Kommunikationstechnik in Höhe von 1004 Millionen DM. Bezogen auf die entsprechende Schätzung für 1988 von 910 Mio. DM entspricht dies einer Zuwachsrate von ca. 10,4 %.

Der Einzelplan 30

Der Etat des BMFT, der »Einzelplan 30«, soll 1989 unterproportional um 1,2 % auf 7,65 Mrd. DM wachsen. Hervorstechend ist wie 1988 die Schwerpunktsetzung bei der Weltraumforschung. Die Ausgaben des Kapitels Weltraumforschung und Weltraumtechnik; Luftfahrtforschung (3006) sollen gegenüber 1988 um 10,9 % wachsen. Dies entspricht einem absoluten Zuwachs um 153,9 Mio. DM, einem Betrag, der weit über den zusätzlichen Mitteln des Epl. 30 von 90,6 Mio. DM liegt. Wie im letzten Jahr werden beträchtliche Mittel innerhalb des Epl. 30 in die Weltraumforschung umgeschichtet. Auch das Kapitel Informationstechnik; Fertigungstechnik; Fachinformation (3004) ist wieder von Kürzungen betroffen, wie die Tabelle 4 zeigt.

Ein Vergleich dieser BMFT-Ausgaben mit den in Tabelle 3 abgeschätzten Ausgaben des BMVg (ohne Infrastrukturmaßnahmen) liefert folgende Ergebnisse:

  • Die Ausgaben des BMVg für F&E im Gebiet Elektronik, Informations- und Kommunikationstechnik liegen in derselben Größenordnung wie die des BMFT. Mehr als jede zweite DM der 1,7 Mrd. DM, die die Bundesregierung 1989 für Informationstechnik-F&E ausgibt, wird für unmittelbar militärische Zwecke verwendet.
  • Nachdem die Bundesausgaben für F&E im Gebiet Elektronik, Informations- und Kommunikationstechnik jahrelang überproportional gewachsen und 1988 gesunken sind, wachsen sie nun wieder schwach.
  • Die 25 Mio. DM, die der Bund in diesem Bereich 1989 mehr ausgeben will, fließen zum BMVg, und zusätzlich werden 67 Mio. DM vom BMFT zum BMVg umgeschichtet. Da der BMFT-Anteil sinkt und der BMVg-Anteil wächst, wird der jahrelange Trend zur Verstärkung des Anteils der für unmittelbar militärische Zwecke eingesetzten Mittel 1989 forciert.

Faßt man die auf Grundlagenforschung bezogenen Ausgaben des Kapitels 3004 zusammen und läßt die auf zivile Anwendungen orientierten Ausgaben aus, so ergibt sich ein Betrag von 555 Mio. DM (1987: 592 Mio. DM, 1988: 571 Mio. DM). Die Kürzungsrate gegenüber 1988 von 2,7 % liegt unter der von Kap. 3004 insgesamt. Das bedeutet, daß der Anteil der Grundlagenforschung vergrößert und vor allem bei der auf zivile Anwendungen orientierten F&E gekürzt wird. Innerhalb der letzten fünf Jahre ergibt sich noch ein Anstieg von ca. 15 % (bezogen auf die Ausgaben von 1984 von 485 Mio. DM).

Fazit

Der Bundeshaushalt 1989 bestätigt, daß die Regierung trotz INF-Vertrag und alledem ihren alten Militarisierungskurs beibehält. Lediglich das Tempo der militärischen F&E-Vorhaben für die Aufrüstung in den 90er Jahren unterliegt gewissen Schwankungen, vor allem aufgrund der finanzpolitischen Randbedingungen, aber auch wegen technischen und organisatorischen Problemen. Das BMVg versucht, den Betrieb der Bundeswehr zu sichern, nutzt aber den sich 1989 bietenden finanziellen Spielraum, um militärische Forschung, Entwicklung und Erprobung zu verstärken. Das Beste am Rüstungsetat ist noch, daß „1989 kein neues Entwicklungsvorhaben begonnen werden wird“.5 Das BMFT trägt mit dem Pushen der durchweg militärisch relevanten Weltraumforschung dazu bei, F&E von ziviler Zweckbestimmung wegzuorientieren. Die laufenden militärischen F&E-Programme – insbesondere den Jäger 90 – zu stoppen und die militärische Deformation der Weltraumforschung zu verhindern, bleibt weiterhin die Aufgabe der friedensorientierten Kräfte.

Tabelle 1: Forschung, Entwicklung und Erprobung
(Kap. 1420)
Haushaltsjahr Ansatz (Mio. DM) Steigerung zum Vorjahr Anteil am Epl. 14
1987 Soll 2787,0 + 8,0 % 5,5 %
1988 Soll 2736,3 – 1,8 % 5,3 %
1989 Entwurf 3039,8 + 11,1 % 5,7 %
Quellen: (EBH88, Epl. 14), (EBH89,
Epl.14), eigene Berechnungen
Tabelle 2: Forschungs- und Technologie-Konzept (Anteil von Kap.
1420)
Haushaltsjahr Ansatz (Mio. DM) Steigerung zum Vorjahr Anteil am Epl. 14 Anteil am Kap. 1420
1987 Soll 835,4 + 10,5 % 1,6 % 30,0 %
1988 Soll 846,8 + 1,4 % 1,6 % 30,9%
1989 Entwurf 862,8 + 1,9 % 1,6 % 28,4%
Quellen: (EBH88, Epl. 30), (EBH89, Epl.
30), eigene Berechnungen
Tabelle 3: Militärische F&E in
Elektronik, Informations- und Kommunikationstechnik (Teil von Kap. 1420)
Zweckbestimmung (Titel) Schätzwert Betrag (Mio.
DM)
1987 Ist 1988 Soll 1989 Entwurf
Wehrtechnische Forschung (551 01) 25 % 16,0 16,5 17,0
Wehrtechnische Entwicklung und Erprobung (551 11) 30 % 550,7 519,0 547,5
Entwicklung des Kampfflugzeugs MRCA (551 16) 30 % 54,0 53,4 48,0
Wehrtechnische Entwicklung und Erprobung von Führungssystemen (551
17) 100 %
130,0 130,0 132,0
Entwicklung des Jagdflugzeugs 90 (551 18) 30 % 92,5 105,0 171,0
Forschungsgesellschaft für Angewandte Naturwissenschaften e.V.
(FGAN) Bonn (Tgr. 03, 685 31, 893 31) 42 %
16,0 16,7 17,2
Summe (Mio. DM) 859,2 840,6 932,7
Steigerung zum Vorjahr (%) + 10,9 – 2,2 + 11,0
Quelle: (EBH89, Epl. 14), eigene
Berechnungen
Tabelle 4: Informationstechnik;
Fertigungstechnik;
Fachinformation (Kap. 3004)
Haushaltsjahr Ansatz (Mio. DM) Steigerung zum Vorjahr Anteil am Epl. 30
1987 Ist 849,8 + 1,3 % 12,4 %
1988 Soll 820,5 – 3,4 % 10,8 %
1989 Entwurf 753,4 – 8,2 % 9,8 %
Quellen: Wehrtechnik 8/87 und
9/88, eigene Berechnungen
Tabelle 5: Ausgaben des Bundes für F&E in Elektronik,
Informations- und Kommunikationstechnik
1988 Soll 1998 Entwurf Steigerung
Anteil (Mio. DM) Anteil (Mio. DM) zum Vorjahr
Ausgaben des BMVg 50,6 % (841) 55,3 % (933) + 11,0 %
Ausgaben des BMFT 49,4 % (820) 44,7 % (753) – 8,2 %
Gesamtausgaben des Bundes 100,0 %(1661) 100 % (1686) + 1,5 %

Anmerkungen

1 W. Flume: Verteidigungshaushalt 1989: Trendwende. Wehrtechnik Nr. 8, 1988. Zurück

2 Zahlenangaben aus: Gesetzentwurf der Bundesregierung über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1989, Deutscher Bundestag, Drucksache 11/2700 und Anlagen dazu, Bonn, 12.08.1988; hier kurz: (EBH89). Zurück

3 E. Heckmann: Deutsch-amerikanische Rüstungszusammenarbeit. Wehrtechnik Nr. 2, 1987. Zurück

4 Das Schätzverfahren wurde bereits in vorjährigen Untersuchungen verwendet, bzgl. der zugrundegelegten Annahmen siehe Informationsdienst Wissenschaft & Frieden Nr. 4, 1987; Betrifft: Rüstung 88/89. ZMF, Frankfurt M., 1988 Zurück

5 W. Flume, a.a. O. Zurück

Karlheinz Hug ist Informatiker an der THDarmstadt, Mitglied im FIFF.

Zur Rüstungsforschung im Etat 1989

Zur Rüstungsforschung im Etat 1989

von Rainer Rilling

Die Freigabe der Entwicklung des „Jäger 90 “ am 4. Mai 1988 ist der forschungspolitisch bedeutsamste Beschluß des Jahres 1988 gewesen. Bis zu diesem Zeitpunkt waren bereits rund 800 Mio DM Entwicklungsgelder für „das mit weitem Abstand teuerste Waffensystem der Bundeswehr “ (Bundesrechnungshof) ausgegeben worden; nun wurden weitere 6,154 Mrd DM zusätzlich bewilligt – die tatsächlichen Entwicklungskosten werden bei mindestens bei 8-9 Mrd liegen und damit den Jahreshaushalt des Forschungsministeriums weit übertreffen. Obwohl der „Jäger 90 “ in seiner fiskalischen Langfristwirkung nur mit dem Vorhaben des „Schnellen Brüters “ in Kalkar (7 Mrd) bzw. den Großprojekten der bemannten Raumfahrt (Ariane, Hermes, Columbus) vergleichbar ist, waren die von Amts wegen mit Forschungs- und Technologiepolitik befassten parlamentarischen bzw. exekutiven Gremien an dieser Entscheidung keine Sekunde beteiligt.

Ausgaben für militärische Forschung
(Epl.14, Kap.1420) (in Mio.DM)
1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989
+9,7% +6,1% +26,3% +1,1% +11,2% -1,41% +11,1%
1664 1826 1948 2460 2487 2793 2755 3056
Epl 14 Kap. 1420

Die Ansätze für dieses einzelne Projekt haben bereits massive Spuren im Haushaltsentwurf 1989 der Bundesregierung hinterlassen und sind hauptverantwortlich dafür, dass der schmale Rückgang des Mittelansatzes für militärische Forschung in 1988 eine einmalige Episode geblieben ist. Statt dessen sollen 1989 die offiziell ausgewiesenen Mittel für militärische Forschung (Epl. 14, Kapitel 1420) erstmals die 3-Milliarden-Grenze überschreiten; 1992 sollen es rund 3,7 Mrd DM sein. Damit steigen die Forschungsausgaben innerhalb des Einzelplans am stärksten. Die konservativ-liberale Regierung hat diese Ansätze seit 1982 kontinuierlich angehoben.

Das Gesamtbudget Rüstungsforschung ist jedoch wesentlich umfangreicher. Werden die an anderen Stellen des öffentlichen Haushalts ausgewiesenen Ausgaben, die zunehmenden Aufwendungen für (eigenfinanzierte) industrielle Rüstungsforschung sowie die Mittel für „freie “ Forschung mit einbezogen, dann werden sich 1989 die Ausgaben der 6 Mrd-Grenze nähern. 1. Weitere, militärisch relevante Aufwendungen, die in ziviler wie militärischer Nutzungsabsicht erbracht wurden, in Höhe von über 1 Mrd DM vor allem im Bereich der Elektronik (insbesondere beim BMFT) ließen sich einbeziehen.

Für die gesamte Amtsperiode der gegenwärtigen Bundesregierung zeichnet die Haushaltsstatistik ein deutliches Bild. Der Etatentwurf 1989 ist der Siebte seit 1982, den die konservativ-liberale Koalition zu verantworten hat. In dieser Zeit konnte das Bundesministerium der Verteidigung (BMVg) als einziges Bundesministerium seinen Anteil am Forschungsbudget des Bundes steigern, alle anderen Ministerien verloren zu Lasten der Militärforschung.

Je nach Bezugsgröße hat die konservativ-liberale Regierung seit 1982 die Ansätze für Rüstungsforschung um 1,5-2,5 Mrd DM angehoben. Von den rund 86,8 Mrd DM, die laut Finanzbericht 1989 der Bundesregierung der Bund in diesen acht Jahren für Wissenschaft, Forschung und Entwicklung (außerhalb der Hochschulen) aufgewandt hat2, gingen weit über 40 % nur in die Atom- und Rüstungsforschung. Für die militärische Forschung hat die konservativ-liberale Koalition während ihrer Amtszeit die meisten Mittel bereitgestelltmit steigender Tendenz. Wie tiefgreifend die Schwerpunktveränderung ist, kann man aus der Verteilung der zusätzlichen Ressourcen seit 1982 erkennen:: seit 1982 wurden für Rüstungsforschung rund 5,6 Mrd DM zusätzlich bereitgestellt – im Bereich Ökologie („Reinhaltung von Luft, Wasser und Erde, Lärmbekämpfung, Reaktorsicherheit, Strahlenschutz“) summieren sich die zusätzlichen Mittel auf lächerliche 153 Mio DM, die Minderausgaben für die „Sonstige Energieforschung“ kumulieren sich auf über 2,1 Mrd DM.

Dass sich die „Forschungspolitik der Bundesregierung … gezielt den wirklichen Staatsaufgaben in der Grundlagenforschung, in der Unterstützung des Mittelstands bei der Innovation und in der Vorsorge- und Umweltforschung zugewandt“ habe – so der Bundesforschungsminister Heinz Riesenhuber in einer Kabinettssitzung am 13. September 1988 – trifft nicht zu. Die finanziellen Schwerpunktsetzungen sprechen eine völlig andere Sprache.

Anmerkungen

1 Berechnet nach dem Entwurf des Bundeshaushaltsplans 1989. Zur Berechnungsmethode vgl. R.Rilling, Militärische Forschung in der BRD, in: Blätter für deutsche und Internationale Politik 8/1982. Der militärische Anteil am Budget des BMFT ist mit Sicherheit bei weitem zu niedrig; die Angaben beruhen auf einem Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen vom 23.2.1987, vgl. ZMF, Betrifft: Rüstung…88/89, Frankfurt 1988, S.35. Wesentliche Ausgabenblöcke, die in die gängigen Angaben der Wissenschaftsstatistik des BMVg bzw. der Bundesregierung zur Rüstungsforschung nicht eingehen, betreffen vor allem die forschungsrelevanten Ausgaben der Bundeswehrhochschulen, die Ausgaben für wissenschaftliche Dienststellen und Erprobungseinrichtungen, für Luftfahrttechnik (abweichend von früheren Darstellungen wurden hier die Ausgaben im Epl 0902,Tit.09 nur noch mit 10 % angesetzt), die eigenfinanzierte industrielle Rüstungsforschung sowie die sog. „freie“ Forschung. Weitere Aufwendungen (u.a. seitens internationaler [NATO] oder ausländischer Mächte [USA]) bleiben hier ebenso unberücksicht wie beträchtliche Aufwendungen, deren Ausklammerung das BMVg in der Einleitung zum Kap.1420 („Wehrforschung…“) selbst hervorhebt. Zurück

2 Gefolgt wird hier den Angaben des Finanzberichts 1989 (BMF, Finanzbericht 1989, Bonn 1988, S. 165f.). Zurück

Rainer Rilling ist Geschäftsführer des BdWi in Marburg und Privatdozent für Soziologie, Univ. Marburg

Bundesforschungsbericht 1988: Wehrforschung „deutlich ausgeweitet“

Bundesforschungsbericht 1988: Wehrforschung „deutlich ausgeweitet“

von Redaktion

Im Unterschied zum BBF8 (1986) muß der neue Bundesbericht Forschung konzedieren, daß die FuT-Förderung des Bundesministeriums der Verteidigung „deutlich ausgeweitet“ wurde (II/13). Auch die Profilerläuterung kommentiert immerhin: „Durchgängige Zuwächse im gesamten betrachteten Zeitraum verzeichnet das Profil „Wehrforschung und Wehrtechnik“.“ (II/13)

Die Tabelle zeigt, wie spektakulär dieser Zuwachs ist: Während die zivilen Forschungsausgaben 1988 gerade um 11 % höher liegen als am Ende der sozialliberalen Koalition 1982, wurden die Ausgaben für Rüstungsforschung auf 166 % gesteigert. Sie liegen jetzt bei 2,8 Mrd. DM (hier bleibt unberücksichtigt, daß das FuE-Budget des BMVg tatsächlich gut 1 Mrd. DM, das Gesamtbudget Rüstungsforschung der BRD ca. 3,2 Mrd. DM höher liegt (vgl. Informationsdienst Wissenschaft und Frieden 4/1987, S. 31). Das bedeutet, daß von den insgesamt rund 13,9 Mrd. DM, die in dieser Zeitspanne von der konservativ-liberalen Bundesregierung über den Ansatz des Jahres 1982 hinaus zusätzlich für Zwecke der Forschung und Entwicklung investiert wurden, 31 % (4,36 Mrd. DM) in die militärische Forschung und 60 % in den zivilen Bereich gingen (da die Bundesregierung zugleich 4,9 Mrd. einsparte, liegt der wirkliche Zuwachs nur bei knapp 9 Mrd. DM).

Im Ergebnis ist der Anteil der militärischen Forschung am Forschungsbudget des Bundes von 14,5 % (1982) auf 20,2 % (1988) angestiegen. Die Rüstungsforschung wurde unter der gegenwärtigen Regierung das wichtigste einzelne Förderungsgebiet. Das BMVg hat zwischen 1982 und 1988 als einziges Ressort seinen Anteil am Forschungsbudget des Bundes ausgeweitet (vgl. BBF9 II/9a); der Anteil des BMFT sank von 59,5 % auf 55,5 %. Der BBF9 erwähnt diese dramatische Veränderung der Prioritätenstruktur im Berichtszeitraum nicht.

Dieser Bedeutungszuwachs der Rüstungsforschung ist auch noch in anderer Hinsicht bedeutungsvoll. Die rasche Expansion der Rüstungsforschung läuft dem vom BBF9 vielfältig betonten Rückzug des Staates aus der Förderung der Industrieforschung und dem Abbau der „direkten Projektförderung“ konträr. Während die direkte Projektförderung im zivilen Forschungssektor 1987 gegenüber 1982 auf 86,2 % abgenommen hat, ist die Projektförderung des BMVg auf 168,4 % gestiegen. Daß die Projektförderung damit immer noch rund 50 % der FuE-Ausgaben des Bundes ausmacht und zwischen 1982 und 1987 auf 107 % gestiegen ist, geht auf die Ausweitung der Rüstungsforschung zurück. Auch der Betrag, der als staatliche FuE-Subvention in der Wirtschaft verbraucht wird, hat sich seit 1982 kaum verändert (98,9 % in 1987) – dies, weil die staatlichen Forschungsmittel des BMVg, die in die Industrie fließen, stark gewachsen sind (1987 = 181 %). Er hat sich fast verdoppelt!

Angaben des BBF9 (Tab. Il/32a) über die FuE-Förderung der gewerblichen Wirtschaft durch den Bund zeigen, daß der Anteil des BMFT an der Gesamtförderung der Wirtschaft zwischen 1982 und 1986 von 58 % auf 41 % rapide zurückgegangen ist, wogegen der Anteil des BMWi von 14 % auf 16 % anwuchs und der Anteil des BMVg von 26 % auf 41 % förmlich .emporschnellte. 1986 übertraf das BMVg erstmals das BMFT (2,237 Mrd. vs. 2,230 Mrd.) und wurde damit wichtigster staatlicher Forschungsfinanzier der Industrie der Bundesrepublik. Spätestens seit der Entscheidung der Bundesregierung, zur Entwicklung des „Jäger 90“ jährlich mindestens 500 Mio. DM an zusätzlichen FuE-Mitteln auszugeben, ist deutlich geworden, daß in den nächsten Jahren ein weiterer starker Zuwachs der Ausgaben für Rüstungsforschung zu erwarten ist.

Im übrigen bleibt der BBF9 in der Darstellungskontinuität seiner Vorgängerberichte. Der militärischen Forschung widmet er nicht einmal halb so viel Zeilen, wie der Gesamtbericht Seiten hat. Forschungsaufträge für die Bundeswehr werden in staatlichen Forschungsinstituten (FGAN, FHG, DFVLR), in der Industrie „und an den Hochschulen der Bundesrepublik Deutschland bearbeitet“ (III/78). Der Anteil der Wirtschaft am Verbrauch der Mittel für Rüstungsforschung liegt seit Jahren bei 92-93 % und verändert sich kaum. Einzig bemerkenswert an der knappen Darstellung des BBF9 noch der längere Hinweis auf die Nutzung der zivilen FuE: „Die Nutzung der Forschungsergebnisse des zivilen Bereiches für verteidigungsbezogene Aufgaben erfolgt auf mehreren Wegen. Einmal wird sie sichergestellt durch gemeinsam abgestimmte, sich ergänzende Programme mit dem BMFT (z.B. bei der Mikroelektronik); zum anderen ergibt sie sich aus den organisierten oder allgemeinen wissenschaftlichen Kontakten, z.B. über die Zugehörigkeit zu Sachverständigenausschüssen oder die Arbeit in Forschungseinrichtungen, die zivile und militärische Komponenten enthalten, wie die Fraunhofer-Gesellschaft und die Deutsche Forschungs- und Versuchsanstalt für Luft- und Raumfahrt.

Sie wird ferner im nationalen Bereich durch die Zusammenarbeit von Forschungsinstituten mit der einschlägigen Industrie und, wo erforderlich, durch eine geeignete Steuerung durch die Amtsseite gewährleistet.“ (III/78-9) Hier deutet sich eine gewisse Verstärkung der bislang eher geringen industriepolitischen Rolle der Rüstungsforschung an. Sie ist bisher kaum erkennbar in der Biotechnologie, existiert in Ansätzen in der Informationstechnologie bzw. Elektronik und ist stärker ausgeprägt in der Materialforschung. Versuche, sie rasch zu entwickeln, sind (zumindest vorläufig) gescheitert (vgl. Programm Mikroelektronik des BMVg). Dual-use-Strategien werden jedoch, wie der BBF9 zeigt, zunehmend diskutiert und – soweit erkennbar vor allem in der Elektronik auch praktiziert. Ihre bislang eher kompromißbildende Anlage könnte sich im internationalen Spannungsfeld zwischen vorrangig rüstungsindustriell dominiertet Entwicklungsstrategie (USA, England) und wissenschaftlich bzw. zivilindustriell ausgerichteter Strategie (Japan, bislang auch noch BRD) zu einem eigenen forschungspolitischen Entwicklungsmuster verdichten, falls sich die momentan eher abgeschwächte Dynamik der (die Weltmarktposition der BRD eher schwächende) rüstungsindustriellen Variante der Entwicklung des Forschungspotentials erneut beschleunigen sollte.

DGB fragt: Nehmen militärische Interessen in der Forschungspolitik zu?

Hinter dem Schlagwort „Weniger Staat in der Forschungs- und Technologiepolitik“ verbirgt sich nach Meinung von DGB-Vorstandsmitglied Jochen Richert eine schleichende Umorientierung der Förderungspolitik der Bundesregierung vom zivilen zum militärischen Bereich. Während die Gesamtausgaben der Bundesregierung für zivile Forschung im Zeitraum von 1982 bis 1986 lediglich um 4,35 Prozent von 10,21 Milliarden DM auf 10,65 Milliarden DM gestiegen seien, hätten sich die Ausgaben für die Wehrforschung explosionsartig um fast 57 Prozent auf 2,65 Milliarden DM erhöht, sagte Richert am Montag in Düsseldorf. Bezeichnenderweise sei im gleichen Zeitraum die Förderung von Maßnahmen zur Humanisierung der Arbeit um mehr als 13 Prozent zurückgegangen. Der vermeintliche Rückzug des Staates verdecke lediglich den Bedeutungsverlust des Bundesforschungsministeriums auf dem Feld der Forschungs- und Technologiepolitik zu Lasten der notwendigen sozialen Gestaltung dieses Politikfeldes.

Dieser Bedeutungsverlust findet laut Richert seine Entsprechung bei einem Vergleich der Gesamtaufwendungen des Bundes für die Grundlagenforschung. Die verstärkte Ausweitung des Anteils der Grundlagenforschung am Haushalt des Forschungsministeriums werde von Bundesforschungsminister Riesenhuber zu Unrecht als Erfolg einer Neuausrichtung der Forschungs und Technologiepolitik gewertet. Seinen Angaben zufolge seien die Fördermittel des Ministeriums für die Grundlagenforschung in der Zeit von 1982 bis 1986 von 1,8 Milliarden DM) angewachsen. Dementsprechend sei ihr Anteil am BMFT-Etat im gleichen Zeitraum von 26 Prozent auf 38 Prozent angestiegen.

„Eine vergleichbare Entwicklung“, so sagte Richert, „läßt sich jedoch bei den Gesamtaufwendungen des Bundes für Forschung und Entwicklung nicht beobachten.“ Hier erreiche der Anteil der Fördermittel für die Grundlagenforschung im Jahre 1986 nur knapp 28 Prozent (gegenüber 23 Prozent in 1982). Dies entspreche keineswegs einem rückläufigen Staatseinfluß auf Forschung und Entwicklung, sondern dokumentiere, daß die Förderung zukunftsträchtiger Technologien lediglich vom BMFT auf das Wirtschafts- und Verteidigungsministerium verlagert wurde.

(DGB Nachrichtendienst v. 21.3.1988)

Der Bedeutungszuwachs der militärischen Forschung seit 1982
Jahr/Bereich 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988
BRD 100 104 109 122 127 135
Staat 100 99 102 110 111 119
Bund 100 98 101 110 111 119 119
Bund: zivil 100 96 98 103 104 111 111
Bund: militärisch 100 110 118 148 150 168 166
Eigene Berechnung nach BBF9, Tab. VII/2; Tab.
VII/3; Tab. VII/8