Militärs an die Ökofront?

Militärs an die Ökofront?

Umweltpolizist USA

von Jürgen Scheffran

Nur wenige Wochen vor dem Klimagipfel in Kyoto trat US-Präsident Bill Clinton mit einer Erklärung vor die internationale Öffentlichkeit, die das Klimaregime ernsthaft gefährdete. Am 23. Oktober 1997 kündigte er an, die USA würden ihre klimaschädigenden Treibhausgasemissionen erst zwischen 2008 und 2012 auf das Niveau von 1990 zurückfahren (Frankfurter Rundschau 24.10.97). Kurz zuvor hatte das Energieministerium bekanntgegeben, daß der Ausstoß von Treibhausgasen in den USA 1996 um 3,4 % zugenommen habe, der höchste Zuwachs seit Jahren (FR 21.10. 97). Als größter CO2-Emittent der Welt, der rund ein Viertel aller Treibhausgase produziert, geben die USA ein schlechtes Vorbild für alle jene, die den auf Energieverschwendung gegründeten American Way of Life kopieren wollen. Dazu paßt auch, daß Clinton nur eine Woche später, anläßlich des Besuchs des chinesischen Ministerpräsidenten Jiang Zemin, den Export von Kernenergietechnologie der USA nach China als Beitrag der USA zum Klimaschutz ausgab. Angesichts einer wachstumsorientierten Politik, die zukünftigen Generationen globale Erwärmung und radioaktiven Abfall beschert, rückt das Ziel einer nachhaltigen Entwicklung in der Energiepolitik in weite Ferne.

Offensichtlich läßt sich die Führungselite der USA von den Szenarien einer Klimakatastrophe und anderen in der Zukunft liegenden Umweltgefahren nicht dazu bewegen, schon heute den dringend erforderlichen ökologischen Umbau der Volkswirtschaft zu forcieren und dazu den Konflikt mit mächtigen Interessengruppen zu riskieren. Lobbyisten warnen, eine deutliche Emissionssenkung sei eine Katastrophe für die amerikanische Wirtschaft (Greenpeace Magazin 1997). Ökonomen rechnen aus, es sei für die USA billiger, die globale Erwärmung »auszuschwitzen«, als sie zu verhindern.1 Wenn sie denn kommen sollte, wird auf Feuerwehr, Polizei und Militär vertraut. Deren Aufgabe: Helfen, Retten, Bergen, Schützen, Strafen.

Umweltbedrohung als militärische Aufgabe

Es ist daher nicht verwunderlich, daß sich in der Umwelt- und Klimadebatte seit einigen Jahren eine Institution zu Wort meldet, die auf die Abwehr von Bedrohungen trainiert ist: das Militär. Seit Ende des Kalten Krieges auf der Suche nach neuen Bedrohungen zur Rechtfertigung seiner Existenz hat das Verteidigungsministerium (DoD: Department of Defense) der USA begonnen, die Umweltzerstörung und daraus folgende Konflikte für eigene Ziele zu instrumentalisieren. Angeknüpft wird an das in der Umwelt- und Friedensforschung diskutierte Konzept der ökologischen Sicherheit, mit dem der bislang militärisch dominierte Sicherheitsbegriff um die Umweltdimension erweitert werden sollte (Brock 1994 und Daase 1993). Hinzu kommt die Forschung über Umweltkonflikte, bei denen Umweltzerstörung ein wesentlicher konfliktauslösender oder -verschärfender Faktor ist (Bächler u.a. 1996). Einer ihrer entschiedensten Vordenker und Verfechter in Nordamerika, Thomas Homer-Dixon von der Universität Toronto, hat in der Clinton-Administration Gehör gefunden.

Aus militärischer Perspektive steht jedoch weniger das Anliegen im Vordergrund, Umweltzerstörung und -konflikten vorzubeugen (etwa durch nachhaltige Entwicklung, Armutsbekämpfung), als vielmehr dort einzugreifen, wo es bereits brennt. Auf der Suche nach neuen Aufgaben bietet sich das Militär selbst zur Lösung von ökologischen Krisen und deren Folgen an, als Garant der erweiterten Sicherheit. Wurde unter dem Schlagwort der ökonomischen Sicherheit die Sicherung des Zugangs zu strategischen Ressourcen und Rohstoffen forciert, betrifft ökologische Sicherheit nun die militärische Sicherung der ökologischen Qualität und des Zugangs zu erneuerbaren natürlichen Ressourcen.

Demnach wird Umweltdegradation in der US-Regierung vorwiegend als Bedrohung von Sicherheitsinteressen interpretiert. So sagte US-Senator Sam Nunn bereits im Juni 1990 in einer Rede vor dem Senat, daß „in einem sehr realen Sinne ökologische Zerstörungen die Sicherheit unserer Nation und die Sicherheit der Welt bedrohen.“ In seinem 1991 erschienenen Buch »Beyond the Soviet Threat« läßt sich der Autor James Motley gar zu der Prognose hinreißen: „Während der neunziger Jahre wird die Umwelt zu einem Hauptthema US-amerikanischer nationaler Sicherheit werden. (…) Umweltfragen werden zusehends politischeren Charakter bekommen, weil sie mit dem nationalen Überleben verbunden sind (…) [Die Umweltfrage] stellt Nation gegen Nation, und zwar aus dem grundlegendsten aller Gründe: Der Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse.“ (Bächler u.a. 1993: 80f)

Das Sicherheitsproblem für die USA besteht in der neuen Ära nicht mehr in der Existenz eines scheinbar übermächtigen und allgegenwärtigen Feindes, sondern darin, daß in dem diffusen Gefahrenspektrum der Zukunft ein konkreter Feind, gegen den vorgegangen werden könnte, nicht mehr auszumachen ist. „Die tatsächliche Bedrohung ist das Unbekannte, das Ungewisse.“ (Colin S. Powell) Zu den Umweltbedrohungen der Sicherheit gehört die potentielle Beeinträchtigung der Verfügbarkeit „vitaler Ressourcen“, auf die die USA weiterhin Zugriff haben wollen. Desweiteren können umweltinduzierte gewalttätige Konflikte die Stabilität in Regionen untergraben, die zum Interessenbereich der USA gehören. Schließlich wird befürchtet, daß Flüchtlinge und Migranten aus ökologisch zerstörten Regionen der Dritten Welt versuchen könnten, unerlaubt in die USA einzuwandern (Bächler 1993: 81).

Gegen die neue Unübersichtlichkeit der weltpolitischen Lage und damit verbundene unkalkulierbare Sicherheitsrisiken wird eine breite Palette militärischer Vorsorgemaßnahmen für die Bewältigung verschiedener Eventualfälle bereit gehalten. Das Spektrum möglicher Antworten auf die neuen Bedrohungen, die vorwiegend im Süden geortet werden, reicht von humanitärer Hilfe für Katastrophenopfer und Flüchtlinge über Grenzbefestigungen bis zu neuen Rüstungsprogrammen, speziellen Einsatztruppen und Militärinterventionen.

Wie weit Ressourcen aus dem militärischen Bereich für die Nutzung im zivilen Umwelt- und Katastrophenschutz konvertiert werden könnten, wurde in einer UNO-Studie aus dem Jahr 1991 untersucht (Disarment Study 1993). Unabhängig davon, wie sinnvoll die Einsatzmöglichkeiten sind, scheint das Militär wenig geneigt, die Verfügbarkeit seiner Ressourcen an zivile Stellen abzutreten. Die neuen Aufgaben möchte es lieber selbst übernehmen.

Institutionalisierung von Umweltsicherheit

Zunächst stand in den USA die Nutzung militärischer Ressourcen für den Umweltschutz im Vordergrund der Diskussion. So schlug Sam Nunn in seiner Rede 1990 vor, „einige der Ressourcen des Verteidigungsestablishments zu nutzen, … um den massiven Umweltproblemen zu begegnen, denen unsere Nation und die Welt heute ausgesetzt sind.“ Um dies zu erreichen, wurde eine konzertierte Aktion mehrerer Regierungsinstitutionen ins Leben gerufen, das Strategic Environmental Research and Development Program, mit dessen Etablierung ein Rat für verteidigungsorientierte Umweltforschung beauftragt wurde. In die gleiche Richtung ging die vom damaligen Senator Al Gore 1991 vorgeschlagene Environmental Task Force, die Daten von Satelliten und anderen Aufklärungsmitteln der Geheimdienste der Umweltforschung zur Verfügung stellen sollte.2

Der Durchbruch für das Konzept der Umweltsicherheit kam im Jahr 1996. Die Bedrohung der nationalen Sicherheit der USA durch globale Probleme durchzieht die im Januar 1996 vorgestellte nationale Sicherheitsstrategie der USA. Darin heißt es: „Amerikas Sicherheitsgebote haben sich fundamental verändert. (…) Die Gefahren, denen wir heute entgegensehen sind vielfältiger (…). Eine Reihe transnationaler Probleme, die einst weit entfernt schienen wie Umweltdegradation, Erschöpfung natürlicher Ressourcen, rapides Bevölkerungswachstum und Flüchtlingsströme, stellen nun Bedrohungen unseres Wohlstands dar und haben Implikationen sowohl für die gegenwärtige wie auch die langfristige amerikanische Sicherheitspolitik.“ (S.1)

Im einzelnen heißt es: „Der wachsende Wettbewerb um schwindende Reserven an nichtkontaminierter Luft, fruchtbarem Land, Fischbeständen und anderen Nahrungsquellen sowie Wasser, die einstmals als »freie« Güter galten, ist bereits ein sehr reales Risiko für die regionale Stabilität rund um die Welt. Die Spannweite der Umweltrisiken, die die internationale Stabilität ernsthaft beeinträchtigen, erstreckt sich auch auf die massenhafte Flucht der Bevölkerung vor menschgemachten oder natürlichen Katastrophen wie der ostafrikanischen Dürre oder Tschernobyl und auf die tiefgreifende Schädigung von Ökosystemen durch Industrieverschmutzung, Entwaldung, den Verlust der Biodiversität, den Ozonabbau, die Wüstenbildung, die Verschmutzung der Ozeane und, letztlich, auf Klimaveränderungen. Strategien zur Bewältigung von Umweltproblemen dieser Größenordnung werden Partnerschaften zwischen Regierungen und Nichtregierungsorganisationen notwendig machen, die Kooperation zwischen Nationen.“ Auch die Streitkräfte könnten hierzu einen Beitrag leisten, indem sie „Nahrung, Schutz, medizinische Versorgung und Sicherheit all jenen in Not“ zukommen ließen, besonders den „Opfern von Überschwemmungen, Stürmen, Düren und anderen humanitären Katastrophen“ (S. 17). Von besonderer Bedeutung seien die technischen Aufklärungskapazitäten, die rasche Information über Katastrophen übermitteln könnten.

Zur Duchsetzung der neuen Sicherheitsstrategie schlug der damalige US-Verteidigungsminister William Perry im Mai 1996 das Pentagon-Konzept der »präventiven Verteidigung« vor: „Präventive Verteidigung kann als analog zur präventiven Medizin gedacht werden. Präventive Medizin schafft die Bedingungen, die die Gesundheit unterstützen, Krankheiten unwahrscheinlicher und chirurgische Eingriffe unnötig machen. Präventive Verteidigung schafft die Bedingungen, die den Frieden unterstützen, Krieg unwahrscheinlicher machen und Abschreckung unnötig.“ Als Vorbild in punkto Umweltschutz preist Medizinmann Perry das eigene Militär: „In allen Bereichen der Welt teilen die amerikanischen Streitkräfte den Reichtum ihrer Umwelterfahrung mit den Militärs anderer Länder und zeigen ihnen beispielhaft und anschaulich, wie Luft, Land und Wasser in ihren Ländern geschützt und erhalten werden können.“

Wie ernst die Clinton-Administration die Abwehr der Umweltbedrohung nimmt, zeigt sich an der Etablierung einer Unterabteilung für Umweltsicherheit im Verteidigungsministerium. Deren Vorsitzende Sherri Wasserman Goodman beschrieb in einer Konferenz zu Umweltsicherheit an der National Defense University am 8. August 1996 den Zusammenhang zwischen Knappheit natürlicher Ressourcen und Konflikten wie folgt: „Die Umweltknappheit kann mit politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Faktoren so zusammenwirken, daß Instabilität und Konflikt die Folge sind.“

Als Elemente der Umweltsicherheit sieht Gary Vest, Mitarbeiter in der Abteilung für Umweltsicherheit, sechs Aufgaben:

  • umweltverantwortliches Handeln durch militärische Einheiten sicherzustellen, wo auch immer sie seien;
  • angemessenen Zugang zu Land, Luft und Wasser sicherzustellen, um einen Verteidigungsauftrag durchführen zu können;
  • die Kriegführungsausrüstung des DoD zu schützen, (Menschen, Ausrüstung und Anlagen);
  • zu verstehen, wann die Umweltbedingungen zur Instabilität beitragen und wie die Umwelt in den Zusammenhang von Krieg und Frieden hineinpaßt;
  • verteidigungsbezogenene Belange in die Entwicklung nationaler Sicherheit einzubringen;
  • zu untersuchen, wie Verteidigungskomponenten als Instrumente der globalen US-Umweltpolitik dienen können.“ (Zitiert nach Ruff 1997: 83)

Dem DoD wird eine internationale Führerschaft in Fragen des Umweltschutzes zugebilligt, u.a. durch eine Reihe von Kooperationsprojekten. Genannt werden etwa die Implementierung des Montrealer Protokolls, Umweltteams in früheren Staaten des Warschauer Vertrags, eine »Kriegsspiel-Übung« zu den Kosten der Beseitigung von Rüstungsaltlasten in Rußland, eine trilaterale Umweltinitiative mit Kanada und Australien, eine Ostsee-Initiative, ein militärisches Umwelthandbuch sowie verschiedene NATO-Pilotprojekte zu Umweltfragen.

In entsprechender Weise haben sich auch andere Ministerien der Clinton-Administration zum Thema Umweltsicherheit geäußert oder eigene Initiativen zur Abwehr der Umweltbedohung in die Wege geleitet (eine Darstellung würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen; siehe die Dokumente auf der CES Homepage). Um die verschiedenen Anstrengungen zu koordinieren, wurde am 3. Juli 1996 ein »Memorandum of Understanding Concerning Cooperation in Environmental Security« zwischen der Umweltbehörde (Environmental Protection Agency), dem Energieministerium und dem DoD unterzeichnet. Ziel des Memorandums ist die Einrichtung eines breiten Kooperationsrahmens, der auch Verteidigungsaktivitäten und deren Energieversorgung und Abfallbeseitigung umfaßt. Ein zentrale Bedeutung wird Wissenschaft und Technik zugewiesen.

NATO: der größte Umweltschützer der Welt?

Die Beschäftigung mit Umweltproblemen hat auch in der NATO eine lange Tradition. Schon 1969 wurde der NATO-Umweltausschuß (CCMS: Committee on the Challenge of Modern Society) gegründet, in dessen Rahmen ein runder Tisch zu Umweltfragen eingerichtet wurde. In einem Bericht »Das Atlantische Bündnis und die Umweltkrise« aus dem Jahr 1971 heißt es vorausschauend, daß die Umweltkrise „sich letzten Endes als genauso ernst erweisen mag wie die Frage von Krieg und Frieden.'' (Krusewitz 1985: 39, 20 und Bächler 1993: Kap.4.3)

Bislang wurden zahlreiche CCMS-Studien zu den unterschiedlichsten Bereichen des Umweltschutzes durchgeführt. Eine Liste von Pilotstudien des CCMS vom Juni 1996 umfaßt 34 umweltbezogene Themen, von denen aber nur vier als verteidigungsrelevant angesehen werden. Letztere befassen sich vor allem mit grenzüberschreitenden Umweltproblemen durch Militäreinrichtungen und dem Schutz der Zivilbevölkerung vor militärischen Giftstoffen. Daneben wurden und werden eine Reihe von NATO-Forschungsworkshops veranstaltet. Allein für die Monate September bis November 1997 werden im Bereich Umweltsicherheit sechs Workshops nur für Osteuropa aufgelistet, die sich mit Themen befassen wie Biomarker, nachhaltige Bodennutzung, Verschmutzung des Schwarzen Meeres, Risiken radioaktiver Strahlung oder Kontamination militärischer Basen.

In einem von der Berliner Forschungsgruppe Ecologic (Gesellschaft für Internationale und Europäische Umweltforschung) erarbeiteten Zwischenbericht zur NATO/CCMS-Pilotstudie »Umwelt und Sicherheit im internationalen Kontext« werden zwei fundamentale Verbindungen von Umwelt und Sicherheit identifiziert (Carius 1996). Dabei geht es um Probleme der „Umweltdegradation (einschließlich Naturkatastrophen) und der Ressourcenerschöpfung oder -knappheit als Folge militärischer Aktivitäten in Zeiten des Friedens und des Krieges auf der einen Seite und als direkte oder indirekte Quelle von Konflikten auf der anderen Seite.“ (S.56) Ziel der Untersuchung sei es, eine Liste der Umweltprobleme zu bekommen, die zu Sicherheitsbedrohungen werden könnten. Diese seien auch unter dem Aspekt der nachhaltigen Entwicklung bevorzugt anzugehen: „Sicherheit im militärischen Sinne zu erreichen, ist eine Hauptbedingung für den Erfolg jeder Strategie, die auf die Erreichung von Nachhaltigkeit zielt. Dies liegt daran, daß gewalttätige Konflikte und die daraus folgende Zerstörung den Bemühungen um die Realisierung nachhaltiger Entwicklung notwendig widerspricht. Somit ist die Bewältigung von Umweltproblemen, die gewalttätige Konflikte verursachen oder dazu beitragen, selbst schon ein Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung. Umgekehrt kann nachhaltige Entwicklung als wesentliche Voraussetzung für Sicherheit angesehen werden, und ihre Realisierung wird die Umweltbedrohungen der Sicherheit vermindern.“(S.57)

Das Für und Wider ökologischer Sicherheit wurde bei einem von Ecologic gemeinsam mit dem Bundesumweltministerium am 3.und 4. Juli 1997 in Berlin veranstalteten Workshop diskutiert, an dem auch Vertreter mehrerer Regierungsbehörden teilnahmen. Während einige Teilnehmer einen direkten Zusammenhang zwischen Umwelt und Sicherheit in Frage stellten oder eine Einflußnahme des Militärs kritisierten, hielten andere das militärische Eingreifen in Umweltkatastrophen und -konflikten für erforderlich (Sprenger 1997). Besonders offensiv trat Major Volker Quante vom Generalstab der Bundeswehr auf, der unbeeindruckt von der vorgetragenen Kritik die Frage stellte, welche andere Institution als die NATO besser für die Bewältigung zukünftiger Umweltprobleme gerüstet sei.

Bewertung

Zweifellos bestehen Zusammenhänge zwischen Umwelt- und Sicherheitspolitik.3 Daß Umweltzerstörung ein wesentlicher Konfliktfaktor sein kann, kann nicht allein deswegen bestritten werden, weil Militärs es ausnutzen könnten. Es läßt sich auch wenig dagegen einwenden, Militär und Rüstung umweltverträglicher zu machen oder Ressourcen aus dem militärischen Bereich für die Nutzung im zivilen Umweltsektor zu konvertieren, sofern dies unter Kosten-Nutzen-Aspekten sinnvoll ist. Aus ökologischen Gesichtspunkten jedoch eine Rechtfertigung des militärischen Auftrags abzuleiten bedeutet, den »Bock zum Gärtner« zu machen (Vogt 1992).

Die Aufgaben und Instrumente in der Umwelt- und Sicherheitspolitik sind grundverschieden. Daß militärische Streitkräfte und Rüstung eine inhärente Zerstörungsfähigkeit besitzen, weiß jedes Kind. Eine auf Erhaltung, Bewahrung und Vorsorge gerichtete Umweltpolitik ist damit nicht zu erreichen. Militär, Rüstung und Krieg binden und verbrauchen in erheblichem Maße natürliche Ressourcen, sie belasten und zerstören die natürliche und soziale Umwelt in nicht-nachhaltiger Weise (Krusewitz 1985). Auch für die Lösung von Umweltkonflikten ist das Militär wenig geeignet; eher besteht die Gefahr, daß sich die militärisch Stärksten den Zugriff auf die von ihnen beanspruchten Naturressourcen sichern, auf Kosten Schwächerer. Fatal wäre es, wenn mögliche vorbeugende Umweltschutzmaßnahmen im Vertrauen auf militärische Umweltsicherheit unterlassen oder zugunsten militärischer Interessen geopfert würden.

Leider gibt es dafür Anzeichen. So berichtete das Militärblatt »Defense News« im Oktober 1997, vor Clintons eingangs erwähnter Rede, für Vertreter des Verteidigungsestablishments stelle eine umfassendere Klimakonvention eine „ernste Bedrohung der militärischen Trainings- und Kampfbereitschaft“ dar. Die für Umweltsicherheit zuständige Sherri Goodman wird zitiert mit einem Memorandum, demzufolge das Verteidigungsministerium für 73 Prozent des Energieverbrauchs der US-Regierung verantwortlich sei und bereits eine Reduzierung der Emissionen von militärischen Einsätzen um 10 Prozent „inakzeptable Auswirkungen für die nationale Sicherheit habe“. Eine solche Reduzierung würde dazu führen, daß die Armee ihr Panzertraining im Jahr um 328.000 Meilen verringern müßte, der Navy 2.000 Einsatztage weniger zur Verfügung stünden und die Luftwaffe auf 210.000 Flugstunden verzichten müßte (Holzer 1997).

Ganz abgesehen davon, daß eine durch eine Klimakonvention beförderte Abrüstung nicht negativ sein muß, entlarven diese Aussagen das neue Umweltbewußtsein des Pentagon eher als Tarnkappe denn als ernsthaftes Konzept. Wie sonst soll es vereinbar sein, daß eine Abteilung, die zur Abwehr von Umweltbedrohungen gegründet wurde, Abkommen zur Verminderung dieser Bedrohung wiederum als Bedrohung auffaßt? Was von der Umweltrhetorik letztlich übrig bleibt, ist die Erkenntnis, daß das Militär in erster Linie seine eigenen Interessen verfolgt und nicht die des Umweltschutzes. Militär, Rüstung und Krieg sind dann vor allem eins: Verursacher von Umweltzerstörung.

Literatur

Bächler, G / V. Böge / S. Klötzli / S. Libiszewski / K.R. Spillmann (1996): Kriegsursache Umweltzerstörung – Ökologische Konflikte in der Dritten Welt und Wege ihrer friedlichen Bearbeitung, Band 1, Zürich: Verlag Rüegger.

Bächler, G. / V. Böge / S. Klötzli / S. Libiszewski (1993): Umweltzerstörung: Krieg oder Kooperation?, Münster: agenda Verlag.

Brock, Lothar (1994): Friedensforschung im Zeichen immer neuer Kriege, AFB-Texte 1/94 (auch in: Frankfurter Rundschau, 09.05. 95).

Carius, A. / M. Kemper / S. Oberthür / D. Sprinz (1996): Environment and Security in an International Context, NATO/CCMS Pilot Study, Interim Report, October, in: Environmental Change and Security Project Report, Issue 3, Spring 1997, S. 65-65.

Daase, C. (1993): Ökologische Sicherheit: Konzept oder Leerformel?, in: B. Meyer, C. Wellmann, (Red.) Umweltzerstörung: Kriegsfolge und Kriegsursache.

Disarmament Study (1993): Potential Uses of Military-Related Resources for Protection of the Environment, New York: UN Office for Disarmament Affairs, 1991, abgedruckt in: Disarmament Study Series No.25, 1993.

Greenpeace-Magazin (1997): Sam likes it hot – Warum die USA Weltmeister im Energieverschwenden sind, November-Dezember.

Holzer, R. (1997): Pollution Treaty Poses Threat to U.S. Military, Defense News, Oct. 13-19.

Krusewitz, K. (1985): Umweltkrieg. Militär, Ökologie und Gesellschaft, Königstein/Ts..

Ruff, N. / R. Chamberlain / A. Cousteau (1997): Report on Applying Military and Security Assets to Environmental Problems, in: Environmental Change and Security Report, No.3, Spring 1997, S.82-95.

Scheffran, Jürgen (1992): Panzer gegen die ökologische Krise?, Spektrum der Wissenschaft, Nr.10, S. 128-132.

Sprenger, U. (1997): Gepanzert für die Öko-Schlacht?, Frankfurter Rundschau, 8.7.97.

Vogt, W. (1992): Militär und Umwelt(schutz) oder »Wenn der Bock sich als Gärtner aufspielt«, in: Meyer/Wellmann, S. 150-173.

Anmerkungen

1) So William Nordhaus, der mit Hilfe eines Modells schon die Bush-Administration überzeugen konnte, daß die Vermeidung des Klimawandels teurer sei als der nachträgliche Schutz vor den Folgen. Siehe W.D. Nordhaus, A Scetch of the Economics of the Greenhouse Effect, The American Economic Review, Vol.81, No.2, May 1991, pp. 146-150. Zurück

2) Diese und die im folgenden angesprochenen Zitate und Dokumente finden sich auf der WWW-Homepage des Center for Environmental Security (CES), http://w3.pnl.gov:2080/ces. Einige Dokumente sind auch abgedruckt in den halbjährlich erscheinenden Environmental Change and Security Project Reports des Woodrow Wilson Center sowie im Tagungsband: NATO/CCMS Environmental Security Conference, Preliminary Report, Center for Environmental Security, Pacific Northwest National Laboratory, September 1997. Die Übersetzungen der Zitate stammen vom Autor dieses Beitrags. Zurück

3) Zur Verbindung zwischen Frieden und nachhaltiger Entwicklung siehe die Diskussion in Wissenschaft und Frieden, 3/96. Zurück

Dr. Jürgen Scheffran ist wissenschaftlicher Assistent in der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit (IANUS) an der TH Darmstadt.

Bitte keine toten US-Bürger

Bitte keine toten US-Bürger

Zur sicherheitspolitischen Kultur der USA

von Jutta Koch

Am 3. Oktober 1993 war auf den Fernsehschirmen der Welt ein beklommen machendes und beschämendes Bild zu sehen: Ein nackter, weißer, männlicher Toter wurde von schwarzen jungen Männern gefesselt und an die Stoßstange eines Autos gebunden, durch den Staub geschleift. Es handelte sich um einen der achtzehn im Gefecht in der somalischen Hauptstadt Mogadischu getöteten U.S. Army Rangers. In den Monaten zuvor war die UNOSOM-Mission, welche die Vereinten Nationen (UN) im Frühling 1992 zur Rettung der vom Hunger bedrohten dortigen Bevölkerung eingesetzt hatte, aus dem Ruder gelaufen. Die USA hatten sich seit dem 9. Dezember 1992 mit eigenen Truppen beteiligt. Seit Mai 1993 hatte der vor Ort verantwortliche UN-Kommandeur, der amerikanische General Jonathan Howe, mit Einwilligung des UN-Generalsekretärs Butros Butros-Ghali die UNITAF in die Jagd nach dem Anführer eines somalischen Clans, Farah Aidid, verwandelt. Diesem schrieb man den Mord an pakistanischen UN-Soldaten zu. Wenige Tage nach der oben geschilderten, weltweit im Fernsehen übertragenen Szene verkündete US-Präsident Clinton den endgültigen Termin, an dem seine Truppen aus Somalia verschwunden sein würden: den 30. März 1994.

Manche Autoren hielten diesen bedingungslosen Rückzug der USA aus einem mitnichten befriedeten Land – weiteres Chaos und fortschreitender Staatszerfall waren dort programmiert – für einen Wendepunkt in der Sicherheitspolitik der einzigen verbliebenen Supermacht. Damit war die romantische Rhetorik des »assertive multilateralism« der neuen demokratischen Regierung wie auch das Konzept selbst historisch erledigt. So konnten auch Hoffnungen auf eine tiefgreifende Reform der seit zwölf Regierungsjahren republikanisch geprägten Politik als hinfällig gelten. Clinton reagierte nachgiebig und orientierte seine Außen- und Sicherheitspolitik fortan an den obersten Zielen der Reibungsarmut und Geräuschlosigkeit. Der Präsident, der sowieso als »weak on defense« galt, weil er die Teilnahme am Vietnamkrieg seinerzeit höchst geschmeidig umgangen hatte (wie viele andere, darunter auch der rechtskonservative Vizepräsident Bushs, Dan Quayle), erlebte mit dem Versuch, Homosexuelle offener in die Streitkräfte zu integrieren, den Fehlstart seiner Amtszeit. Das Ausmaß des dadurch hervorgerufenen Furors signalisierte, daß hier kulturelle Normen tangiert worden waren. Seitdem wurde es noch unwahrscheinlicher, daß Clinton in sicherheitspolitischen Dingen Mut etwa zu einschneidenderer Abrüstung zeigen würde. Mit Somalia wurde klar: Clinton riskierte kein politisches Vorhaben mehr, das nicht von vorneherein das Wohlgefallen der Spitzenmilitärs fand.

Nach der Euphorie des ungefährdeten Sieges der US-geführten Koalition über die irakischen Truppen Saddam Husseins im Februar 1991 sei klar geworden, so argumentierten die Kommentatoren, daß militärische Einsätze unter UN-Ägide im Desaster endeten. Dabei wurde geflissentlich ausgeblendet, welchen großen Anteil Howe und sein Land an dem Scheitern der drei Somalia-Missionen hatten. Man zog die Lehre, daß mit zunehmender Bedeutung des Militärischen und der Kampfesorientierung künftiger internationaler Konflikte ihre Handhabung durch die US-Regierung umso unilateraler ausfallen müsse. Desto klarer müßten auch in jedem Fall der Beteiligung von US-Soldaten diese das alleinige Kommando führen. Dies war eine Lektion, welche die US-Regierung im Mai 1994 als PDD (Presidential Directive) 25 publik machte.

Die fixe Terminierung des Rückzuges der US-Truppen aus Somalia, bei der die Kriegssituation vor Ort keinerlei Rolle spielte, wurde noch aus einem zweiten Grund mehrheitlich als Wendepunkt interpretiert: Die Vereinigten Staaten könnten eine aktive internationale, ja globale Sicherheitspolitik offensichtlich nur durchhalten, wenn die damit verbundenen Einsätze ihrer Truppen kaum oder gar keine Opfer unter den eigenen Leuten forderten.

Was ist dran an dieser neuartigen, verblüffend wirkenden »Immunitätsdoktrin« (Stanley Hoffman beschrieb sie ganz exakt als »America's new doctrine of American combattant immunity«), die einer, ja »der« Weltmacht schlechthin, zugeschrieben wird? Ist sie neu? Hat sie Ursachen und Folgen? Was soll das, fragt mensch sich irritiert: eine globale Militärpolitik, die eigene Tote kaum und auch gegnerische Tote nur schlecht »verkraftet«?

Der Ursprung

Formuliert wurde der Vorläufer dieser Überlegungen vom Lieblingsfeind der Friedensbewegten in den 1980er Jahren, dem damaligen US-Verteidigungsminister Caspar Weinberger, Ende November 1984 bei einem Vortrag in Washington D.C. Er nannte sechs Kriterien, die erfüllt sein müßten, bevor dem Einsatz von US-Soldaten in Konflikten oder Kriegen verantwortungsvollerweise zugestimmt werden könne. Diese galten der Reagan-Regierung als so heikel, daß sie erst nach der Wiederwahl der Öffentlichkeit präsentiert werden durften.

Weinberger forderte Einsatz (1) nur bei vitalen nationalen Interessen, der Einsatz müsse dann (2) mit klarer Gewinnabsicht erfolgen, zu diesem Zweck müßten (3) klar definierte politische Ziele, eine konsistente Strategie und angemessene Streitkräfte festgelegt werden. (4) Regelmäßig müßte das Verhältnis von Zielen und Mitteln überprüft werden; (5) Bevölkerung und Kongreß müßten den Einsatz mehrheitlich unterstützen; (6) der Einsatz dürfe nur das letzte verfügbare Mittel zur Lösung eines Konfliktes darstellen (Haass, 1994).

Warum galt dieser Katalog wohl vielerorts als höchst problematisch? Etliche Soldaten mochten sich bei ihrer Ablehnung eines solchen expliziten Kriterienkataloges an die Praxis der Einmischung maßgeblicher Politiker in konkrete militärpolitische Entscheidungen vor Ort – insbesondere der Frage, wo heute zu bombardieren sei – während des Vietnamkrieges erinnern. Darin lag in den Augen vieler Offiziere ein fatales, den Kriegsverlust mitverursachendes Fehlverhalten der Politiker, welche die Mechanismen, aber auch die Grenzen ihrer zivilen Kontrolle über Militärpolitik nicht verstanden hätten.

Andererseits fanden diesen Weinberger-Katalog einige Politiker vor allem aus dem State Department nicht gut, weil sie ihn wohl für zu restriktiv hielten – er werde Militäreinsätze zu verhindern helfen, deren Durchführung sie selbst befürworteten.

»Ziviles« und »militärisches« Denken

Diese hier nur grob skizzierbaren Gruppenreaktionen bilden eine bedeutsame Tendenz ab, die sich bei genauem Hinsehen schon in den 1950er Jahren gezeigt hat, die also nicht erst eine Konsequenz des 1975 endgültig verlorenen Vietnamkrieges darstellt: Außenpolitiker mit einem zivilen Hintergrund haben in den Jahrzehnten der US-Außenpolitik seit dem Zweiten Weltkrieg zunehmend frühzeitiger und leichtfertiger zu einem Einsatz von US-Truppen in Konflikten geraten, als es die militärischen Führer guthießen. Breit dokumentiert etwa ist der profunde und eindeutig ablehnende Rat des damaligen Chefs der U.S. Army, Matthew Ridgway, 1954 gegenüber Präsident Eisenhower (seinerseits ein weltberühmter Ex-General, der offensichtlich bereit war, militärischem Rat zuzuhören), was die damals diskutierte Einmischung von amerikanischen Soldaten in den Indochina-Konflikt nach der französischen Niederlage von Dien Bien Phu betraf (Murray 1997). Eisenhower ließ sich von Ridgway überzeugen und folgte dessen Argument, die Unwägbarkeiten im Gefolge einer US-Intervention stünden in keinem vernünftigen Verhältnis zu den dadurch entstehenden Kosten.

Diese Gruppenreaktionen von »zivilen« und »militärischen« Politikern verweisen auch (was an dieser Stelle nicht weiter auszuführen möglich ist) darauf, daß die durch Anführungsstriche ironisierte Unterscheidung häufig keine verläßliche inhaltliche Trennung politischer Inhalte von Sicherheitspolitik mehr ermöglicht. Es hat über diese Einsicht hinaus offensichtlich sogar so etwas wie eine Umkehrung der Fronten stattgefunden: Für eine militäraffine Politik, für den frühzeitigen, u.U. aggressiv-offensiven Einsatz von Streitkräften im Krisenfall, argumentieren zunehmend Zivilisten.

Die zivil-militärischen Beziehungen in den Vereinigten Staaten von Amerika sind, so beklagen derzeit auch Konservative gerne, in einem strukturell problembeladenen Zustand. Dabei geht es nicht um einen bevorstehenden Coup d'État der Streitkräfte, sondern um den Verlust selbstverständlich gewesener Grenzziehungen zwischen der zivilen und der militärischen Sphäre, um die »Politisierung« des Militärs, um die wachsende Distanz zwischen ziviler Gesellschaft und Streitkräften in den USA seit der Einführung der Berufsarmee 1973 sowie um die Zentralisierung militärischer Macht beim Vorsitzenden des Teilstreitkräfte, wie sie infolge der Goldwater-Nichols-Reform von 1986 erfolgt ist (Bacevich 1997, Cohen 1997).

Eine an Militärpolitik überhaupt nicht interessierte politische Elite, die sich in indifferente Kritiker, uninformierte Skeptiker und uninformierte Verherrlicher unterteilen lasse, gefährde die politisch-zivile Kontrolle von demokratischer Militärpolitik grundlegend. Gerade die letzte der genannten Gruppen lasse jedes Gespür für eine gesunde Skepsis gegenüber den Streitkräften und ihrer jeweiligen »institutionellen Kultur« (Bacevich) vermissen (Cohen 1997: 185).

Ursachen & Folgen

Die Aufzählung der mutmaßlichen Ursachen der skizzierten Immunitätsdoktrin, der »casualty sensitivity« bei Politikern und Offizieren, muß mit dem Verlust des Vietnam-Krieges beginnen. Konservative Politiker und die meisten Soldaten glauben, daß die – technologiefixierten, arroganten, auf Quantifizierung von Strategien fixierten – Politiker den Verlust des Krieges verursacht haben. (Dafür spricht vieles.) Die Stimmung in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre war sowohl in der US-Gesellschaft als auch in den Teilstreitkräften selbst von Verunsicherung gekennzeichnet. Aus dieser Atmosphäre half Ronald Reagan mit seiner einnehmenden, zuversichtlichen, einfachen und rückwärtsgewandten Botschaft heraus. Er versprach Aufrüstung, Optimismus und Stärke. Dennoch geschah unter seiner Ägide im Oktober 1982 ein militärisches Desaster – 241 Marines, die dort Bestandteil einer Peacekeeping-Mission waren, wurden in Beirut in die Luft gesprengt. Etwa ein Jahr später marschierten überdimensionierte US-Truppen in dem karibischen Inselstaat Grenada ein, um eine pro-kubanische Regierung abzusetzen, wobei 18 US-Soldaten starben (Conversino, 1997).

Mit anderen Worten: Gerade die aufrüstungsfreudige Reagan-Administration mußte angesichts dieser Ereignisse Anstrengungen unternehmen, um die Effizienz ihrer Politik der »nationalen Sicherheit« unter Beweis zu stellen. Militärische Qualität mußte sich an der Fähigkeit messen lassen, das Leben der eigenen Soldaten gerade in kleineren, begrenzten Konflikten wirksam zu schützen.

Diese Anforderung wurde als Leitlinie der US-Sicherheitspolitik im Laufe der 1980er Jahre umso bedeutsamer, je weniger bedrohlich die internationale Situation wirkte. Bereits Ende 1986 gab es ernste Anzeichen, daß Gorbatschow es mit Abrüstung und struktureller Defensivierung seiner Streitkräfte ernst meinte. Bereits Jahre vor dem Fall der Berliner Mauer taugte das Militärpotential des Warschauer Paktes nicht mehr zur selbstverständlichen Legitimation von US-Militärpolitik. Dieser Befund spitzte sich seit 1990 zu: Unklare Fronten mündeten in ungeklärten »Interventionsbedarf«. Statt des Kampfes gegen den Weltkommunismus und seine Stellvertreter, den Reagan Mitte der 1980er Jahre in Lateinamerika nicht mehr mit Unterstützung des Kongresses, sondern nur noch illegal vorantreiben konnte, geriet die Sicherung des freien Zugangs zu den ergiebigen Ölreserven der Welt auf dem Zielkatalog der US-Sicherheitspolitik ganz nach oben. Genau besehen war aber auch dies überhaupt keine Neuerung – bereits Jimmy Carters Verteidigungsminister Harold Brown hatte 1979 eine entsprechende Doktrin formuliert, die den Anspruch auf weltweite Intervention für den Fall untermauerte, daß für die USA der Zugang zu diesen Ressourcen versperrt werden sollte.

Klar war also letztlich trotz des zweiten Golfkrieges, daß es für die weltweit konkurrenzlosen Truppen der USA keine eindeutig umrissene Aufgabenstellung mehr gab: Die militärische Unterstützung von UN-Missionen galt aus den oben beschriebenen Gründen nicht als adäquat, war »politically not correct«; für unilaterale Maßnahmen war die Legitimationsbeschaffung ungeheuer schwierig und höchstens in zeitlich strikt begrenzten Konfliktphasen akzeptabel. Die Mission in Haiti sowie die IFOR- und SFOR-Einsätze im früheren Jugoslawien haben entsprechende Charakteristika herausgebildet.

Daraus folgte, daß – durch die institutionelle Brille gesehen – nur die NATO mit ihrer in Jahrzehnten gebildeten, von den USA dominierten Struktur, in einer spezifischen Arbeitsteilung mit den deutschen Streitkräften, den angemessenen Legitimationsumfang zur Verfügung stellen konnte. Das dürfte vorerst so bleiben, obwohl die NATO-Osterweiterung die Debatte über den eigentlichen Sinn und Zweck der Nordatlantischen Allianz nur vorübergehend ruhiggestellt hat. Ohne diese Erweiterung hätte es um die Zukunft der NATO für die amerikanische öffentliche Meinung schlecht ausgesehen.

Die seit dem Ende des Kalten Krieges gewachsene Schwierigkeit, Militäreinsätze in der Öffentlichkeit zu legitimieren, bedrängt die sicherheitspolitischen Eliten. So sind sie einerseits gehalten, stets auf die anfallenden Kosten zu sehen; andererseits hat die Informationspolitik zur Vorbereitung und Begleitung militärischer Kampagnen einen zentralen Stellenwert. Militärische Zensur hat es während der meisten Kriege gegeben, welche die USA geführt haben.

Relativ neu ist die einigermaßen skandalöse Rigidität professioneller PR-Kampagnen, welche die US-Regierung institutionalisiert hat. Mittlerweile wird grundsätzlich verhindert, daß Journalisten Kampfverläufe selbst in Augenschein nehmen und ohne Begleitung durch Presseoffiziere mit Betroffenen sprechen können. Diese Anti-Öffentlichkeits-Politik hatte übrigens Margaret Thatcher zum erstenmal im Falklandkrieg exerziert. Daher kamen kritisierenswerte Aspekte sowohl der Panama-Intervention im Dezember 1989 als auch des zweiten Golfkrieges verzögert, vereinzelt und so lang wie möglich vom Pentagon abgestritten ans Tageslicht. Die PR-Agenturen arbeiten auch mit gezielter Fehlinformation, um die Öffentlichkeit emotional in die gewünschte Richtung zu drängen – berüchtigtes Beispiel ist die TV-Darstellung vom Mord an irakischen Babies durch eine von der kuwaitischen Regierung angeheuerte PR-Agentur, über die später bekannt wurde, daß eine weinende irakische Mutter von der Tochter des kuweitischen Botschafters in Washington gespielt worden war (MacArthur 1992).

Was das soll

Die Legitimationsbeschaffung für Interventionen und militärische Konfliktbeteiligungen in der Welt ist für die sicherheitspolitischen Eliten schwieriger geworden und mit mehr Aufwand als früher verbunden. Obwohl hier auch hin und wieder vorgebrachte empirische Einwände (Conversino 1997) und kritische Stimmen (Noonan 1997)) zu lesen sind, stimmt die überwältigende Mehrheit der Kommentatoren der US-Sicherheitspolitik in der Auffassung überein, daß die niedrige Opferrate und die damit verbundene öffentliche Unterstützung der Teilnahme von US-Soldaten bei solchen Einsätzen die entscheidenden Bedingungen für ihre Akzeptanz und Durchführbarkeit darstellen. Luttwak hat dies »postheroische« Sicherheitspolitik genannt. Fußend auf der Weinberger-Doktrin, wurden sie in der Powell-Doktrin und der Clinton-Doktrin (Stevenson 1996) ausformuliert.

Hier soll abschließend die These riskiert werden, daß es sich nicht um einen Zufall handelt, der die Weinberger-Kriterien in die Clinton-Doktrin hat münden lassen, der Republicans und Democrats an einem militärpolitischen Strang ziehen läßt, der die Administration Kriterien bedenken und Vorkehrungen aller Art treffen läßt, um während oder nach einer Kriegsteilnahme keine toten US-Soldaten nach Hause fliegen zu müssen: Diese Immunitätsdoktrin ist vielmehr ein signifikanter Bestandteil der sicherheitspolitischen Kultur der Vereinigten Staaten, die von den Eliten des Landes unter Interpretation dessen ausgebildet worden ist, was sie für die Vorlieben und Neigungen ihrer Bevölkerung zum Sujet halten. (Daß sich diese Eliten dabei durchaus verschätzen, ist natürlich alles andere als erstaunlich, soll aber hier nicht weiter vertieft werden, weil die These nicht von einem Gegensatz der Eliten zur Bevölkerung abhängt bzw. falsifiziert wird.)

Es gibt mehrere Gründe, die eine kulturelle Erklärung für die »postheroische« Sicherheitspolitik der Vereinigten Staaten von Amerika nahelegen. Zu den gewichtigsten gehört, daß auf andere Weise bestimmte – oben skizzierte – Kontinuitäten der US-Sicherheitspolitik, die den scheinbaren Bruch durch das Ende des Ost-West-Konflikts mühelos überstanden haben, nicht begreifbar sind.

Literatur

Bacevich, A.J. (1997): Tradition Abandoned. America's Military in a New Era. In: the National Interest (Summer) 16-25.

Cohen, Eliot A. (1997): Civil-Military Relations. In: Orbis 41 (Spring) 2, 177-186.

Conversino, (Major) Mark J. (1997): Sawdust Superpower: Perceptions of U.S.Casualty Tolerance in the Post-Gulf War Era. In: Strategic Review (Winter), 15-23.

Haass, Richard N. (1994): Intervention. The Use of American Military Force in the Post-Cold War World, Washington.

Hoffmann, Stanley (1995/96): The Politics and Ethics of Military Intervention. In: Survival 37 (Winter 1995/96) 4, 29-51.

Luttwak, Edward N. (1996): A Post-Heroic Military Policy. In: Foreign Affairs 75 (July/August) 4, 33-44.

MacArthur, John R. (1992): Second Front. Censorship and Propaganda in the Gulf War, New York.

Murray, Williamson (1997): Clausewitz Out, Computer In. In: The National Interest (Summer) 48, 57-64.

Noonan, Michael P. (1997): The Illusion of Bloodless Victories. In: Orbis 41 (Spring) 2, 308-320.

Stevenson, Charles A. (1996): The Evolving Clinton Doctrine on the Use of Forces. In: Armed Forces and Society 22 (Summer) 4, 511-535.

Jutta Koch ist Mitarbeiterin im Deutschen Bundestag und freie Publizistin

Der Drache wird nicht immer siegen

Der Drache wird nicht immer siegen

Alltagsnotizen aus dem anderen Amerika

von Dorothee Sölle

Seit über fünf Jahren war ich nicht mehr in den Vereinigten Staaten. Ich will wissen, was sich alles verändert hat, politisch, im Lebensstil, geistig, religiös. Stimmt es, daß sich die Werte der Rechten – Besitz, Leistung, die patriarchal organisierte Familie, der Rückzug des Staates aus allen sozialen Bereichen und dafür mehr Kontrolle, Polizei, freier Waffenhandel und Gefängnisse – endgültig durchgesetzt haben? Zunächst lerne ich lauter neue Wörter: Schwarze heißen jetzt »african americans«, zur politischen Korrekheit gehört es, nicht nur die verschiedenen Rassen und Geschlechter, sondern auch verschiedene sexuelle Orientierungen samt den »transgendered« Leuten zu erwähnen. Ich frage unschuldig nach, werde aber beruhigt, es geht um die Überwindung der anerzogenen Geschlechtsrollen.

»Globalization« ist ein anderes neues Zauberwort, damit ist der Prozeß gemeint, in dem sich die nationalen Märkte für das Finanzkapital zum globalen Markt zusammengeschlossen haben. Wieviel Angst diese Wirtschaftsglobalisierung der Großen nicht nur für das überflüssige untere Drittel der Bevölkerung, sondern auch für die bedrohte Mittelklasse macht, zeigt sich mir bei einer Konferenz zu diesem Thema in New York: statt der erwarteten 500 TeilnehmerInnen standen plötzlich 2.500 vor den Türen der Columbia Universität. Globalisierung hat auch eine kulturelle Innenseite und ist zweifellos zur Zeit die wichtigste theologische Mode: Auch die Religionen sollen sich endlich entregionalisieren, von ihren Alleinansprüchen lösen, um sich auf dem gemeinsamen Markt verkaufen zu können.

Meine erste Station in den Staaten in einer kleinen Universitätsstadt in Oregon brachte mich gleich in Kontakt mit dieser neuen Gestalt des Miteinander von Juden, Katholiken, Protestanten und den Sympathisanten all dieser verschiedenen religiösen Gruppen. Eine Gruppe von Laien organisiert jeden Herbst eine Reihe von Vorlesungen zu gegenwärtigen religiösen Fragen, mein Thema war: Nach der Shoah: Erinnerung, Schmerz und Hoffnung. Die gut besuchten Veranstaltungen fanden in einer lutherischen Kirche statt, in einen liturgischen Rahmen eingebettet. Ein Kirchenmusiker hatte eine neue Hymne zu diesem Thema verfaßt, in der die Fragen nach der Allgüte des allmächtigen Gottes radikal und religionskritisch gestellt wurden. Mich faszinierte diese Mischung aus Tradition und Erneuerung. „Toleranz ist nicht genug, sagte mir ein jüdischer Gelehrter im Nachgespräch, sehr bewegt, ich habe noch nie so verstanden, was ein wirklicher Dialog ist, ein voneinander lernen.“

In diesem Zusammenhang lernte ich Leute kennen, die in Eugene ein Zentrum für Überlebende der Folter in Lateinamerika gegründet haben. Bei diesen Freunden der Überlebenden, den »amigos de los sobreviventes« traf ich eine junge Frau aus Guatemala, die nach furchtbaren Schlägen auf den Kopf erblindet ist. Sie ist auch psychisch traumatisiert. Gordie, die zu den Schwestern von Loretto gehört, die dem Vatikan schon lange wegen ihrer Friedensliebe verdächtig sind, geht mit ihr zu den Krankenhäusern, zur psychologischen Therapie, sie organisiert kostenfreie Behandlung für Menschen ohne Paß und Legitimation – in einer Zeit, da es in kalifornischen Krankenhäusern und Schulen seit neuestem verboten ist, illegale Einwanderer und ihre Kinder überhaupt aufzunehmen – falls nicht der Oberste Gerichtshof diese Gesetzesvorlage doch noch als verfassungswidrig erklärt.

Multi-Kulti und Globalisierung wird überall im virtuellen Bereich groß gehandelt, in der Praxis der Regionen allerdings sieht es anders aus. Eine Freundin in San Francisco berichtet mir von den Trennungen zwischen Nord und Süd, Reich und Arm. Früher stand an der Grenze zwischen USA und Mexiko eine kleine Bude für Süßigkeiten. Eines Tages vor 20 Jahren wurde ein Hühnerzaun errichtet, später ein höherer, aber immer noch so, daß die Gringokinder und die Mexikanos Baseball über den Zaun spielen konnten. Erst 1990, ironischerweise kurz nach dem Fall der Berliner Mauer, wurde dort ein riesiger Stahlzaun aus Kriegsmaterialien errichtet. Kein Durchkommen mehr, kein Zwischenhandel, kein Verwandtenbesuch, es sei denn für wohlhabende Geschäftsleute und Paßbesitzer. Alle anderen Grenzgänger werden stundenlang festgehalten, untersucht und weggeschickt. Die Region verödet. Koreanische Textilfirmen, die nicht steuerpflichtig sind und keine Rücksichten auf die Gesundheit der Arbeiterinnen nehmen müssen, siedeln sich hinter dieser Mauer zwischen Nord und Süd an. Eine christliche Gruppe, die dort im Interesse der rechtlosen Frauen eine Art Grenzbereich-Theologie, »borderline theology«, betreibt, ein wenig ökonomischen Nachhilfeunterricht geben wollte, erhielt von einer der Frauen die Antwort: „Wir brauchen keine leicht gefaßte Erklärung, die Inflation, die Verarmung, das ist unser tägliches Brot!“ Ich erinnere mich, daß ich vor 20 Jahren in USA den Ausdruck die »Unbeschäftigbaren« (the »unemployable«), die in den Arbeitslosenstatistiken nicht mitgerechnet werden, kennenlernte; heute spricht man gern von den »expendable«, dem entbehrlichen Drittel der Bevölkerung, die überflüssig sind, weil sie weder etwas produzieren noch Nennenswertes konsumieren.

Etwas sauberer als vor fünf Jahren ist die Stadt New York schon geworden, es liegt weniger Abfall auf den Straßen herum. Eine Erklärung für diese Beobachtung der ersten halben Stunde höre ich später: es gibt – endlich – ein noch unvollständiges Recycling-system. Flaschen, Dosen und Zeitungspapier wird von Obdachlosen gesammelt, einer von ihnen hat die Sache organisiert und läßt, reich geworden, seine Lastwagen durch die Stadt fahren.

Ich besuche meine alte theologische Schule und feiere einen der halbstündigen Gottesdienste, wie sie dort viermal in der Woche stattfinden. Es ist der 9. November und drei junge Frauen aus Holland, Bulgarien und Deutschland haben in kurzen Beiträgen ihre Erfahrungen mit dem Fall der Berliner Mauer zusammengestellt. Die Bulgarin erzählt, wie schwierig es für sie ist, zu Europa zu gehören und ausschließlich bemitleidet zu werden! Die junge deutsche Frau erinnert an die Kristallnacht von 1938. Und »Gott ist Gedächtnis« ist auch das Thema meiner kurzen Meditation. Ich reflektiere das schöne englische Wort für »sich erinnern«, »to re-member«, wieder ein Mitglied der menschlichen Familie zu werden.

Ein Nachmittagsausflug in die »Hauptstadt der Kultur« konfrontiert mich wieder mit den immer noch wachsenden Widersprüchen des Lebens hier. Mit einer Freundin besuche ich ein Konzert im Lincoln-Center, Kurt Masur dirigiert. Im Programmheft liegt ein Beileidsbrief an die Mitglieder der Israelischen Philharmonie, Rabin war zwei Wochen vor seiner Ermordung zu Gast in New York und hörte dort die neunte Symphonie von Beethoven. Das Nachdenken über dieses Ereignis bewegt hier alle, vor allem, weil die Gruppe, die den Mord geistig und finanziell vorbereitete, von Brooklyn aus gesteuert wird. Der fundamentalistische Rabbi, der das Land für von Gott an Israel gegeben hält, also nicht gegen Frieden austauschbar, ist zwar als Terrorist verboten, aber die Sache geht weiter. Der größte Schock ist, daß ein Grundgefühl jüdischer Menschen zerstört wurde; die Menschen in Israel wurden als eine Familie empfunden. Später rufe ich einen jüdisch-amerikanischen Freund an, der mir die erste Frage „how are you?“ fast übelnimmt. „Wie soll es mir gehen, jetzt“, sagt er traurig.

Als wir das wie immer lichtergeschmückte Lincoln-Center verlassen, besuchen wir einen Obdachlosen, den meine Freundin seit sechs Jahren kennt. Sie bringt ihm warme Sachen mit, Unterwäsche und eine Hose für »outdoors«. Er lebt sommers wie winters, Tag und Nacht auf der Straße. „Mein Körper richtet sich nach den Jahreszeiten“, sagt er und ist nie erkältet. Er hält seine Zehen ununterbrochen in Bewegung, um nicht zu erfrieren. Früher war er Sportler, er wirkt sehr diszipliniert. Ich bin vor Jahren schon einmal länger bei Obdachlosen auf der Straße gewesen, habe heißen Kaffee verteilt und mich unterhalten. Meine Freundin stellt mich als »Dorothee aus Deutschland« vor, und er antwortet ruhig, heiter, herzlich. „Oh, ich kenne dich, du warst schon mal hier“. Mir fällt wieder ein, wie er aussah, als nur sein Kopf aus dem Pappkarton, den er sich allabendlich zusammenstellt, hervorlugte. Damals habe ich ihn gefragt, ob er die Geschichte von Noah und der großen Flut kenne, dieses Papphaus hat mich an die Arche erinnert und New Yorks wachsende Elendsviertel lassen sich mit der großen Flut vergleichen. Heute unterhalten Scott und wir beiden Mittelklassedamen uns vorzüglich auf einer Bank sitzend im Süden Manhattans. Ein Auto hält dicht vor uns an, wir werden von zwei Männern – Polizei? Kripo?, ich weiß es nicht – beobachtet, aber als sie sehen, wie heiter wir lachen, fahren sie weiter. Scott bringt uns, es ist uns zu kalt geworden, zwei Blocks weiter zur U-Bahn, weiter traut er sich nicht. Janet erzählt mir, daß er sich von Dämonen umstellt glaubt, ich habe nichts Neurotisches an ihm bemerkt, er weiß nicht nur, daß Hamburg eine berühmte Rotlichtszene hat, sondern kennt sogar – und spricht mühsam aus – den Ort »Kaiserslautern«, den Ort, wo die meisten amerikanischen Soldaten stationiert waren.

Ein früherer Student von mir, Japaner, erzählt so begeistert von der schwarzen Gemeinde in Harlem, daß ich mit ein paar anderen Europäerinnen dort zum Gottesdienst gehe. „Ihr müßt eine halbe Stunde früher dasein, die Kirche ist bis auf den letzten Platz gefüllt“. In dieser Vorzeit wird Musik gemacht, »Sunday-school«, eine Einrichtung, für die es kein deutsches Wort gibt, für etwa 30 ältere Frauen abgehalten. Zwei Chöre singen abwechselnd, alle Teilnehmer kennen die Lieder und singen mit oder feuern durch Rufe, Aufspringen und Klatschen an. Der Millionenmarsch von schwarzen Männern nach Washington liegt wenige Wochen zurück, ein jüngerer Geschäftsmann, sorgfältig gekleidet, wie fast alle hier, (nur unsere beiden Studentinnen in Jeans fallen etwas aus dem Rahmen!) berichtet über das Treffen und wirbt für den Zusammenschluß schwarzer Männer. Ist es eine neue Bürgerrechtsbewegung, die hier entsteht, frage ich mich, die sich gegen den allgegenwärtigen Rechtsruck, den Abbau des Gesundheitssystems, die Vernachlässigung der öffentlichen Schulen und die Tatsache, daß jeder vierte junge »african american« im Gefängnis sitzt, in dem Land, das weltweit die höchste Anzahl von Gefängnissen pro Kopf der Weltbevölkerung hat und ständig neue baut, statt sich um Schulen, Arbeitsplätze und erschwingliche Wohnungen zu kümmern? Aber kritische Töne dieserart fehlen, die Predigt in diesem Gottesdienst ist ganz auf der Linie einer moralischen Erneuerung, die Farakan vertritt: Selbstverantwortung, die eigene Freiheit wahrnehmen, sich selber nicht ständig als Opfer ansehen, sondern ebenso als Täter. „Madison Avenue, so der schwarze Prediger über die Macht der Werbung, macht die Freiheit kaputt!“, gegen den Konsumismus, der mit seinen Zwängen gerade die Kinder der Armen, die mithalten wollen, es aber nicht können, zerstört. Wir Besucherinnen diskutieren hinterher nicht nur diese jede andere Erziehung zerstörenden Zwänge, sondern auch die Ziele der Söhne des Islam. Es ist eine Männerbewegung, ein Ruf zu schwarzem Stolz und schwarzer Verantwortung, über Farakan, von dem horrende antisemitische und sexistische Äußerungen bekannt sind, können wir uns nicht einigen; vielleicht ist die Bewegung selber wichtiger als dieser Anführer.

Schwarzen Stolz und eine neue Selbstgewißheit erlebe ich später auf der großen alljährlichen Religionskonferenz der American Academy of Religion (AAR) unter den schwarzen Theologinnen. Ich habe selten auf einer wissenschaftlichen Versammlung so viel Feuer und Leidenschaft, rückhaltlose Ehrlichkeit und Frömmigkeit, Humor und Heiterkeit, Suche und Gewißheit, ausgeprägte Individualität und Gemeinsamkeit erlebt wie unter den »womanists«, wie die schwarzen Feministinnen in Amerika sich nennen. Ich kam mit dem glücklichen Gefühl aus dieser Versammlung, daß die Religion nicht tot ist, höchstens bei uns, daß das goldene Kalb nicht überall angebetet wird und daß die Frauen nicht unterzukriegen sind.

Die beste öffentliche Veranstaltung auf dieser Konferenz von 3.000 war ebenfalls von einer schwarzen Frau bestimmt, es war die Lesung der Literaturnobelpreisträgerin Tony Morrison. Ich kannte ihre Bücher, vor allem »Menschenskind«, den nach meiner Meinung besten amerikanischen Roman der letzten 30 Jahre, Morrisons sprachliche Kraft und Präzision, ihr kreativer Reichtum der Erfindung, was Geschichten und Figuren angeht – aber ich hatte sie noch nie gesehen und gehört. Eine große füllige ältere Frau, die mit ihrem Auftreten eine gespannte Stille herstellt, die langsam und klar artikuliert spricht, jedes Wort zählt, jedes Gefühl überträgt sich, jeder Gedanke ruft nach dem nächsten, man vergißt zu atmen, nichts lenkt ab. »Präsenz« ist ein großes Wort für solche Erlebnisse, die reine Gegenwart in dem wunderbaren Sinn, den dieses deutsche Wort aus »gegen«-über-sein und warten enthält.

Meine letzte Station in den Staaten war Cambridge bei Boston und der Ort, wo ich am meisten Natur und Landschaft, die Reste des berühmten »indian summer« und seiner roten Wälder erlebte. Jeden Morgen spazierte ich mit meiner Freundin und ihren drei riesigen Hunden eine Stunde durch den Park am Ufer eines Stausees. Vor einigen Jahren fand sich in diesem Park plötzlich mitten im Wald auf einem Hügel ein großer Marmorblock, eine Bank zum Sitzen einladend, niemand wußte woher und von wem. Die Behörden rätselten monatelang, ob dieses unbefugte Aufstellen eines Denkmals statthaft sei, sie versuchten vergeblich, es zu entfernen, es hätte anderer Maschinen bedurft, um das Trumm wieder wegzuschaffen. Außerdem war er an einer Stelle, von der aus man den See überblicken kann, gelegen, einige Sätze aus Virginia Woolfs Buch Orlando waren eingeritzt, viele Wanderer fühlten sich angezogen. So blieb die seltsame Bank, Ausdruck der immer noch lebendigen Anarchie Neuenglands, stehen. Vielleicht so mutmaßten Freunde, ist er ein Totengedenken, daß ein reicher Mann seinem jüngeren an Aids gestorbene Freund setzen wollte. Wir werden es nicht wissen. Ich fühlte mich an Henry Thoreau, den Widerstandsphilosophen des 19. Jahrhunderts, der eine Zeitlang unweit von hier am Waldensee in einer Blockhütte fern aller Zivilisation gelebt hat, erinnert. Ich kann immer noch nicht glauben, daß die Tradition des zivilen Ungehorsams gegen den Staat und die der selbstgenügsamen Verweigerung des Luxus und seiner tausendfältigen Optionen, daß diese freigewählte Einfachheit des Lebens, die Thoreau »simplicity« nannte, ausgestorben sein sollen. Sie haben es allerdings nicht leicht, diese Traditionen eines anderen Amerika.

Eine der schönsten menschlichen Begegnungen war die mit zwei Frauen, die in den letzten zwanzig Jahren mit den und für die Armen in Roxbury, dem schwarzen Elendsviertel in Boston gelebt haben. Sie hatten einen Vortrag von mir gehört, und weil »Gerechtigkeit, nicht Almosen!« ihr Lebensthema ist, sitzen wir für Stunden beim Lunch zusammen. Kip Tiernan, eine drahtige Weißhaarige, mit scharfgeschnittenem Profil und einem noch schärfer funktionierenden Mundwerk, hatte zuvor ihr eigenes Geschäft für Werbung und Öffentlichkeitsarbeit. Ihre Partnerin, Fran Froehlich, war über 15 Jahre lang Nonne in einem karitativen Orden. Beide sind Christinnen in der Tradition des Catholic Worker.

Kip erzählt, wie sie dazu kam, eine Unterkunft für obdachlose Frauen, »Rosies Place« zu organisieren. „Eine Zeitlang hatte ich beobachtet, daß Frauen sich als Männer verkleideten, um eine warme Mahlzeit in einer der Männerunterkünfte zu bekommen. Frauen wußten nicht wohin. Ich fing an, immer mehr obdachlose Frauen auf der Straße wahrzunehmen. Ich schrieb einen Brief an 50 oder 60 karitative Organisationen, wir müßten etwas für obdachlose Frauen tun. Sie antworteten mir, es gäbe keine. Wir alle erlauben uns ja in diesem Land eine ständige Verleugnung der Realität. In einem aufgegebenen Lebensmittelladen, den wir für einen Dollar im Jahr von den Behörden überlassen bekamen, öffneten wir die Notunterkunft – und waren in einem Monat total überfüllt.“

Das South End Viertel von Boston war eine der ersten Gegenden, die die Banken Anfang der siebziger Jahre rot umzirkelten, dorthin wurden keine Kredite mehr gegeben. Später kamen dann die Stadtentwickler, die dafür sorgten, daß die armen Leute aus den verfallenen Häusern herausgeworfen wurden und die »Gentrification«, die Veredelung der innerstädtischen Armenviertel, begann. „Ich merkte,“ sagte Kip, „daß all meine Bemühungen zwar helfende Hände waren, aber daß sich nichts änderte, ich konnte die Obdachlosigkeit nicht verhüten, die Armut nicht stoppen, und wenn ich ehrlich hinsehe, half ich sogar, die Probleme zu verewigen.“ Im Laufe der Jahre wurden immer mehr staatliche Notunterkünfte, »shelters«, gebaut, wohl um den häßlichen Anblick der Verelendeten zu verbergen, aber es gibt keine Aussicht auf erschwingliche Wohnungen. Tausende von Menschen wurden von den Wohlfahrtslisten gestrichen, der Gesundheitsversorgung beraubt, medizinische und zahnärztliche Hilfe zu erlangen wurde so kompliziert, daß die meisten Armen, vor allem die Alten und Verwirrten, es aufgeben. Kip nimmt kein Blatt vor den Mund. „Almosen sind Krümel, die von den Tischen der Reichen fallen, während Gerechtigkeit hieße, daß alle zu Tisch gebeten werden.“

Im Jahr 2003, so errechnet ein Wohnungsexperte vom MIT, werden 19 Millionen obdachlos sein – es sei denn, der Staat baute erschwingliche Wohnungen. Kip und Fran sind unromantische, realistische Christinnen. Ihre Lobbyarbeit für die Rechtlosgemachten hat zu einer Shelter-Industrie geführt, nicht zu mehr Gerechtigkeit. Sie sehen auch die wachsende Gewalt auf den Straßen nicht isoliert, wie es die rechte Wirtschaftsgewalt tut, die alte schwarze Frauen auf die Straße wirft und Kindern statt Gesundheitsvorsorge und Schulen der Brutalität der Straße aussetzt.

Vor Jahren habe ich den Unterschied zwischen Manhattans Straßen und denen von Hamburg, auf denen es damals noch keine Obdachlosen gab, immer unserem Lande zugute gehalten. Indessen ist die Amerikanisierung auch dieses Lebenssektors weitergegangen. Wird Gerechtigkeit, »justice«, allmählich ein schmutziges Wort oder „ein rein emotionales Gefühl“, wie ein führender Richter in Philadelphia kürzlich erklärte? Er hatte den schwarzen Journalisten und politischen Gefangenen Mumia Abu-Jamal 1982 zum Tode verurteilt und ich hörte diesen Satz auf einer Demonstration für Mumia vor dem Gericht in Philadelphia. Was mich tröstete, war, daß zwei führende Theologen, Freunde von mir, der Neutestamentler Walter Wink und die feministische Systematikerin Carter Heyward dort sprachen. Eine Kirchengemeinde hielt eine Gebetswache ab für die Versöhnung eines Richters, der Menschen haßt. Kleine Zeichen, sicher, aber doch Senfkörner… oder wie Kip sagte: „Der Drache wird nicht immer siegen.“

Prof. Dr. Dorothee Sölle ist Theologin und freie Schriftstellerin. Sie ist seit vielen Jahren aktiv in Friedens- und Menschenrechtsbewegungen und war von 1975 bis 1987 Professorin am Union Theological Seminar in New York.

Jesse Helms weiß was er will

Jesse Helms weiß was er will

Zur Kuba-Politik der USA in den 90er Jahren

von Christoph Wagner

Fünfundwanzig Jahre nach Abschluß der B-Waffen-Konvention 1972 beantragt erstmals ein Land eine Prüfung, ob biologische Waffen eingesetzt wurden. Kuba beschuldigt die USA, am 21. Oktober 1996 den Schädling Thrips Palmi Karny durch eine einmotorige Maschine des Typs S2R über der Insel versprüht zu haben (Granma Internacional, dt. Ausgabe, 6/1997 und 8/1997).Wer die Geschichte der amerikanisch-kubanischen Beziehungen nach der Revolution 1958/59 kennt, der kann eigentlich nichts für unmöglich halten, selbst die ungeheuerlichsten Vorwürfe aus Havanna – Vorbereitung einer Invasion, Pläne für die Ermordung Fidel Castros1 – haben sich oft als richtig erwiesen.

Seit Frühjahr dieses Jahres sind etliche Bombenanschläge auf Hotels und Tourismuszentren des Karibikstaates verübt worden. Nach kubanischer Darstellung waren dabei von Exilkubanern in Miami angeheuerte Söldner am Werke. Die US-Regierung, der Duldung bis Unterstützung unterstellt wird, sah sich veranlaßt zu erklären, daß sie Gewalt nicht als das geeignete Mittel halte, um einen demokratischen Wandel herbeizuführen. Dies mag man für scheinheilig halten, da die USA zum einen die Verletzung internationalen Rechts, aber auch nationaler Gesetze durch Personen und Gruppen der exilkubanischen Gemeinde stets als Kavaliersdelikt behandelt und jene Radiosender gefördert haben, die einen Kreuzzug des Terrors und der Sabotage predigen (Burghardt 1997). Scheinheilig jedoch ist es vor allem, weil die Vereinigten Staaten seit vielen Jahren mit einem Handelskrieg, der den Titel tatsächlich verdient, völkerrechtswidrig Gewalt auf Kuba ausüben. „Das Kuba-Embargo ist das einzige der Vereinigten Staaten, das tatsächlich den Verkauf von Nahrung und Medizin verhindert und damit die Vierte Genfer Konvention von 1949 verletzt.“ (Smith 1996)2

1992 und 1996 haben die USA mit zwei Gesetzen den Würgegriff fester geschlossen. Dazwischen allerdings gab es eine kurze Phase der Entspannung, die eine weitere Verbesserung der Beziehungen nach der zu erwartenden Wiederwahl Bill Clintons als wahrscheinlich erscheinen ließ.

Die Balsero-Krise vom August 1994, damals hatten Zehntausende Kubaner dem System Castros auf selbstgebauten Booten und Flößen den Rücken zu kehren versucht, brachte Clinton, der in seinem ersten Präsidentschaftswahlkampf eine knallharte Linie gegenüber Castro versprochen hatte, in Schwierigkeiten: Zum einen mußte er Befürchtungen vor weiterer Einwanderung entkräften, zum anderen konnte er die starke exilkubanische Gemeinde (ca. 1,5 Millionen US-Bürger) nicht durch Abweisung ihrer Brüder und Schwestern vor den Kopf stoßen. Dieses Dilemma motivierte ihn zu Verhandlungen und Anfang Mai 1995 zu einer Vereinbarung mit Castro über den Umgang mit kubanischen Flüchtlingen, die diese im Prinzip allen anderen lateinamerikanischen Immigranten als Unerwünschte gleichstellte – und damit die Exillobby vor den Kopf stieß. Dieses (bescheidene) Tauwetter in jenem mal mehr, mal weniger Kalten Krieg dauerte bis zum 26. Februar 1996. An jenem Tag schoß die kubanische Luftwaffe zwei Flugzeuge der exilkubanischen Organisation »Hermanos al Rescate« (Brüder zur Rettung) ab, die durch wiederholte Verletzung des kubanischen Luftraumes den Karibikstaat provoziert hatte. Nur wenige Tage später passierte das Helms-Burton-Gesetz mit überwältigender Mehrheit Senat und Repräsentantenhaus. Und Clintons Veto-Ankündigung war Geschichte. Die Hardliner hatten ihr Ziel erreicht.3

Das Gesetz trägt den offiziellen Titel »Cuban Liberty and Democratic Solidarity (LIBERTAD) Act of 1996«, solch wohlklingende Namen sind nicht ungewöhnlich, aber im Alltag wird es wie üblich nach denen benannt, die es geschrieben haben, in diesem Fall Senator Jesse Helms, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses, und der Abgeordnete Dan Burton. Es stellt den vorläufigen Höhepunkt der permanenten Blockade-Verschärfungen dar (Abschnitt I), macht Verheißungen für den Fall, daß Castro gestürzt ist (II) und zwingt Drittstaaten zum Mitmachen (II und IV).

Castro einen Schubs geben

Eisenhower hatte sich bei der Verhängung des ersten Boykotts 1960 schnelle Erfolge versprochen. Das Embargo traf Kuba in der Tat empfindlich. Doch es trieb die Revolutionsregierung nicht zur Rücknahme ihres Kurses, sondern in die Arme der Sowjetunion. 30 Jahre und eine weltgeschichtliche Epoche später ergab sich eine neue Chance. 1992, als der »Socialismo tropicana« auf dem Tiefpunkt angelangt war, verabschiedete der US-Kongreß das Toricelli-Gesetz, den »Cuban Democracy Act«. Nicht nur der Kongreßabgeordnete Toricelli ging damals davon aus, daß es jetzt wirklich nur noch wenig bedürfe, um Castros Sturz herbeizuführen. Seither ist es Jesse Helms, der sein Nachfolgewerk, die nächste Verschärfung, in dieser Weise begründet (Smith 1996).

Bereits Toricelli hat starke exterritoriale Wirkungen: Es sieht unter anderem vor, daß Schiffe, die kubanische Häfen angelaufen haben, für ein halbes Jahr nach diesem Sündenfall nicht in den USA vor Anker gehen dürfen. Mit Toricelli wurden aber auch erstmals in mehr als 30 Jahren nicht nur die Schrauben des Embargos weiter angezogen, sondern auch konkrete positive Maßnahmen für den Aufbau einer innerkubanischen Opposition gesetzlich festgehalten. Daß es entsprechende Infiltrationen all die Jahre über auch gegeben hat, steht zwar außer Zweifel. Doch seit 1992 wird die Unterstützung und der Aufbau von »Nichtregierungsorganisationen« – mit humanitärem und bürgerrechtlichem Anspruch – offener und offensiver betrieben. Es spricht daher manches für die Annahme, daß dieser Aspekt des Toricelli-Gesetzes Fidel Castro noch mehr beunruhigt hat als die neuerliche Verschärfung der Sanktionen (Rieff 1996).

Paradoxe Sanktionslogik

Mit dem Untergang des Ostblocks und der Auflösung der Sowjetunion hatten die (mehrfach verschärften Sanktionen) auf einmal wieder solch schmerzliche Auswirkungen wie ehedem. Diesmal jedoch nicht dadurch, daß sie dem Karibikstaat wie 1959ff den natürlichen und angestammten US-Markt vor der Haustüre verschlossen, sondern indem sie ihn daran hinderten, sich neue Partner zu suchen und die ökonomische Integration in den Weltmarkt oder auch nur in den Markt Lateinamerikas weitgehend blockierten. Das Paradoxe, aber nicht ganz Abwegige daran: Der von außen auferlegte Zwang zu dieser absurden Variante vom »Sozialismus in einem Land« bzw. »Sozialismus ohne andere Länder« sollte im Inneren zu marktwirtschaftlichen Reformen führen. In der Tat sah sich Castro in der Folge, um die Versorgung der Bevölkerung mit den nötigsten zu gewährleisten, u.a. dazu genötigt, Bauernmärkte einzuführen und den Dollar als Zweit- bzw. Leitwährung zu legalisieren. Und um ausländische Investoren anzulocken, mußte er ihnen weitreichende Zugeständnisse (zunächst bis zu 50% Kapitalbesitz, inzwischen mehr, sowie weitgehende Steuerfreiheit) machen. Mindestens ebenso große Gefahren für die »Fortführung der Revolution«, entstanden durch die Not, Energie und Devisen bzw. Kredite zu beschaffen.

Nach Angaben der Regierung in Havanna beliefen sich die Verluste bzw. Mehrausgaben durch den bloqueo bereits von 1961 bis 1993 auf 40 Mrd. Dollar – maßgeblich dabei waren die enormen Transportkosten, die dadurch entstanden, daß Kuba Lebensmittel, Brennstoff und anderes in fernen Ländern kaufen mußte, weil nähergelegene unter US-Druck nicht verkaufen wollten oder konnten. (Roberto Gili Colom, Hoy. Datos de una nacion que resiste y se desarrolla, La Habana 1994, S. 17.) Mag diese Rechenmethode für die Zeit der Integration Kubas in den RGW fiktiv sein: In den 90er Jahren trifft sie zu – und wird v.a. von den Befürwortern des Embargos erfreut bestätigt (Kaufman Purcell 1996).

Gravierend hat sich die Blockade auf die Zahlungsfähigkeit der Insel ausgewirkt: Kuba konnte bisher keine Kredite von internationalen Organisationen erhalten, da die USA damit drohten, diese Institutionen zu blockieren und ihnen entsprechende Summen bei der eigenen Beitragsentrichtung abzuziehen. Im Helms-Burton-Gesetz ist diese Logik nochmals sowohl in der Anwendung auf Einzelstaaten, die US-Finanzhilfen erhalten, als auch auf Institutionen festgeschrieben. Wer Kubas Liquidität verbessert, sei es durch Schuldenerlaß, Ware-Ware-Austauschgeschäfte oder Umwandlung von Schulden in Unternehmensbeteiligungen – dies praktiziert Mexiko – macht sich strafbar und wird bestraft. Havanna muß sich seine Kredite also auf einem – eben nicht mehr wirklich – freien Markt besorgen und zahlt dafür kräftig drauf.

Dies hat zu einer Schulden- und Devisenakrobatik geführt, die nur solange Sinn zu machen versprach, wie Licht am Ende des Tunnels zu erwarten war: Die teuer bezahlten Kredite sollten via Modernisierung der Wirtschaft, v.a. der extrem veralteten Zuckerindustrie, zu Mehreinnahmen bzw. Produktionssteigerungen führen, die es erlaubt hätten, nicht nur die Schulden zurückzuzahlen, sondern auch einen selbsttragenden Aufschwung zu stimulieren. Doch die Anzeichen der Erholung und die Bestätigung dieser Strategie im vergangenen Jahr, sind bereits wieder Geschichte. Die »spezielle Periode«, so sieht es heute aus, dauert an und wird offenbar noch »spezieller«, d.h. schwieriger: Kuba steckt in der Schuldenfalle, es wird immer schwieriger, die Wirtschaft mit den genannten Methoden voranzubringen.4

Die Blockade wirkt. Aber sie führt anno 1997 nicht zu einer Liberalisierung der internen Ökonomie, sondern zum weitgehenden Abbruch des Öffnungskurses und zur verstärkten Reideologisierung der Ökonomie, wie sie Castro auf dem 5. Parteitag der KP vor wenigen Wochen zu erkennen gegeben hat. Commandante Che ist zurückgekehrt und mit ihm der verschärfte Kampf um die sozialistische Moral.

Können sich Helms und Burton also freuen? Die Evaluation der eigenen Maßnahmen, so sie denn überhaupt stattfindet, funktioniert einfach: Das Embargo hat Castro zu wirtschaftlichen Zugeständnissen wie Zulassung des Dollars und der Bauernmärkte gezwungen (Kaufman Purcell).

Ob die Blockade auch zu einer Demokratisierung geführt hat – überhaupt führen kann –, danach fragt keiner, und das nicht nur, weil alle Indizien das Gegenteil belegen5, sondern weil es den Prämissen des Embargos – 1. Alles oder nichts, 2. Je schlimmer, desto besser – und den daraus notwendig folgenden Konklusionen widersprechen würde.

Die Blockade als US-Innenpolitik

Man liest oft, die Politik gegenüber Kuba sei letztlich US-Innenpolitik. Clinton habe sich Wählerstimmen in Florida und New Jersey sichern wollen. Da ist Wahres dran – die harte Tour gegenüber Kuba steht für einen Großteil der Exilkubaner nicht zur Diskussion –, obwohl Untersuchungen ergeben haben, daß sie an den Wahlurnen nicht nur über die Kuba-Politik abstimmen. Und auf der anderen Seite ist die exilkubanische Gemeinde alles andere als homogen – es sind ja gerade viele Exilkubaner, die immer wieder das Embargo verletzen: aus privaten Gründen, um ihre Familien auf der Insel zu versorgen.

Außerdem habe es sich Clinton, so die Innenpolitik-These weiter, vor der Gesamtwählerschaft nicht leisten können, nach dem Abschuß der beiden Flugzeuge als Weichling dazustehen. In der Tat eignet sich Kuba hervorragend für eine Politik des Knüppel aus dem Sack, die wenig kostet, aber Eindruck schindet. Hier werden noch die Schlachten geschlagen, die jeder US-Bürger nachvollziehen kann, werden jahrzehntelang stimulierte ideologische Bedürfnisse befriedigt. Die Welt ist so kompliziert geworden. Wie schön war die alte Weltordnung.

Die Innenpolitik-These hat jedoch noch eine viel weitergehende Nebenbedeutung: Kuba war bis 1958 von den USA als quasi-Staatsgebiet behandelt worden, mit dem Status eines Bundesstaats zweiter Klasse. Es kommt daher nicht von ungefähr, daß die Propaganda der Helms', Burtons & Co vielfach an Wiedervereinigungsrhetorik in der alten Bundesrepublik erinnert. Interessanterweise trägt auch die in ihrem Gesetz vorgesehene Form der »Befreiung« Kubas Züge des tatsächlich vollzogenen Anschlusses der DDR (Wagner 1996) – mit dem freilich nicht ganz nebensächlichen Unterschied, daß die DDR-Bevölkerung ihre Souveränität freiwillig abgegeben hat.

Im allerersten Absatz erklärt man die Absicht, „das kubanische Volk zu unterstützen, seine Freiheit und seinen Wohlstand wiederzuerlangen“, doch im folgenden geben die Autoren ein merkwürdiges Verständnis von Freiheit und Souveränität zum Ausdruck, und mehr noch als vom Wohlstand der Kubaner ist vom Wohl der amerikanischen Alteigentümer die Rede: „Eine Übergangsregierung in Kuba ist eine Regierung“, so wird definiert, „die angemessene Schritte unternimmt, Bürgern der Vereinigten Staaten … Eigentum, das ihnen von der kubanischen Regierung nach dem 1. Januar 1959 genommen wurde, zurückzugeben, oder sie angemessen zu entschädigen“ (§ 205,8).

Rückübertragung vor Entschädigung – deutsche Leser hören die Nachtigall trapsen. Tatsächlich stattet die Foreign Claim Settlement Commission, so etwas wie ein Bundesamt für offene Vermögensfragen, seit etlichen Jahren US-Bürger mit Rechtsansprüchen aus. Daß nach dem neuen Gesetz auch alle exilkubanischen US-Bürger, die bei Flucht oder Auswanderung Hab und Gut zurückließen klagen dürfen, kann als Irrsinn oder Beschäftigungsprogramm für Tausende von Rechtsanwälten angesehen werden (Sweeney 1996). 6 Aber man muß sich wirklich plastisch vorstellen, wie die vielbeschworene Befreiung „des kubanischen Volkes“ – die Befürworter setzen ja immer die Brüder Castro gegen die restlichen 10 Millionen7 – vonstatten gehen würde: als Enteignung und Rekolonisierung. Denn die wichtigsten kubanischen Wirtschaftszweige, v.a. die Zuckerindustrie, waren bis 1958/59 in US-Besitz.

Die Frage, mit welchen Methoden dieses Eigentum teilweise oder gar überwiegend erworben wurde und wer dafür bezahle, gehört in den Zusammenhang von »Patria o muerte« und »Befreiung«. Nicht übersehen werden sollte dabei jedoch, daß ein Großteil der potentesten Alteigentümer, wie z.B. Coca-Cola, Helms-Burton ablehnen, gerade weil sie eine dauerhafte Schädigung der amerikanisch-kubanischen Beziehungen fürchten.8 Denn das Gesetz kennt nur eine Lösung für Kubas Probleme – und für das Kuba-Problem der USA: die bedingungslose Kapitulation oder, was dasselbe ist, ein Friede zu Bedingungen von Big Jesse.

Wie das Ausland sich empört

Haben Toricelli und Helms-Burton ihre abschreckende Wirkung auf Unternehmer aus aller Welt keineswegs verfehlt, so gab es doch bis 1996 keine Regierung, die mit den USA in Sachen Embargo kooperiert hätte. Im Gegenteil, in diversen internationalen Gremien bekamen die Vereinigten Staaten zunehmend öffentliche Ablehnung zu spüren. Die UNO-Generalversammlung forderte im November 1995 zum wiederholten Male ein Ende der Embargo-Politik, diesmal mit 117 zu 3 Stimmen, und ein Jahr später mit 138 zu 3, lediglich Usbekistan und Israel hielten zu den USA. Auch die OAS löst sich aus dem Griff der Vereinigten Staaten: Trotz diverser Androhungen, die durch Helms-Burton Gesetzeskraft erlangen sollten, verurteilte die Organisation Amerikanischer Staaten, auf deren Tagungen seit dem Ausschluß Kubas 1962 die Insel ein Tabuthema war, die Blockade am 4. Juni 1996. Nichtsdestotrotz trat einen Monat später Helms-Burton in Kraft.

Das Ausland empört sich besonders über die beiden inzwischen berüchtigten exterritorial gültigen Abschnitte: Wer in Geschäfte verwickelt ist, die von der kubanischen Regierung konfisziertes Eigentum betreffen, kann von betroffenen US-Bürgern angeklagt werden (III). Der Gesetzestext spricht in diesem Fall von »trafficking« – was auch in US-Medien in Anführungsstriche gesetzt wird – und meint Schwarzhandel. Abschnitt IV fordert die US-Behörden auf, an »Schwarzhandel« Beteiligte sowie ihre Familien- und Betriebsangehörigen auszuweisen oder erst gar nicht einreisen zu lassen. Im Zweifelsfalle kann bereits der Verdacht für eine entschiedene Reaktion der USA ausreichen.

Die USA haben auch das Nordamerikanische Freihandelsabkommen NAFTA so gestaltet, daß die Partner Mexiko und Kanada an die Blockade-Regeln gebunden sein sollen. Diese leisten aber erheblichen Widerstand. Was 1996 noch der Witz eines amerikanischen Journalisten war, mutierte längst zur Wirklichkeit: Nach der Logik von Helms-Burton „könnte Kanada seinen Bürgern gestatten, Amerikaner zu verklagen, die Eigentum verwalten, verleihen oder besitzen, das britische Loyalisten, als sie im 18. Jahrhundert nach Kanada flohen, zurücklassen mußten.“ (International Herald Tribune, 15.7.1996) Inzwischen hat die kanadische Regierung eine entsprechende Liste erstellen lassen.

Solange in Madrid Felipe Gonzalez regierte, galt Spanien und damit Westeuropa als zuverlässiger Verfechter des freien Handels mit Kuba: aufgrund der traditionellen Bindungen zur Insel, aufgrund Gonzalez' eigener Bemühungen und aufgrund des vergleichsweisen starken Engagements der spanischen Wirtschaft auf Kuba. Seit dem Amtsantritt von José Maria Aznar schwankt die spanische Position zwischen ideologischer Nähe zu Helms-Burton und Interessenschutz für spanische Unternehmer und Touristen. Nun sind es v.a. die Bundesrepublik und Frankreich, die sich der USA widersetzen, wobei sie dabei eher die Geschäfte mit Iran oder Libyen im Auge haben dürften. Denn nach dem Modell Helms-Burton traten wenige Wochen später Sanktionsgesetze mit diesen beiden Zielländern in Kraft.

Die EU hat frühzeitig gefordert, Gespräche und Verhandlungen im Rahmen der WTO zu führen, und Handelskommissar Leon Brittan versprach Widerstand, bis das Gesetz in dieser Form „vom Tisch sei“ (Frankfurter Rundschau, 30.1. 1997). Er kündigte eine »Tit for tat«-Strategie an, die bisher aber nur in Ansätzen entwickelt wurde: In Brüssel wird eine Schwarze Liste jener US-Firmen erstellt, die nach Helms-Burton gegen Unternehmen der Gemeinschaft klagen.

Doch am 2. Dezember 1996 ist die EU den USA ein großes Stück entgegengekommen, als sie in einem »Gemeinsamen Standpunkt« des Rates der Rhetorik des Helms-Burton-Gesetzes folgte (§1) und das weitere Engagement auf Kuba von Fortschritten in Menschenrechtsfragen abhängig machte (§4) (EU 1996).9 Prompt meldete Stuart Eizenstat, in Europa wegen seines Vorgehens in Sachen Schweizer Nazigold bekannter Staatssekretär im Handelsministerium und Helms-Burton-Beauftragter der US-Regierung, einen großen Erfolg (Hoffmann 1997a ). Im April versprach die EU, daß sie die Nutzung enteigneten Eigentums durch Firmen der Gemeinschaft unterbinden werde – Bill Clinton stellte im Gegenzug in Aussicht, auch weiterhin Kapitel III des Helms-Burton-Gesetzes aus- und sich für Abmilderung der am stärksten kritisierten exterritorialen Regelungen einzusetzen (Handelsblatt, 14.4.1997).

Die EU wiederum verzichtete vorerst darauf, ihre Klage vor der WTO zu forcieren – und ließ ein halbes Jahr später, obwohl an Helms-Burton nichts abgemildert worden war, auch ihr sowieso auf den 15. Oktober 1997 verschobenes Ultimatum ohne Konsequenzen verstreichen. Bis dahin hätten die USA ihre Sanktionsdrohungen gegen europäische Investoren in Kuba, Lybien und Iran entschärfen müssen. „Dabei hatte praktisch kein Zweifel darüber bestanden, daß das Schiedsgericht der WTO zugunsten der EU entscheiden würde. Doch bereits im Vorfeld hatte die Washingtoner Regierung bekannt gegeben, daß sie einen diesbezüglichen Entscheid schlichtweg ignorieren würde“.(Hoffmann 1997a: 16) So wurde die Welthandelsorganisation, kaum errichtet, schwer beschädigt und geschwächt.

Freut das den Freihandelsverfechter Bill Clinton, freut es Jesse Helms? Die Konsequenz und der angeblich »moralische« Rigorismus der USA finden in der Tat eine mögliche Erklärung in handfesten Interessen, die mit Kuba nichts zu tun haben: Viele US-Bürger waren und sind äußerst skeptisch gegenüber der WTO, weil sie fürchten, die Souveränität der USA würde beschnitten. Insofern ist der Nebeneffekt des Streits die Klarstellung, daß diese Institution ebenso wie die Regeln von Amerikas Gnaden existiert. Jesse Helms ist nicht (nur) irgendein durchgeknallter Kalter Krieger, sondern der wahrscheinlich mächtigste Mann der US-Außenpolitik. Und er weiß, was er will.

Literatur

Burghardt, Leo (1997): Sprengkörper gegen Tourismus, in: Neues Deutschland, 15.7.1997.

Falk, Pamela S. (1996): Eyes on Cuba. U.S. Business and the Embargo, in: Foreign Affairs, March/April 1996, S. 14ff.

Hoffmann, Bert (1997a): Helms-Burton und kein Ende? Auswirkungen und Perspektiven für Kuba, die USA und Europa, Ms., Hamburg (Lateinamerika, Nr. 33, 1997).

Hoffmann, Bert (1997b): Kubas Sozialismus in der Schuldenfalle, in: die tageszeitung, 9.10.1997.

Kaufman Purcell, Susan (1996): The Cuban Illusion. Keeping the Heat on Castro, in: Foreign Affairs, May/June 1996, S. 159ff.

Rieff, David (1996): Cuba Refrozen, in: Foreign Affairs, July,/August 1996, S. 62ff.

Smith, Wayne S. (1996): Cuba's Long Reform, in: Foreign Affairs, March/April 1996, S. 99ff.

Sweeney, John (1996): Freedom Versus Business Interests, in: Internationale Politik und Gesellschaft, 4/1996, S. 419ff.

Wagner, Christoph (1996): Kubakraftakt, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 9/1996, S. 1041ff.

Anmerkungen

1) Vgl. Eckart Krippendorff, Wie ein Brechtsches Lehrstück, in: die tageszeitung, 7.7.1997: „Die Mordmotive sind die niedrigstmöglichen: Nicht, daß Castro die nationale Sicherheit der USA bedrohte – nein: John F. Kennedys Wiederwahl 1964 stand auf dem Spiel, wenn Castro, der dem Goliath USA zu trotzen gewagt hatte, dann noch an der Macht wäre.“ Zurück

2) Im übrigen existieren auch in den 90er Jahren ganz aktuelle Szenarien für eine militärische Intervention; vgl. Oberstleutnant Geoffrey B. Demarest, Der Fall Kuba, in: konkret, 10/1994. Zurück

3) Wichtige Auszüge des Gesetzes sind dokumentiert in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 9/1997, S. 1143-1148. Zurück

4) „1996 jonglierte Kuba … mit nicht weniger als 2,4 Milliarden US-Dollar an kurzfristigen Kreditschulden…“ (Hoffmann 1997b). Zurück

5) „Für Kuba allerdings hat das Helms-Burton-Gesetz … die Spielräume für jeglichen substantiellen politischen Reformprozeß von innen … massiv beschnitten, wenn nicht gar auf absehbare Zeit unmöglich gemacht.“ (Hoffmann1997a). Zurück

6) Libertad-Hardliner John Sweeney schreibt dazu: „Die Befürworter des Helms-Burton-Gesetzes haben ihre eigene Sache geschwächt, indem sie zuviel Nachdruck auf den Punkt der Eigentumstitel gelegt und derweil die bedeutendere Frage der Menschenrechte vernachlässigt haben.“ (Sweeney 1996: 420) Zurück

7) „die Versklavung von 10 Millionen Kubanern“ (Swenney 1996: 420). Zurück

8) Pamela S. Falk war Anfang 1996 kein US-Manager bekannt, der das Embargo für eine gute Sache hielt. Ihren Artikel (Falk 1996), der u.a. die Formierung einer Anti-Embargo-Lobby von Unternehmern skizziert, hat sie allerdings vor dem Abschuß der beiden Flugzeuge geschrieben – er erschien nach dieser dramatischen Wende und zeigt daher, wie sehr das Kalkül der Scharfmacher aufgegangen ist. Zur Zeit der Niederschrift schien es Pamela Falk noch, als sei das „Alles-oder-nichts-Geschrei der letzten 30 Jahre“ der Diskussion über konkrete Bedingungen für den Handel mit Kuba, d.h. die Rücknahme der Blockade, gewichen. Zurück

9) Europäische Union – Der Rat, Gemeinsamer Standpunkt vom 2.12.1996 – vom Rat aufgrund J.2 des Vertrages über die europäische Union festgelegt – zu Kuba, Brüssel, 22.11.1996. Zurück

Christoph Wagner ist Redakteur der »Blätter für deutsche und internationale Politik«.

Die Weltsicht der Weltmacht

Die Weltsicht der Weltmacht

von Frank Unger

Der amerikanische Präsident Clinton verfügt heute über eine politische Macht und ein Einflußpotential in der Welt, die alles in den Schatten stellen, was irgendeiner seiner Vorgänger jemals zur Verfügung hatte. Militärisch sind nach dem Zusammenbruch der Roten Armee die Streitkräfte der USA so überlegen, daß sie es mit dem gesamten Rest der Welt aufnehmen könnten, wenn sie müßten. Aber sie brauchen ja gar nicht: Denn die eigentliche Basis ihrer gegenwärtigen unangefochtenen Welthegemonie ist weniger die »harte« als die »weiche« Macht. »Weiche« Macht bedeutet – in Abwandlung einer berühmten Definition von Max Weber – die Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen weitgehend bereits dadurch durchzusetzen, daß der Gedanke an Widerstreben als unanständig erscheint.1

Gegenüber dem Rest der Welt wird heute nicht nur die Führungsposition beansprucht, sondern auch die Rolle des Vorbildes reklamiert, zusammengefaßt in der offiziellen Selbstcharakterisierung, die »one indispensable nation« zu sein. In den meisten Ländern dieser Welt, allemal in Europa, wird diese Unbescheidenheit ohne Widerrede akzeptiert. Es scheint, als sei die amerikanische Rhetorik selbst zum universellen Kriterium der Wahrheit geworden!

Für das Selbstverständnis der amerikanischen Eliten ist dies keineswegs ein Wunder, sondern vielmehr der Ausdruck dafür, was sie immer schon behauptet haben: daß die Vereinigten Staaten durch ihr politisches Handeln schlicht die Interessen der Menschheit verfolgen. Vor anderthalb Jahrhunderten schrieb Herman Melville: „…wir Amerikaner sind das auserwählte Volk – das Israel unserer Zeit. Wir tragen die Bundeslade mit den Freiheiten dieser Welt… Gott hat Großes für uns vorherbestimmt, die Menschheit erwartet große Dinge von unserem Volk, und große Dinge bewegen wir in unserem Herzen. Die übrigen Nationen werden bald hinter uns bleiben. Wir sind die Pioniere der Welt; die Vorhut, ausgesandt in die Wildnis, um in der Neuen Welt, die die unsere ist, einen neuen Pfad zu bahnen. Wir haben lange genug gezweifelt, ob der politische Messias wirklich gekommen ist. Aber er ist gekommen in UNS.“ (Melville 1954: 211f)

Und vor gut einem Jahr drückte Warren Christopher den gleichen Gedanken etwas prosaischer aus: „Bei meinen Reisen ins Ausland wird mir überdeutlich klar, warum Amerika immer noch die vorherrschende Macht der Welt ist. Die Nationen der Welt blicken auf uns als verläßliche Führungsmacht mit hohen Grundsätzen. Sie sehen uns als optimistisches Volk, das durch seine Interessen motiviert und von seinem Potential geleitet ist. Sie folgen uns, weil sie verstehen, daß Amerikas Kampf für Frieden und Freiheit der Kampf der Welt ist (Hervorhebung von mir, F.U.). Wenn wir unsere Führungsrolle erhalten wollen, müssen wir weiterhin gemäß den besten Traditionen unserer Nation und unseres Volkes handeln.“ (Christopher 1996: 3)

Welche Traditionen spricht Christopher hier an? Zwischen Oktober 1787 und August 1788 schrieben Alexander Hamilton, James Madison und John Jay eine Reihe von politischen Artikeln für verschiedene New Yorker Zeitungen, mit denen sie in die laufende Debatte um die politische Organisationsform der gerade von England losgelösten Kolonien eingreifen wollten. Es ging um die Frage: lockerer Staatenbund oder festgefügter Bundesstaat. Die »Federalists« Hamilton, Madison und Jay traten entschieden für letzteres ein. Aber es ging nicht nur um die Frage Bundesstaat an sich, sondern auch darum, was für ein Bundesstaat. Im Federalist No.10 schreibt James Madison, den Historiker später den „Marx der herrschenden Klasse“ genannt haben, folgendes:

„Dehnen wir unser Gebiet aber aus, umschließt es auch eine größere Vielfalt von Parteien und Interessen; dadurch wird es weniger wahrscheinlich, daß eine Mehrzahl von Bürgern ein gemeinsames Motiv, die Rechte anderer Bürger zu verletzen, entwickeln kann. Wenn ein solches Motiv aber dennoch existiert, wird es für alle, die ihm anhängen, schwieriger sein, ihre wirkliche Stärke zu entdecken und gemeinsam vorzugehen.“ (Hamilton e.a. 1961: 83)

Madison ging es hier vor allem um die Verhinderung demokratischer Mehrheitsherrschaft über die Minderheitsinteressen der Eigentümer und Bildungseliten, für die er (wie seine Co-Federalists) die ständige politische Führung (als diejenigen „mit dem größten Interesse am Bestehen des Ganzen“) im republikanischen Staat reservieren wollte. Gleichzeitig formulierte er damit auch zum ersten Mal ein ganz wesentliches Element der politischen Weltanschauung der amerikanischen Eigentümerklassen: die Befürchtung nämlich, daß die bestimmte Art ökonomischer Freiheit, die das Wesensmerkmal des »guten Lebens« in Amerika und damit auch dessen spezielle Faszination ausmachen, nicht auf Dauer bewahrt werden könne, wenn nicht ständig neue Gebiete – zunächst des Kontinents selbst, schließlich aber auch anderer Kontinente – in den Bereich der USA eingeschlossen würden, in welcher Form auch immer. Mit anderen Worten: Madison postulierte einen Zusammenhang von Freiheit und Expansion. Dabei wird die Freiheit und die Demokratie »innen« zum selbstverständlichen und ausreichenden Rechtfertigungsgrund für Enteignung oder Vertreibung »außen«.

Den Schlüssel für das Verständnis dieses Bedingungszusammenhangs liefert eine Analyse der Bedeutung des amerikanischen Worts »frontier«. Es bezeichnete das »Grenzland« während der Zeit der allmählichen Westausdehnung der Vereinigten Staaten, d. h. jeweils jene neuerworbenen westlichen Gebiete, in denen europäische Siedler sich bereits niedergelassen hatten, die »Ersten Amerikaner« aber noch Rückzugsgefechte gegen die europäischen Landnehmer austrugen und insgesamt die Institutionen der »Zivilisation« noch nicht vollständig durchgesetzt waren. Für den Historiker Frederick Jackson Turner, der gegen Ende des letzten Jahrhunderts seinen Ruhm darauf gründete, daß er die »frontier« für das amerikanische Selbstbild entdeckte (Turner 1893), bedeuteten die jeweils neuen Gebiete der Landnahme die spezifische Quelle der amerikanischen Singularität. In den Wellen der Westausdehnung habe sich die ganze Nation unaufhörlich „demokratisch verjüngt“. Was damit gemeint war, erklärte Turner so: Das Land habe auf diese Weise allen sozialen Problemen entkommen können, die die europäischen Nationen während der Phase ihrer Industrialisierung hatten, denn die Verlierer der ökonomischen Konzentrationsprozesse hätten theoretisch stets die Stätten ihrer Niederlage verlassen und es weiter im Westen noch einmal versuchen können. Auf diese Weise seien sie weder auf revolutionäre Gedanken gekommen,noch sei es ihnen eingefallen, nach dem Sozialstaat zu fragen. Die Imagination des „offenen Landes“ im Westen mit seiner ständigen Verheißung eines „neuen Lebens“ habe wie ein soziales Sicherheitsventil funktioniert.2

Die unausgesprochene Prämisse der »frontier«-These war, daß nur besitzende Menschen weißer Hautfarbe, nordwesteuropäischer Herkunft mit ausreichenden englischen Sprachkenntnissen als legitime Subjekte für Demokratie anzusehen seien; nur sie hätten die sittlichen, geistigen und religiösen Voraussetzungen, um selbstverantwortlich in eigenem Namen handeln zu können. Unter dieser Voraussetzung leuchtet sie ein: Mangels ausgeprägter Institutionen und angesichts gemeinsamer Feinde waren sie im Umgang miteinander zur Kooperation gezwungen und zur Gleichheit genötigt. Kriterien für gegenseitiges Vertrauen waren nicht Papiere oder Diplome, sondern der gemeinsame Phänotyp und das ehrliche Gesicht, ersatzweise auch die Kirchenzugehörigkeit. Einige Historiker haben in diesem Zusammenhang von der Gesellschaft der USA als einer »Herrenvolkdemokratie« gesprochen – einer jener aus den angelsächsisch-protestantischen Traditionen entspringenden überseeischen Kulturen der europäischen Expansion, in denen religiöse »Nonkonformisten« oder andere Außenseiter den verknöcherten Hierarchien Europas entkamen und stark egalitär eingefärbte Gesellschaften errichteten, in denen gleichzeitig aber »Farbige«, wie zahlreich auch immer sie sein mochten, als permanente Fremde und Außenseiter behandelt wurden (siehe van den Berghe 1967). In den USA galt letzteres zunächst auch für nicht-angelsächsische »Weiße« (Iren, Osteuropäer, Südeuropäer).

Charakteristisch für die US-amerikanische Herrenvolkdemokratie ist nun, daß dieses dualistische Verständnis von Gleichheitsideologie und Kompromißbereitschaf »nach innen« und bedingungslosem, bis zum Genozid gehenden Durchsetzungswillen »nach außen« nicht nur bei der ursprünglichen Besitznahme des eigenen Territoriums leitend war, sondern sich anschließend auch in der Außenpolitik der Weltmacht USA fortsetzte. Kriege der USA waren stets »Weltanschauungskriege« und das Kriegsziel niemals etwas anderes als die bedingungslose Kapitulation des Gegners (siehe Weigley 1973). Erst in Vietnam mußte diese Tradition notgedrungen aufgegeben werden.

Häufig wird in diesem Zusammenhang auf das religiös begründete Sendungsbewußtsein der Amerikaner hingewiesen. Die Sehnsucht nach der »Stadt auf dem Hügel« oder die Vorstellung, das »neue Kanaan« zu repräsentieren, existieren mit vielen anderen Auserwähltheitsmythen und millenaristischen Geschichtsbildern in der Religion des Volkes, vor allem den verschiedenen Spielarten des puritanischen Protestantismus. Aber in den USA wird die Außenpolitik nicht vom Volk gemacht. Sie ist ausschließlich das Vorrecht der Eliten, auch wenn diese ihre Entscheidungen mitunter in den Kategorien des Volkes begründen, vor allem, wenn Wahlen anstehen. Die außenpolitischen Grundentscheidungen aber fallen in Gremien, die normalen Wahlen nicht unterworfen sind. Sind sie getroffen, dann gelten sie als »überparteilich«, d.h. jeder Präsident ist praktisch daran gebunden.

Die Eliten sind keine Puritaner mehr. Sie sind auch sonst nicht besonders religiös. Ihre Sicht auf die Welt ist jeweils von inneren Problemen und Diskursen bestimmt (vgl. Dallek 1983). Die übergreifende Schlüsselfigur zum Verständnis ihrer zeitgenössischen Weltsicht jedoch ist der 28. Präsident der Vereinigten Staaten, Woodrow Wilson (1913 – 1920). Er war erstens anglophil und ein großer Bewunderer der britischen Weltmacht. Zweitens war er entschiedener Anti-Imperialist. Darin sah Wilson keinen Widerspruch, denn in seinem Verständnis war die totale globale Vorherrschaft Großbritanniens während der größten Teile des 19. Jahrhunderts kein Imperialismus, sondern das genaue Gegenteil davon: ein das Gesamtwohl der Menschheit beförderndes Weltsystem, in dem britische Geschäftsleute, Industrielle und Banker in eigenem Interesse, aber dadurch zum Wohle aller die Weltwirtschaft gemanagt hätten. Imperialismus und Kolonialismus seien in seinem Verständnis erst dann entstanden, als die übrigen europäischen Mächte bzw. deren Regierungen aus »nationalistischer« Machtgier sich jeweils große Teile des bis dahin offenen Weltmarkts exklusiv reservieren wollten. Damit hätten sie sich am Ende ins eigene Fleisch geschnitten, denn in den Augen Wilsons wurde dadurch die friedlich funktionierende »Pax Britannica« durch die bornierte Konkurrenz der nationalen Monopolbourgeoisien und der von ihnen manipulierten Nationalstaaten ersetzt. Diese habe dann zum Weltkrieg geführt, zum „Bruderkrieg der zivilisierten Nationen“. Wilsons Vision war die Wiederherstellung der »Pax Britannica« unter neuer Leitung (vgl. Levin 1968, Mayer 1964, Weiler 1982).

Das neue Management sollte die amerikanische business community sein. Die Vereinigten Staaten von Amerika waren nicht nur schuldenfrei, sondern als Haupt-Gläubigernation aus dem Ersten Weltkrieg hervorgegangen. Allein ihre Wirtschaftsführer seien in der Lage, die globale Rolle ihrer britischen Vettern fortzusetzen. Sie selbst sahen das ebenso. Seit Beginn des Krieges warben exportorientierte Kreise unermüdlich für die Schaffung einer »Friedensliga«. Gefordert wurde der Zusammenschluß der »efficient civilized nations« zu einem Bündnis, das künftige Kriege verhindern bzw. den Frieden gegen Aggressoren erzwingen könnte. Im ursprünglichen Entwurf sollte dieser Bund »League of Great Nations« heißen und eben nur jene umfassen, aber man einigte sich schließlich auf „all the Great Powers, all the Secondary Powers of Europe and the ABC countries of South America (i.e. Argentinien, Brasilien und Chile).“ (Latane 1932: 61) Alle anderen sollten der kombinierten Friedensgewalt dieses Bündnisses unterworfen werden. In Wilson fanden diese »One-Worlder« ihr politisches Sprachrohr.

Zur Realisierung dieser »pazifistischen« Vision ist es bekanntlich nicht gekommen. Der von Wilson vorgeschlagene und propagierte Völkerbund mußte ohne die USA auskommen, weil er Teilen der amerikanischen Eliten selbst nicht ganz geheuer war. Man vermutete dort schlicht, daß amerikanischem Unternehmertum in so einem Klub der zivilisierten Völker am Ende doch bloß irgendwelche Fesseln angelegt werden sollten. Schließlich war man gerade erst zum Hecht im Karpfenteich herangewachsen. Man argwöhnte Regulierungsabsichten der ausgebufften Karpfen und bemühte die Gründerväter Washington und Jefferson, die vor »verstrickenden Bündnissen« mit Europäern gewarnt hätten. Nachdem in der Öffentlichkeit xenophobe Stimmung erzeugt worden war, verweigerte der Kongress die Zustimmung zu den Völkerbundverträgen (»Isolationismus«).

Woodrow Wilson starb bald nach seiner innenpolitischen Niederlage und wurde zwei Jahrzehnte lang praktisch wie ein toter Hund behandelt. Dann gelangten die amerikanischen Eliten zu der Einsicht, daß der »idealistische« Wilson mit seiner Vision eines durch Satzungen geregelten globalen Kapitalismus unter der Supervision englischsprechender Geschäftsleute doch nicht so weltfremd gewesen sei. Denn nach einer kurzen Scheinblüte in den zwanziger Jahren waren die Weltwarenströme, zunehmend behindert durch währungsschützende Maßnahmen in vielen Ländern, total zusammengebrochen. Allein auf sich gestellt, war der bis dahin boomende amerikanische Kapitalismus bald nicht mehr in de Lage, die produktive Tätigkeit im Inland wenigstens so weit aufrechtzuerhalten, daß alle genug zu essen bekamen. Ein gutes Drittel der Bevölkerung kehrte notgedrungen zu Natural- und Tauschwirtschaft zurück. Erst die mit der Mobilisierung für den Zweiten Weltkrieg verbundene Ankurbelung der Wirtschaft durch die Bundesregierung überwand die Great Depression.

Am Ende des Zweiten Weltkriegs standen die USA im Vergleich zum Rest der Welt noch überlegener da als am Ende des Ersten. Die amerikanischen Eliten sahen sich vor die Aufgabe gestellt, die Nachkriegszeit zu organisieren und die »Fehler«, die nach dem Ersten Weltkrieg gemacht wurden, zu vermeiden. Auf der Konferenz von Bretton Woods 1944 wurden die vertraglichen Grundlagen für eine multilaterale Weltwirtschaftsordnung mit frei konvertierbaren Währungen gelegt. Wenig später wurden die ersten Abkommen über den freien Welthandel und den Schutz von Investitionen geschlossen.

Diesmal hatten sich die »Internationalisten« gegen die »Isolationisten« durchgesetzt. In einer Art Manifest der Sieger erläuterten sie den neuen Konsens: „…die Berechenbarkeit und relative Freiheit der internationalen Märkte (im 19. Jahrhundert) waren in einem bedeutsamen Grad das Ergebnis der Macht und der liberalen Ideologie Großbritanniens und seiner konsequenten Befolgung des Laissez-Faire-Prinzips. Die Sicherheit der im 19. Jahrhundert bestehenden Verfassung ist oft der Pax Britannica – der Aufrechterhaltung der Freiheit der Meere und des Gleichgewichts der Kräfte zwischen den europäischen Staaten durch Großbritannien – zugeschrieben worden. Zweifelsohne fand das Wirtschaftssystem des 19. Jahrhunderts seinen vollkommensten Niederschlag in dem ungeheuren Freihandelsimperium – zu dem alle anderen Länder freien Zutritt hatten –, das durch die britische Kolonialherrschaft und die britische Handelspolitik geschaffen worden war. Die britische Regierung zögerte nicht, ihre unbestrittene wirtschaftliche und politische sowie ihre Macht zur See zu gebrauchen, um die materielle Sicherheit des Welthandels und der Auslandsinvestitionen aufrechtzuerhalten, die Verantwortlichkeit auf kommerziellem und finanziellem Gebiet zu sichern und die Freiheit des internationalen Handels- und Zahlungsverkehrs – nicht nur innerhalb des Empire, sondern auch außerhalb desselben – gegebenenfalls zu erzwingen.“ (Elliott 1955: 3)3

Diese Sätze illustrieren die primäre Selbstverständigung der amerikanischen Nachkriegseliten auf den »idealistischen« Wilsonismus. Er wurde allerdings »realistisch« ergänzt durch die Eindämmungsdoktrin, d.h. durch die Selbstverpflichtung zur militärischen »Verteidigung« der durch Bretton Woods definierten »Freien Welt« gegenüber dem Kommunismus bzw. der Sowjetunion, aber dies war ideologisch nachgeordnet. Allerdings war diese Ergänzung wiederum alles andere als unwesentlich. Die dadurch geschaffene Situation des »Systemgegensatzes« reproduzierte gewissermaßen im Bild von der zweigeteilten Welt das »frontier«-Paradigma der kontinentalen Landnahme: Demokratie und Kompromißbereitschaft »nach innen« verbanden sich mit kompromißlosem Durchsetzungswillen »nach außen«. Die Arena der internationalen Politik wurde nicht gesehen als offenes Feld mit verschiedenen Spielern und mannigfaltigen Interessen, sondern als manichäischer Dualismus von (gutem) »Innen« und (bösem) »Außen«, das es zu durchdringen und erobern oder, um im Bild der amerikanischen Rhetorik zu bleiben, zu »befreien« galt. Im Selbstverständnis der Weltmacht war das »machtgestützter Idealismus«.4 Machtsoziologisch gesehen war es eine Koalition zwischen den neuen, durch den Zweiten Weltkrieg geschaffenen und mit der Staatsmacht liierten industriell-militärischen Eliten und der traditionell wilsonistischen business community.

Als sich 1989-91 die Sowjetunion auflöste, brach dieses historische Zweckbündnis zusammen. Erkennbar wurde das im Streit über die Ursachen des »Sieges« über die Sowjetunion. Für die einen war es eine quasi-militärische, durch unerbittlichen Rüstungsdruck erzwungene Niederringung des Feindes, für die anderen waren es die ideelle Überlegenheit von Freiheit und Markt, die sich ultimativ durchgesetzt hatten. Daraus folgen jeweils unterschiedliche Strategien für die Zeit nach dem Kalten Krieg: Die einen sehen auch in einem kapitalistischen Rußland noch den potentiellen geopolitischen Rivalen, für die anderen ist mit der Abdankung des Kommunismus auch der Feindstatus erloschen.

Dieser Kampf ist noch nicht vollständig entschieden. Aber Vorentscheidungen sind getroffen. Die »Realisten« wehren sich vor allem gegen die NATO-Osterweiterung. Für sie bedeutet das zum einen die Gefahr der Selbstuntergrabung des Bündnisses, zum anderen waren sie es gewohnt, mit dem geostrategischen Gegner UdSSR gewissermaßen antagonistisch zu kooperieren. Aus beidem – der Kreierung eines Spannungszyklus und seiner anschließenden fachmännischen Entschärfung – schöpften sie Prestige und Pfründe. Präsident Clinton jedoch hat sich in seiner zweiten Amtsperiode eindeutig für den Weg des Wilsonismus entschieden. Seine Entscheidung für die Osterweiterung der NATO, die er auch im russischen Interesse sieht, wie sein laufender Versuch, China in den Bereich der asiatischen »Pax Americana« zu integrieren, werden von der amerikanischen business community breit mitgetragen. Dennoch sind beide nicht einfach als Aufträge einheimischer Wirtschafts- und Industriekreise abzutun, sondern auch als weltanschaulich inspirierte Richtungsentscheidungen zu interpretieren (siehe Walker 1997). Die Vereinigten Staaten von Amerika sind das einzige Land der Welt, in dessen Rhetorik beides vereint ist.

In den öffentlichen Reden und Erklärungen Präsident Clintons am Ende des Jahrhunderts erklingt inzwischen kaum verändert wieder, was Woodrow Wilson einst zu seinem Beginn gesagt hatte, als er verzweifelt versuchte, der »Isolationisten«-Fraktion im Kongreß das »internationalistische« Engagement nahezulegen: „Ich hoffe, wir werden es niemals vergessen, daß wir diese Nation nicht dafür aufgebaut haben, um uns selbst, sondern um der Menschheit zu dienen.“ (zitiert nach Gardner 1984) Nur Amerikaner wagen es, rhetorisch zu behaupten, die Verfolgung ihrer materiellen Interessen und die Beibehaltung ihres Way of Life würde automatisch zum Wohl der Menschheit gereichen.

Wenn ihnen doch aber niemand mehr widerspricht?

Literatur

Berghe van den, Pierre L. (1967): Race and Racism. A Comparative Perspective, New York.

Christopher,Warren (1996): Schutz der amerikanischen Interessen ist abhängig von Führungsrolle, in: AmerikaDienst, 24. Juli.

Dallek, Robert (1983): The American Style of Foreign Policy. Cultural Politics and Foreign Affairs. New York.

Elliott, William Yandell u.a.(1955): Weltwirtschaft und Weltpolitik. Grundlage, Strategie und Grenzen der amerikanischen Außenwirtschaftspolitik, München.

Gardner, Lloyd C. (1984): A Covenant With Power. America and World Order from Wilson to Reagan, New York.

Hamilton, A. /J. Madison/J.Jay (1961): The Federalist Papers, New York.

Isaacson, Walter / Evan Thomas (1986): The Wise Men. Six Friends and the World They Made: Acheson, Bohlen, Harriman, Kennan, Lovett, McCloy. New York.

Latane, John H. (ed.) (1932): The Development of the League of Nations Idea, New York, Vol. I.

Levin, N. Gordon, Jr. (1968): Woodrow Wilson and World Politics, New York.

Melville, Herman (1954): Weißjacke, Leipzig.

Meyer, Arno (1964): Wilson vs. Lenin: Political Origins of the New Diplomacy, Cleveland.

Smith, Henry Nash (1950): Virgin Land. The American West as Symbol and Myth, Cambridge, Mass.

Turner, Frederick Jackson (1893): The Significance of the Frontier in American History, in: Annual Report of the American Historical Association.

Walker, Martin (1997): Present at the Solution. Madeleine Albrights Ambitious Foreign Policy, in: World Policy Journal, Vol. XIV, No. 1, Spring 1997, S. 1-10.

Weigly, Russell F. (1973): The American Way of War. A History of United States Military Strategy and Policy, New York.

Weiler, Peter (1982): The New Liberalism: Liberal Social Theory in Great Britain 1889 – 1914, New York.

Anmerkungen

1) Die Originaldefinition von Max Weber findet sich in: Wirtschaft und Gesellschaft, Studienausgabe, Erster Halbband, Köln/Berlin 1964, S. 38. Zurück

2) Zum Verhältnis von Imagination und Wirklichkeit bei der Westexpansion siehe Smith 1950 Zurück

3) Dieses Buch (Elliott 1955) war sowohl als Selbstverständigung für den internen Gebrauch als auch für die Einweihung der kooptierten atlantischen Eliten gedacht. Als letzteres wurde es auch ins Deutsche übersetzt. Zu diesem Komplex siehe auch Isaacson/Thomas 1986. Zurück

4) Wichtig für die Bildung dieses Selbstverständnisses war der protestantische Theologe und Publizist Reinhold Niebuhr. Siehe hierzu vor allem seine Schrift The Children of Light and the Children of Darkness: A Vindication of Democracy and a Critique of Its Traditional Defense, New York 1944. In ihr wurden sämtliche legitimatorischen Argumente dafür, daß das freiheitliche Amerika im Kalten Krieg bei der Verteidigung der Freiheit auch zu terroristischen Mitteln greifen darf, vorweggenommen. Zurück

Dr. Frank Unger, Fellow am Center for the Humanities, Oregan State University, Privatdozent am FB Politikwissenschaften der FU Berlin.

Präsident Clinton und die Abrüstung

Präsident Clinton und die Abrüstung

Verspielt er gerade eine historische Gelegenheit?

von David Krieger

Clinton begann seine erste Amtszeit mit dem Versprechen, sich für die Homosexuellen im Militär einzusetzen. Das brachte ihm einen derart massiven Widerstand aus Militärkreisen ein, daß Clinton seitdem jegliche Kraftprobe mit den Militärs vermieden hat. Selbst jetzt in seiner zweiten Präsidentschaft ohne den Druck zur Wiederwahl scheint Clinton nicht in der Lage, den Militärs nennenswerten Widerstand entgegenzusetzen, ganz gleich wie unerhört deren Appetit nach Rüstung und anderen Ressourcen auch ist.

Als jüngstes Beispiel hat Clinton unter dem Druck der Militärs seine Unterstützung für das Verbot von Landminen verweigert, eine Vereinbarung, die bisher von über 100 Ländern unterzeichnet worden ist. Als Grund wurde angegeben, daß die USA Minen zum Schutz ihrer Truppen in Korea brauchten. Mit seiner Gewichtung der Bedrohung amerikanischer Truppen durch einen äußerst unwahrscheinlichen nordkoreanischen Angriff gegen das reale Gemetzel durch Landminen an jährlich 26.000 Zivilisten hat Clinton eine kurzsichtige Entscheidung getroffen. Diese Entscheidung fügt sich in sein Handlungsschema, vermeintliche militärische Interessen zu unterstützen, egal ob dabei die Werte menschlichen Anstands mit Füßen getreten werden oder die Chancen auf eine friedlichere Welt.

Der Kongreßabgeordnete Walter Capps gab zur Weigerung des Präsidenten, das Verbot von Landminen zu unterstützen, folgende Erklärung ab: „Ich erhebe mich mit großer Bestürzung über die Entscheidung des Präsidenten, den Vertrag von Ottawa zum Verbot von Landminen nicht zu unterzeichnen. Die Position der Regierung ist nicht nachvollziehbar. Der einzige Weg für die Vereinigten Staaten, in dieser Angelegenheit Führungsqualität zu zeigen, ist , den umfassenden Sperrvertrag zu diesen tödlichen Apparaten zu unterzeichnen. Einhundert Nationen haben couragiert ihre Politik geändert, aber US-Anwälte haben einfach die Definition von Landmine geändert. Aber eine Landmine bleibt auch mit jedem anderen Etikett immer noch eine Landmine, und Landminen sind unmoralisch. Menschen aus allen Teilen der Welt haben sich zusammengeschlossen um laut zu fordern, damit Schluß zu machen. Kein Töten mehr, kein Verstümmeln von Unschuldigen mehr. Keine Angst mehr beim Verlassen des Hauses, um Nahrung zu beschaffen. Keine soziale und ökonomische Aushebelung mehr der ärmsten Länder dieser Welt. Ich fordere den Präsidenten auf, das Verbot der Anti-Personenminen zu unterzeichnen.“

Präsident Clinton hat einen nach Beendigung des kalten Krieges unnötig hohen Militärhaushalt unterstützt. Mit ca. 265 Mrd. Dollar pro Jahr übersteigt das US-Verteidigungsbudget die addierten Militäraufwendungen der neun nächsten ausgabenstärksten Nationen. Es ist um mehr als das fünfundzwanzigfache größer als die addierten Militärausgaben von Ländern, die als potentielle Gegner der Vereinigten Staaten angesehen werden könnten, wie Iran, Irak, Libyen, Syrien und Nordkorea. Diese gewaltigen Rüstungsausgaben werden aller Voraussicht nach auch während Clintons zweiter Amtszeit fortgesetzt werden zu Lasten innenpolitischer Gesundheits- und Bildungsprogramme und zu Lasten der Armutsbekämpfung in den Vereinigten Staaten und in Übersee.

Unter Clintons Präsidentschaft bleiben die USA der Welt größter Waffenexporteur. 1996 haben die USA Waffen und militärische Ausrüstung im Wert von 13,8 Mrd. Dollar an den Rest der Welt verkauft, darunter für 7,3 Mrd. Dollar an Entwicklungsländer. Die Clinton-Regierung hat sich tatkräftig um neue Absatzmärkte für US- Waffen bemüht. 1997 hat Präsident Clinton ein zwanzigjähriges Verbot gegen den Verkauf moderner Waffensysteme an Lateinamerika aufgehoben. Er scheint durchaus bereit, hochentwickelte Militärausrüstung, wie Jagdflugzeuge, nach Lateinamerika zu verkaufen, was noch nicht einmal Reagan oder Bush in Betracht gezogen haben.

Als der Kongreß als Zusatz zum State Department Authorization Act Richtlinien für den Waffenexport verabschiedete, um den Waffenverkauf an Diktatoren einzuschränken, widersetzte sich die Clinton-Regierung. Sie argumentierte, daß der Präsident den Handlungsspielraum brauche, Waffen an Länder seiner Wahl zu verkaufen, ungeachtet von Menschenrechtsbilanzen oder Demokratiekriterien.

Die Kongreßabgeordnete Cynthia McKinney, die den Richtlinienantrag eingebracht hatte, erklärte: „In den vergangenen vier Jahren sind 85 Prozent der amerikanischen Waffenverkäufe in die Dritte Welt an nichtdemokratische Regierungen gegangen. Die Vereinigten Staaten sind verantwortlich für 44 Prozent aller Waffenexporte in der Welt. Die Vereinigten Staaten sind ohne Qualifikation der Waffenhändler der Welt und die Adresse für die Diktatoren der Welt, um den Tod einzukaufen.“ Während Clintons erster Amtszeit hat seine Regierung die Armeen nichtdemokratischer Staatsführungen mit Waffen und Training im Wert von 35,9 Mrd. Dollar unterstützt, oder durchschnittlich 9 Mrd. Dollar pro Jahr. Diese Summe machte 82 Prozent der 44 Mrd. Dollar umfassenden US-Militärhilfe für Entwicklungsländer aus.

Auch auf dem Gebiet der nuklearen Abrüstung hat Präsident Clinton enttäuscht. Er hat faktisch nichts unternommen, um den Prozeß zu einer atomwaffenfreien Welt voranzubringen. Im Gegenteil, er ging Schritte, die uns in die entgegengesetzte Richtung drängen. Seine starke Befürwortung einer NATO-Osterweiterung wird von den Russen als Bedrohung aufgefaßt und ist für die russische Duma ein Hindernis bei der Ratifizierung von START II gewesen. Für George Kennan ist die NATO-Osterweiterung „der verhängnisvollste Fehler amerikanischer Politik seit dem Ende des kalten Krieges.“

Präsident Clinton führte mit dem russischen Präsidenten Jelzin vorläufige Gespräche über einen START III-Vertrag, um die einsatzfähigen strategischen atomaren Arsenale bis zum Jahr 2007 auf 2.000 bis 2.500 zu reduzieren. Dies wäre ein weiterer Abbau von ca. 1.000 Atomsprengköpfen über die START II-Obergrenzen hinaus, innerhalb von vier Jahren nach der Erfüllung der START II-Vereinbarungen und im Jahr 2003 beginnend. Wenn dies auch ein willkommener Schritt wäre, so ist er doch von minimaler Bedeutung und bleibt weit hinter der einzigartigen Gelegenheit zurück, die sich jetzt zu größeren Abrüstungsschritten bietet.

Während Präsident Clinton federführend war beim Abschluß des Umfassenden Testsperrvertrags (Comprehensive Test Ban Treaty, CTBT), haben die USA im ersten Jahr seiner neuen Amtsperiode bereits damit begonnen, sub-kritische Atomwaffentests durchzuführen. Diese Testserien, die zur Verbesserung der Zuverlässigkeit und Wirksamkeit atomarer Waffen benutzt werden können und sogar zur Erprobung neuer Waffenentwicklungen, werden auf breiter Front von nicht-nuklearen Staaten als ein Zeichen mangelnden Vertrauens und als Schwächung des Vertrags gesehen. Amerikanische subkritische Tests könnten andere Atommächte veranlassen, ähnliche Tests durchzuführen und sie könnten dazu führen, daß der Vertrag zur Nichtverbreitung atomarer Waffen ausgehebelt wird.

Unter Clintons Führung steigen die USA in ein 45 Mrd. Dollar teures Vorratsverwaltungsprogramm (Stockpile Stewardship) über den Zeitraum der nächsten zehn Jahre ein. Ein Hauptmerkmal ist das labormäßige Testen von Atomwaffen. Das Programm umfaßt die Entwicklung der National Ignition Facility (NIF) am Lawrence Livermore Labor zur Durchführung thermonuklearer Tests mit Hochenergielasern.

Präsident Clintons positivster Beitrag in Bezug auf Abrüstungsthemen war sein Einsatz für die Ratifizierung der Chemiewaffenkonvention durch den US-Senat. Er hat angedeutet, sich in gleicher Weise für die Ratifizierung des Comprehensive Test Ban Treaty im Senat einzubringen. Es ist jedoch unwahrscheinlich, daß dieser Vertrag je in Kraft tritt, da hierzu die Ratifizierung durch Indien nötig ist. Indien hat erklärt, den Vertrag erst dann zu unterzeichnen, wenn die bekannten Atommächte sich verbindlich verpflichten, ihre atomaren Arsenale zu vernichten, so wie es Artikel VI des Nichtverbreitungsvertrages vorschreibt.

Die Clinton-Regierung hat einige konstruktive Schritte unternommen, um die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen zu kontrollieren. Im großen und ganzen läßt sich aber an der Abrüstungsbilanz der Regierung noch viel verbessern. Die Clinton-Regierung hat nicht aufgehört, den ungeheuren Appetit des Militärs nach Ressourcen zu füttern, ist der Welt größter Waffenexporteur gewesen, hat scheinheilig bei Rüstungskontrolle und Abrüstung taktiert, hat es versäumt, die außergewöhnliche Gunst des Augenblicks zur atomaren Abrüstung zu nutzen, und sie hat sich vernünftigen und notwendigen Maßnahmen wie dem Verbot von Landminen widersetzt.

Wenn Mister Clinton positive Erinnerungen an seine zweite Amtszeit hinterlassen möchte auf dem Gebiet der Rüstungskontrolle und Abrüstung, so wird er nicht umhin können, die meisten seiner jetzigen politischen Grundsätze zu überdenken und zu einem weitsichtigeren und couragierteren Führungsstil zu greifen, wenn es um Abrüstung und die Beschneidung von Waffentransfers geht. Schafft er es nicht, derartige Führungsqualität zu entwickeln, wird er nicht als einer der großen Präsidenten in die Geschichte eingehen.

David Krieger ist Präsident der Nuclear Age Peace Foundation

Editorial

Editorial

von Jürgen Nieth

Montag, 17. November 1997: Der US-Flugzeugträger George Washington ist auf dem Weg ins Rote Meer. In der Region sind bereits der Flugzeugträger Nimiz, 17 Kriegsschiffe und 200 amerikanische Flugzeuge stationiert. Aus dem US-Verteidigungsministerium hieß es am Wochenende, ein militärisches Eingreifen sei „noch einige Schritte entfernt“, werde aber immer wahrscheinlicher.

Vorausgegangen waren eine massive Behinderung der im Rahmen einer UN-Mission tätigen US-Waffenkontrolleure durch irakisches Militär und schließlich der Abzug fast aller UN-Kontrolleure aus Protest gegen diese Behinderungen.

Ein Spiel, das wir in der einen oder anderen Version seit dem zweiten Golfkrieg immer wieder erleben. Der irakische Diktator Saddam Hussein gibt sich bedroht oder ausspioniert durch US-Amerikaner in UN-Mission und greift zum Mittel der gezielten Verletzung der ihm von den UN auferlegten Sanktionen oder der Arbeitsbehinderung von vor allem US-Personal in UN-Diensten. Der »Erzfeind Nr. 1« eignet sich hervorragend, um zumindest kurzfristig abzulenken von der katastrophalen ökonomischen Situation, in der sich das Land seit dem letzten Krieg befindet und um alle eventuellen innenpolitischen Proteste wegzuspülen in einer Welle nationaler Euphorie.

Und die USA? Sie demonstrieren Macht und militärische Überlegenheit. Bereits viermal haben sie seit dem Golfkrieg II ihre Militärmaschinerie gegen den Irak eingesetzt: 1992 schossen amerikanische Kampfflugzeuge eine irakische MIG-25 über der nördlichen Flugverbotszone ab. Im Januar 1993 zerstörten amerikanische Raketen das Luftverteidigungssystem im Süden des Irak. Im Sommer 1993 wurden 23 Cruise-Missile gegen militärische Gebäude in Bagdad eingesetzt. 1996 gingen 44 amerikanische Raketen auf militärische Ziele im Süden nieder, nachdem irakisches Militär gegen kurdische Einheiten im Norden eingesetzt worden war.

Militäreinsätze, die alle eins gemeinsam hatten: Sie demonstrierten den Willen und die Möglichkeit der USA zu jedem Zeitpunkt und an (fast) jedem Ort militärische »Strafmaßnahmen« durchzuführen. Daß das Regime des Saddam Hussein durch keine dieser Militärattacken ernsthaft gefährdet, ja eher noch stabilisiert wurde, schien zum Kalkül zu gehören. Die Mehrheit der Nahostexperten scheint immerhin davon auszugehen, daß die USA das Saddam-Regime brauchen als Block gegen die weitere Ausdehnung des schiitischen Islam, gegen den Iran und zur Verhinderung eines eigenen Kurdenstaates an der Grenze zur Türkei.

Diesmal soll es um mehr als nur eine Strafaktion gehen. Verteidigungsminister Cohen ließ Clinton ein Szenario unterbreiten, nachdem es „nicht nur bei einem kurzem Luftschlag“ bleiben dürfe. Doch dafür fehlen heute (bei Redaktionsschluß) noch einige Voraussetzungen: Frankreich, Rußland und China plädieren im Sicherheitsrat für nichtmilitärische Lösungen. Im Gegensatz zur Situation während des zweiten Golfkrieges gehen die arabischen Staaten auf Distanz zur USA. Die jordanische Zeitung »Jordan Times« spricht die Befürchtung aus, daß die USA Saddam im Irak zum Märtyrer machten. Der »Iran Daily« vertritt die Auffassung, daß die USA die jüngste Krise nur provoziert hätten, um den Golfstaaten neue Waffen verkaufen zu können. Die in Dubai erscheinende »Khaleej Times« schreibt offen, daß die Welt „die seit dem Ende des Kalten Krieges gewachsene amerikanische Arroganz satt“ habe. Selbst Kuwait distanzierte sich in der letzten Woche von der amerikanischen Position.

Möglich, daß die Situation trotzdem in den nächsten Tagen eskaliert. Möglich, daß Saddam den Vorwand liefert, möglich, daß für Clinton die Situation so weit fortgeschritten erscheint, daß er ohne Militäreinsatz einen innenpolitischen Imageschaden befürchtet und auch ohne Rückendeckung seiner Verbündeten den Einsatzbefehl gibt.

Eine der arabischen Zeitungen schrieb in diesen Tagen: „Ein weiser und starker Mann wird dem schwachen immer eine Option für einen Rückzug in Würde geben.“ Zugegeben, mir fehlt das Gottvertrauen in die »Weisheit » der US-Regierung. Die Gefahr ist groß, daß wieder einmal pures Machtdenken die Entscheidung diktiert.

Sicher, die internationale Staatengemeinschaft ist zu Recht skeptisch in bezug auf die mögliche Produktion von Massenvernichtungsmitteln im Irak. Aber ist es wirklich klug, wenn der Kriegssieger von gestern heute als oberster Kontrolleur auftritt? Ist es nicht viel wichtiger, daß überhaupt kontrolliert wird? Das aber können Spezialisten aus anderen Ländern sicher genauso gut, dafür bedarf es keiner US- Dominanz.

Und noch etwas: Wer internationale Kontrolle will, muß Strukturen bilden und unterstützen, in denen internationale Vereinbarungen getroffen und auch kontrolliert werden können. Ein erneuter Militäreinsatz am Golf wird die Probleme genausowenig lösen wie die vorausgegangenen. Die internationalen Strukturen der UN aber würden weiter geschwächt, da er einmal mehr dokumentierte, daß die USA nach eigenem Belieben Weltmachtpolitik machen.

Die Rolle der »Supermacht« und ihr Einfluß auf die Weltpolitik waren für uns Anfang des Jahres Anlaß, den Schwerpunkt »USA« festzulegen. Daß dieses Thema so aktuell werden könnte, haben wir damals nicht geahnt.

Ihr Jürgen Nieth

Wo Amerika heute liegt

Wo Amerika heute liegt

Ein Rückblick auf die Ära Reagan

von Bernd Greiner

Niemand wird bestreiten, daß sich die politische Landschaft Amerikas gewaltig verändert hat. 1989 ist nicht 1979, von 1969 ganz zu schweigen. Was aber ist heute anders? Wann wurde das Alte vom Sockel gestoßen? Und warum? Wer war die treibende Kraft? Es lohnt sich, bei amerikanischen Querdenkern nachzulesen, z.B. bei Journalisten wie Thomas Edsall und Hedrick Smith, Ökonomen wie Gar Alperovitz, Barry Bluestone und Bennett Harrison, Politikwissenschaftlern wie Philip Stern, Thomas Ferguson und Joel Rogers oder Soziologen wie Michael J. Weiss. Ihr Befund: Als Ronald Reagan 1980 die Bühne betrat, waren die Rollen bereits verteilt. Ihm blieb nichts weiter übrig, als die neuen Spielregeln vom Teleprompter zu verlesen und dem Publikum vorzugaukeln, es seien die eigenen. Die Reaganauten stellten keine Weichen. Ein politisches Original war der Kalifornier zweifellos – aber alles andere als originell. Der Kaiser spielte in geliehenen Kleidern. Wer also den großen Umbau in Politik und Gesellschaft verstehen will, wird in den 80er Jahren nicht fündig werden. Der Wendepunkt liegt zehn Jahre vor Reagans Zeit. In den 70er Jahren wurden die Karten im politischen Machtpoker neu gemischt und die Koordinaten der politischen Ökonomie neu verlegt.

Die Umbrüche in den 70er Jahren

Der Startschuß kam aus Unternehmerkreisen: »Profit-Squeeze« hieß das magische Wort. In der Tat: In den 70er Jahren war es schwieriger geworden, Gewinne einzustreichen. Die Impulse der Kriegswirtschaft bleiben aus, nachdem die letzten Truppen aus Vietnam abgezogen waren; ein Kartell erdölproduzierender Länder diktierte die »terms of trade« für den wichtigsten Rohstoff; ausländische Konkurrenz eroberte Schritt für Schritt den amerikanischen Markt und verschonte auch das Allerheiligste nicht: Seit 1978 importierten die USA erstmals mehr Autos als sie exportierten. Das Ergebnis war absehbar und konnte Ende der 70er Jahre in den Statistiken abgelesen werden. Die Profite lagen damals niedriger als zu Beginn der 60er Jahre. Und ein neuerlicher »Kriegsboom«, der wie in den 30er, 40er, 50er und 60er Jahren rasche Abhilfe hätte schaffen können, war nicht in Sicht. Darin sieht Gar Alperovitz den wesentlichen Grund für die unerwartet aggressive Gegenwehr des Kapitals. Führende Unternehmen kündigten die seit Franklin Delano Roosevelts »New Deal« eingeübte »Sozialpartnerschaft« mit den Gewerkschaften und schalteten auf »soziale De-Regulierung« um. Gewerkschaftliche Vertretungsrechte werden ebenso bekämpft wie betriebliche Sozialleistungen und staatliche Vorschriften zum Umwelt- und Arbeitsschutz. Nachdem die Pharma- und Ölindustrien vorgeprescht waren, gab es kein Halten mehr. In großem Stil wurden Kapital und Ausrüstung in Niedriglohnländer oder in »gewerkschaftsfreie Räume« des amerikanischen Südens und Südostens verlegt. Billige und willige Arbeiter gab es dort zuhauf, stieg die Zahl der Einwanderer in dieser Zeit doch wieder markant an. Die Gewerkschaften waren völlig unvorbereitet. Sie wurden buchstäblich an die Wand gespielt – ein Vorgang, der Historiker und Sozialwissenschaftler noch lange beschäftigen wird. Bennett Harrison und Barry Bluestone sehen darin eine beispiellose ökonomische und soziale Polarisierung des Landes. Ob eine solche These haltbar ist, werden vergleichende historische Analysen zeigen müssen. Unstrittig ist allerdings, daß den Gewerkschaften scharenweise die Mitglieder davonliefen, ob in der Schwer- oder Konsumgüterindustrie, ob im Bergbau oder im Bauwesen. Ende der 70er Jahre war klar, daß von saisonalen oder konjunkturellen Schwankungen nicht die Rede sein konnte. Die Gewerkschaftsbewegung befand sich in einem (bis heute fortwährenden) epochalen Niedergang. In zehn Jahren verloren z.B. die United Steel Workers 46% ihrer Mitglieder (490.000) und die International Ladies' Garment Workers Union 42% (152.000); 260.000 gaben ihre Mitgliedskarten an die International Association of Machinists and Aerospace Workers zurück, 176.000 an die United Automobile Workers. In den neuen Wachstumsbranchen zwischen Dienstleistung und High Tech rieb man sich die Hände. Closed Shop? Nie gehört! Wer in die Gewerkschaft wollte, mußte sich anderweitig umschauen. Kein Wunder also, daß Mitte der 80er Jahre gerade noch 17,5% der Lohn- und Gehaltsempfänger gewerkschaftlich organisiert waren. (1954 waren es doppelt so viele gewesen).

Die jungen Reformer

Soziale und ökonomische Umbrüche rufen immer politische Reformer auf den Plan. Der Zangengriff des Kapitals hatte kaum begonnen, als eine »neue Generation« von Politikern selbstbewußt verkündete, sozialstaatliche Intervention und Umverteilung hätten ausgedient. Wer waren diese Reformer? Thomas Edsall und Hedrick Smith haben sie porträtiert. Sie sind jung, weiß, mittelständisch, wohlhabend, vom Vorstadtmilieu geprägt, pragmatisch und machthungrig; sie kennen Rassen- und Klassenkonflikte allenfalls aus dem Geschichtsunterricht, geben sich aber dennoch progressiv und alternativ; legen großen Wert auf politisches »Image« und »Symbolik«; lassen Heerscharen von Medienberatern, Meinungsforschern und PR-Agenten für sich arbeiten; und hecheln ständig dem Zeitgeist hinterher. Verständlich, daß ältere Kollegen in ihnen nur »show horses« sehen wollen. Aber die »show horses« fanden und finden Anklang. Warum? Wahrscheinlich, weil sie eine mittelständische Klientel verläßlich bedienen. Die Neuen zeigen Zähne, wenn die soziale De-Regulierung allzu weit getrieben wird und auf den Besitzstand des Mittelstandes überzugreifen droht. Über die Renten- und Krankenversicherung (»social security«) lassen sie nicht mit sich reden – eher sollen die Wohlfahrtsempfänger mit noch weniger auskommen; oder die Gewerkschaften auf neue Tarifverträge verzichten.

Prominent wurden die »jungen Reformer«, als sie die großen Themen der Zeit in Parteien und Parlamenten zur Sprache brachten: Frieden, Umwelt, Abtreibung, Homosexualität, Scheidung. Hier zeigten sie programmatisches Geschick. Ihr Aufstieg in den 70er Jahren stützte sich auf einen klassischen Polit-Poker mit den Konservativen: Bereitwillig überließen sie diesen die Agitation gegen Sozialstaat, regulierte Industriepolitik, Wohlfahrt und sonstige »unproduktive Ausgaben«. Zugleich vereinnahmten sie jene, die den Radikalismus der Konservativen in anderen Fragen nicht teilten. Der »unabhängige Wähler« war geboren: er votierte bei Präsidentschaftswahlen für die Republikaner, bei Abstimmungen zum Kongress für die Demokraten. Die Konservativen verstanden das Signal. Auf Dauer würden sie zum Kompromiß mit den »jungen Reformern« gezwungen sein.

Die Neuen konnten sich als politische Kraft etablieren, weil sie ihre Stellung institutionell absicherten. Zunächst eroberten sie Schlüsselstellungen innerhalb der Demokratischen Partei. Allgemeine Aufmerksamkeit war ihnen stets sicher, z.B. anläßlich der Parteitage. Traditionell benachteiligte Gruppen schickten starke Delegationen; Schwarze, Frauen und Umweltschützer konnten erstmals ein Wort mitreden. Die Kehrseite der Reform zeigte sich bei den Wahlen 1976 und 1978. Die Reformer hatten die alten Regeln nicht demokratisiert, sondern zu ihren Gunsten umgeschrieben. Die eingeschriebenen Mitglieder durchschauten immer weniger, nach welchen Kriterien die Kandidaten für das Amt des Bürgermeisters, des Gouverneurs, des Senators oder des Präsidenten aufgestellt wurden. Das Ergebnis: immer mehr weigerten sich, bei der Kandidatenkür der Partei mitzumachen. Insbesondere Schwarze und Wähler der Unterschicht blieben den Parteiversammlungen fern. Bald waren der Mittelstand oder die »high tech«-Demokraten unter sich. Entsprechend fielen jetzt auch die Wahlparolen aus.

Ein historischer Zufall verhalf den »jungen Reformern« zum endgültigen Durchbruch: der Watergate-Skandal. Des Republikaners Nixon und seiner Partei überdrüssig, schickten die Wähler 1974 und 1976 gleich dutzendweise »demokratische Reformer« in den Senat und das Repräsentantenhaus. Kaum gewählt, inszenierten diese auch im Parlament einen institutionellen Putsch. Washington erlebte ein politisches Erdbeben, als die alten »Machtbarone« im Kongreß abgewählt wurden. Einige von ihnen hatten seit den Tagen des »New Deal« die wichtigen Ausschüsse, in denen Haushalte verabschiedet und Gelder verteilt werden, beherrscht. Die Tage zentralisierter Macht waren, buchstäblich über Nacht, vorbei. Kompetenzen wurden auf eine Vielzahl von »subcommittees« verteilt. Wer dort den Vorsitz stellte, war auch klar: die neuen »high tech«-Demokraten.

Die Entstehung einer politischen Industrie

Die institutionelle Reform der Neuen war so widersprüchlich und janusköpfig wie ihr Programm. Die Entmachtung der selbstherrlichen und altersstarren Ausschußvorsitzenden wurde als überfälliger Schritt begrüßt und allenthalben mit Beifall aufgenommen. Wer daraus allerdings auf hehre Ziele der Reformer schloß, hatte sich geirrt. Transparenz und Abbau der Hierarchien war ihr Anliegen nicht, nur Mittel zum Zweck. Ihnen ging es vielmehr um den eigenen Aufstieg – und zwar auf schnellstem Wege. Die Kontrolle über diverse Unterausschüsse versprach Macht und Einfluß und war eine willkommene Sprosse auf der Karriereleiter.

Einfluß allein reichte allerdings nicht aus. Gefragt war Geld – so viel wie möglich und gleichgültig aus welcher Quelle. Die »jungen Reformer« waren (und sind) ständig in Geldnot, weil sie ihre Karrieren auf eigene Faust planten. Sie rühmen sich der ideologischen und politischen Unabhängigkeit, frei von organisatorischen Fesseln und sonstigen Verpflichtungen jener, die innerhalb der Parteiapparate geblieben waren. Aber derlei Befreiung hatte ihren Preis. Die Neuen mußten ihren eigenen Apparat aufbauen, Berater und Wahlhelfer bezahlen, Umfragen finanzieren und Werbematerial auf eigene Rechnung verschicken – vor allem aber Sendezeit im Fernsehen kaufen. Das Fernsehen löste die Parteiversammlung als politische Arena ab. Und kassiert dafür seit Jahren Unsummen. Zwischen 1974 und 1986, rechnet Hedrick Smith vor, stiegen die durchschnittlichen Wahlkampfkosten eines Mitgliedes im Repräsentantenhaus von 56.539 $ auf 334.222 $; war der Betreffende Senator, so hatte er 1986 3,3 Millionen Dollar aufzubringen, sechsmal mehr als 1974. Philip Stern hat nachgerechnet und festgestellt, daß ein Senator heute während seiner gesamten Amtszeit Woche für Woche durchschnittlich 10.000 (!) Dollar eintreiben muß. Die Suche nach Financiers gehört mittlerweile zu den wichtigsten Tätigkeiten eines Kongreßabgeordneten. Ab und an werden auch Ausschuß- oder Plenarberatungen abgebrochen, damit die Herren Termine mit ihren Sponsoren wahrnehmen können.

Das »große Geld« ließ sich eine solche einmalige Gelegenheit natürlich nicht entgehen – zumal es seit 1974 völlig legal war, Kongreßabgeordnete von privater Seite finanziell zu unterstützen. Also gelang es den Privaten, unmittelbar darauf Einfluß zu nehmen, wie sich die politischen Kräfte in Washington neu formierten. Alte parlamentarische Machtgefüge waren zusammengebrochen, die Parteien in den Hintergrund gedrängt. Wer in der Hauptstadt den Überblick behalten und Einfluß nehmen wollte, mußte auf einzelne Abgeordnete zugehen und sie für seine Sache gewinnen. Aus der ehemals beschaulichen Lobby-Arbeit wurde von einem Tag auf den anderen eine »politische Industrie«. Allerorten schoßen »Political Action Committees« (PAC) aus dem Boden. Sie sollten und würden fortan Funktionen übernehmen, die bisher den Parteien vorbehalten waren – d.h. in erster Linie zwischen politischen Interessengruppen und dem Kongreß »vermitteln«. PACs registrieren und mobilisieren seither Wähler, entwerfen Wahlkampfstrategien, werben in der Öffentlichkeit um Geldspenden, treten für den Kandidaten X oder gegen die Kandidatin Y auf. 1974 gab es erst 608 solcher PACs; zehn Jahre später waren weit über 4.000 registriert. 1974 griffen sie mit 12,5 Millionen Dollar in den Wahlkampf zum Kongreß ein, 1980 bereits mit 55,2 Millionen und 1982 mit 83,1 Millionen. Die Beträge haben sich mittlerweile vervielfacht.

Selbstverständlich versuchten alle Interessengruppen, ihre Anliegen über PACs zu steuern. Die Farmer wie die Gewerkschaften, die Verbraucher wie die Umweltschützer. Aber niemand war so rührig und erfolgreich wie »big business«. 1976 gab es 89 »corporate PACs«; vier Jahre später waren es dreizehnmal so viele, nämlich 1.200. Hinzu kamen 400 PACs, die für Unternehmerverbände arbeiteten. 1980 waren weit über die Hälfte der 500 größten Industrieunternehmen (»Fortune 500«) in Washington mit einem PAC vertreten. Großbetriebe im allgemeinen sowie Firmen aus hochmonopolisierten Branchen (Luft- und Raumfahrt) und aus staatlich regulierten Sektoren (Pharma- und Ölindustrie) wählten den direkten »Zugang« zu Abgeordneten, um die Gesetzgebung zu beeinflussen. Hedrick Smith zitiert mehrere Insider, die sich nicht scheuten, die Vorgänge beim Namen zu nennen: Es fehlte (und fehlt) nur noch ein Schritt zur Bestechung. PACs verlassen sich darauf, daß »ihre Abgeordneten« im Sinne der Firma oder des Industriezweiges abstimmen. Da die Parlamentarier auf das Geld angewiesen sind, geben sie diesen Verpflichtungen nach.

In der Tat ist die Bedeutung der PACs – und gerade der »corporate PACs« – kaum zu überschätzen. Mittels ihrer haben sich die großen Firmen »politisiert« und eine völlig neue politische Infrastruktur aufgebaut. Heute sind sie auf allen politischen Ebenen präsent, vom Rathaus bis zum Weißen Haus – als »Investmentbanker« (Hedrick Smith) der Politik. Anfang der 80er Jahre hatten mehr Handels- und Kapitalgesellschaften ihren Hauptsitz in Washington als in New York; Anfang 1989 waren es über 3.500 (mit insgesamt 80.000 Angestellten). Seit über zehn Jahren finden sie optimale Bedingungen für eine »De-Regulierung« der Arbeitsbeziehungen und der Betriebsverfassungen vor.

Die PAC-Manager wußten bald, wie Interessen optimal zur Geltung gebracht werden konnten. Sie statteten hauptsächlich Amtsinhaber mit üppigen Spenden aus – man kannte ihr Umfeld, sie würden sich nicht einarbeiten müssen, unterhielten seit Jahren gute Verbindungen, wußten stets, was über wen zu welchem Zeitpunkt in Washington machbar war. Parteizugehörigkeit spielte (und spielt) für die PACs also eine untergeordnete Rolle. Funktion und Einfluß eines Abgeordneten waren ihnen seit jeher wichtiger als ideologische Ausrichtung. „PACs buy access, not ideology“, heißt es in Washington. In den 80er Jahren flossen 88% der PAC-Gelder an Amtsinhaber beider (!) Parteien – mit dem Ergebnis, daß potentielle Herausforderer wegen Geldmangels erst gar nicht zur Wahl antraten. 1980 galten nur noch 16% aller Parlamentssitze als umkämpft; bei 84% standen die Sieger von vornherein fest. Davon profitierten auch die »jungen Reformer« des Parlamentsjahrgangs 1974. Seit nunmehr 15 Jahren sitzen sie, von PACs wohlbedacht, in ihren Ämtern. 1986 z.B. wurden 97,7% aller Amtsinhaber wiedergewählt. Sie wurden gewählt, weil sie das meiste Geld für PR-Arbeit ausgeben konnten, gegen die wirtschaftskonforme »De-Regulierung« nichts einzuwenden hatten und Steuererleichterungen verabschiedeten – aber auch, weil die »neue Generation« in ihren Reihen für eine liberale Interpretation der »social issues« (Abtreibung, Schulgebet, Justizreform) eintrat und damit für viele mittelständische Wählergruppen attraktiv blieb. Von ihnen allerdings Initiativen zugunsten der Arbeiterbewegung, der Armen, sozial Schwachen und Obdachlosen zu erwarten, ginge völlig an der Realität vorbei. Sie sind als Gegner des »Sozialstaates« großgeworden; einen »Rückfall« kann sich heute keiner mehr leisten – es sei denn, er riskiert PAC-Geld, Amt und Karriere.

Das Programm der Reaganauten

Als Ronald Reagan 1980 die Bühne betrat, war der Umbau der Parteien und des Parlaments abgeschlossen. Ein politischer Anachronist, wer damals noch für die Einheit von sozialer Reform und bürgerlichen Freiheitsrechten stritt. Dieser Liberalismus, die wichtigste politische Hinterlassenschaft Franklin Delano Roosevelts, hatte als organisierte politische Bewegung abgedankt. Reagan war die Folge eines jahrelangen Erosionsprozesses. Stück um Stück, für die Zeitgenossen kaum merklich, war seit den frühen 70er Jahren sozialliberales Terrain abgetragen worden. 1980 war aber auch klar: Die Reaganauten würden sich damit nicht zufriedengeben. Alte Bastionen zu schleifen, genügte ihnen nicht. Sie strebten nach der Hegemonie, wollten eine neue Epoche konservativer Herrschaft begründen und ihr einen unverwechselbaren Stempel aufdrücken. „You ain't seen nothing yet“ lautete die griffige, vom Präsidenten selbst in Umlauf gesetzte Parole.

Die Etappen waren festgelegt. Erstens mußten die juristischen Fundamente des »Wohlfahrtsstaates« eingerissen werden. In den 60er Jahren hatten die Reformregierungen in Washington den Widerstand des konservativen Blocks nur auf dem Verordnungswege brechen können. Damals war den Länderregierungen vorgeschrieben worden, wozu die Steuergelder des Bundes eingesetzt werden sollten: z.B. für Schulbusse, um eine rassisch integrierte Erziehung zu gewährleisten; z.B. für Therapie und Rehabilitierung, um neue Wege der Verbrechensbekämpfung zu gehen; z.B. für Ausbildungsprogramme zugunsten benachteiligter Jugendlicher. Unter diesem Schutz konnten soziale Organisationen gezielt Hilfestellung leisten. Mehr noch, in vielen Großstädten entstanden Selbsthilfegruppen, wurden Modelle autonomer Sozialarbeit entwickelt. Dieses System wollte Reagan abschaffen und durch einen »New Federalism« ersetzen. Die Länder sollten künftig allein entscheiden, zu welchem Zweck und in welcher Höhe Sozialleistungen gezahlt würden. Ein Mitspracherecht der Kommunen oder gar der Betroffenen war selbstverständlich nicht vorgesehen. Die »soziale Frage«, so hofften die Reaganauten, würde auf diese Weise dem linksliberalen Zugriff der Großstädte entzogen und damit »entpolitisiert«.

Zweitens wollten Reagans Konservative den Überbau umkrempeln und die ideologische Erblast der 60er Jahre beseitigen. Endlos lang war ihre Klageliste – von der libertinären Sexualmoral über die Abschaffung des Schulgebets bis hin zum eingeschränkten Verkauf von Schußwaffen. Am wichtigsten aber war »Vietnam«. Die »Schmach der Niederlage« überwinden, hieß, zu neuen Interventionen bereit zu sein. Hier einen entscheidenden Durchbruch zu erzielen, wäre den Konservativen manches politische Opfer wert gewesen.

Anfänglich sah es so aus, als würde der Durchbruch gelingen. Meinungsumfragen fielen zu Reagans Gunsten aus; die Republikaner hatten erstmals die Mehrheit im Senat; das Land wurde mit einem Netzwerk konservativer Denkfabriken und »Political Action Committees“überzogen; die Intellektuellen hatten sich mehrheitlich ins konservative Lager geschlagen. Und Reagan ließ in den ersten Monaten seiner Amtszeit den Kongreß nach seiner Pfeife tanzen – wie vordem allenfalls Lyndon B. Johnson oder Franklin Delano Roosevelt. Das Gramm-Latta-Gesetz aus dem Jahr 1981 bestätigte die schlimmsten Vermutungen: Die unteren 20% der Einkommensskala hatten die Lasten der sozialen »De-Regulierung« zu tragen. Den »working poor« und Wohlfahrtsempfängern wurden Leistungen radikal beschnitten, ob Geld für Weiterbildung, Arztrechnungen, Medikamente oder Miete. 1980 waren 25,5% des Bundeshaushalts für diese Zwecke aufgewendet worden; 1987 waren es nur noch 18,3%. Wie Emma Rothschildt in der „New York Review of Books“ zeigte, wurde ein seit den 60er Jahren sorgsam geknüpftes Netz radikal zerschnitten.

Triumph der Politik über die Ideologie?

Aber schon bald trat das Unerwartete ein: Reagan hatte nur Luft für zwölf Monate. 1982 war die innenpolitische Kraft des »Reaganismus« gebrochen. Seit dieser Zeit, Jahr für Jahr, lehnte der Kongreß die Haushaltsentwürfe des Weißen Hauses ab und korrigierte die schlimmsten Auswüchse. David Stockman, der ehemalige Budgetdirektor, hat in seinem Buch „Triumph der Politik“ wortreich und wehleidig Klage geführt. Die Politik habe die Ideologie in die Schranken gewiesen und den »großen Entwurf« zunichte gemacht. Stockman hatte recht. Die Konservativen waren zu Kompromissen gezwungen, mußten zeitweise sogar den Rückzug antreten. Alle Versuche, stabile parlamentarische Mehrheiten zu schmieden, scheiterten kläglich. Auf Capitol Hill bestimmten ständig wechselnde Mehrheiten das Geschehen. Ungläubig und machtlos mußten die Reaganauten zusehen, wie ihre Initiativen in einem legislativen Dickicht und politischen »Guerilla-Krieg« konkurrierender Einzelinteressen untergingen.

Hedrick Smith sieht darin eine Folge der Parlamentsreformen aus den 70er Jahren. Die »jungen Reformer« sicherten sich damals Macht, Einfluß und Karrieren, indem sie den traditionellen Ausschüssen eine Vielzahl von »subcommittees« zur Seite stellten. Heutzutage muß eine Gesetzesvorlage Dutzende von Gremien durchlaufen. Endlich im Plenum des Repräsentantenhauses oder des Senats angelangt, kann sie jederzeit von einzelnen Abgeordneten zu Fall gebracht werden. Manche legen die Geschäftsordnung trickreich aus, andere halten stundenlange Redebeiträge (»filibusters«) oder legen das Hohe Haus durch Abwesenheit lahm.

Parteidisziplin wurde in Amerika noch nie großgeschrieben. Aber nie herrschte ein größeres Durcheinander als zu Reagans Zeiten. Bald machte das Wort vom „kompletten Zusammenbruch der Legislative“ die Runde. Die Abgeordneten fühlten sich weniger denn je ihrer Partei verpflichtet, geschweige denn dem Mann im Weißen Haus. Voten wurden vielmehr daran gemessen, ob sie dem Aufbau des eigenen politischen Apparates dienten, wie die Geldgeber dazu standen, welchen Kollegen eine Gefälligkeit zu erweisen war, wie sie im heimatlichen Wahlbezirk zu verkaufen waren. Die legislative Macht ist mittlerweile zersplittert und atomisiert – die Gründungsväter der Republik, die aus Angst vor anti-bourgeoisen Mehrheiten keine Parteien im Parlament sehen wollten, hätten ihre helle Freude daran. Hedrick Smith wählte den plastischen Vergleich mit einem Basketball-Spiel: Die Szenen im Kampf um die Macht wechseln blitzartig, Verteidigung und Angriff gehen fließend ineinander über, jeder kann sich in eine günstige Stellung bringen und punkten, keiner hat einen Stammplatz, und der Ausgang der Partie bleibt bis zum Ende offen.

Im Vergleich zu den 50er und 60er Jahren (von der Vorkriegszeit redet schon niemand mehr) ist das Präsidentenamt daher nicht wiederzuerkennen. Es ist machtloser denn je, nur ein Faktor unter vielen in einem Flickenteppich der Macht. Daher war es Reagan verwehrt, das Rad der Geschichte nach Belieben zurückzudrehen. Unter anderem und nicht zuletzt blieb der radikale Entwurf des »new Federalism« auf der Strecke. Das wichtigste Wohlfahrtsprogramm (Aid to Families with Dependent Children) wurde nicht der willkürlichen Interpretation einzelner Bundesstaaten überlassen, sondern blieb in der Verantwortung Washingtons. Die Bundesregierung muß weiterhin einen Mindestsatz zahlen und zeichnet auch für die Lebensmittelhilfe (Food Stamps) verantwortlich. Seit 1983 rannte das Weiße Haus mehrmals gegen die Einsprüche des Kongresses an; es wurde regelmäßig abgeblockt. So blieb das institutionelle Gefüge der Sozial- und Wohlfahrtspolitik intakt. Zugegeben, ein schwacher Trost für jene, die seit 1981 unter den Kürzungen zu leiden haben. Aber dennoch eine Hoffnung, weil sozialreformerische Politik der Zukunft nicht bei Null anfangen muß.

Wie steht es um das zweite große Ziel der Reaganauten? Gelang die ideologische Wende? Zweifellos erzielten sie in den 80er Jahren wichtige Erfolge. Phasenweise diktierten sie die Themen der politischen Diskussion im Land. Die republikanische Partei konnte ehemalige Bastionen der Demokraten im »Mountain West« (von Arizona bis Wyoming) und im Süden (Texas, Florida) für sich gewinnen. Wichtiger noch, sie faßte mit rassistischen Programmen in der weißen Arbeiterklasse der nördlichen Großstädte Fuß. Millionen von »blue collars« kehrten dort seit den frühen 80er Jahren der Demokratischen Partei den Rücken.

Trotzdem blieben die Konservativen von einer ideologischen oder gar politischen Hegemonie weit entfernt. Thomas Ferguson, Joel Rogers und Thomas Edsall vergleichen die innenpolitische Szene nach acht Jahren Reagan mit einem politischen Stellungs- und Grabenkrieg (»trench warfare«). Jede Seite verschanzt sich auf ihrem Terrain, unfähig, neuen Boden zu gewinnen. In der Wählerschaft gibt es keine eindeutigen Mehrheiten. Das ursprünglich erwartete bzw. befürchtete »conservative realignment« ist nicht eingetreten. Vielmehr sollte von einem »De-Alignment« gesprochen werden: Die Wähler orientieren sich immer weniger an Parteien, sondern stimmen für oder gegen den Kandidaten ab. Augenblicklich geben 15% der erwachsenen Bevölkerung, ca. 25 Millionen, an, keine parteipolitische Präferenz zu haben. Und der Anteil dieser Wählergruppe steigt ständig.

Zuverlässig ist auch der Befund, daß Reagans Popularität seiner Person galt, nicht hingegen dem konservativen Programm. Kein Thema war vor »liberalen Rückschlägen« sicher. 1985 drehte sich auch in der Rüstungsdebatte der Wind. Eine Mehrheit lehnte fortan höhere Militärausgaben ab. Die Reaganauten waren weiter denn je von ihrem Ziel entfernt, den militärischen Interventionismus wieder hoffähig zu machen. Meinungsumfragen und sozialpsychologische Analysen der Jahre 1984-87 zeigen ein deutlich »liberales Profil« der öffentlichen Meinung. Das Erbe der 60er Jahre wirkt in vielen Lebensbereichen unvermindert fort. Nur so ist es zu erklären, daß das Spendenaufkommen für die Konservativen dramatisch zurückging. Konservative »Political Action Committees« konnten 1983/84 19,5 Millionen Dollar eintreiben, 1985/86 waren es nur noch 9,3 Millionen; in den ersten sechs Monaten des Jahres 1987 gar nur 1,1 Millionen. Auch die Kassen der Republikanischen Partei leerten sich in dieser Zeit.

Warum scheiterten die Konservativen?

Warum scheiterten die Konservativen? Noch gibt es keine überzeugenden Studien zu dieser Frage, allenfalls Hinweise. Sicher spielte die Rezession des Jahres 1982, die mitten in die republikanische Aufschwungphase fiel, eine Rolle. Auch die innere Zerrissenheit der konservativen Bewegung wog schwer; zwischen christlichen Fundamentalisten und »Yuppie-Republikanern« ließ und läßt sich eben keine tragfähige politische Brücke bauen. Politisch schwer zu taxieren sind die Konflikte innerhalb des Kapitals. Fest steht, daß die binnenmarktorientierte Ölindustrie in Texas in der Hälfte der 80er Jahre zusammenbrach und die Konservativen in ihr einen wichtigen Sponsor verloren; fest steht auch, daß die beiden größten Kapitalfraktionen des Landes (weltmarktorientiert die eine, auf den amerikanischen Markt fixiert die andere) ihre Koalition nur wenige Monate über Reagans ersten Sieg hinweg retten konnten. Danach lagen sie wieder im üblichen Streit über Handelspolitik und Steuern.

Aber, mag eingewendet werden, gab es nicht zahlreiche, populistische Massenbewegungen – die »Anti-Tax-Movement«, die »Right-To-Live«-Bewegung, die zahlreichen Demonstrationen christlicher Fundamentalisten? Eine Analyse derselben steht noch aus. Doch schon heute kann festgehalten werden: Diese Bewegungen wurden überschätzt. Weder waren sie so mächtig, wie bisweilen in der Presse porträtiert, noch so einflußreich. Eigentlich waren es gar keine genuin sozialen Protestbewegungen, sondern eher Kunstprodukte einer neuen PR-Strategie oder – wie die Amerikaner sagen – „synthetic popular movements“. »Rent-a-grass-roots-movement« könnte die in den 80er Jahren populäre Strategie der professionellen Lobbyisten heißen. Erster Schritt: Eine sozial und weltanschaulich homogene Zielgruppe (beispielsweise »wiedergeborene Christen« in mittelständischen Wohnbezirken) wird ausgewählt. Zweiter Schritt: Werber schwärmen aus und stellen in Einzelgesprächen fest, welches politische Thema diese Gruppe augenblicklich besonders interessiert. Dritter Schritt: Einschlägiges Informations- und Werbematerial wird zusammengestellt und an alle Haushalte der Zielgruppe verschickt. Vierter Schritt: Noch einmal machen Werber die Runde und haken nach, ob auch alle vorgedruckten Briefe oder Postkarten an einen Kongreßabgeordneten oder eine Behörde abgeschickt wurden. So ist es heute keine Seltenheit mehr, wenn in einem Abgeordnetenbüro an einem einzigen Tag Hunderttausende von Briefen eingehen. Die Poststation auf Capitol Hill hat mittlerweile vorgesorgt und Dutzende von Großcontainern angeschafft. Anders ist mit den Folgen der »künstlichen politischen Befruchtung« nicht mehr umzugehen.

Als soziales Protestverhalten können solche Aktionen nicht verbucht werden. Sie beweisen allenfalls, daß eine bestimmte Werbestrategie gut ankommt. Bleiben die Impulse der lobbyistischen Elite aus, regt sich auch an den »grass roots« (wie gehabt) wenig. Ohne professionelle »organizers« vom Schlage eines Paul Weyrich, Howard Phillips oder Richard Viguerie wären z.B. die Evangelisten nicht als »politische Kraft« in Erscheinung getreten. Diese »Kraft« konnte nur wirken, solange handverlesene Aktivisten vom rechten Flügel der republikanischen Partei die Werbetrommel rührten und die »Bewegung« von oben her organisierten. Kein Wunder also, daß die »moral majority« selbst zu ihren Glanzzeiten in den meisten Bundesstaaten eine »letterhead organization« blieb. Ideologische Hegemonie war auf diese Weise nicht zu erringen.

Die „new political underclass“

Einzig in der Steuerpolitik konnte sich Reagan weitgehend behaupten. Wenige Monate nach der Wahl löste er sein Versprechen ein und verfügte einschneidende Steuersenkungen (Economic Recovery Tax Act aus dem Jahr 1981). In einem Zeitraum von fünf Jahren gingen dem Fiskus 747 Milliarden Dollar verloren. Thomas Edsall sieht darin die wohl »dauerhafteste Errungenschaft« dieser Regierung. Berechnungen des Congressional Budget Office bestätigen, daß Reagans Kritiker zu recht gewarnt hatten. Die Reform begünstigte eindeutig die oberen und obersten Einkommensschichten. Die Kluft zwischen reich und arm, aber auch zwischen höchsten und mittelständischen Einkommen wurde in den 80er Jahren ständig größer. Die unteren 40% auf der Einkommensskala müssen seit 1980 mit stagnierenden Nettoeinkommen (»after-tax-income«) leben (8.960 $ pro Jahr waren es 1980, 8.925 $ fünf Jahre später). Die oberen 40% hingegen strichen steuerbegünstigte Gewinne von 7,2% (im Jahr durchschnittlich 2.300 $) ein. Am besten schnitten die oberen 10% der Skala ab: 11,5% Zuwachs bedeutete für sie 5.400 $ jährlich mehr. Gar Alperovitz hat zurecht darauf hingewiesen, daß solche Umverteilungen in der amerikanischen Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts keineswegs ungewöhnlich sind – wir beobachten sie zwischen 1900 – 1914, in den 20er und frühen 30er Jahren, selbst in den 50er Jahren. So gesehen, liegt Reagans Reform im langfristigen historischen Trend. Sie bewirkte nur geringfügige Veränderungen in der Sozialstruktur. Auch der Anteil der Armen blieb, von kurzfristigen Schwankungen abgesehen, relativ konstant.

Und dennoch fielen die 80er Jahre aus dem Rahmen. Anders als in der Vergangenheit zogen sich die Opfer der Umverteilung aus der Politik zurück. Ob Arbeiter mit stagnierendem oder sinkendem Realeinkommmen, »working poor«, Wohlfahrtsempfänger oder Minderheiten – sie gingen auffallend weniger zu Wahl. Mittlerweile liegt die Wahlbeteiligung im unteren Drittel der Einkommensskala um 40% niedriger als im oberen, mittelständisch dominierten Drittel. (Zum Vergleich: In den frühen 60er Jahren betrug die Differenz 25%). In Reagans Amerika entstand eine »new political underclass« – Millionen von Menschen, die keine Möglichkeit sehen, sich gegen die Übergriffe des Kapitals und die staatlich verfügte Beschneidung ihrer Einkommen zu wehren. Die Gewerkschaften bieten ihnen längst keinen Schutz mehr, die Demokratische Partei hat alle sozialliberalen Programme aus Roosevelts Zeiten längst über Bord geworfen. Wozu also zur Wahl gehen? Thomas Edsall schätzt diese »political underclass« auf augenblicklich 30 Millionen Haushalte (!). Ihre politische und moralische Depravierung ist wahrscheinlich das bitterste Erbe der Reagan-Jahre. Andererseits wissen wir noch zu wenig über diese Gruppe, um Prognosen abgeben zu können. Nicht auszuschließen, daß eine Phase eruptiver sozialer Proteste bevorsteht.

Reagans Präsidentschaft – ein Fehlschlag?

Gemessen an der radikalen Rhetorik und den ursprünglichen Absichten, war Reagans Präsidentschaft ein Fehlschlag. Gemessen an historischen Vorbildern aus dem konservativen Lager, war sie normal. Nur verstand es Reagan besser als seine Vorgänger, Niederlagen zu kaschieren. Er suggerierte Machtfülle, auch wenn er machtlos war; er zelebrierte als Erfolg, was eben noch ein Kompromiß geworden war; und über Niederlagen sprach keiner. Nicht umsonst galt dieser Mann als »great communicator«. Vieles spricht dafür, daß mit seinem Abgang die Kraft des »Reaganismus« gebrochen ist. Kaum noch ein Kommentator, der ernsthaft daran zweifelt. Was aber bedeutet diese Feststellung? Was besagt sie über die Zukunft Amerikas? Wenig, besser gesagt: überhaupt nichts. Wer sich nämlich in der politischen Landschaft des heutigen Amerikas zurechtfinden will, darf den »Reaganismus« nicht als Wegweiser wählen. Er führt in die Irre – weil die entscheidenden Veränderungen im innenpolitischen Machtgefüge samt und sonders in den Jahren vor Reagan durchgesetzt wurden. In den 70er Jahren begann der »große Umbruch«, der Abschied vom sozialliberalen Modell des Franklin Delano Roosevelt. Reagan setzte den Schlußstrich; nicht mehr, aber auch nicht weniger. »Alternativen zu Reagan« verdienen nur dann den Namen, wenn es Alternativen zur Reform der 70er Jahre sind. Und von dieser Sorte gibt es augenblicklich wenige. Kein Trost darum, daß mit Reagan auch der »Reaganismus« abgedankt hat.

Literatur:

Edsall, Thomas. The New Politics of Inequality. New York, London: Norton, 1982
Edsall, Thomas. Power and Money. Writing about Politics, 1971 – 1987. New York, London: Norton, 1988
Edsall, Thomas u. Blumenthal, Sidney (Hg.). The Reagan Legacy. New York: Pantheon, 1988
Smith,Hedrick. The Power Game. How Washington Works. New York: Random House, 1988
Harrison, Bennett u. Bluestone, Barry. The Great U-Turn. Corporate Restructuring and the Polarizing of America. New York: Basic Books, 1988
Stern, Philip M. The Best Congress Money Can Buy. New York: Pantheon, 1988
Ferguson, Thomas u. Rogers, Joel. The Hidden Election. Politics and Economics in the 1980 Presidential Election. New York: Pantheon, 1981
Ferguson, Thomas u. Rogers, Joel (Hg.). Right Turn. The Decline of the Democrats and the Future of American Politics. New York: Hill & Wang, 1986
Weiss, Michael J. The Clustering of America. New York: Harper & Row, 1988
Greiner, Bernd. Interview mit Gar Alperovitz, in: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, 2/1989
Rothschild, Emma. The Reagan Economic Legacy. In: The New York Review of Books, 30.6. und 21.7.1988

Dr. Bernd Greiner ist Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung.

US-Rüstungsetat

US-Rüstungsetat

von Redaktion

Im letzten Heft war eine Grafik auf der Rückseite abgebildet. 28% der Militärausgaben für die Bundesrepublik? Die dieser Zahl zugrundeliegende Rechnung ist einfach: Den Kosten für die hier stationierten Streitkräften werden die Aufwendungen für die Verbände hinzugefügt, die im Krisen- oder Notstandsfall sofort in die Bundesrepublik verlegt werden sollen. Überhaupt: 10 der 18 Divisionen der US-Army sind für Westeuropa bestimmt. 5 davon sind hier stationiert; fünf gewissermaßen in Reserve auf dem US-amerikanischen Territorium gehalten. Man veranschlagt, daß diese NATO-Verpflichtungen etwa 45% des gegenwärtigen Militärbudgets absorbieren. Nach Angaben des Defense Department belaufen sich die Kosten der USA aus den NATO-Verpflichtungen auf mehr als 100 Milliarden Dollar, andere Schätzungen sprechen von gegenwärtig 177 Milliarden.

Die Graphik verdeutlicht auch – entgegen einem landläufigen Vorurteil -, daß die nuklearen Streitkräfte einen geringeren Anteil am Gesamtkuchen ausmachen = 19 Prozent. Die Unterscheidung in „First“ und „Second“ Nuclear Forces geht auf Definitionen einiger US-Gruppen zurück (wie des Center for Defense Information), die unter den Erstschlagswaffen v.a. die Atomwaffen subsumieren, die in der Lage sind, extrem genau und mit hoher Eindringfähigkeit gehärtete, militärische Ziele auszuschalten. Dazu werden etwa gezählt die MX-Rakete, die Trident-II. Aber auch die Ausgaben für die „Strategische Verteidigungsinitiative“, die in Verbindung mit diesen Offensivwaffen die gegnerische Zweitschlagsfähigkeit eliminieren könnte.

Wie an dieser Stelle des öfteren belegt: Die Aufrüstung der Reagan-Administration kann sich sehen lassen – inflationsbereinigt 75% Steigerung zwischen 1981 und 1987 Dies ist umso bemerkenswerter als bereits in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre kräftig zugelegt wurde. Die vielbeschworene „Dekade des Niedergangs“ hängt zusammen mit dem Abzug der USA aus Vietnam (500.000 Soldaten). In diesem Zeitraum sinkt die Personalstärke der Streitkräfte von 3.500.000 (1969) auf 2,1 Millionen (-40%). Nach 1975 vollzieht sich bereits eine umfassende Modernisierung der konventionellen Streitkräfte. Zwischen 1975/1977 wuchsen die Ausgaben real um 33%; auf diesem hohen Level blieben die Ausgaben bis Anfang der 80er Jahre.

Auch das Aufrüstungsprogramm unter der Regierung Reagan floß zu fast drei Vierteln in die umfassende Modernisierung der Streitkräfte. Die sog. strategischen Potentiale (strategic forces) verschlangen 25 % bis 30 % der Zuwächse. Für die strategische Modernisierung wurden etwa 100 Milliarden Dollar ausgegeben. Während in den 70er Jahren das Schwergewicht auf der Vermehrung der Sprengköpfe lag – ihre Zahl stieg bes. durch die Entwicklung der MIRV-Technologie von 5000 auf über 9000, richtete sich in diesem Zeitraum das Augenmerk auf die Entwicklung und Dislozierung neuer Trägermittel. Dies waren wesentlich drei: der B-1 B-Bomber, Trident-U-Boote und -Raketen und die landgestützte MX-Rakete. Angeschafft wurden inzwischen 100 neue Bomber und 64 einsatzfähige MX (15 Mrd. $). Andere prioritäre Projekte waren das Stealth-Programm, von dem angenommen wird, daß es bisher 20 Mrd. Dollar gekostet hat (1987 allein 5 Mrd.); die Verbesserung der C3I-Systeme und bes. Reagans Lieblingsidee „SDI“. Für SDI wurden zwischen 1984 und 1987 knapp 10 Mrd. Dollar ausgegeben.

Die konventionelle Modernisierung in diesem Zeitraum war beachtlich. Die Armee beschaffte sich Ersatz für ihre Schlüsselwaffen: der M-1 Abrams-Panzer lief zu, das Panzerfahrzeug BRADLEY, zwei neue Hubschrauber und diverse Luftverteidigungssysteme.

Die Navy kaufte vor allem Schiffe und Flugzeuge. Während der letzten sechs Jahre (1981-1987) waren es im Schnitt 11 Kriegsschiffe, der Durchschnitt unter früheren Regierungen lag bei 12. Allerdings: die Beschaffungspolitik war durch die neue „maritime Strategie“ bestimmt, überall, jederzeit hinfahren zu können – eingeschlossen Missionen gegen sowjetisches Festland oder in Gewässern in Reichweite sowjetischer Flugzeuge. D.h. die Anforderungen an die Schiffe stiegen beträchtlich. Jeder Marineverband stellte daher eine 15 bis 18 Mrd. Dollar-Investition dar. Die Beschaffung von Marine-Flugzeugen blühte zwischen 1982 und 1987 Im Durchschnitt liefen 172 Flugzeuge per anno zu; 80% mehr als unter den Regierungen zuvor. Für den Zuwachs stehen v.a. die F/A-18 Hornisse und das AV-8 Flugzeug.

Die Luftwaffe mußte mit niedrigeren Produktionsraten ihrer Flugzeuge (v.a. F-15, F-16) auskommen. Allerdings stiegen die Stückkosten für die Flugzeuge in dieser Zeit beträchtlich. D.h. es wurde im wesentlichen die industrielle Basis alimentiert.

Der Verteidigungsetat 1988/89

Entsprechend einer Auflage des Kongresses hat das Department of Defense erstmalig einen Doppelhaushalt vorgelegt. Der Etat sollte um jeweils 3% steigen. Für 1988 sollte sich das Gesamtbudget auf 303,3 Mrd. Dollar belaufen, die aktuellen Bewilligungen auf 297,5. Für 1989 wurden 312,4 Milliarden gefordert (1987 = 294,4). Ein genauerer Blick ergab interessante Details. Die Hauptzuwächse sollten in zwei Bereiche gehen: Für den Titel Research, Development, Test & Evaluation waren etwa 17% für den Titel „military construction“ gar 24 Prozent mehr vorgesehen; „Beschaffung“ dagegen sollte um 4% fallen.

Mehr als 2/3 des gesamten Wachstums sollten auf das Konto der militärischen Forschung und Entwicklung (6,3 Mrd.) gehen. Darin waren eingeschlossen zwei Milliarden mehr für die SDI-Forschung, 1,6 Mrd. für drei strategische Programme – die kleine Interkontinentalrakete (Midgetman), die mobile MX und ihr Transportnetz, das Anti-Satelliten-Programm – und 2,4 Mrd. für ein weites Feld „taktischer“ Programme. Darunter werden gehandelt die Arbeiten an dem geheimen (Stealth-)Flugzeug, an Marschflugkörpern, an dem C-17 Transportflugzeug und an einem neuen Flugzeug der Luftwaffe.

Die Ausgaben für Beschaffung, die gegenüber 1987 um 3,9 Mrd. $ sinken sollten, konnten aufgrund des Auslaufens einiger größerer Programme zurückgestuft werden. Allein die Hälfte davon ging zurück auf die Beendigung der Auslieferung des C-5B Transportflugzeuges.

Die Beschaffungen bei der Luftwaffe fallen um 7 Prozentpunkte, bei der Marine um 2. Dort werden die Aufwendungen für die weiter zulaufenden Trident-II und die Tomahawk-Marschflugkörper durch Kürzungen in der Flugzeugbeschaffung und einen starken Rückgang der Ausgaben für das Equipment übertroffen. Nur die Army erreicht einen Anstieg um 2 Prozent; dennoch wird sich auch hier die Belieferung mit neuem Material etwas verlangsamen: M-1 Panzer von 815 auf 600 Stück; der AH-64-Hubschrauber von 101 auf 67 etc.

Inzwischen liegt der endgültige Haushalt – der ja zwischen Repräsentantenhaus und Präsident ausgehandelt werden muß – vor. Die Bewilligungen (outlays) betragen 291,4 Mrd. Dollar. Für den Haushalt 1989 beantragt die Regierung statt der ursprünglich geforderten 332,4 nunmehr 299,5 Mrd. (-32,9). Zahlreiche Einschnitte wurden vorgenommen. Die Personalstärke der Streitkräfte soll um 34.100 Personen von 2.172.400 auf 2.138.300 reduziert werden. Im Etattitel „Beschaffungen“ wurden gestrichen: 220 Kampfflugzeuge, 600 Hubschrauber,16 Fregatten und 1 U-Boot. Dennoch geht der Größere Anteil der Kürzungen auf bereitschaftsbezogene Posten (Personal, Wartung etc.). Für SDI sind beim Pentagon 3,5 Mrd. Dollar veranschlagt, insgesamt knapp 3,9 Mrd. Dies entspricht der Zielprojektion des Kongresses vom Nov. 198Z Für 1989 sind statt der ursprünglich geplanten 6,3 Mrd.4,6 beantragt.

Der Anteil der Rüstungsausgaben am Gesamtbudget beträgt 26,1 Prozent.

2008: Yes we can – 2010: No I can´t?

2008: Yes we can – 2010: No I can´t?

Ein Jahr US-Außen- und Militärpolitik unter Obama

von Claudia Haydt, Joachim Guilliard, Regina Hagen, Andreas Henneka, Ali Fathollah-Nejad, Jürgen Nieth, Jürgen Scheffran, Jürgen Wagner und Tobias Lambert

Beilage zu Wissenschaft und Frieden 1/2010
Herausgegeben von der Informationsstelle Wissenschaft und Frieden

zum Anfang | Hoffnungsträger – Friedensnobelpreis – Kriegsherr

von Jürgen Nieth

Gesundheitsreform, eine andere Klimapolitik, Abzug aus dem Irak, Auflösung Guantanamo, Folterverbot, die Respektierung der Verbündeten und der anderen Regierungen sowie der internationalen Institutionen, die Achtung anderer Religionen und Kulturen – das alles gehörte zu Obamas Wahlkampfthemen. Davor lagen zwei Amtsperioden Bush mit einem unter falschen Vorzeichen begonnenen Irakkrieg, mit Lug und Trug gegenüber Freund und Feind, einer Missachtung der UN, internationaler Organisationen und Vereinbarungen, mit einer kaum zu überbietenden Islamphobie.

Der Redaktionsschluss dieses Dossiers war am 15. Januar 2010; aus diesem Grund konnten zwei Ereignisse nicht mehr berücksichtigt werden, die für die Perspektive Obamas und seiner Politik sehr wichtig werden können:

1. Am 20. Januar 2010 gewann bei einer Nachwahl zum US-Senat in Massachusetts – einer alten Hochburg der Demokraten – ein Republikaner. Die Demokraten verloren hier den 60. Senatssitz und damit die Möglichkeit, auch umstrittene Projekte zügig gegen die Republikaner durchzusetzen. Damit dürfte vor allem die bereits abgespeckte Gesundheitsreform gefährdet sein. Aber auch auf die im Frühjahr stattfindende Konferenz zur nuklearen Nichtweiterverbreitung dürfte dies Auswirkungen haben. Es droht wieder einmal ein fauler Kompromiss – weil mehr in den USA nicht durchzusetzen ist.

2. Nach der Erdbebenkatastrophe in Haiti haben die USA dort praktisch die Macht übernommen. 15.000 GIs sollen die Sicherheit garantieren, sie kontrollieren den Flughafen, die Ein- und Ausreise, sie bestimmen, welche Flugzeuge mit Hilfsgütern landen können und welche nicht, usw. Anstatt die vor Ort durch das Erdbeben betroffene UNO-Peace-Keeping-Truppe zu stärken, wurden deren Checkpoints handstreichartig übernommen. Selbstverständlich erfordert eine Katastrophe, wie die in Haiti, ein schnelles umfassendes internationales Handeln. Der Einsatz von Militär kann notwendig sein, wenn nur dieses über technische Mittel verfügt, die für Rettungs- und Versorgungsaktionen notwendig sind und die die Hilfsorganisationen nicht haben. Im konkreten Fall aber wurden alle Relationen verschoben, und vor allem lässt das selbstherrliche Auftreten der USA aufhorchen, das an die alte »Hinterhofpolitik« erinnert.

Von allen KandidatInnen hatte Obama das schärfste Kontrastprogramm zu seinem Vorgänger, und zusammen mit dem optimistischen »Yes we can« mobilisierte er Millionen, die sich selbst aktiv und mit Geld im Wahlkampf engagierten und Obama schließlich zum Sieger machten. Obama war Hoffnungsträger, national, vor allem aber auch international. Und wie fast immer: Wenn einer erst mal zum Symbol für Veränderungen geworden ist, verbinden sich damit auch viele unrealistische Erwartungen. Auch bei Obama gab es Erwartungen, die weit über das hinaus gehen, was er im Wahlkampf versprochen hat. Er hat den Abzug aus dem Irak versprochen, aber nie Krieg als Mittel der Politik ausgeschlossen. Nach dem Einmarsch der USA in den Irak bekannte er im Oktober 2002: „Ich bin nicht gegen alle Kriege, nur gegen dumme Kriege.“ Obama hat nie eine schnelle Beendigung des Afghanistankrieges in Aussicht gestellt, auch wenn die Kampagnen der Republikaner, die ihn mal als Muslim, mal als Pazifisten oder sogar Sozialisten bezeichneten, diesen Eindruck erwecken konnten. Was ist aus den Wahlkampfversprechen geworden, wie sieht es mit den Erwartungen in Obamas Politik aus, ein Jahr nach seinem Start als Präsident der USA?

Neue Töne aus Washington

In seiner Antrittsrede als Präsident versprach Obama am 20.01.2009 den Rückzug aus dem Irak sowie seinen Einsatz für Frieden in Afghanistan und für ein Ende der atomaren Bedrohung. Zwei Tage später ordnete er die (bis heute nicht erfolgte) Schließung des Gefangenenlagers und Folterzentrums Guantanamo Bay an. Später im Jahr verurteilte er mehrfach Folter, die Verantwortlichen der Bush-Administration für die Folter blieben aber straffrei.

Das Thema Rüstungsbegrenzung und atomare Abrüstung griff Obama das ganze Jahr über immer wieder auf. Bereits am 1. April vereinbarte er mit dem russischen Präsidenten Medwedew Gespräche über eine atomare Abrüstung, und fünf Tage später formulierte er seiner Prager Rede die Vision von einer atomwaffenfreien Welt. Am 17. September erklärte der amerikanische Präsident den Verzicht auf die Stationierung von Abwehrraketen in Polen und den Bau einer Radarstation in Tschechien. Beide Projekte der Bush-Regierung hatte Russland als Provokation und Bedrohung empfunden.

Eine Woche später stellte Obama vor dem UN-Sicherheitsrat seinen Plan für eine atomwaffenfreie Welt vor, der danach einstimmig vom UN-Sicherheitsrat als Resolution verabschiedet wurde. Es ist eine Absichtserklärung, die den Staaten leider keinerlei bindende Verpflichtungen auferlegt.

Auf vielen politischen Handlungsfeldern agiert Obamas anders als sein Vorgänger:

Im April verfügte er, dass alle Reisebeschränkungen für Exilkubaner aufgehoben werden und dass diese ihren Verwandten auf Kuba wieder Geld senden dürfen.

Gleichfalls im April sprach sich Obama in der türkischen Hauptstadt für einen »neuen Dialog« mit der islamischen Welt aus. Seine Formulierung, dass die USA sich »nicht im Krieg mit dem Islam befinden« wird als Bruch mit der Bush-Doktrin »Wer nicht für uns ist, ist gegen uns« verstanden. In seiner Rede an der Universität von Kairo vertiefte er im Juni diese Gedanken. Er rief die muslimische Welt zur Versöhnung mit den USA auf, ging auf die islamische Welt zu, ganz ohne die Arroganz der Hegemonialmacht, die seine Vorgängerregierungen ausgezeichnet hatte. Obama kündigte an, die Hamas in die Gespräche zur Lösung des Nahostkonflikts einzubeziehen, dem Iran sprach er das Recht auf zivile Nutzung der Atomenergie zu und er bot direkte Gespräche ohne Vorbedingungen an.

Im September erklärte sich die US-Regierung bereit zu direkten Gesprächen mit Nordkorea, die die Bush-Regierung ausgeschlossen hatte. Nach jahrelanger Brüskierung der UN und anderer internationaler Gremien durch die USA kam es unter Obama zur Wende.

Ende Juni verabschiedete das US-Repräsentantenhaus ein Klimaschutzgesetz, in dem erstmals Obergrenzen für den Ausstoß von Kohlendioxid festgelegt werden. Auch wenn die in diesem Gesetz festgelegten Obergrenzen deutlich zu hoch und die Klimapolitik insgesamt nach wie vor kritikwürdig ist (siehe J. Scheffran in diesem Dossier), muss festgehalten werden, dass diese Fragen unter Bush kein Thema gewesen waren.

Im September gaben die USA ihren Widerstand gegen den UN-Menschenrechtsrat auf, sie nahmen erstmals als Vollmitglied an einer Sitzung teil.

Gleichfalls im September leitete mit Obama zum ersten Mal nach vielen Jahren ein US-Präsident eine Sitzung des UN-Sicherheitsrates.

Nach 122 Jahren wurde im Dezember vereinbart, dass die USA den Indianern Entschädigung zahlen für die Landnahme. Die Summe von 3,4 Milliarden US-Dollar klingt läppisch, die damit verbundene Anerkennung, dass Hunderttausenden Indianern Unrecht geschehen ist, hat aber einen hohen symbolischen Wert für die Betroffenen.

Friedensnobelpreisträger Obama

Außen- und militärpolitische Fragen standen auch im Mittelpunkt, als das Nobelpreiskomitee am 9. Oktober 2009 Obama den Friedensnobelpreis zusprach. In der Begründung heißt es: „Barack Obama erhält den Friedensnobelpreis für seinen außergewöhnlichen Einsatz zur Stärkung der internationalen Diplomatie und der Zusammenarbeit zwischen den Völkern. Das Komitee hat besonderes Gewicht auf seine Vision und seinen Einsatz für eine Welt ohne Atomwaffen gelegt. Obama hat als Präsident ein neues Klima in der internationalen Politik geschaffen. Multilaterale Diplomatie steht wieder im Mittelpunkt, mit besonderem Gewicht auf der Rolle, die die UN und andere internationale Organisationen spielen. Dialog und Verhandlungen sind hier die bevorzugten Mittel, um auch die schwierigsten internationalen Konflikte zu lösen. Die Vision einer atomwaffenfreien Welt hat auf kraftvolle Weise Verhandlungen um Abrüstung und Rüstungskontrolle neu belebt. Durch Obamas Initiativen spielen die Vereinigten Staaten jetzt eine konstruktive Rolle zur Bewältigung der Klima-Herausforderungen, mit denen die Welt konfrontiert ist.

Demokratie und Menschenrechte sollen gestärkt werden. Es geschieht selten, dass jemand wie jetzt Obama die Aufmerksamkeit der Welt auf sich zieht und neue Hoffnungen auf eine bessere Zukunft entfacht. Seine Diplomatie fußt auf der Vorstellung, dass diejenigen, die die Welt führen sollen, dies auf der Grundlage von Werten… tun müssen, die von der Mehrheit der Weltbevölkerung geteilt werden…“

Man darf sicher davon ausgehen, dass das Nobelpreiskomitee nicht zu den Institutionen zählt, die illusionäre Erwartungen in die Politik Obamas hatten. Eher sollte wohl mit der Preisvergabe die in der Begründung skizzierte Politik gestärkt werden. Jedoch gerade dieser Effekt wird international stark angezweifelt.

Der »Stern« zitiert über Seiten kritische, ja hasserfüllte Stimmen aus den USA. Er kommt zu dem Schluss: „Mit dem Friedensnobelpreis sind Barack Obamas Sorgen nicht kleiner, sondern größer geworden. Ein Jahr nach seiner Wahl zum Präsidenten muss er den Gegnern im Land nun erst recht beweisen, dass er Amerikas Interessen vertritt.“ (Stern, 15.10.09, S.24) Ähnliche Stimmungsbilder vermitteln auch die US-Korrespondenten der anderen Zeitungen. Zusammengefasst im »Tagesspiegel« (12.10.09, S.6) mit: „Rechts Häme, links Sorge“. Die FR (10.10.09, S.5) stellt für eine andere Region fest: „In Nahost versteht keiner den Nobelpreis-Entscheid“. Die „Palästinenser beklagen, dass es ihm, dem Hoffnungsträger aller Unterdrückten, im Nahost-Konflikt an Mumm und Nachdruck fehle. Und die Israelis finden sich von Obama nicht genügend gemocht und beachtet.“ (siehe auch C. Haydt in diesem Dossier)

Die wichtigste Kritik geht aber in die Richtung, dass es vor allem Ankündigungen, Versprechen, Reden sind, die in der Begründung der Nobelpreisvergabe gewürdigt werden. Die Schlagzeile auf der Titelseite der »Neuen Zürcher Zeitung« (17.10.09) lautet denn auch: „Der Zauber großer Worte“. Und der »Stern« (15.10.09, S.24) fast zusammen: „Obama ist wie ein Architekt, der für seine Zeichnungen geehrt wird, aber noch kein einziges Haus gebaut hat. Es ist eine Wette auf eine bessere Zukunft. Die Norweger haben »Hope« und »Change« gewählt, wie seine Wähler vor einem Jahr, aber nicht seine Leistungen“ (Stern, 15.10.09, S.24) Auch »Der Spiegel« überschreibt seine Titelstory zum Friedensnobelpreis mit „Die Worte und die Welt“ (12.10.09, S.96). Weiter heißt es: „Der Friedensnobelpreis belohnt nicht sein Handeln, sondern eine Idee und die neue Bescheidenheit der Weltmacht.“

Bescheiden gab sich auch Obama selbst, nachdem er von der Preisvergabe erfuhr. Er sei „beschämt…, er sehe die Auszeichnung nicht als Bestätigung für Erreichtes, sondern als »Aufruf zum Handeln«“ (FAZ 10.10.09, S.2). Eine große Chance zum Handeln hat er jedoch verpasst. Ende November ließ er durch seinen Sprecher Ian Kelly mitteilen, dass die USA entgegen früheren Bekundungen doch nicht dem internationalen Abkommen zur Ächtung der Landminen beitreten. Man habe die bisherige Position noch mal überdacht und sei zu dem Schluss gekommen, „weder unseren nationalen Verteidigungsanforderungen noch unseren Sicherheitsverpflichtungen gegenüber unseren Freunden und Verbündeten genügen zu können, wenn wir diese Konvention unterzeichnen.“ Landminen töten auch noch nach den Kriegen und vor allem Zivilisten. Nach Angaben der »Internationalen Kampagne zur Ächtung von Landminen« (die 1998 den Friedensnobelpreis erhielt) wurden alleine 2008 über 5.000 Todesfälle registriert, ein Drittel davon Kinder.

Die USA sind das einzige NATO-Mitglied, das den »Ächtungsvertrag« bisher nicht unterzeichnet hat. Sie haben zwar seit dem Golfkrieg von 1991 keine Landminen mehr eingesetzt, produzieren auch keine mehr und sind mit 1,5 Milliarden US-Dollar jährlich der größte Zahler zur Beseitigung dieser heimtückischen Waffen; sie behalten sich aber weiterhin die Einsatzoption offen. Ein Beschluss zur Verschrottung der 10 Millionen in den USA lagernden Landminen wäre auch ein Signal an Russland, China und Israel gewesen, die drei anderen prominenten Nichtunterzeichner. So kommentierte die FR (26.11.09) den Rückzieher mit „Nobel dreht sich im Grabe um“.

Kriegsrechtfertigung zur Friedenspreisvergabe

Die fünf Damen und Herren im Osloer Komitee haben sich zur Preisverleihung wahrscheinlich einen Friedenspräsidenten gewünscht, bekommen haben sie aber den Oberbefehlshaber einer Armee, die in fremden Ländern zwei Kriege führt. Der Abzug aus dem Irak rückt weiter weg (s. J. Guilliard in diesem Dossier), und der Afghanistankrieg eskaliert. Noch bevor Obama zur Entgegennahme des Friedensnobelpreises noch Norwegen reiste, verfügte er die Entsendung weiterer 30.000 SoldatInnen. Zu Beginn seiner Amtszeit waren 32.000 US-AmerikanerInnen in Afghanistan im Einsatz, nach dieser Aufstockung sind es fast 100.000 (s. J. Wagner in diesem Dossier). Sie bekamen einen Präsidenten, der den Friedenspreis nutzte, um Kriege zu rechtfertigen.

Ja, es gab sie auch diesmal, die sprichwörtliche Bescheidenheit: „Verglichen mit einigen Großen der Geschichte, die diese Auszeichnung erhalten haben – Schweitzer und King, Marschall und Mandela – sind meine Verdienste gering.“ Auch die kritische Sicht des Krieges fehlte nicht: „In den Kriegen von heute sterben mehr Zivilisten als Soldaten; sie säen die Saat künftiger Konflikte, schwächen die Volkswirtschaften, brechen Zivilgesellschaften entzwei, vermehren die Zahl der Flüchtlinge und versetzen Kinder in Angst und Schrecken.“ Der Friedensbegriff in seiner Rede ist ein umfassender. Es geht nicht nur um die Abwesenheit des sichtbaren Konflikts. „Nur ein Frieden, der auf den unveräußerlichen Rechten und der Würde des Einzelnen beruht, kann ein dauerhafter Friede sein… Ein gerechter Friede beinhaltet nicht nur zivile und politische Rechte – er muss wirtschaftliche Sicherheit garantieren.“ Die Vision dagegen blieb eher schwammig, nebulös: „Lasst uns nach einer Welt streben, wie sie sein sollte – danach, dass der Funken des Göttlichen sprüht, der unsere Seelen nach wie vor berührt… Irgendwo jetzt nimmt sich eine Mutter, die von Armut gestraft ist, die Zeit, ihrem Kind beizubringen, dass die grausame Welt auch einen Platz für seine Träume hat.“

Dominierend dagegen die Rechtfertigung von Kriegen: „Es wird Zeiten geben, in denen die Nationen den Einsatz ihres Militärs nicht nur für nötig halten, sondern auch für moralisch gerechtfertigt… Ich sehe die Welt, wie sie ist, und ich kann die Augen nicht verschließen… Das Böse existiert in der Welt. Eine gewaltfreie Bewegung hätte Hitlers Truppen nicht aufhalten können. Verhandlungen können die Anführer der El Kaida nicht dazu bringen, ihre Waffen niederzulegen. Zu sagen, dass Krieg manchmal notwendig ist, ist kein Aufruf zum Zynismus. Es ist die Wahrnehmung der Geschichte, der Unzulänglichkeiten der Menschheit und der Begrenztheit der Vernunft.“

Das ist nicht „Die Friedensbotschaft des Kriegspräsidenten“ (FR 11.12.09, S.2), es ist eher »eine Kriegsbotschaft zur Friedenspreisvergabe«. Selbst für die FAZ (11.12.09., S.1) ist es nur „eine nüchterne, ernüchternde Rede… (mit) wenig… Visionen für eine neue, friedliche Welt“. Und in der FR (11.12.09.) schreibt D. Ostermann: „Zur Frage aber, wie er den Nobel-Vorschusslorbeer in den verbleibenden drei Jahren seiner Amtszeit zu rechtfertigen gedenkt, hat er erstaunlich wenig gesagt. Da war viel Theorie über das Führen gerechter Kriege und wenig Konkretes zum Frieden.“

Reflektierend und differenzierend – wie diese Rede in TAZ und FAZ bezeichnet wird – ist sie eben nur bis zu dieser Kriegsrechtfertigung. Die bedient eher alte Klischees. Wieder einmal wird Hitler bemüht, um Krieg zu rechtfertigen. Das faschistische Deutschland hat fast ganz Europa und Nordafrika überfallen – welches Land hat denn die USA angegriffen, oder von welchem Land aus droht den USA ein Angriff? Die Führung von Al Kaida operierte gestern von Afghanistan aus, heute sitzt sie wahrscheinlich in Pakistan (oder bereits im Jemen?), morgen unter Umständen in Somalia – Krieg ist ganz offensichtlich nicht das geeignete Instrument zur Bekämpfung des Terrors. Im Gegenteil: Vor dem Einmarsch der USA in den Irak hatte Al Kaida dort keine Chance, danach bekamen die Terroristen dort Zulauf. Krieg und Besatzung sind eine gute Voraussetzung zur Rekrutierung in Terrornetzwerke. Obama ist (im Gegensatz zu Bush) nicht zuzutrauen, dass er das nicht weiß, aber er bemüht die alten Klischees.

Fazit

Wenn nach einem Jahr Bilanz gezogen wird, gilt es die Ergebnisse an den tatsächlichen Versprechen zu messen und nicht an den eigenen Wünschen. Gleichzeitig sollte berücksichtigt werden, dass nach einem Regierungswechsel nicht alle Aufgaben gleichzeitig angegangen werden können – manchmal ganz objektiv innenpolitische Fragen wichtiger sein können als außenpolitische. Hinzu kommt, dass ein angekündigter Politikwechsel Gegenkräfte mobilisiert – manchmal auch in der eigenen Partei. Was ein Präsident will und was er kann, ist also nicht unbedingt identisch.

Obama hat nach acht Jahren Bush ein schweres Erbe angetreten. Die innenpolitischen Herausforderungen sind enorm. Obama selbst hat erklärt, dass er ohne ökonomische Fortschritte, ohne Bewältigung der Krisenfolgen, seine Wiederwahl in drei Jahren gefährdet sieht. Die Wirtschaftskrise hat aber ganze Landstriche in Amerikas Industrieregionen verwüstet, die Arbeitslosenquote ist so hoch wie seit einem Viertel Jahrhundert nicht mehr, der Dollar ist so schwach wie selten zuvor. Lediglich bei der Gesundheitsreform zeigt sich innenpolitisch für Obama Licht am Horizont.

Die außen- und umweltpolitischen Herausforderungen sind riesig. Die USA führen zwei Kriege, die den Handlungsspielraum – auch finanziell – einengen; die Rolle als dominierende Weltmacht bröckelt sichtbar. Obamas Reden machen deutlich, dass vor diesem Hintergrund für ihn eine einfache Fortsetzung der US-Politik der letzten Jahrzehnte nicht in Frage kommt. Die Auftritte in Prag, Kairo und vor der UNO, die aktive Rückkehr in internationale Gremien sind Signale für eine den Realitäten Rechnung tragende und politische Lösungen bevorzugende Politik – in deren Mittelpunkt bei ihm selbstverständlich die Interessen der USA stehen. Nur auf diesem Feld fehlen bisher die Erfolge. Der innenpolitische Widerstand – auch der aus den eigenen Reihen – spielt hier sicher eine wichtige Rolle. Die Nichtkooperation anderer Regierungen – darunter auch verbündeter, wie die Israels – kommt hinzu. Aber auch das eigene Handeln ist oft – zu oft – durch ein Zurückweichen vor dem innenpolitischen Gegner, durch Inkonsequenz gekennzeichnet. Es mehren sich die Stimmen derer, die sich im Wahlkampf für ihn engagiert haben und die jetzt tief enttäuscht sind.

Obamas Wahlkampfslogan hieß »Yes we can« und nicht »Yes I can«. Es war ein beispielloser Wahlkampf, indem sich mehr Menschen engagierten als jemals zuvor, im Internet genauso wie auf der Straße und auch mit Millionen Kleinspenden. Es war eine breite Koalition aus Gebildeten und Künstlern, Gewerkschaftern und Jugendlichen, Frauen, Latinos und Afroamerikanern, die ihm zur Nominierung und später zum Wahlsieg verhalf. Dieses Potenzial ist unverzichtbar für einen wirklichen Politikwechsel. Obama braucht außerparlamentarische Bewegung – national für soziale Maßnahmen und die Beendigung der Kriege, international für erste Schritte Richtung atomarer Abrüstung. Er muss zurück zum »Yes we can«!

Jürgen Nieth, Journalist, ist Mitglied des Redaktionsteams von W&F.

zum Anfang | Hoffnungsschimmer oder Realität?

Barack Obama und die atomwaffenfreie Welt

von Regina Hagen

Wir dürfen nicht vergessen, dass ein Hoffnungsschimmer kein Ersatz ist für tatsächliche Ergebnisse“ erinnerte Jayantha Dhanapala, ehemaliger stellvertretender UN-Generalsekretär für Abrüstungsangelegenheiten, knapp ein Jahr nach Antritt der Regierung Obama die Öffentlichkeit. Seine Mahnung – der Anlass war die Umstellung der Weltuntergangsuhr von »5 vor 12« auf »6 vor 12« – beschreibt die Lage recht treffend.

Schon im Wahlkampf hatte Barack Obama versprochen, sich für eine Welt ohne Atomwaffen stark zu machen. Einige Wochen nach Amtsantritt stellte er im April 2009 in einer programmatischen Rede in Prag seine Pläne für nukleare Abrüstung vor. Die gaben zwar noch keinen Weg zur atomwaffenfreien Welt vor, wurden angesichts von rund 23.000 weiterhin existenten Atomwaffen – 95% davon im Besitz der USA und Russlands – aber positiv aufgenommen. Eine fast schon euphorische Stimmung erfasste kurz darauf viele Diplomaten, die in New York zusammentrafen, um die Überprüfungskonferenz des nuklearen Nichtverbreitungsvertrages vom Mai 2010 vorzubereiten. Sonst nüchterne Herren klammerten sich im düsteren Sitzungssaal der Vereinten Nationen an die Hoffnung, dass ein Richtungswechsel möglich sei: „Yes, we can!“

Kein Jahr danach weicht die Euphorie der Ernüchterung. Was ist passiert? Hat Präsident Obama seine Vision schon verloren? Erliegt er dem Druck der rüstungsverliebten »Falken« in Repräsentantenhaus und Senat? Sind die Lobbyisten aus Industrie, Militär und Forschungsestablishment einfach zu stark? Oder mit Brecht: „Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so“?

Obamas Rede in Prag

In seiner Prager Rede betonte Obama „…als Nuklearmacht – als einzige Nuklearmacht, die eine Atomwaffe eingesetzt hat – haben die Vereinigten Staaten eine moralische Verantwortung zu handeln. …“ Dieses Eingeständnis war ein Novum, und schon für sich Applaus wert. Obama versicherte ferner, „dass die Vereinigten Staaten entschlossen sind, sich für den Frieden und die Sicherheit einer Welt ohne Atomwaffen einzusetzen.“ Eine solche Absicht hatte ein US-Präsident erst zwei Mal bekundet: Harry S. Truman vor den neu gegründeten Vereinten Nationen kurz nach dem Zweiten Weltkrieg (damals arbeitete die Sowjetunion mit Hochdruck an der Entwicklung einer Atombombe und ließ sich nicht auf eine entsprechende Regelung ein) und 1986 Ronald Reagan, als er mit Michail Gorbatschow, damals Generalsekretär der KPdSU, kurz vor dem Abschluss eines Abkommens über die vollständige Abrüstung des gesamten Nukleararsenals stand; dieses Vorhaben scheiterte, weil Reagan nicht auf seinen weltumspannenden Raketenabwehrschirm verzichten wollte.

Obama weiter: „Zunächst werden die Vereinigten Staaten konkrete Schritte in Richtung einer Welt ohne Atomwaffen unternehmen. Um die Denkmuster des Kalten Kriegs zu überwinden, werden wir die Rolle von Atomwaffen in unserer nationalen Sicherheitsstrategie reduzieren und andere anhalten, dasselbe zu tun. … Um unsere Sprengköpfe und Vorräte zu reduzieren werden wir noch dieses Jahr einen neuen strategischen Abrüstungsvertrag mit Russland abschließen.“ Er sagte aber auch folgende Sätze – und die wurden von vielen Bürgern und Journalisten überhört: „Dieses Ziel wird nicht schnell erreicht werden – möglicherweise nicht zu meinen Lebzeiten. … Täuschen Sie sich nicht: Solange es diese Waffen gibt, werden wir ein sicheres und wirksames Arsenal zur Abschreckung potenzieller Feinde aufrechterhalten und die Verteidigung unserer Verbündeten garantieren.“ Und: „Solange eine Bedrohung von Iran ausgeht, planen wir ein kosteneffektives und bewährtes Raketenabwehrsystem zu bauen.“ (Übersetzung der Zitate: Amerikadienst)

Mit dieser Rede hatte Obama das Spannungsfeld vorgegeben, in dem seine Politik jetzt aufgerieben wird: Er skizzierte eine Politik, die sich nur mit Unterstützung sämtlicher demokratischer und etlicher republikanischer Senatoren umsetzen lässt. Und er versprach Fortschritte in der Abrüstung bei gleichzeitiger Wahrung, ja sogar gleichzeitigem Ausbau der unangefochtenen militärischen Stärke der USA.

Der Kongress bestimmt mit

Spätestens am 28. Oktober holte die Realität Obama ein: Er unterzeichnete den »National Defense Authorization Act 2010«, das Gesetz über den Verteidigungshaushalt der USA für das Finanzjahr 2010, das am 1.10.2009 begann.1 Im Gesamtumfang von 680,2 Mrd. US$ sind u.a. 16,5 Mrd. US$ für militärische »Nuklearaktivitäten« und 9,2 Mrd. US$ für Raketenabwehr enthalten.

Ein wichtiges Element des Verteidigungshaushaltes sind die »Sense of Congress«-Texte. In diesen äußert der Kongress seine Ansicht zu bestimmten Themenbereichen. So mischt sich der Kongress etwa in die Verhandlungen über das START-Nachfolgeabkommen mit Russland und die Debatte über den Abzug von Atomwaffen aus Europa ein. „Es ist die Ansicht des Kongresses, dass – (1) der Präsident an der von den Vereinigten Staaten geäußerten Haltung festhalten sollte, dass der Nachfolgevertrag des START-Abkommens ballistische Raketenabwehrsysteme, Weltraumfähigkeiten oder hoch entwickelte konventionelle Waffensysteme der Vereinigten Staaten in keiner Weise einschränken wird; (2) die erweiterte Sicherheit und Zuverlässigkeit des Nuklearwaffenarsenals, die Modernisierung des Nuklearwaffenkomplexes und die Aufrechterhaltung der nuklearen Trägersysteme Voraussetzung sind, um weitere Einschnitte in das Nuklearwaffenarsenal der Vereinigten Staaten zu ermöglichen; …“ (Sec. 1251)

Im Klartext sagen diese sperrigen Sätze, dass Obama nur dann auf die Ratifizierung eines neuen START-Vertrags durch den Senat hoffen kann, wenn die Stationierung von Raketenabwehr, die Militarisierung des Weltraums, der Ausbau der konventionellen Kriegsführungsfähigkeiten sowie die Modernisierung des Atomwaffenarsenals samt Trägersystemen gewährleistet ist. »Fewer and newer« (weniger, dafür besser) hieß der Slogan für dieses Verfahren schon während der Bush-Administration.

Dass sie ihre Forderungen an Obama ernst meinen, zeigten Mitte Dezember 2009 alle 40 republikanischen Senatoren und Joe Lieberman, einer von zwei Parteilosen im Senat. In einem Brief an den Präsidenten forderten sie ein „substantielles Programm zur Modernisierung unserer nuklearen Abschreckung[skapazitäten]“ einschließlich der umfassenden und raschen Aufrüstung der W76- und B61-Sprengköpfe. Die W76-Modernisierung würde zur Entwicklung eines neuen Sprengkopftyps beitragen – ein weiterer Versuch zur Wiederbelegung des eingestampften »Reliable Replacement Warhead«-Programms. Die B61-Bomben sind von den USA im Rahmen der nuklearen Teilhabe der NATO in fünf Ländern Europas stationiert, darunter auch in Deutschland. Während die neue Bundesregierung nach zähem Ringen die Vereinbarung traf, dass „wir uns im Bündnis sowie gegenüber den amerikanischen Verbündeten dafür einsetzen, dass die in Deutschland verbliebenen Atomwaffen abgezogen werden“, stellten die gewählten Repräsentanten der USA zeitgleich die Weichen für die Modernisierung just dieser Waffen.

Geben und Nehmen

Die Lage des demokratischen Präsidenten Obama ist nicht einfach. Die Ratifizierung eines völkerrechtlichen Vertrages, beispielsweise des START-Nachfolgevertrages oder des seit Jahren überfälligen umfassenden Teststoppabkommens, bedarf im 100-köpfigen Senat einer Zwei-Drittel-Mehrheit. Folglich muss Obama alle 58 demokratischen, die zwei parteilosen und sieben republikanische Senatoren für die Sache gewinnen. Das ist bei Obamas Partei»freunden« schon schwierig genug und scheint bei den Republikanern fast ausgeschlossen, obschon auch ihr letzter Präsidentschaftskandidat McCain sich mehrfach für die atomwaffenfreie Welt ausgesprochen hat.

Weiter kompliziert wird die Gemengelage durch andere Faktoren.

Der russische Präsident Putin ließ Ende Dezember unmissverständlich wissen, Voraussetzung für ein START-Nachfolgeabkommen sei die Beschränkung der US-Raketenabwehr. Nicht zuletzt deshalb konnten sich die Unterhändler der USA und Russlands bislang nicht auf Details zur Verifikation des neuen Vertrags einigen: Moskau will den USA keine telemetrischen Daten über Raketentests mehr liefern, die Einblick in die Fähigkeiten dieses Arsenals liefern. So verschieben sich der Vertragsabschluss und damit die Ratifizierung immer weiter nach hinten, und inzwischen betonte Russlands Präsident Medwedew, die „strategische nukleare Komponente ist die wichtigste Mission“ für das laufende Jahr.

Präsident Obama und Außenministerin Clinton läuft schon jetzt die Zeit für die Kompromissfindung davon. Im Herbst dieses Jahres werden ein Drittel der Senatoren und das ganze Repräsentantenhaus neu gewählt. Dabei können sich die Mehrheitsverhältnisse im Kongress schon wieder erheblich verschieben und die Durchsetzung von Obamas Gesetzesvorhaben weiter erschweren. Um zu großem Unmut vorzubeugen, wird Obama in seinem Entwurf zum Verteidigungshaushalt 2011, den der Kongress am 1. Februar erwartet, erhebliche Zugeständnisse machen. In der Diskussion sind Milliardensummen für den Ausbau des Nuklearwaffenkomplexes (Forschungs-, Test- und Fertigungseinrichtungen) wie für Entwicklung und Produktion eines neuen Sprengkopftyps.

Fällige Arsenal-, Doktrin- und verteidigungspolitische Berichte

Durch Gesetze bzw. Anweisungen des Präsidenten ist die US-Regierung gezwungen, dem Kongress in nächster Zeit etliche Berichte vorzulegen, in denen Arsenale, Fähigkeiten, Doktrinen und Politiken untersucht und Vorschläge für die Zukunft ausgearbeitet werden. Die Berichte werden parallel erarbeitet und beziehen sich aufeinander.

Quadrennial Defense Review (QDR)

Muss dem Kongress alle vier Jahre vorgelegt werden, und zwar jeweils Anfang Februar gleichzeitig mit dem Entwurf für den Verteidigungshaushalt für das folgende Jahr.

Der QDR soll nationale Verteidigungsstrategie, Struktur der Streitkräfte, Modernisierungsbedarf, Infrastrukturanforderungen, Finanzbedarf und Verteidigungsdoktrine und -politiken beschreiben und auf dieser Basis das Militärprogramm der USA für die nächsten 20 Jahre vorgeben.

Nuclear Posture Review (NPR)

Überprüft Nuklearwaffenpolitik und -fähigkeiten und gibt für die nächsten fünf bis zehn Jahre die Eckpunkte zur nuklearen Abschreckung, Strategie und Arsenalgröße vor. Der NPR sollte dem US-Kongress eigentlich Ende Dezember 2009 vorgelegt werden, Obama war aber nach Insider-Berichten mit den bisherigen Entwürfen unzufrieden und hat erhebliche Änderungen eingefordert.

Neben Zielgrößen für das künftige Arsenal an Sprengköpfen und Trägersystemen soll der Bericht auch die Rolle der Nuklearstreitkräfte in den USA, politische Rahmenbedingungen, den Zusammenhang zwischen Abschreckungspolitik, Zielstrategie und Rüstungskontrolle, die Wechselwirkungen zwischen nuklearen, konventionellen und Raketenabwehr-Kapazitäten, Pläne zur Modernisierung von nuklearen Sprengköpfen und Trägersystemen sowie die Aufrechterhaltung und Modernisierung des Nuklearwaffenkomplexes abdecken.

Der Inhalt des NPR wird maßgeblich mit darüber entscheiden, ob das angestrebte START-Nachfolgeabkommen und weitere Rüstungskontrollverträge eine Chance auf Ratifizierung durch den Senat bekommen.

Ballistic Missile Defense Review (BMDR)

Der Bericht zur Überprüfung der Raketenabwehr-Politik und -Strategie ist im Januar 2010 fällig. Der BMDR soll die Rolle der Raketenabwehr in der nationalen Sicherheits- und Militärstrategie darlegen, den strategischen Kontext für die aktuellen und künftigen Raketenabwehrprogramme und -budgets festlegen und die Raketenabwehr auf strategische Anforderungen abstimmen. Ausgangspunkt ist der Beschluss der Regierung Obama, bei der Raketenabwehr all das umzusetzen, was technisch möglich ist. Das bedeutet Vorrang für den Schutz von „US-Streitkräften und Verbündeten“ vor Kurz- und Mittelstreckenraketen, wofür schon einigermaßen brauchbare Testergebnisse vorliegen. Parallel soll die Entwicklung von Systemen zur Abwehr von Langstreckenraketen, von denen zwar bereits zwei Dutzend stationiert aber noch nie realistisch getestet wurde, weiter betrieben werden. Ausdrücklich einbezogen ist der „schrittweise, anpassungfähige“ Ausbau von Raketenabwehr in und um Europa.

Space Policy Review

Präsident Obama wies vergangenes Jahr seine Behörden an, bis Oktober 2009 die nationale Weltraumpolitik zu überprüfen und auch die Aktivitäten unter die Lupe zu nehmen, die der Geheimhaltung unterliegen. Die Berichterstellung verzögert sich bis mindestens März 2010, es ist aber davon auszugehen, dass der Text Ausgangspunkt wird für eine neue Weltraumstrategie und -politik. Die letzte Weltraumpolitik (Space Policy) der Ära Bush postulierte 2006 die Ablehnung jeglicher vertragsbasierter Rüstungskontrolle, die die Handlungsoptionen der USA einschränken würde.

In allernächster Zeit muss die Regierung eine Reihe von Berichten und Planungen mit erheblichen Auswirkungen auf Verteidigungspolitik und -doktrin abliefern (siehe Kasten). Der »Nuclear Posture Review« wäre ein guter Ansatzpunkt, um, wie von Obama in Prag versprochen, „die Rolle von Atomwaffen in unserer nationalen Sicherheitsstrategie [zu] reduzieren“. Das erfordert allerdings gewaltigen Mut: Missbilligt der Senat die dort vorgezeichnete Richtung, verspielt Obama jede Chance auf Unterstützung seines Abrüstungskurses durch den Senat.

Fortschritte bei der Nichtverbreitung sind ebenfalls keine zu verzeichnen. Nordkorea spielt weiterhin Katz“ und Maus, Birma scheint sich für Atomwaffen zu interessieren, und die Gespräche mit Iran brachten noch keinen Erfolg. Die »nukleare Energie-Renaissance« mit einer fast ungehinderten Verbreitung nuklearer Technologien und -materialien macht den Versuch der Eindämmung zunehmend schwer.

Im Mai 2010 findet in New York die nächste Überprüfungskonferenz zum Nichtverbreitungsvertrag statt. Nach dem Scheitern der Konferenz von 2005 müssen hier Fortschritte her. Kann Obama dann weder START-Nachfolge noch die Zustimmung des Senats zum Teststoppabkommen vorweisen, ist Sand im Getriebe, bevor das Treffen beginnt.

Im September 2009 erregte Präsident Obamas Ankündigung, auf die Raketenabwehr in Polen und der Tschechischen Republik zu verzichten, große Aufmerksamkeit. Auch hier haben viele aber nicht richtig hingehört. Angekündigt wurde kein Verzicht auf Raketenabwehr per se. Ganz im Gegenteil. Am 19.9.2009 schrieb US-Verteidigungsminister Robert Gates höchstpersönlich einen Kommentar für die »New York Times«. Überschrift: „A Better Missile Defense for a Safer Europe“ (eine bessere Raketenabwehr für ein sichereres Europa). Der Artikel beginnt mit dem Satz „Die Zukunft von Raketenabwehr in Europa ist gewährleistet.“ und endet mit „Damit wird Raketenabwehr in Europa gestärkt, nicht verschrottet.“ Gates erläutert, dass es die für Osteuropa vorgesehenen Systemkomponenten noch gar nicht gibt und eine Stationierung mittelfristig aus technischen Gründen kaum möglich wäre. Jetzt hingegen wird integriert, was es gibt – boden- und seegestützte SM3-Abfangsysteme gegen kurz- und mittelreichende Raketen, luft-, weltraum- und bodengestützte Sensorsysteme, Radarsysteme überall auf der Welt – und gleichzeitig laufen Forschung und Entwicklung der Langstreckensysteme weiter. „Auf jeden Fall sind die Fakten klar: Amerikanische Raketenabwehr auf dem [europäischen] Festland geht weiter, und zwar nicht nur in Mitteleuropa, wo die Stationierung von SM-3 am wahrscheinlichsten ist, sondern hoffentlich auch in anderen NATO-Ländern“ schreibt Gates. Im Blog des Weißen Hauses heißt es dazu „stärkere, schlauere und schnellere Abwehr“ (17.9.2009).

Konnten sich die osteuropäischen NATO-Partner auf diese Neuplanung gut einlassen, so setzen sie dem Wunsch Deutschlands nach Abzug der US-Atomwaffen Widerstand entgegen. Polen ist angeblich gar bereit, die Atomwaffen auf eigenem Territorium zu stationieren. Dies ist Folge des anhaltenden Misstrauens gegen Russland, das seinerseits auf die Bedrohung durch US-Raketenabwehr wie auf die überlegenen konventionellen Kräfte der NATO verweist.

Und wie von kritischen Experten seit Jahren prognostiziert, setzte die Raketenabwehr inzwischen eine eigene Rüstungsspirale in Gang. Mitte Januar 2009 triumphierte China mit einem erfolgreichen Abwehrtest; die gleiche Technologie hatte sich drei Jahre zuvor schon beim Abschuss eines Weltraumsatelliten bewährt. Größere Raketenabwehrprogramme einschließlich ihrer inhärenten Tauglichkeit zum Antisatellitensystem werden außerdem von Russland, Indien und Israel betrieben. Die NATO liegt noch etwas zurück, und Länder wie Taiwan, Japan und Südkorea kaufen einfach US-Technologie ein.

In diesem Bereich rächt sich besonders, dass die Regierung Bush hartnäckig auf Raketenabwehr beharrte, ein Moratorium für Raketentests verweigerte und Verhandlungen über einen völkerrechtlichen Vertrag zum Verbot von Weltraumwaffen ausschloss. Da Raketenabwehr die Erstschlagfähigkeit erhöht, behindert sie überdies die nukleare Abrüstung.

Die Liste ließe sich fortführen, es ist aber auch so schon klar, dass Obama vor einem kaum bewältigbaren Berg von Aufgaben steht und die Hindernisse groß sind. Überdies ist er selbst keineswegs Pazifist und will die unbestrittene (militärische) Führerschaft seines Landes aufrecht erhalten. Da bleibt der friedensbewegten Zivilgesellschaft hier wie andernorts nur eins: Nicht aufgeben, weiter um eine bessere Welt streiten. Und was wir heute nicht schaffen: Morgen ist wieder ein Tag.

Anmerkungen

1) Das Gesetz zum Verteidigungshaushalt steht am Ende eines monatelangen, mühsamen Aushandlungsprozesses zwischen den beiden Kammern des Kongresses, also dem Repräsentantenhaus und dem Senat, zwischen »Tauben« und »Falken«, zwischen nationalen Interessen und Projekten zugunsten einzelner Wahlbezirke und dort ansässiger Unternehmen, und zeichnet sich durch ein erstaunliches Sammelsurium an informativen Details, Meinungsäußerungen des Kongresses, Handlungsanweisungen an Regierung und Verwaltung, Einforderung von Regierungsberichten und sachfremden Ausgabenposten und Gesetzen aus (zu letzteren zählt im aktuellen Fall z.B. ein Strafgesetz, das die Höchststrafen für Gewaltverbrechen gegen Minderheiten ausweitet).

Regina Hagen ist Abrüstungsberaterin des International Network of Engineers and Scientists Against Proliferation (INESAP) und aktiv im Kampagnenrat „unsere zukunft – atomwaffenfrei“ sowie Mitglied der W&F-Redaktion.

zum Anfang | Obamas Afghanistan-Strategie:

Bürgerkrieg unter westlicher Beaufsichtigung

von Jürgen Wagner

Bereits kurz nach seinem Amtsantritt hatte US-Präsident Barack Obama den Einsatz am Hindukusch zur Chefsache erklärt und eine grundlegende Überprüfung der Afghanistan-Strategie angeordnet. Im März 2009 wurden die Kernelemente der neuen US-Strategie präsentiert: Im Detail setzt sie erstens auf eine massive Aufstockung der westlichen Truppen und die Ausweitung der Kampfzone nach Pakistan (AFPAK); zweitens sollen sich die EU-Verbündeten, allen voran Deutschland, künftig noch stärker beteiligen als dies ohnehin bereits der Fall ist; schließlich soll drittens eine »Afghanisierung« des Krieges über den Ausbau der staatlichen Repressionsapparate (Armee und Polizei) die westlichen Truppen erheblich entlasten.

Nachdem diese Maßnahmen den Krieg wie absehbar noch weiter eskaliert haben, entbrannte in Washington eine heftige Debatte um das weitere Vorgehen. Auf der einen Seite fand sich US-General Stanley McChrystal, Kommandeur der NATO Truppen in Afghanistan, der nachdrücklich eine weitere Truppenaufstockung forderte. Auf der anderen Seite plädierte Vizepräsident Joseph Biden dafür, das Engagement künftig auf die Bekämpfung von Al-Kaida zu beschränken und die Truppen-Präsenz deutlich zu reduzieren. Am 1. Dezember 2009 verkündete Obama seine Entscheidung in dieser Frage, die augenscheinlich auf einen schlechten Kompromiss dieser beiden Ansätze zielt: Zunächst wird Zahl der Soldaten nochmals erhöht, perspektivisch (ab 2011) soll aber die »Afghanisierung« des Krieges eine Truppenverringerung in Richtung der Biden-Lösung ermöglichen.

Allerdings beabsichtigt man keineswegs, vollständig aus dem Land abzuziehen, wie sowohl Außenministerin Hillary Clinton als auch Verteidigungsminister Robert Gates kurz nach Obamas Rede klarstellten (Antiwar.com, 23.12.2009). Vielmehr sollen erhebliche westliche Truppenteile als »Rückversicherung« im Land verbleiben, um bei Bedarf einzugreifen, wenn die afghanischen Regierungstruppen in allzu große Schwierigkeiten geraten. Der vollmundig versprochene (Teil)Abzug ist also eine Mogelpackung: »Bürgerkrieg unter westlicher Beaufsichtigung«, mit dieser Formel lässt sich Obamas Afghanistan-Strategie bündig zusammenfassen.

Truppenaufstockung und Ausweitung der Kampfzone

Als Obama Anfang 2009 sein Amt antrat, befanden sich etwa 32.000 US-Soldaten am Hindukusch. Innerhalb von nicht einmal 12 Monaten wurde diese Zahl im Rahmen der neuen US-Afghanistanstrategie auf 68.000 mehr als verdoppelt. Vor dem Hintergrund der – trotz Truppenverdopplung – qualitativ wie quantitativ weiter eskalierenden Kampfhandlungen wurden Obama laut »New York Times« (11.11.2009) vier verschiedene Optionen vorgelegt. Sie sahen einen weiteren Truppenaufwuchs von entweder 20.000, 25.000 oder 30.000 Soldaten vor (die letzte Option wird nicht näher beschrieben, schien aber keine Truppenerhöhungen beinhaltet zu haben). Am 1. Dezember verkündete der US-Präsident seine Entscheidung: 30.000 zusätzliche US-Soldaten sollen „so schnell wie möglich“ entsendet werden, damit wären fast 100.000 US-SoldatInnen im Afghanistan-Einsatz.

Ein weiteres zentrales Element der neuen US-Strategie ist die Ausweitung des Kampfgebietes auf Pakistan: Afghanistan und Pakistan seien nunmehr als einheitliches Kriegsgebiet zu begreifen und der Kampf fortan auf beiden Seiten der Grenzen auszutragen. Seither setzen die USA verstärkt auf den Einsatz unbemannter Drohnen, während gleichzeitig Pakistan massiv dazu gedrängt wird, seine Angriffe gegen tatsächliche oder mutmaßliche Rückzugsgebiete des Widerstands auszuweiten. Laut »Los Angeles Times« (03.08.2009) wurde mittlerweile im Pentagon eine »Pakistanisch-Afghanische Koordinationseinheit« ins Leben gerufen, die die Kampfhandlungen zusammenführen soll. Vor diesem Hintergrund stellt Lothar Rühl, von 1982-1989 Staatssekretär im deutschen Verteidigungsministerium, zutreffend fest: „Der afghanische Krieg hat sich schon seit längerem über die Grenze ausgebreitet und begonnen, beide Länder zu einem Kriegsgebiet Südwestasien zu verschmelzen.“ (FAZ, 25.05.2009)

Druck auf die Verbündeten

Unmissverständlich macht die US-Regierung deutlich, dass sie nicht gedenkt, die neuerlichen Truppenaufstockungen vollständig im Alleingang zu schultern. So erklärte der amerikanische NATO-Botschafter Ivo Daalder Anfang Juli 2009: „Die Vereinigten Staaten erfüllen ihren Teil, Europa und Deutschland können und sollten mehr tun.“ (FAZ, 01.07.2009) Obwohl die EU-Verbündeten allein zwischen Ende 2006 und Frühjahr 2009 ihre Beteiligung an der NATO-Truppe ISAF um über 50% erhöhten, forderte Obama weitere 7.000-9.000 Soldaten.

Allerdings hält sich die Begeisterung dafür in den Reihen der EU-Staaten angesichts der Skepsis in der eigenen Bevölkerung in engen Grenzen. Washington wird jedoch zumindest in anderen Bereichen auf Kompensationsleistungen drängen. Eine Kompromisslösung könnte in einem deutlich erhöhten Beitrag zum Aufbau der afghanischen Sicherheitskräfte liegen, ein Bereich, in dem die Europäische Union bereits heute massiv engagiert ist. So sagte US-Verteidigungsminister Robert Gates: Ich denke offen gestanden, da wir unsere Anforderungen auf zivile Experten und Polizeiausbilder konzentrieren werden, wird dies für Europäer zu Hause einfacher sein, als die Bitte, mehr Soldaten zu schicken. Die Dinge, um die wir bitten, sind für sie politisch einfacher, so dass sie trotz ihrer Wirtschaftsprobleme diese Anforderungen erfüllen werden.“ (Streitkräfte & Strategien, 04.04.2009)

»Afghanisierung« des Krieges

Das US-Militär hat schon lange vorgerechnet, dass für eine »erfolgreiche« Aufstandsbekämpfung 20-25 Soldaten auf 1.000 Einwohner erforderlich sind. Für Afghanistan wären demnach 640.000-800.000 SoldatInnen notwendig.1 Da ein solch großes Kontingent niemals mobilisiert werden kann, beabsichtigt man die Lücke zwischen verfügbaren Truppen und tatsächlichem Bedarf durch eine massive »Afghanisierung« des Krieges zu schließen.

Für diesen Zweck wurden die Zielgrößen der afghanischen Polizei und Armee drastisch nach oben gesetzt. Sollte die afghanische Armee ursprünglich 70.000 Soldaten umfassen, so wurde diese Zahl schnell auf 134.000 angehoben. Inzwischen hat ISAF-Kommandeur Stanley McChrystal als neue Zielgröße 270.000 ausgegeben. Auch die afghanische Polizei, de facto Paramilitärs, soll deutlich vergrößert werden. Ursprünglich waren 62.000 anvisiert, nun sind 140.000-160.000 Polizisten vorgesehen (CNN, 04.08.2009).

Baldmöglichst sollen also einheimische Kräfte in der Lage sein, den Großteil der Kampfhandlungen im Alleingang zu schultern. Sehenden Auges wird hierdurch jedoch ein neuerlicher Bürgerkrieg in Kauf genommen – die Szenarien, was passiert, wenn diese »Strategie« weiter verfolgt wird, liegen bereits auf dem Tisch.

Afghanistans Zukunft: Dauerbürgerkrieg

Das »Center for a New American Security«, eine Denkfabrik mit engsten Verbindungen zur Obama-Administration, veröffentlichte im Oktober 2009 ein Papier, in dem drei mögliche Zukunftsszenarien für Afghanistan präsentiert werden.2 Unwahrscheinlich, aber möglich sei eine nachhaltige Stabilisierung des Landes ebenso wie der – aus westlicher Sicht – schlimmste Fall, ein Sieg der Widerstandsgruppen über die Karzai-Regierung. Vermutlich werde die Entwicklung aber in folgende Richtung gehen: „…die Obama-Regierung (wird) vorsichtig zu einer koordinierten Anti-Terror-Mission übergehen, bei der das alliierte Engagement sich auf das Training der afghanischen Armee, die Durchführung von Präzisionsangriffen aus der Luft und Spezialoperationen am Boden beschränkt. [..] Dieses wahrscheinlichste Szenario erlaubt es den USA und ihren Verbündeten weiterhin Einfluss in Zentralasien auszuüben und eine vollständige Rückkehr der Taliban zu verhindern.“ Damit wären dann auch die Präferenzen Joseph Bidens berücksichtigt, der, wie bereits erwähnt, das US-Engagement genau hierauf beschränkt wissen will. Allerdings betont das Papier auch: „Eine kurzfristige Truppenerhöhung wird diesem Übergang vorausgehen.“ Genau dies ist nun ebenfalls eingetreten.

Recht unverblümt wird zudem beschrieben, was ein solches Szenario für Afghanistan bedeuten würde: „Afghanistan bleibt im Bürgerkrieg zwischen der Regierung in Kabul, die im Wesentlichen von den Politikern und Warlords geführt wird, die das Land zwischen 1992 und 1996 befehligten, und einer entrechteten paschtunischen Gesellschaft im Süden und Osten gefangen.“

Pro-westlicher Militärstaat

Auffällig ist, wie gebetsmühlenartig Barack Obama versucht, jede Gruppierung, die gegen die US-Präsenz vorgeht, unterschiedslos mit den Taliban und – noch absurder – mit Al Kaida gleichzusetzen und hierdurch als religiöse Fanatiker zu diskreditieren. Eine im Oktober 2009 veröffentlichte Untersuchung des US-Militärs über die Zusammensetzung des Widerstands kommt jedoch zu einem vollständig anderen Ergebnis: „Bei lediglich 10 Prozent der Aufständischen handelt es sich um Hardcore-Ideologen, die für die Taliban kämpfen“, so ein Geheimdienstoffizier, der an der Abfassung des Berichts beteiligt war (»Boston Globe«, 09.10.2009).

Noch deutlicher sind die Aussagen des US-Militärs Matthew P. Hoh, der in Afghanistan an prominenter Stelle für den zivilen Wiederaufbau zuständig war. Er quittierte im September 2009 seinen Dienst und begründete diesen Schritt in seinem Rücktrittsschreiben folgendermaßen: „Der paschtunische Aufstand, der sich aus zahlreichen, scheinbar endlosen lokalen Gruppen zusammensetzt, wird durch das gespeist, was die paschtunische Bevölkerung als einen andauernden Angriff auf ihre Kultur, Traditionen und Religion durch interne und externe Feinde ansieht, der seit Jahrhunderten anhält. Die amerikanische und die NATO-Präsenz und Operationen in paschtunischen Tälern und Dörfern stellen ebenso wie die afghanischen Polizei- und Armeeeinheiten, die nicht aus Paschtunen bestehen, eine Besatzungsmacht dar, vor deren Hintergrund der Aufstand gerechtfertigt ist. Sowohl im Regionalkommando Ost als auch Süd habe ich beobachtet, dass der Großteil des Widerstands nicht das weiße Banner der Taliban trägt, sondern eher gegen die Präsenz ausländischer Soldaten und gegen Steuern kämpft, die ihm von einer Regierung in Kabul auferlegt werden, die sie nicht repräsentiert.“ Anschließend schreibt Hoh über die Karzai-Regierung: Sie zeichne sich u.a. durch „eklatante Korruption und unverfrorene Bestechlichkeit“ aus und an der Spitze stehe ein Präsident, „dessen Vertraute und Chefberater sich aus Drogenbaronen und Kriegsverbrechern zusammensetzen, die unsere Anstrengungen zur Drogenbekämpfung und zum Aufbau eines Rechtsstaats lächerlich machen.“ (Antiwar.com, 28.10.2009)

Ausgerechnet dieser, spätestens seit den »Wahlen« im Sommer 2009 vollkommen diskreditierten Regierung gibt man nun also die Repressionsapparate in die Hand, um sich gegen den Widerstand in der eigenen Bevölkerung an der Macht halten zu können. Dies ist umso bedenklicher, da diese »Sicherheits«kräfte bereits heute ein beängstigendes Eigenleben entwickeln und zum gegenwärtigen Zeitpunkt vollkommen unklar ist, woher künftig die Gelder für diesen Repressionsapparat kommen sollen – aus dem derzeitigen (und wohl auch künftigen) afghanischen Haushalt jedenfalls nicht.

Laut Rory Stewart, Direktor des »Carr Center on Human Rights Policy«, dürften sich die Kosten für die afghanischen Sicherheitskräfte auf zwei bis drei Mrd. US-Dollar im Jahr belaufen – ein Vielfaches der gesamten Staatseinnahmen. „Wir kritisieren Entwicklungsländer dafür, wenn sie 30% ihres Budgets für Rüstung ausgeben; wir drängen Afghanistan dazu 500% seines Haushalts hierfür aufzuwenden. …Wir sollten kein Geburtshelfer eines autoritären Militärstaats sein. Die hieraus resultierenden Sicherheitsgewinne mögen unseren kurzfristigen Interessen dienen, aber nicht den langfristigen Interessen der Afghanen.“3

Hauptsache die Herrscher in Kabul bleiben weiterhin pro-westlich, alles andere scheint mittlerweile weitgehend egal zu sein. Ein Kommentar von Sven Hansen in der »taz« (13.09.2009) fasste das folgendermaßen zusammen: „Das Maximum, das der Westen in Afghanistan noch erhoffen kann, ist, einen autoritären Potentaten zu hinterlassen, der, getreu dem US-amerikanischen Bonmot ›Er ist ein Hurensohn, aber er ist unser Hurensohn‹, die Regierung auf prowestlichem Kurs hält. Sicherheitspolitisch könnte das sogar funktionieren, weil dessen Terror sich dann »nur« gegen die eigene Bevölkerung und vielleicht noch gegen Nachbarstaaten, nicht aber gegen den Westen richtet.“

Anmerkungen

1) Fick, Nathaniel & Nagl, John: Counterinsurgency Field Manual: Afghanistan Edition, in: Foreign Policy Januar/Februar 2009.

2) Exum, Andrew: Afghanistan 2011: Three Scenarios, CNAS Policy Brief, 22.10.2009.

3) Stewart, Rory: The Irresistible Illusion, London Review of Books, 07.07.2009.

Jürgen Wagner ist Politologe, Geschäftsführender Vorstand der Informationsstelle Militarisierung und Mitarbeiter im W&F-Redaktionsteam.

zum Anfang | Irak: Kein Ende der Besatzung in Sicht

von Joachim Guilliard

Offiziell ist das Ende der Besatzung nun eingeleitet. Wie im Truppenstationierungsabkommen (SOFA) vom Herbst 2008 vereinbart, zogen sich im Juni 2009 Tausende US-Soldaten aus den Städten in die umliegenden Militärbasen zurück. Viele Iraker feierten den Abzug überschwänglich und Regierungschef Nuri al-Maliki sprach von einem „großen Sieg“ über die Besatzer. Doch entgegen den großen Hoffnungen, die viele in den Amtsantritt Barack Obamas setzten, ist der vollständige Abzug der Besatzungstruppen noch lange nicht in Sicht. Generell hat sich die Irakpolitik Washingtons seither kaum geändert und auch die Lage vor Ort blieb katastrophal.

Washingtons »Stabilisierungsstrategie«

Zentraler Punkt in Washingtons Irak-Strategie ist, das neue Regime durch eine bessere Beteiligung von oppositionellen Kräften an der Macht zu stabilisieren. Bei jeder Gelegenheit fordern Präsident Obama und die kommandierenden US-Generäle die irakische Regierung auf, endlich die »Aussöhnung« zwischen den Konfessionen und den verschiedenen politischen Kräften in die Wege zu leiten. Genauso gut könnten sie aber auch deren Selbstauflösung fordern. Besteht das Wesen des neuen, von den Besatzern maßgeblich gestalteten, sektiererischen und völlig korrupten Regimes doch exakt darin, dass die Regierungsparteien ihre Ministerien als Pfründe verwalten und dazu nutzen, ihre mit US-Hilfe geschaffenen Machtpositionen dauerhaft zu sichern.

Auch unter Obama setzt die Besatzungsmacht auf den neuen starken Mann im Irak, Ministerpräsident Nuri al-Maliki, der im Laufe des Jahres seine Machtposition weiter ausbauen konnte. Sukzessive besetzte er – am Parlament vorbei – Schlüsselposition in Regierung, Verwaltung, Polizei und Militär mit Getreuen aus seiner Partei oder seinem Familienclan. Mit US-Hilfe hat er sich zudem einen eigenen Geheimdienst und mächtige militärische Spezialeinheiten zugelegt. Diese, von »Green Berets« ausgebildeten, 4.500 Mann starken »Iraq Special Operations Forces« (ISOF) operieren völlig verdeckt – unter Malikis Oberbefehl und unter Aufsicht der US-Armee, aber ohne sonstige Kontrolle irakischer Institutionen. Die neuen Todesschwadrone gelten mittlerweile als schlagkräftigste Truppe des Landes (»Le Monde diplomatique«, 10.07.2009).

Viele Beamte, Geistliche und Politiker im Irak, so der britische »Guardian« (30.04.2009), sprechen bereits von einer neuen Diktatur und vergleichen Maliki mit Saddam Hussein. Sechs Jahre nach Kriegsbeginn würde das Land nach ziemlich vertrauten Linien aufgebaut, so das Fazit der Zeitung: „Konzentration von Macht, schattenhafte Geheimdienste und Korruption.“

Auch andere Zeitungen, wie »The Economist« (03.09.2009) oder »Der Spiegel« (19.10.2009) charakterisieren den »neuen Irak« immer öfter als Polizeistaat. Typisch bei all diesen Berichten ist, dass sie zwar die irakische Seite sehr kritisch beschreiben, die dominierende Rolle der Besatzer jedoch völlig ausblenden. Dabei sind diese durch unzählige ?Berater« in allen wesentlichen Bereichen involviert und waren auch von Anfang an in hohem Maße in die Korruption verwickelt. Besatzung und »Polizeistaat« sind zwei Seiten einer Medaille.

Der versprochene Truppenabzug blieb aus

Im Wahlkampf hatte Obama versprochen, die im Irak stationierten US-Truppen innerhalb von sechzehn Monaten abzuziehen – beginnend mit seinem Amtsantritt jeden Monat fünf bis zehntausend Mann. Als er Ende Februar 2009 seine Pläne für den Irak vorstellte, war nur noch vom Abzug der Kampftruppen bis August 2010 die Rede. Der Rest, mehr als die Hälfte der ca. 130.000 Soldaten, soll – wie von Amtsvorgänger Bush bereits im Stationierungsabkommen zugesichert – bis 2012 das Land verlassen.

Der Rückzug soll, so Obama, verantwortungsvoll erfolgen, also lediglich dann, wenn es die politische und militärische Lage vor Ort erlaubt. Wirklich verlässlich bei seinen Ankündigungen war somit nur die definitive Verlängerung der Besatzung um drei weitere Jahre.

Die Lage vor Ort verhinderte bisher auch einen nennenswerten Abzug von Truppen. Sie werden zur Absicherung der kommenden Parlamentswahlen und der anschließenden Regierungsbildung noch gebraucht. Letzteres kann sich leicht bis Sommer 2010 hinziehen. Dadurch liegt die Zahl der US-Soldaten zur Zeit im Irak nur geringfügig unter dem Niveau, das sie vor der Anfang 2007 begonnenen Truppenerhöhung hatte. Da ein guter Teil der abgezogenen Soldaten durch private Söldner ersetzt wurde, liegt die Gesamtzahl der bewaffneten Besatzungskräfte sogar noch höher als damals.

Der gefeierte Rückzug aus den Städten ist vielerorts ebenfalls nur Etikettenschwindel. Zehntausende US-Soldaten sind in den Städten verblieben und führen nun als »Trainings- und Unterstützungstruppen« den Kampf gegen die Opposition fort. Offener Krieg herrscht insbesondere noch in den Nordprovinzen, rund um Mosul und Baquba, wo US-Truppen regelmäßig große Militäroperationen durchführen.

Laut Stationierungsabkommen müsste die US-Armee nun ihre Operationen stets mit der irakischen Regierung abstimmen. Auch dies konnten die Iraker bisher nicht durchsetzen. „Mag sein, dass etwas bei der Übersetzung [des Abkommens] verloren ging“, erwiderte der Kommandeur der für Bagdad zuständigen US-Division dreist den Kritikern des vertragswidrigen Vorgehens. Sie hätten auf keinen Fall vor, vollständig aus der Stadt zu verschwinden und würden garantiert auch keine Einschränkungen ihrer Operationsfreiheit hinnehmen. Dies könnte von ihren Gegnern ausgenutzt werden und so ihre Sicherheit gefährden. Seine Truppen würden daher auch weiterhin Gefechtsoperationen im Stadtgebiet von Bagdad durchführen – mit oder ohne Hilfe der Iraker (»Washington Post«, 18.07.2009).

Das Stationierungsabkommen legt an sich klar fest, dass der Abzug der US-Truppen Ende 2011 vollzogen sein muss. Die kommandierenden US-Generäle haben jedoch von Anfang an deutlich gemacht, dass sie diesen Termin keinesfalls für verbindlich halten. Mittlerweile hat auch der irakische Präsident Nouri al-Maliki – u.a. in seiner Rede vor dem »U.S. Institute of Peace« am 24. Juli 2009 – laut über eine Verlängerung der US-Truppen-Präsenz über 2011 hinaus nachgedacht (»Washington Independent«, 23.07.2009). Er weiß, dass sich seine Regierung ohne US-Truppen nicht lange halten kann.

Nicht nur der Abzug der fremden Truppen lässt auf sich warten, sondern auch die Normalisierung der Lebensbedingungen. Noch immer ist die Versorgungslage schlecht, gibt es sauberes Wasser und Strom nur stundenweise und liegt das Gesundheits- und Bildungswesen am Boden. Millionen Iraker hungern und der Nahrungsmangel weitet sich sogar noch aus, wie die UN-Nachrichtenagentur IRIN am 08.11.2009 vermeldete.

Gründe sind der Rückgang der heimischen landwirtschaftlichen Produktion aufgrund der 2003 erzwungenen Öffnung des Landes für zollfreie Importe und dem Wegfall staatlicher Unterstützung, sowie Inflation, Arbeitslosigkeit und das Zusammenbrechen des Systems zur Verteilung verbilligter Nahrungsmittelhilfe, von denen 60% der Bevölkerung völlig abhängig sind. Nach offiziellen irakischen Angaben beträgt die Arbeitslosigkeit noch 18-20%, fast ein Viertel der 25 bis 28 Millionen Iraker lebt unter der Armutsgrenze. Unabhängige Hilfsorganisationen gehen noch von wesentlich höheren Zahlen aus. Nur wenige der mehr als zwei Millionen ins Ausland geflohenen Flüchtlinge wagten unter diesen Bedingungen die Rückkehr.

Besatzung in der Sackgasse

Unabhängig davon, wie viele US-Truppen im Land bleiben, befindet sich die Besatzung in einer Sackgasse. Die USA kommen mit ihren Plänen im Irak nicht voran. Sie sind nach wie vor die dominierende Macht, ihr Einfluss hat sich aber deutlich verringert. Auch das SOFA, obwohl nur halbherzig befolgt, schränkt den Handlungsspielraum der US-Truppen und letztlich auch ihre Autorität im Land spürbar ein.

Obama möchte durchaus die Truppenzahl deutlich verringern – die Rede war oft auf 30.000 bis 50.000 Mann -, um so den sichtbaren Eindruck von Besatzung zu vermindern, die immensen Kosten zu reduzieren und vor allem auch um Kräfte für Afghanistan freizumachen. Doch noch sitzen die verbündeten irakischen Politiker nicht fest im Sattel und die USA haben ihr wesentliches Ziel, die dauerhafte Kontrolle über den Irak, noch nicht erreicht. Nichts zeigt diese Absicht so deutlich, wie die riesige Festung im Zentrum Bagdads, die als US-Botschaft firmiert. Auch Obama machte bisher keinerlei Anstalten, den riesigen Stab von über tausend Mitarbeitern – weit mehr als das britische Empire für das zehnmal so große Indien im Einsatz hatte – zu reduzieren. Dieser Stab aus Diplomaten, Geheimdienstleuten, Verwaltungs-, Wirtschafts- und sonstigen Experten soll auch in Zukunft das eigentliche administrative Herz Iraks bilden, das mit Hilfe der zahlreichen Berater auf allen Ebenen der irakischen Regierung und Verwaltung, alle wesentlichen Entscheidungen im Irak beeinflusst.

Aufgrund des breiten Widerstands in der Bevölkerung, dem auch die Maliki-Regierung Rechnung tragen muss, sind jedoch die meisten Maßnahmen und Projekte blockiert, von der Gründung einer »staatlichen Anstalt für Privatisierung« bis zum neuen Ölgesetz, das eine Privatisierung der Ölproduktion ermöglichen würde. In spektakulären Auktionen bot der Irak ausländischen Konzernen nun zwar Abkommen über die Ausbeutung umfangreicher irakischer Ölfelder an. Diese sind aber weit von den Wunschvorstellungen der westlichen Öl-Multis entfernt, für die die Bush-Regierung nicht zuletzt in den Krieg zog. Es handelt sich um reine Dienstleistungsverträge mit dem Ziel, die Fördermengen von Ölfeldern drastisch zu steigern. Die Auftragnehmer bekommen als Entgelt nur einen festen Betrag zwischen 1,20 und 2,00 US-Dollar für jedes zusätzlich geförderte Barrel Öl. Bei Laufzeiten von 20 Jahren sind dabei durchaus zweistellige Milliardenbeträge zu verdienen. Sie erhalten aber nach wie vor weder Anteile am geförderten Öl noch an den Reserven. Von den großen US-Konzernen kam allein Exxon Mobil zum Zuge, ansonsten dominieren asiatische Firmen, allen voran die staatliche chinesische National Petroleum Corporation CNPC. (siehe »Magere Beute«, junge Welt, 31.12.2009)

Noch sind die Verträge nicht unter Dach und Fach. Im Parlament, das gemäß des immer noch gültigen Gesetzes aus der Baath-Ära alle Verträge mit ausländischen Firmen billigen muss, regt sich Widerstand, und mehr noch in der staatlichen Ölindustrie – vom Management bis zu den Gewerkschaften.

Niemand weiß, wie es nach den Parlamentswahlen im Frühjahr 2010 weitergehen wird. Neue Regierungen könnten die auf wackliger Rechtsgrundlage geschlossenen Verträge jeder Zeit annullieren. Vor allem für die westlichen Konzerne gibt es dagegen nur eine Garantie: die dauerhafte Präsenz der US-amerikanischen Truppen.

Joachim Guillard ist Verfasser zahlreicher Fachartikel zum Thema Irak und Mitherausgeber bzw. Koautor mehrerer Bücher zu diesem Bereich

zum Anfang | Iran: Gescheiterter Auftakt im Atompoker

von Ali Fathollah-Nejad

Der Verhandlungsprozess zwischen dem Westen und dem Iran war in der Vergangenheit nicht von Erfolg gekrönt, vielmehr hat sein Misslingen zur Eskalation des Konfliktes beigetragen. Es war ein vorhersehbares Scheitern, der vom Westen bevorzugte »Zuckerbrot-und-Peitsche«-Ansatz setzte auf Letzteres, ohne das Erstere ernst zu nehmen.1 Durch die machtpolitisch forcierte rechtliche Diskriminierung Irans im sog. Atomstreit, perpetuiert von den den Nuklearen Nichtverbreitungsvertrag (NVV) missachtenden Atommächten USA, Großbritannien, Frankreich und Israel, wurde mit der Konstruktion des Schreckgespenstes iranische, »islamische« Bombe politischer Druck auf Teheran erzeugt.

Nach acht Jahren der konfrontativen Bush-Politik, deren neokonservatives Säbelrasseln die Welt an den Abgrund eines Krieges mit Iran brachte, wurden an Obamas versöhnlichere Töne viele Hoffnungen geknüpft. Mit seiner Ankündigung mit Teheran in direkte Verhandlungen zu treten, wurde dann auch formal betrachtet ein neues Kapitel in den Beziehungen zwischen beiden Ländern eröffnet. Die erste Episode begann am 1. Oktober 2009, als in Genf Verhandlungen zur Beilegung des »Atomstreits« zwischen Iran und den G5+1 (den fünf ständigen UN-Sicherheitsratsmitgliedern und Deutschland) begannen.

Zu der strategischen Notwendigkeit für die USA, angesichts ihrer Kriege im Irak und in Afghanistan mit der Regionalmacht Iran direkte Gespräche zu führen, kam eine nuklearpolitische Dimension hinzu. Für seine von den USA zu Schah-Zeiten erbaute Teheraner Forschungsanlage, die medizinische Radio-Isotope herstellt, benötigt der Iran auf 20% angereichertes Uran. Teheran hatte 23 kg dieses Brennstoffes zwischen 1988 und 1993 von Argentinien erhalten. Da diese Lieferung im Laufe des Jahres 2010 verbraucht sein wird, rief Irans Außenminister Manouchehr Mottaki in einem Schreiben vom Juni 2009 die Internationale Atomenergie-Behörde (IAEA) an, um unter deren Aufsicht das benötigte Uran für den weiteren Betrieb der Anlage zu erwerben. Zu den Aufgaben der IAEA gehört es, Mitgliedsländern, wie dem Iran, beim Betrieb ihres zivilen Atomprogramms behilflich zu sein. Dem stehen in diesem Fall jedoch die gegen Iran verhängten UN-Sicherheitsratsresolutionen diametral entgegen. Das ist auch ein Grund dafür, warum Teheran die Legalität dieser UN-Resolutionen anzweifelt.

Iranische Break-Out Capability verzögern

Als Washington von der iranischen Anfrage erfuhr, wurde eine diplomatische Strategie erarbeitet, die darauf abzielte, die iranischen Bestände an leicht angereichertem Uran (low enriched uranium, LEU) zu reduzieren, um somit zu verhindern, dass das Land genügend Brennstoff für eine Atombombe habe (break-out capability). Bei einem Moskau-Besuch im Juli 2009 stellte der Berater des Weißen Hauses für Fragen des iranischen Atomprogramms im Besonderen und nuklearer Proliferation im Allgemeinen, Gary Samore, einen Plan vor, womit Teherans »break-out capability« um ein Jahr verzögert werden würde. Damit sollte Spielraum für Verhandlungen gewonnen werden. Iranisches LEU sollte demnach in Russland in höher angereicherte Brennstäbe umgewandelt werden.

Eine Woche nachdem Iran seine Teilnahme an den Genfer Gesprächen zusagte, wurde der Bau einer bis dato unbekannten Atomanlage in Qom bekanntgegeben. Eine Flut der Empörung setzte insbesondere in westlichen Hauptstädten ein. Eine Untersuchung der Hintergründe – der später von IAEA-Direktor Mohammad El-Baradei als „Loch in einem Berg“ bezeichneten geplanten Atomanlage – deutete auf sicherheitspolitische Motive hin. So bestätigte Irans IAEA-Vertreter, Ali-Asghar Soltanieh, dass die Anlage für den Fall geplant sei, dass Israel die Haupt-Anreicherungsanlage in Natanz zerstöre.2 Kein so unrealistisches Szenario, schließlich hatte auch US-Vizepräsident Biden im Juli 2009 einen Angriff Israels für durchaus möglich gehalten. Gary Samore hatte bereits vor seiner Berufung zum Regierungsbeauftragten dafür geworben, israelische Angriffsdrohungen für die US-Diplomatie gegenüber Iran nutzbar zu machen.

Am Rande der UN-Vollversammlung im September 2009 sagte der EU-Außenbeauftragte Javier Solana, dass die G5+1 bei den geplanten Verhandlungen weiterhin auf einer Beendigung des iranischen Atomprogramms bestehen würden. Anfang Oktober in Genf legten die G5+1 ein Angebot vor.3 Danach sollte 80% des iranischen LEU zur 20prozentigen Anreicherung nach Russland gebracht und danach in Frankreich zu Brennstoff für die Teheraner Anlage weiterverarbeitet werden. Die wieder in den Iran gebrachten Brennstäbe könnten dann nicht mehr bis zu einem waffentauglichen Grade angereichert werden. Für Washington wäre es ein diplomatischer Sieg gewesen, wenn Iran tatsächlich den Großteil seines angereicherten Urans außer Landes geschafft hätte.

Prinzipielle Zustimmung einer geschwächten Regierung

Zu diesem Zeitpunkt war die Regierung von Mahmoud Ahmadinejad durch die innenpolitische Krise infolge der Präsidentschaftswahlen vom Juni in die Defensive geraten. Sie hoffte, durch einen diplomatischen Erfolg in Form eines Durchbruchs in der Atomfrage, der Opposition im eigenen Land Wind aus den Segeln nehmen zu können. Der dem Präsidenten nahestehende Atomunterhändler und Vorsitzende des Obersten Nationalen Sicherheitsrats, Saeed Jalili, wurde angehalten, sich kooperativ zu zeigen, und er hat denn auch das Angebot der Großmächte nicht ausgeschlagen. Laut Angaben eines hochrangigen US-Vertreters (vermutlich der oberste US-Diplomat William Burns) hatte Iran dem Vorschlag sogar »im Prinzip« zugestimmt und war bereit, von seinem Bestand von ca. 1.800 kg LEU 1.200 kg zur Weiterverarbeitung ins Ausland zu verschicken.4 Zwei Wochen später und somit wenige Tage vor der für den 19. bis 21. Oktober anberaumten zweiten Verhandlungsrunde in Wien dementierte ein iranischer Offizieller die westlichen Medienberichte über eine Zustimmung seines Landes zu dem unterbreiteten Genfer Vorschlag.

Teheraner Konsens versus ideale Lösung des Westens

In der österreichischen Hauptstadt stand ein von Mohammad El-Baradei vorbereiteter Entwurf eines Atomabkommens zwischen den G5+1 und Iran im Zentrum der Gespräche, der den Genfer Vorschlag widerspiegelte. Ein französischer Diplomat bekundete gegenüber der »Washington Post«, dass der Entwurf „nicht sehr weit“ von der für den Westen idealen Lösung liege. Am letzten Tag der Wiener Gespräche meldeten westliche Medien wieder eine Zustimmung Irans. Soltanieh sah den Entwurf „auf dem richtigen Weg“, eine Entscheidung könne aber erst nach sorgfältiger Prüfung erfolgen. El-Baradei selbst unterstrich, dass es keine Einigung gegeben habe, forderte Teheran aber auf, innerhalb von zwei Tagen zu antworten.

Die iranische Antwort ließ jedoch auf sich warten. In den dortigen Machtzirkeln setzte eine Diskussion über das Für-und-Wider des vorliegenden Entwurfs ein, die fast eine Woche dauern sollte. Protest meldete sich auch aus der inneriranischen Opposition, so von den unterlegenen Präsidentschaftskandidaten Mir-Hossein Mousavi und Mohsen Rezai (amtierender Vorsitzender des mächtigen Schlichtungsrates). Die Kritikpunkte umfassten den Vorwurf des Ausverkaufs des Atomprogramms, zumal die Rückkehr des höher angereicherten Urans nicht ohne Weiteres garantiert werden könne. Der ehemalige Atomunterhändler und amtierende Parlamentspräsident Ali Larijani sowie der Vorsitzende des Parlamentsausschusses zu Fragen nationaler Sicherheit und Außenpolitik, Alaeddin Boroujerdi, schlugen stattdessen vor, dass Iran das benötigte Uran aus dem Ausland käuflich erwerben solle. Als am 29. Oktober Mousavis Anprangerung des westlichen Vorschlags veröffentlicht wurde, wonach dieser „alle Anstrengungen von tausenden [iranischen] Wissenschaftlern in den Wind schlägt“, gab Teheran seinen Gegenvorschlag bekannt.5 Dieser spiegelte den drei Tage zuvor dargelegten Vorschlag Boroujerdis wider, der im Kern einen »simultanen Austausch« vorsieht.6 Demnach soll das LEU in mehreren Schritten außer Landes gebracht werden und nicht in einer einzigen Lieferung, sodass ein gleichzeitiger Austausch zwischen Irans LEU mit dem höher angereicherten Brennstoff aus dem Ausland stattfände. Bahman Nirumand erfasst die westliche Perspektive wie folgt: „Ein sofortiger Tausch des niedrig angereicherten Urans gegen höher angereichertes Material, wie es Iran nun offenbar fordert, würde dagegen keinen Spielraum für Gespräche garantieren. Auch eine schrittweise Lieferung des Urans ins Ausland dürfte auf Ablehnung stoßen, weil dadurch die kritische Menge von spaltbarem Material für den Bau einer Atombombe nicht unterschritten werden dürfte.“ 7

Iran will Trumpfkarte nicht aus der Hand geben

Während der Westen durch die signifikante Reduzierung des Bestands an LEU auf iranischem Boden aus einer Position der Stärke verhandeln will, wittert Teheran die Gefahr, dadurch nicht auf Augenhöhe Gespräche führen zu können. Ganz in diesem Sinne führt Gareth Porter ein strategisches Motiv Teherans ins Feld: „Diese [iranische] Ablehnung des Plans spiegelt die Erkenntnis wider, dass der El-Baradei-Entwurf Iran seines Verhandlungsgewichtes entledigen würde, den sie [die Iraner] so schmerzhaft in der Form von LEU-Beständen angehäuft hatten. Hochrangige iranische Offizielle in Fragen nationaler Sicherheit hatten in informellen Gesprächen zugegeben, dass der Hauptzweck der Anhäufung leicht angereicherten Urans darin bestünde, die Vereinigten Staaten dazu zu bringen, sich an den Tisch zu setzen und ernsthaft mit Iran zu verhandeln. Sie hatten beobachtet, dass in der Vergangenheit – bevor das Anreicherungsprogramm begann – die Vereinigten Staaten kein Interesse in Verhandlungen hegten. Von dieser strategischen Perspektive aus ist Iran in einer Position, mit den Vereinigten Staaten in einer Weise zu verhandeln, was unter den Regierungen von Rafsanjani und Khatami der Fall war.“ 8

Der Teheraner Konsens vom »simultanen Austausch« sollte nunmehr die iranische Position wiedergeben, sodass man das für Ende 2009 angesetzte US-Ultimatum bezüglich des IAEA-Vorschlags verstreichen ließ. Nachdem ein Anfang Dezember von Iran unterbreiteter Vorschlag, dieses Tauschgeschäft auf der im Persischen Golf gelegenen Insel Kish vorzunehmen, von den USA (da auf iranischem Territorium) brüsk abgelehnt wurde, zeichnete sich Ende 2009 eine vielversprechende Option ab. Die Türkei, die mit Iran und den USA gute Beziehungen unterhält, soll als Land dienen, in dem der Austausch unternommen werden könnte.9

Washington pokerte zu hoch

Für das vorzeitige Scheitern der Verhandlungen kommt der diplomatischen Strategie Washingtons eine zentrale Rolle zu. Gemeinsam mit seinen EU-Partnern sahen die USA die goldene Möglichkeit, einen diplomatischen Sieg einzufahren, indem man mit einem nebulösen Deal Irans Atomprogramm quasi physisch aushebeln wollte. Diese unrealistische Aussicht machte indes blind dafür, dass Verhandlungen zwischen beiden Seiten Spannungen abbauen und einen Interessenausgleich anstreben sollten. Stattdessen haben die USA und ihre EU-Partner die Erfahrungen aus dem Verhandlungsprozess der letzten Jahre vollkommen ignoriert und nunmehr zu hoch gepokert.10 Und auch nach wie vor setzt man auf das bankrotte »Zuckerbrot-und-Peitsche-Model«, das nur dazu geeignet ist, Fronten zu verhärten und durchaus existente Initiativen zur Konfliktbeilegung außen vor zu lassen.

Risiken der geschwächten iranischen Position

Die inneriranische Herrschaftskrise nach den Präsidentschaftswahlen vom Juni 2009 hat dazu geführt, dass die an Legitimität leidende iranische Regierung im andauernden Konflikt mit dem Westen geneigt ist, Zugeständnisse ans Ausland zu machen. Das war bereits bei den Genfer Verhandlungen zu beobachten. Der Westen wiederum hofft, aus eben jener Schwäche Teherans Profit schlagen zu können.11

In Washington ist man parteiübergreifend zuversichtlich, bereits aus der Tatsache, direkte Verhandlungen »versucht« zu haben, politisches Kapital schlagen zu können. Von einem maßgeblichen Teil der strategischen Kreise in den USA wird (Schein-)Diplomatie als notwendiger Schritt der Kriegslegitimation erachtet. Sanktionen – bis hin zu »lähmenden« – werden denn auch angestrebt, um Teherans Weigerung, sich dem US-amerikanischen Willen zu beugen, zu bestrafen. Doch wirtschaftliche Sanktionen gehen in der Regel zu Lasten der Bevölkerung, während sie die Hardliner auf allen Seiten eher stärken.12

In Iran stehen turbulente Monate bevor. Es wird darauf zu achten sein, dass das Ausland diese Situation nicht rücksichtslos zugunsten eigener, wenn auch kurzsichtiger, strategischer Vorteile ausnutzt. Es gilt nach wie vor, dass die vom Westen betriebene Zwangsdiplomatie gegenüber Iran – wie man es in diplomatischen Studien zutreffend formuliert – eine für die Entwicklung des westasiatischen Landes nachteilhafte Dynamik erzeugt. Solange Obamas Iran-Politik dem Bush-Modus verfangen ist – das statt auf einen Ausgleich auf eine Unterwerfung unter US-Interessen abzielt -, ist der sog. Iran-Konflikt weit davon entfernt, beigelegt zu werden.

Anmerkungen

1) Ali Fathollah-Nejad, »Don“t blame the messenger for the message«? Wie die EU-Diplomatie den Weg für einen US-Angriff auf Iran ebnet, Tübingen: Informationsstelle Militarisierung (Studien zur Militarisierung Europas, Nr. 28/2007).

2) Gareth Porter, New Doubt Cast on U.S. Claim Qom Plant is Illicit, Inter Press Service (IPS), 02.10.2009; ibid., Secrecy shrouds Iran“s contingency centers, Asia Times Online, 19.11.2009.

3) Vgl. Jim Lobe, Iran: New Nuke Charges Raise Stakes in Upcoming Talks, IPS, 25.09.2009.

4) Julian Borger, Iran agrees to send uranium abroad after talks breakthrough, The Guardian, 02.10.2009, S.21; Louis Charbonneau, Iran nuclear talks with U.S. and allies eases tension, Reuters, 02.10.2009.

5) Vgl. Yossi Melman, Iran to IAEA: Access to nuclear fuel before uranium deal, Haaretz.com 30.10.2009.

6) Es wird weithin angenommen, dass der Vorsitzende des zuvor genannten Ausschusses, dem Boroujerdi vorsitzt, die Meinung des tonangebenden Staatsoberhaupts Ali Khamenei wiedergibt.

7) Bahman Nirumand, Iran-Report, Berlin: Heinrich-Böll-Stiftung, Jg. 8, Nr. 11 (Nov. 2009), S.10.

8) Gareth Porter, The US/Iran Talks: The Road to Diplomatic Failure, CounterPunch 10.12.2009.

9) Vgl. Iran warming to Turkish role in nuke dispute, todayszaman.com 31.12.2009.

10) Vgl. Porter (Fußnote 8).

11) Für ein markantes Beispiel vgl. Jürgen Bätz, Bewegung im Atomstreit? Die innere Instabilität des Iran als Chance für den Westen, Internationale Politik und Gesellschaft Nr. 4/2009, S.65-81.

12) Vgl. Ali Fathollah-Nejad & Miriam Shabafrouz, Zenith – Zeitschrift für den Orient Jg. 11 (2009), Nr. 4, S.38-39.

Ali Fathollah-Nejad ist Politologe und lehrt zurzeit an der University of Westminster/GB. Im Universitätsverlag Potsdam ist von ihm erschienen: Der Iran-Konflikt und die Obama-Regierung – Alter Wein in neuen Schläuchen?; Homepage: fathollah-nejad.com.

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Wenig Hoffnung im Israel-Palästina-Konflikt

von Claudia Haydt

Der ermordete israelische Ministerpräsident Jitzchak Rabin fasste seine Motivation für den Osloer-Friedensprozess in die Worte: „Frieden schließt man nicht mit seinen Freunden. Frieden schließt man mit seinen Feinden.“ Auch der Wahlkampf des nun nicht mehr ganz so neuen US-Präsidenten Barack Obama war von dieser versöhnlichen Rhetorik gegenüber den Konfliktparteien des Nahen und Mittleren Ostens geprägt. Bereits im Sommer 2008 kündigte Obama an, dass er im Nahost-Friedensprozess „eine aktive Rolle“ übernehmen werde: „Ich werde mich persönlich engagieren und alles tun, was mir möglich ist, um die Sache des Friedens vom Beginn meines Amtes an voranzutreiben“ 1

Ein Jahr nach der Amtseinführung Obamas ist es Zeit für eine erste Bilanz der neuen US-Politik gegenüber Israel und Palästina.

Schwerer Start

Zwischen der Wahl Obamas am 4. November 2008 und seiner Amtseinführung am 20. Januar 2009 eskalierte die Situation im Nahen Osten dramatisch. Die israelische Armee starte am 27. Dezember 2008 die Operation »Gegossenes Blei« im Gazastreifen. Bis zum Ende der Invasion starben 1.434 PalästinenserInnen, darunter viele Zivilisten, und 13 Israelis. Der neue US-Präsident hatte noch in seinem Wahlkampf im Sommer 2008 die israelische Stadt Sderoth besucht, die immer wieder Ziel palästinensischer Raketen geworden war, und dort erklärt, auch er würde alles unternehmen, um sein Zuhause und seine Töchter vor drohenden Hamas-Raketen zu schützen. Dies betrachtete die israelische Regierung offensichtlich als Freibrief für den Angriff auf Gaza. Drei Tage vor Obamas Amtseinführung stellte Israel die Kampfhandlungen allerdings ein, vielleicht um ihn nicht allzu stark zu provozieren.

Wohlwollende Kommentatoren sahen in Obamas Schweigen während des Gaza-Krieges eine Rücksichtnahme gegenüber seinem Amtsvorgänger George W. Bush in dessen »Amtsführung der letzten Tage« er sich nicht einmischen wolle.

Bereits am zweiten Tag von Obamas Präsidentschaft schien sich dann die Hoffnung auf eine neue Politik in der Region zu erfüllen. Der neue Präsident machte den erfahrenen Diplomaten und Ex-Senator George Mitchell zum Sondergesandten für den Nahen Osten. Dieser hatte sehr ausdauernd und schlussendlich erfolgreich das Ende des Nordirlandkonfliktes begleitet und ihm war auch die politische Gemengelage im Nahen Osten nicht fremd. Er hatte 2001 den nach ihm benannten »Mitchell-Report« verfasst, der später zur Grundlage der Road-Map wurde.

Doch Mitchells Bilanz ist nach sieben Vermittlungsmissionen im Jahr 2009 äußerst mager. Das liegt auch an den politischen Rahmenbedingungen. Einerseits haben nach dem Gaza-Krieg die israelischen Parlamentswahlen zu einem weiteren Rechtsrutsch in der israelischen Regierung geführt. Andererseits gibt es auf der palästinensischen Seite eine tiefe Spaltung zwischen der von der Fatah dominierten West-Bank und dem Hamas kontrollierten Gazastreifen. Mahmud Abbas wird als Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) faktisch nur noch von außen an der Macht gehalten. Selbst in seiner eigenen Fatah-Partei hat er kaum noch Rückhalt.

Obamas Kairoer Rede

Barack Obama beherrscht den Umgang mit symbolischen Gesten. In einer Rede vor Studierenden an der Universität in Kairo am 4. Juni 2009 sprach er von „neuen Anfängen“ in der Beziehung zwischen den USA und der arabischen Welt, er sprach von „Frieden“ und vor allem von „gegenseitigem Respekt“. Obama verglich in seiner Rede die Situation der PalästinenserInnen mit denen der Schwarzen in den USA oder in Südafrika. Diese Äußerungen wurden in vielen arabischen Ländern positiv aufgenommen, sie wurden als Zeichen für eine neue Ebene der Verständigung gesehen. Gleichzeitig kam es zu starkem Widerspruch aus Israel und auch von vielen US-amerikanischen Politikern (Republikanern wie Demokraten).

Die große Begeisterung nach dieser Obama-Rede verblasste im arabischen Raum, spätestens als klar wurde, dass seine Vertreter in der UN den »Goldstone-Report« ablehnen würden – jenen Report, der im Auftrag der UN erstellt worden war, um eine völkerrechtlich Bilanzierung des Gaza-Krieges vorzunehmen. Der 575 Seiten umfassende Bericht beschuldigte sowohl Israel als auch die Hamas der Kriegsverbrechen. Die israelische Armee sieht sich in dem Bericht jedoch mit deutlich weitergehenden Vorwürfen konfrontiert als ihre palästinensischen Gegner. Dazu gehört die unterschiedslose Tötung von Zivilisten, der Einsatz international geächteter Phosphormunition und die gezielte Zerstörung ziviler Infrastruktur – einschließlich Schulen und Krankenhäusern.

Einfrieren des Siedlungsbaus?

»Land für Frieden«, das ist die Formel die dem Oslo-Prozess und der Road-Map zugrunde liegt. Durch einen Verzicht Israels auf die 1967 eroberten Gebiete soll die Grundlage für einen lebensfähigen palästinensischen Staat gelegt werden. Eine vertraglich garantierte friedliche Koexistenz und Friedensverträge mit den arabischen Nachbarn sollen den Friedensprozess absichern. Doch ein großer Teil des Landes, das für einen palästinensischen Staat vorgesehen ist, wird massiv durch Mauerbau, Straßen und Siedlungsbau von Israel in Besitz genommen. 460.000 Siedler leben in den besetzten Gebieten, beinahe 200.000 davon im annektierten Ost-Jerusalem.

Nach internationalem Recht sind die israelischen Siedlungen im besetzten Westjordanland illegal. Sie verstoßen gegen das Völkerrecht, das einer Besatzungsmacht verbietet, Bürger aus ihrem eigenen Territorium in besetztes Gebiet zu transferieren (Vierte Genfer Konvention, Artikel 49), und sie befinden sich in Widerspruch zur UN-Resolution 478 von 1980. Bereits in der Road Map wurde deswegen ein Siedlungsstopp festgelegt, doch noch keine US-Administration hat bisher entschlossen auf eine Durchsetzung gedrängt.

Im Gegenteil, George W. Bush hat im April 2004 in einem Briefwechsel mit Ariel Sharon signalisiert, die USA würden die geschaffenen Fakten als „realities on the ground“ 2 anerkennen und von Israel nicht verlangen, die Hauptsiedlungsblöcke zu räumen. Daraus leitet die israelische Regierung bis heute das Recht ab, wenigstens innerhalb dieser Hauptsiedlungsblöcke (einschließlich des annektierten Ost-Jerusalem) neuen Wohnraum für Israelis bauen zu können. Entsprechend groß war die israelische Irritation, als plötzlich unter Obama von Seiten der US-Administration ein totaler Baustopp als vertrauensbildende Maßnahme gegenüber den Palästinensern verlangt wurde. Bei einem Treffen Mitchells mit Netanjahu im August 2009 in London wurde allerdings deutlich, dass die Position der USA doch nicht so fest war und die US-Administration einen Kompromiss suchte.

Das Ergebnis der Verhandlungen zwischen Mitchell und der israelischen Regierung war dann ein zehnmonatiges Moratorium, in dem keine neuen Bauten entstehen sollen. Ostjerusalem bleibt von dieser Regelung aber ausgenommen.

Die israelische Friedensgruppe »Peace Now« beobachtet seit Jahren die Entwicklung der Siedlungen und sie wies in einer Studie im Dezember 2009 daraufhin, dass durch Ausnahmen und Tricks während des Siedlungsmoratoriums mit einem höheren Bauvolumen zu rechnen ist als im Jahr zuvor (Lara Friedman, Peace Now, 10.12.2009). Insgesamt wird trotz des offiziell »eingefrorenen« Siedlungsbaus in den besetzten Gebieten zur Zeit mehr gebaut als im gesamten israelischen Kernland. US-Außenministerin Hillary Clinton bezeichnete Netanyahus Siedlungsbaukompromiss dessen ungeachtet als „bisher einmaliges“ Angebot.

Für die Palästinenser und die arabischen Nachbarn Israels ist diese Entwicklung extrem enttäuschend. Dennoch ist durch die Auseinandersetzung um ein Siedlungsmoratorium die internationale öffentliche Aufmerksamkeit für dieses Thema stark gewachsen. Folgen dieser erhöhten Aufmerksamkeit jedoch keine konkreten Veränderungen, kann die Situation regional eskalieren, möglicherweise bis hin zu einer dritten Intifada.

Gemeinsame Sicherheitsinteressen

Vor dem Amtsantritt Obamas spekulierte die israelische liberale Tageszeitung Ha“aretz (25.12.2008), dass Obama Israel zwingen könnte, Inspektionen im israelischen Reaktor Dimona zuzulassen. Obama setzte die Frage der atomaren Abrüstung durch seine engagierte Rede in Prag im Vorfeld des NATO-Jubiläumsgipfels Anfang April 2009 dann auch tatsächlich wieder auf die internationale Agenda. Im Nahen Osten hat die Frage der atomaren Bewaffnung eine besondere Brisanz. Israel, das nie dem Atomwaffensperrvertrag beigetreten ist, verfügt über geschätzte 200 bis 500 atomare Sprengsätze (vgl. Jürgen Rose in W&F, 4/2004, S.51-54). Es wachsen die Spannungen zwischen Israel und Iran, und gleichzeitig nimmt der internationale Druck auf den Iran zu, die Urananreicherung einzustellen, um keine eigenen Atomwaffen produzieren zu können. Unter diesen Umständen ist es sehr zu begrüßen, dass es – wohl auf Druck der US-Administration – Ende September 2009 seit 30 Jahren ein erstes Treffen zwischen Israel und Iran gab (vgl. Silke Mertins in Financial Times Deutschland vom 23.10.2009). Das Geheimtreffen fand im Rahmen einer Konferenz der Kommission zur atomaren Nichtverbreitung und Abrüstung statt. Bereits im Mai 2009 hatte die US-Regierung sehr deutlich vor einem israelischen Angriff auf iranische Atomanlagen gewarnt (Aluf Benn in Ha“aretz 14.5.2009), was in Israels rechter Regierung für eine gewisse Verstimmung gesorgt hatte. Allerdings ist damit ein israelischer Angriff auf den Iran nicht ausgeschlossen, sondern lediglich an eine vorherige Koordination mit den USA gekoppelt. Offensichtlich versucht die US-Administration, Israel als treibenden Akteur im Nahen Osten in seine Schranken zu weisen, hält aber gleichzeitig an seiner Politik der Stärke und der »gemeinsamen Sicherheitsinteressen« zwischen Israel und den USA fest.

Nur wenige Tage nach dieser Warnung signalisierte am 21. Mai 2009 die Obama-Administration, dass sie Israel nicht zur Offenlegung seiner atomaren Fähigkeiten zwingen würde, sondern weiterhin die israelische Politik der nuklearen Ambiguität stützen wird.3 Ein Schritt in Richtung eines atomwaffenfreien Nahen Osten sieht anders aus.

Verbal ist bei Obama der Anti-Terror-Kampf aus dem Fokus verschwunden. Er positioniert sich nicht – wie sein Vorgänger – rhetorisch gegen eine »Achse des Bösen«. Dennoch bleibt es bei den wesentlichen Grundlagen des gemeinsamen »Antiterrorkampfes«, und in diesen ist und bleibt Israel eng eingebunden. Bereits in Oktober 2009 gab es gemeinsame Übungen zwischen NATO und der israelischen Marine zur Überwachung des Mittelmeers. Anschließend wurde öffentlich bekannt gegeben, dass Israel an der NATO-Antiterror-»Operation Active Endeavour« (OAE) mit einem Kriegsschiff teilnehmen wird. Dies kann auch als Anzeichen interpretiert werden, dass der Plan einer möglichen NATO-Mitgliedschaft Israels von den USA ernsthafter als bisher verfolgt wird. Auf jeden Fall beteiligt sich die NATO damit direkt an der seeseitigen Blockade Gazas.

An der Nase herumgeführt?

Viele Kommentatoren urteilen, dass sich der in der internationalen Politik noch unerfahrene Obama von der israelischen Regierung an der Nase herumführen lasse. Sollte das stimmen, dann nur deshalb, weil Obama und seine Berater es akzeptiert haben. Die USA sind alles andere als machtlos gegenüber Israel. Sie können z.B. ankündigen, zukünftig kein Veto mehr gegen Verurteilungen Israels im Sicherheitsrat einzulegen. Ebenso hängt Israel von Waffenlieferungen und finanzieller Unterstützung für diese Waffenlieferungen ab.

Nach wie vor erhält Israel Militärhilfe in Milliardenhöhe. Am 23. November 2009 boten die USA die Kooperation bei hochmodernen Kampfflugzeugen an, das Arrow 3 Raketensystem wird vollständig von den USA für Israel beschafft. Und am 21. Dezember hat Obama 202 Millionen Dollar für ein israelisches Raketenabwehrprogramm genehmigt.

Ein weiterer wichtiger Hebel, den die USA in der Hand halten, ist die Kreditgarantie, die die USA regelmäßig für israelische Anleihen im Ausland geben. Unter George Bush Senior wurde dieser bereits erfolgreich gegenüber dem israelischen Premierminister Yitzhak Shamir eingesetzt. Als Shamir Ende 1991 nicht zur Madrider Friedenskonferenz mit der PLO kommen wollte, drohte Bush damit, die Garantien in Höhe von 10 Milliarden Dollar zurückzuziehen. Shamir fuhr nach Madrid. Jetzt hat Mitchell laut überlegt (BBC 10.1.2010), dass die USA diesen Schritt wiederholen könnten. Dass von dieser Drohung aber zur Zeit kein größerer Druck ausgeht, liegt daran, dass im Juni letzten Jahres entsprechende Kreditgarantien für die nächsten zwei Jahre gegeben wurden. Hinzu kommt, dass Stimmen aus dem Weißen Haus zu hören waren, die sich gegen die Streichung der Garantien aussprachen.

2009: Ein verlorenes Jahr für den Friedensprozess

Das Jahr 2009 war ein verlorenes Jahr für den Friedensprozess. Wird 2010 besser? „Irgendwann muss die Administration der Tatsache ins Auge sehen, dass die Gräben zwischen beiden Seiten heute größer sind als gestern, und selbst gestern waren sie schon unüberwindba“ 4, schreibt Robert Malley, Direktor des Nahost-Programms der »International Crisis Group« und ehemaliger Nahostberater Bill Clintons.

Am 4. Januar 2010 berichtete die israelische Tageszeitung Ma“ariv von einer neuen Initiative des US-Vermittlers Mitchell, die Verhandlungen auf zwei Jahre zu begrenzen und ohne Vorbedingungen sofort beginnen zu lassen. Ob dies wirklich erfolgversprechend sein wird, hängt neben dem Ende der Belagerung des Gazastreifens von zwei wesentlichen Punkten ab. Zum einen müssen die Vermittler, und da spielen im Nah-Ost-Quartett die USA die wichtigste Rolle, tatsächlich entschlossen sein, auch Druck auf die israelische Regierung auszuüben. Zum anderen sind auf der palästinensischen Seite dringend Neuwahlen nötig. Abbas hat keine Autorität mehr. Die Wahlen müssen von der PA und der Hamas gemeinsam organisiert werden, wenn die Spaltung zwischen Westbank und Gaza nicht dauerhaft zementiert werden soll. Das Nahost-Quartett muss nach dieser Wahl die Entscheidung der palästinensischen Bevölkerung – wie auch immer diese ausfallen sollte – anerkennen. Nur eine solche repräsentative palästinensische Regierung wird in einen Verhandlungsprozess stark und glaubwürdig agieren können und gleichzeitig auch die Autorität haben, dafür sorgen zu können, dass der Raketenbeschuss auf israelische Städte eingestellt wird.

Es bleibt zu hoffen, dass Obamas angeschlagene Administration die Kraft und vor allem den politischen Willen findet, einen Verhandlungsprozess in Gang zu setzen, in den alle beteiligten Kräfte einbezogen werden und der einem gerechten Frieden zum Ziel hat.

Anmerkungen

1) http://www.aipac.org/Publications/SpeechesByPolicymakers/PC_08_Obama.pdf

2) Vgl. Settlement Report, Vol. 14 No. 3, May-June 2004.

3) Steve Sheffey, The Huffington Post – 13 Jan 2010.

4) http://de.qantara.de/webcom/show_article.php/_c-468/_nr-1260/i.html

Claudia Haydt ist Religionswissenschaftlerin und Vorstandsmitglied der Informationsstelle Militarisierung.

zum Anfang | Barack Obamas Ostasienpolitik: Eine Zwischenbilanz

von Andreas Henneka

Mit dem Eintritt in den Pazifikkrieg im Dezember 1944 und den sich daraus ergebenden Konsequenzen sind die USA zu einer ordnungsbestimmenden Kraft in Ostasien geworden. Der Wunsch, eigene Interessen zu wahren, sowie eine Vielzahl von Bündnisverträgen und die machtpolitische Rivalität gegenüber Russland und der VR China sorgen dafür, dass die Entwicklung in der Region unter fortwährender Beobachtung der Entscheidungsträger in Washington steht. Zu den außenpolitischen Herausforderungen der neuen US-Regierung unter Barack Obama zählt deshalb die Ausarbeitung eines klaren Konzepts, das den USA auch in den kommenden Jahrzehnten Handlungsfähigkeit und Einfluss in Ostasien sichert.

Enge Partnerschaft trotz vorhandener Spannungen

Mit Blick auf dieses im Wahlkampf formulierte Selbstverständnis ist zu erwarten gewesen, dass die politische Agenda, mit der Barack Obama sich Anfang November 2009 zu seinem Antrittsbesuch nach Tokio, Beijing und Seoul aufmachte, ambitioniert und couragiert klingen würde. Neben Fragen zur Klima- und Wirtschaftsentwicklung standen sicherheitspolitische Themen im Vordergrund. Grundsätzlich kann die Situation hinsichtlich der US-amerikanischen Außenbeziehungen zu den Staaten in der Region als günstig beschrieben werden. Das strategische Bündnis mit Südkorea, Japan und Taiwan steht ungeachtet mancher Kontroversen auf einem festen Fundament. Auch die Beziehung zur Volksrepublik China hat sich gefestigt, wie sich am Besuch George Bushs jun. während der Olympischen Spiele und einem im Juni 2008 getroffenen Abkommen über Zusammenarbeit in den Bereichen Energie und Umweltschutz zeigen lässt. Gleichzeitig prägt eine Reihe von Konflikten das Verhältnis der USA zur Region und damit ihre Politik. Im Zentrum der öffentlichen Wahrnehmung stehen die Auseinandersetzung um das nordkoreanische Raketen- und Nuklearprogramm sowie die Kontrolle über die Meerenge von Taiwan. Ein Blick auf die geostrategischen Gegebenheiten an Ort und Stelle macht deutlich, dass die politischen Leitlinien der in der Region aktiven Akteure von weiteren Konstanten beeinflusst werden.

Für die Vereinigten Staaten gehört Ostasien zu den strategisch wichtigsten Regionen. Festmachen lässt sich das schon an der Stärke der amerikanischen Truppen, die im gesamten Pazifikraum operieren. Laut Selbstauskunft des amerikanischen Oberkommandos im Pazifik, dem »U.S. Pacific Command«, beläuft sich die Zahl des Personals auf annähernd 250.000. Das entspricht einem Fünftel der Gesamtstärke der amerikanischen Streitkräfte. Allein die Seestreitkräfte unterhalten an Ort und Stelle mehr als 135.000 Personen sowie 180 Schiffe und 1.400 Flugzeuge. Es folgen die Landstreitkräfte mit 50.000 Angehörigen, davon vier Stryker Großverbände, die Luftstreitkräfte mit ca. 39.000 Personen und 350 Flugzeugen, über 13.000 Personen der U.S. Küstenwache sowie 1.200 Angehörige von teilstreitkräfteübergreifenden Spezialeinheiten. Es liegt auf der Hand, dass die ständige Bereitstellung dieser Militärmacht nicht allein der Einhegung des nordkoreanischen Nuklear- und Raketenprogramms bzw. der Sicherung der Schifffahrtswege in der Meerenge von Taiwan gilt. Auch die Ausübung der »Schutzmachtfunktion« gegenüber seinen regionalen Verbündeten macht die Aufrechterhaltung eines solch gewaltigen Militärapparats nicht zwingend erforderlich. Angesichts seiner technischen Fähigkeiten im Militärbereich wäre Washington zweifelsfrei in der Lage, die Sicherheit seiner Verbündeten mit weniger Personal und Gerät an Ort und Stelle zu garantieren. Es liegt deshalb nahe, die Zurschaustellung militärischer Stärke mit dem politischen Willen zu verknüpfen, gegenüber den beiden regionalen Großmächten VR China und Russland Präsenz zu zeigen. Denn ungeachtet mannigfaltiger Zusammenarbeit vertreten Washington, Moskau und Beijing in Ostasien unterschiedliche Interessen. Das Aufgabenfeld der amerikanischen Streitkräfte in der Region lässt sich demnach folgendermaßen zusammenfassen: Das Verhindern militärischer Auseinandersetzungen, Schutz der Verbündeten, Sicherung der Handelswege sowie die demonstrierte Fähigkeit, militärisch gegen jeden potentiellen Gegner zu bestehen.

Erwartungen an Obama

Die Kommentare ostasiatischer Tageszeitungen zur Wahl Barack Obamas zum 44. Präsidenten der USA fielen insgesamt verhaltener aus als die euphorische Berichterstattung ihrer westlichen Pendants. Das mag kulturelle Gründe haben. Zurückhaltung und leises Auftreten sind Attribute, die im Westen mit Blick auf asiatische Eigenschaften häufig auffallen. Sachlich betrachtet ist die Ursache für die gesetzten Reaktionen darin zu suchen, dass die Erwartungshaltung der ostasiatischen Staats- und Regierungschefs an den neuen Mann im Weißen Haus eine völlig andere ist als die der Europäer und der arabischen Welt. In europäischen Hauptstädten ist Erleichterung darüber zu spüren, dass die von der vergangenen US-Regierung gezogene Grenze zwischen einem »alten« und einem »neuen« Europa aufgehoben wurde. Gegenüber der arabischen Welt hat Barack Obama mit seiner versöhnlichen Rede in Kairo politischen Boden gut machen können. In Ostasien waren diese Debatten nie von sonderlichem Interesse, weil man schlicht nicht direkt davon betroffen war. Gleichwohl man das weniger polarisierende Auftreten des neuen Präsidenten wohlwollend zur Kenntnis nimmt, findet die Bewertung Obamas in Ostasien auf einer anderen Ebene statt. Dank wirtschaftlicher und militärischer Prosperität treten die ostasiatischen Länder mit großem Selbstbewusstsein auf. Institutionell rücken sie dank verschiedener Plattformen wie beispielsweise dem »Asean Regional Forum« immer enger zusammen. Die VR China ist mittlerweile zum größten Gläubiger der USA geworden. Und angesichts der politischen Veränderungsprozesse hat sich die Kooperation zwischen der VR China und den traditionellen Verbündeten der USA in der Region verstärkt. Im Mai 2008 stattete Präsident Hu Jintao Tokio einen Besuch ab, in dessen Verlauf eine Vereinbarung geschlossen wurde, die Gasvorkommen im ostchinesischen Meer gemeinsam zu erschließen. In Reaktion auf das Erdbeben in Sichuan leistete Japan große Hilfe. Auch im Militärbereich ist ein wachsender Austausch beider Länder zu beobachten. Verbessert hat sich auch das innerchinesische Verhältnis. Direkte Flüge zwischen der VR China und Taiwan und der wirtschaftliche Handel nehmen zu. Ungelöst bleibt die Einbindung Taiwans in internationale Organisationen, was Beijing wegen seiner Ein-China-Politik weiter blockiert. Im Verhältnis zwischen Südkorea und der VR China haben die Besuche auf höchster politischer Ebene zugenommen. Weitgehende Kooperationsvereinbarungen wurden getroffen, wie z.B. in den Bereichen Terrorismusbekämpfung, Klimaschutz und Freihandelsabkommen. Das beschriebene Bild zeigt, dass Obama in seiner Außenpolitik große Flexibilität und politische Geschicklichkeit an den Tag legen muss, wenn er sich in die wachsende Kooperation zwischen den ostasiatischen Staaten in einer für die USA gleichermaßen vorteilhaften Weise einbringen will. Die Rolle eines bestimmenden Akteurs werden die USA nur dann weiter füllen können, wenn es ihnen gelingt, allen Entscheidungsträgern in der Region das Gefühl zu vermitteln, als Partner ernst genommen zu werden.

Zugpferd oder lahmer Gaul

Barack Obama ist mit dem Versprechen in sein Amt gestartet, die Außenpolitik seines Landes auf ein neues, von gegenseitigem Vertrauen und Respekt geprägtes Fundament zu stellen. Damit hat er sich zum Hoffnungsträger jener stilisiert, die den offenen Dialog als eigentliches Werkzeug politischen Handelns verstehen. Ob sich Obama zum Zugpferd oder zum lahmen Gaul entwickelt, wird die Zukunft zeigen. Zum jetzigen Zeitpunkt, da auch in Washington die Konsolidierung der Wirtschaft im Vordergrund steht und die bevorstehenden Kongresswahlen Barack Obamas politischen Spielraum einschränken, ist es unmöglich, ein sicheres Urteil über seine weitere diese Region betreffende Außenpolitik zu fällen. Hingewiesen sei an dieser Stelle darauf, dass schon vor seiner Wahl Anzeichen zu erkennen waren, die gegen den von Vielen prophezeiten radikalen Neubeginn in der amerikanischen Außenpolitik sprachen. Wahrgenommen wurden sie angesichts der rasch um sich greifenden »Obamanie« kaum. Ein Blick auf die Mitglieder von Obamas engstem Beraterkreis macht deutlich, dass die Mehrzahl zu jenem Teil des politischen Establishments gehört, für den ein starkes Militär einen Eckpfeiler erfolgreicher Außenpolitik bildet. Ungeachtet des Bekenntnisses zur friedlichen Koexistenz wird die Option militärischer Gewalt als ultima ratio weiterhin Bestand haben. Ob sich so Dialogangebote beispielsweise gegenüber Nordkorea glaubhaft vermitteln lassen, ist fraglich. Vor allem zu Hause werfen Kritiker dem US-Präsidenten vor, mit seinem moderaten Auftreten in den vergangenen Monaten Schwäche gegenüber jenen signalisiert zu haben, die gegenüber dem Westen im allgemeinen und den USA im besonderen negativ eingestellt sind. Auch in Ostasien lassen sich Stimmen vernehmen, die Obamas Führungsstil, den seine Befürworter als besonnen, seine Gegner als zögerlich charakterisieren, als nicht angemessen betrachten. Sie warnen davor, dass in ihrer internationalen Bedeutung stetig wachsende Länder wie die VR China den gefälligen, bisher wenig verbindlichen Regierungsstil zum Anlass nehmen, Washingtons Bemühungen nur wohlwollend zur Kenntnis zu nehmen, ohne sich auf konkrete Zusagen einzulassen. Stattdessen würden sie angesichts ihrer gewachsenen Machtstellung eigene Forderungen und Vorgaben formulieren. Im Westen wie im Osten verbindet die Kritiker die Einschätzung, dass Barack Obama in seiner Leistung durchschnittlich bleiben und nicht die erhoffte Kraft zur Erneuerung entfalten wird.

Mühsamer Start

In Peking ist es dem neuen US-Präsidenten nicht gelungen, seinen Gesprächspartner, Präsident Hu Jintao, in Kernfragen auf verbindliche Zusagen zu verpflichten. Was die Themen Klimaschutz und Wirtschaftskrise betrifft, ist es bei allgemein formulierten Absichtsbekundungen geblieben. Im Umgang mit Iran konnten keine für Washington befriedigenden Zusagen erreicht werden. Und auch in anderen sicherheitspolitischen Fragen, wie dem nordkoreanischen Nuklearprogramm oder der Nutzung des Weltraums, blieb es bei Formulierungen, die eine enge Zusammenarbeit in diesen Bereichen in Aussicht stellen. Immerhin wurde unter Obama der Austausch ranghoher Militärs zwischen beiden Länder wieder aufgenommen, der im Oktober 2008 wegen eines geplanten Waffengeschäfts mit Taiwan auf Eis gelegt worden war. Ob Obama dem Verkauf amerikanischer Waffen zustimmen wird oder nicht, ist auch nach seiner Rückkehr aus Ostasien noch nicht endgültig entschieden. Das bedeutet, dass weder Beijing noch Taipei auf ein klares Konzept Washingtons setzen können. Was die Beziehungen zu Japan betrifft, so stand der Antrittsbesuch in Tokio im Zeichen der neu gewählten Regierung unter Yukio Hatoyama und der wieder entbrannten Diskussion um die Verlagerung des amerikanischen Militärflughafens in Futenma auf Okinawa. Obwohl unter der Vorgängerregierung schon ein Abkommen über die Restrukturierung des Stützpunktes ausgehandelt wurde, hat die neue japanische Regierung durchgesetzt, das Thema in einer gemeinsamen Arbeitsgruppe nochmals zu diskutieren. Zukünftig möchte Tokio nicht länger als »Juniorpartner« behandelt werden und erwartet in allen bilateralen Bereichen Gespräche auf Augenhöhe. Die Grundlagen des zwischen beiden Ländern bestehenden Sicherheitsvertrags stehen nicht zur Diskussion, beispielsweise aber die Frage, ob mit Nuklearwaffen bestückte amerikanische Zerstörer japanische Häfen anlaufen dürfen. Die in diesem Zusammenhang jüngst bekannt gewordene Existenz eines 1969 zwischen beiden Ländern unterzeichneten Geheimabkommens, das es mit Nuklearwaffen bestückten US-Kriegsschiffen erlaubt, japanische Häfen anzulaufen, hat in der japanischen Bevölkerung für großen Unmut gesorgt. Wie in Beijing, so lässt sich in Tokio der Versuch beobachten, das Ansehen und den politischen Einfluss durch den Ausbau nachbarschaftlicher Beziehungen zu stärken und den politischen Spielraum gegenüber den USA zu vergrößern. Manche Kommentatoren haben das Auftreten der chinesischen und japanischen Führung gegenüber Obama als arrogant und unnachgiebig beschrieben. Viele gehen davon aus, dass es dem US-Präsidenten in Tokio und Beijing nicht gelungen ist, sich als willenstarkes und durchsetzungsfähiges Zugpferd zu präsentieren. Demzufolge lässt sich als Höhepunkt seiner Ostasienreise der Besuch in Seoul bewerten, wo Obama keinen substantiellen Widerstand zu gewahren hatte. Das weitere Engagement Seouls in Afghanistan ist in »trockenen Tüchern«, und in Bezug auf Nordkorea scheint man sich über die Politik eines umfassenden Handels mit Pyongyang einig, der die bisherige Schritt-für-Schritt Strategie ablösen soll.

Leerlauf

Im Rückblick lässt sich festhalten, dass sich die Probleme in Ostasien seit Obamas Antritt nicht wesentlich verschärft haben. Konkrete Ergebnisse, geschweige denn Durchbrüche in den hier angerissenen Bereichen, hat es ebenfalls nicht gegeben. Harmonisch scheint unter dem Eindruck der bisherigen Zusammentreffen das Verhältnis zu Südkorea. Auch die Beziehung zu Japan wird stabil bleiben, wenngleich sich in Tokio unter der aktuellen Regierung neue Akzente im Umgang mit Washington abzeichnen. Schwierig bleibt die Politik gegenüber der VR China. Die wachsenden Investitionen in die chinesischen Luft- und Seestreitkräfte beobachtet Washington mit Sorge. Dennoch wird eine abgestimmte Politik mit der VR China allein wegen der wirtschaftlichen Verflechtung beider Länder immer wichtiger werden. In welche Richtung sich dabei die Allianz mit Taiwan bewegt, bleibt offen. Skeptisch ist insbesondere die Entwicklung zwischen Washington und Pyongyang zu sehen. Obamas Ankündigungen im Wahlkampf, sich ohne Vorbedingungen an den Verhandlungstisch setzen zu wollen, stehen die Statements ranghoher Mitarbeiter – wie seiner Außenministerin Hillary Clinton – entgegen, dass ein offener und gleichberechtigter Dialog erst in Frage kommt, wenn Pyongyang sein Nuklearprogramm nachprüfbar aufgegeben hat. Dass die nordkoreanische Regierung ihr stärkstes Druckmittel ohne Gegenleistung aus der Hand gibt, ist freilich nicht zu erwarten. Die jüngsten Gespräche zwischen dem amerikanischen Sondergesandten Stephen Bosworth und nordkoreanischen Vertretern hatten die Funktion, die Lage zu sondieren. Konkrete Vorgaben für das weitere gemeinsame Vorgehen sind dabei nicht herausgekommen.

Andreas Henneka ist Doktorand und Lehrbeauftragter am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin. Sein Forschungsinteresse gilt insbesondere den Bereichen der Friedens- und Konfliktforschung, Rüstungskontrolle sowie Außen- und Sicherheitspolitik mit dem regionalen Schwerpunkt Ostasien. Er gehört der W&F-Redaktion an.

zum Anfang | Rein rhetorischer Neubeginn

Die Obama-Administration setzt in ihrer Politik gegenüber Lateinamerika auf Kontinuität

von Tobias Lambert

Eine »Partnerschaft auf Augenhöhe« versprach Barack Obama seinen lateinamerikanischen AmtskollegInnen zu Beginn seiner Amtszeit. Das Verhalten gegenüber den PutschistInnen in Honduras und der Ausbau der militärischen Präsenz der USA in Kolumbien erstickten die Hoffnungen auf gleichberechtigte Beziehungen jedoch im Keim.

Das erste Zusammentreffen mit seinen lateinamerikanischen und karibischen AmtskollegInnen verlief vergleichsweise harmonisch. Auf dem Amerika-Gipfel im April 2009 in Trinidad und Tobago weckte US-Präsident Barack Obama große Hoffnungen auf dem Subkontinent. Bereits im Vorfeld hatte er bezüglich Geldsendungen und Telekommunikation eine leichte Lockerung der mittlerweile in fast ganz Lateinamerika abgelehnten Blockadepolitik gegenüber Kuba bekannt gegeben. Auf dem Gipfel selbst schlug Obama einen ungewohnten Ton an: „Wir haben uns manchmal abgekoppelt und manchmal wollten wir unsere Bedingungen diktieren“, kommentierte er den seit Formulierung der Monroe-Doktrin (1823) praktizierten Hegemonialanspruch der USA gegenüber Lateinamerika. Als künftige Leitlinie kündigte er eine Politik des „gegenseitigen Respekts und Zuhörens“ sowie eine „Partnerschaft auf Augenhöhe“ an.

Neues Selbstbewustsein in Lateinamerika

Noch auf dem vorherigen Amerika-Gipfel in Argentinien 2005 wurde der damalige US-Präsident George W. Bush mit zahlreichen Protestaktionen begrüßt und die US-amerikanische Vision einer gesamtamerikanischen Freihandelszone (ALCA) vorerst beerdigt. Das Scheitern von ALCA offenbarte, dass die USA in ihrem »Hinterhof« im vergangenen Jahrzehnt deutlich an Einfluss verloren haben. Während Bushs Präsidentschaft wurden in den meisten lateinamerikanischen Ländern US-freundliche Eliten abgewählt. Zahlreiche politische Initiativen entstanden unter Ausschluss der USA. Venezuela und Kuba initiierten Ende 2004 einen solidarischen Staatenbund als Gegenentwurf zu ALCA, dem als Bolivarianische Allianz für die Amerikas (ALBA) heute unter anderem Bolivien, Nicaragua und Ecuador angehören. Auf Initiative Brasiliens hin wurde im Mai 2008 zudem die Union Südamerikanischer Staaten (UNASUR) gegründet, der alle zwölf unabhängigen Länder Südamerikas angehören. Daneben wurden von Venezuela ausgehend Projekte wie der multistaatliche Fernsehsender »Telesur« und die »Bank des Südens« ins Leben gerufen.

Von den USA dominierte Finanzinstitutionen wie Weltbank, Internationaler Währungsfonds und Interamerikanische Entwicklungsbank büßten hingegen an Bedeutung ein. Gleiches gilt für die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), in deren Rahmen der Unilateralismus der USA stets als Multilateralismus verkauft wurde, und die militärische Zusammenarbeit mit den USA unter Führung des US-Südkommandos (US-SOUTHCOM).

Das Scheitern von ALCA führte in der Folge zu einer Ausdifferenzierung der US-Lateinamerikapolitik nach Ländern und Regionen. Freihandelsabkommen werden heute bilateral, politische und militärische Bündnisse ad-hoc nach der jeweiligen politischen Konjunktur geschlossen. Grob schematisiert zielt die aktuelle US-Lateinamerikapolitik auf eine politische Isolierung Venezuelas, Boliviens und der übrigen ALBA-Staaten ab. Als Gegenpol sollen sozialdemokratisch regierte Länder wie Uruguay, vor allem aber die aufstrebende Regionalmacht Brasilien nach Möglichkeit in die eigene Politik eingebunden werden. Die neoliberalen Regierungen in Kolumbien, Peru, Panama, Mexiko und Chile genießen hingegen breiten US-amerikanischen Rückhalt bei weiteren Privatisierungen von Staatsunternehmen und Bodenschätzen, die in den Ländern selbst häufig zu gewalttätigen Konflikten führen. Besondere Beziehungen pflegen die USA zu Mexiko und den zentralamerikanischen Staaten, die durch Freihandelsabkommen und Migration eng mit dem Norden verbunden sind. In dem innerhalb Mexikos eskalierenden Krieg zwischen Regierung und verschiedenen Drogenkartellen unterstützt Obama wie sein Vorgänger Bush die massive Militarisierung innerhalb des Nachbarstaates. Doch für eine Kontinuität in der US-Lateinamerikapolitik sprechen am deutlichsten das Verhalten der US-Regierung gegenüber dem Putsch in Honduras und der Ausbau der US-Militärpräsenz in Kolumbien.

Der Putsch in Honduras als erster Test

Der Putsch gegen den demokratisch gewählten Präsidenten Manuel Zelaya, den die rechten honduranischen Eliten am 28. Juni 2009 mit Hilfe des Militärs durchführten, wurde zum ersten ernsthaften Test für Barack Obama in Lateinamerika. Die Eliten warfen Zelaya unter anderem vor, mittels einer Verfassunggebenden Versammlung eine weitere Amtszeit angestrebt und Honduras durch den Beitritt zu ALBA dem (diesmal chavistischen) »Kommunismus« ausgeliefert zu haben.

Die Haltung der USA gegenüber der international isolierten De-Facto-Regierung blieb dabei von Beginn an abwartend. Obama stellte sich zwar zunächst rhetorisch hinter Zelaya und verhängte geringe Sanktionen. Von einem Putsch sprach er aber offiziell nicht. Das Flugzeug, das Zelaya am 28. Juni nach Costa Rica brachte, hatte zudem einen Zwischenstopp auf der nördlich von der Hauptstadt Tegucigalpa liegenden US-Militärbasis Soto Cano eingelegt.

Letztlich unterstützten die USA mit Nachdruck die Konsolidierung der auf dem Putsch basierenden politischen Machtverhältnisse. US-Unterhändler Thomas Shannon sorgte Ende Oktober dafür, dass ein Abkommen zwischen Zelaya und der de-facto-Regierung zustande kam. Dabei ließ sich die Verhandlungsdelegation von Zelaya offensichtlich über den Tisch ziehen: Dessen Rückkehr ins Präsidentenamt wurde in dem Abkommen nicht verpflichtend festgelegt, sondern dem Parlament überlassen. Anfang Dezember sprach es sich mehrheitlich dagegen aus.

Am 27. November ließ die Putschregierung zudem die bereits vor dem Putsch für diesen Tag geplanten Wahlen durchführen. Obwohl diese in einem Klima der Repression gegen die Widerstandsbewegung sowie unter Einschränkung der Pressefreiheit stattfanden, erkannten die USA neben US-freundlichen Ländern wie Costa Rica, Panama, Peru und Kolumbien Wahlsieger Pepe Lobo von der Nationalen Partei umgehend an.

Am Beispiel Honduras zeigt sich die Umsetzung der von Hillary Clinton bereits vor Obamas Amtsantritt beschworenen Strategie der »smart power« (»intelligente Macht«). Diese stellt eine Mischung aus Elementen der »hard power« (»harte Macht«) und »soft power« (»weicher Macht«) dar. Während »harte Macht« die Durchsetzung politischer Ziele durch militärischen Druck bedeutet, beschränkt sich »weiche Macht« darauf, die Gefolgschaft anderer Staaten mit sanfteren Mitteln wie Diplomatie oder kulturellen Einflüssen herzustellen. »Intelligente Macht« hingegen kann von Fall zu Fall unterschiedlich eingesetzt werden und ist aufgrund der großen Bandbreite möglicher Instrumente schwerer zu durchschauen.

Viele soziale Bewegungen in Lateinamerika und die Regierungen der ALBA-Staaten sehen in dem Putsch in Honduras einen Angriff auf ALBA selbst und die demokratischen Transformationsprozesse in der Region. Ähnliche Bestrebungen mit teils massiver Einflussnahme seitens der US-Regierung unter George W. Bush waren 2002 beim kurzzeitigen Putsch in Venezuela und 2008 bei den sezessionistischen Unruhen im oppositionell dominierten Tiefland in Bolivien gescheitert. Die venezolanische Regierung selbst geht fest davon aus, dass ihr Einfluss in Zukunft auch mit militärischen Mitteln eingedämmt werden soll und der enge US-Verbündete Kolumbien dafür als Brückenkopf herhalten muss.

Kolumbien als Brückenkopf der USA

Am 30. Oktober 2009 unterzeichneten die USA und Kolumbien ein »Abkommen über Kooperation in militärischen Fragen«, das den US-Streitkräften für die kommenden zehn Jahre die Nutzung von sieben kolumbianischen Militärstützpunkten ermöglicht. Bereits seit dem Jahr 2000 unterstützten die USA Kolumbien im Rahmen des »Plan Colombia« mit bisher etwa sechs Milliarden US-Dollar. Die Unterstützung wurde mit dem »Krieg gegen die Drogen« begründet, diente aber von Anfang an auch der Bekämpfung der kolumbianischen Guerillagruppen und ziviler linker Strukturen. Das neue Militärabkommen soll laut Obama ausschließlich auf den innerkolumbianischen »Krieg gegen Drogen und Terrorismus« beschränkt sein. Die Nachbarländer Kolumbiens trauen diesen Aussagen allerdings spätestens seit dem gezielten Raketenangriff, den die kolumbianischen Streitkräfte mit Hilfe der USA im März 2007 auf ein Versteck der FARC-Guerilla in Ecuador verübten, kaum.

Fast alle südamerikanischen Staatschefs meldeten auf dem UNASUR-Gipfel Ende August letzten Jahres offen Bedenken hinsichtlich des Militärabkommens an, ohne dass sich die USA und Kolumbien davon abbringen ließen. Die Befürchtungen, dass von den Basen eine Bedrohung für die Region ausgehen könnte, sind dabei keineswegs aus der Luft gegriffen. Als die US-Luftwaffe im Mai 2009 beim US-Kongress 46 Millionen US-Dollar zum Ausbau der kolumbianischen Luftwaffenbasis Palanquero beantragte, hieß es zur Begründung, Palanquero sei „eine einmalige Gelegenheit, umfassende Operationen in einer kritischen Teilregion unserer Hemisphäre durchzuführen, in der Sicherheit und Stabilität ständig durch Rauschgift-finanzierte Aufstände, Anti-US-Regierungen, vorherrschende Armut und wiederkehrende Naturkatastrophen bedroht sind.“

Am deutlichsten protestiert die venezolanische Regierung gegen die Nutzung der Basen. Insgesamt elf Stützpunkte werden die USA künftig in unmittelbarer Nähe des Erdöl-Staates betreiben oder nutzen, darunter zwei Luftstützpunkte auf den Niederländischen Antillen, die nur wenige Kilometer vor der venezolanischen Küste liegen. Zusätzliche Sorge bereitet Venezuela die bereits Mitte 2008 erfolgte Reaktivierung der vierten Flotte des US-Südkommandos. Diese kreuzt an der lateinamerikanischen Atlantikküste und war seit 1950 nicht mehr aktiv. Wie groß die Skepsis gegenüber US-amerikanischer Militärpräsenz in Lateinamerika ist, zeigte sich auch im Zuge des US-Engagements nach dem Erdbeben in Haiti Mitte Januar dieses Jahres. Die Regierungen Venezuelas, Boliviens und Nicaraguas befürchten, dass die Militarisierung der Insel in die Errichtung einer weiteren dauerhaften US-Basis münden könnte.

Die US-Regierung lässt kaum eine Möglichkeit aus, die ihrer Meinung nach »den Fortschritt bedrohende« Rolle Venezuelas und dessen Präsidenten Hugo Chávez in der Region zu kritisieren und bekommt dabei tatkräftige Unterstützung durch die kolumbianischen Verbündeten. Seit letztem Jahr verschlechterten sich die Beziehungen zwischen Venezuela und Kolumbien rapide. Venezuela rüstet mit Hinweis auf die mögliche Bedrohung weiter auf und vergibt Milliardenaufträge nach Russland, weil die USA bereits seit 2005 keine Waffen mehr nach Venezuela verkaufen. Brasilien gab im vergangenen September sogar noch umfangreichere Waffendeals mit Frankreich bekannt. Hillary Clinton zeigte sich allerdings nur über die venezolanischen Waffenkäufe „besorgt“. Dabei beliefen sich die Militärausgaben Venezuelas im Jahr 2008 auf vergleichsweise geringe 1,1 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP), während sich der Wert in Brasilien auf 1,6 Prozent und in Kolumbien gar auf 5,6 Prozent des BIP belief.

Das State Departement und vor allem das Pentagon verfolgen gegenüber Lateinamerika eine Politik, die den von Obama zu Beginn seiner Amtszeit getroffenen Aussagen teilweise offen entgegen steht und das Konfliktpotenzial in der Region deutlich erhöht. Im Rahmen einer Strategie der »intelligenten Macht« stellt dies womöglich keinen Widerspruch dar. Für einen Neubeginn und eine »Partnerschaft auf Augenhöhe« reicht ein rein rhetorischer Schwenk jedoch nicht aus.

Tobias Lambert ist Mitarbeiter der Zeitschrift »Lateinamerika-Nachrichten«.

zum Anfang | Die Klimapolitik der Obama-Regierung

von Jürgen Scheffran

Als US-Präsident Barack Obama am 10. Dezember 2009 in Oslo den Friedensnobelpreis in Empfang nahm, wurde seine Rede bei der UN-Klimakonferenz in Kopenhagen auf einer Leinwand übertragen. Bald waren zahlreiche Konferenzteilnehmer, darunter internationale Medienvertreter, um das Spektakel versammelt. Nachdem Obama seine Rede beendet hatte, erhielt er mäßigen Applaus. Manchen schien entgangen zu sein, dass er den Friedensnobelpreis zum Anlass genommen hatte, aktuelle und zukünftige Kriege der USA in der Welt zu rechtfertigen.

Als Obama dann eine knappe Woche später am 18. Dezember in Kopenhagen auftrat, waren die Erwartungen groß. Die seit zwei Wochen andauernden Verhandlungen waren festgefahren. Der Konflikt zwischen dem Schutz des Weltklimas und den Interessen an einem anhaltenden Wirtschaftswachstum schienen unüberwindlich. Längst verlief die Trennungslinie nicht mehr nur zwischen Industrie- und Entwicklungsländern. Aufstrebende Länder wie China und Indien wollten sich ihre nachholende Entwicklung nicht von den reichen Indutrienationen beschneiden lassen, die selbst über Jahrzehnte hinweg ungehemmt die Atmosphäre als Deponie für ihre Treibhausgase benutzt hatten. Das Dilemma wurde besonders für die ärmsten Länder offenkundig: sie haben bislang am wenigsten zur globalen Erwärmung beigetragen, werden jedoch am stärksten betroffen sein.

Dass Obama diesen gordischen Knoten auflösen könnte, sahen manche als letzten Hoffnungsschimmer, die Klimaverhandlungen noch zu retten. Sie wurden jedoch enttäuscht. Statt substanzieller Zugeständnisse, die die Fronten hätten in Bewegung bringen können, hatte der Repräsentant des historisch größten Umweltverschmutzers lediglich weitere Rhetorik im Gepäck. Daher konnte der Versuch, die Staats- und Regierungschef der Welt zu einem Deal in letzter Minute zu bewegen, nicht erfolgreich sein. Obamas Strategie, eine Vereinbarung der USA mit den Schwellenländern China, Indien, Brasilien und Südafrika zu erzielen, schloss die Europäer ebenso aus wie die ärmeren Entwicklungsländer, also die Staatengruppen, die am stärksten auf konkrete Verpflichtungen gedrängt hatten. Dementsprechend blieb der weniger als vier Seiten umfassende »Copenhagen Accord« ein Minimalkompromiss der Staaten, die konkrete Klimaschutzmaßnahmen auf einen späteren Zeitpunkt verschieben wollen. Die politische Erklärung sieht vor, die Erderwärmung auf zwei Grad bis Ende des Jahrhunderts begrenzen zu wollen (was für die USA immerhin ein Novum bedeutet), sowie finanzielle Zusagen der Industrieländer gegenüber den Entwicklungsländern. Die von vielen geforderten und erwarteten konkreten Reduktionsziele für den Ausstoß von Treibhausgasen konnten nicht erreicht werden. Zudem blieb die Vereinbarung unverbindlich, da eine Zustimmung anderer Staaten, die bei der Aushandlung nicht beteiligt waren, nach einer teilweise chaotischen Nachtsitzung nicht mehr möglich war. Damit war nach Ansicht der meisten Kommentatoren der Klimagipfel von Kopenhagen gescheitert.

Der amerikanische Präsident, der vor dem Ende der Konferenz bereits abgereist war, bezeichnete das Ergebnis jedoch als „bedeutsamen und beispiellosen Durchbruch“, als ersten Schritt auf dem Weg zu einem rechtlich bindenden Abkommen. Besonders auf die heimische Öffentlichkeit zielte die Aussage, er habe China wichtige Zugeständnisse bei der Überprüfung zukünftiger Emissionsverpflichtungen abgerungen. In Teilen der US-Medien wurde der Eindruck erweckt, erst durch den persönlichen Einsatz des Politstars aus Washington sei es möglich geworden, einer zerstrittenen Weltgemeinschaft den Weg zu weisen. Mit dem Ergebnis zufrieden war, neben China, auch Saudi Arabien, dessen Delegierter sich bemüht hatte, den von einem Meeresspiegelanstieg am stärksten betroffenen kleinen Inselstaaten entgegen zu halten, die Vermeidung von CO2-Emissionen würde für sein Land ein großes Opfer bedeuten.

Nach dem Debakel von Kopenhagen begannen die gegenseitigen Schuldzuweisungen. Dabei wurde von westlichen Politikern und Medien vor allem der seit kurzem größte Emittent China als Hauptverantwortlicher ausgemacht, ungeachtet der Tatsache, dass hier die CO2-Emissionen pro-Kopf ein Vielfaches unter denen der USA liegen (und auch deutlich unter denen Europas). Nicht-Regierungs-Organisationen gingen auch mit der US-Regierung hart ins Gericht, wobei einige US-NGOs aber angesichts der Widerstände im eigenen Land immer noch Verständnis für Obama hatten.

Als frischgebackener Präsident hatte Barack Obama noch große Versprechungen für den Klimaschutz gemacht: „Meine Präsidentschaft wird ein neues Kapitel in der Führerschaft Amerikas zum Klimawandel markieren, das unsere Sicherheit stärkt und in diesem Prozess Millionen neuer Jobs schafft. … Jetzt ist die Zeit, dieser Herausforderung ein für alle Mal zu begegnen. … Aufschub ist keine Option mehr. Leugnung ist nicht länger eine akzeptable Antwort.“ 1 Konkret stellte er in Aussicht, die CO2-Emissionen der USA bis 2050 um 80% zu reduzieren und 150 Milliarden US-Dollar in Technologien zur Energieeinsparung zu investieren.

Wie das erfolgen könnte, haben verschiedene wissenschaftliche Untersuchungen aufgezeigt. Gerade weil der »American Way of Life« auf einem verschwenderischen Umgang mit natürlichen Ressourcen gründet, gibt es hier große Veränderungs- und Einsparpotenziale, die Spielräume für Politik schaffen. Von dem 80% Reduktionsziel wäre der allergrößte Teil durch technische Effizienzverbesserungen und Einsparungen in Transport, Energieerzeugung und in der Elektrizitätsversorgung zu erreichen, wobei die sogenannten »niedrig hängenden Früchte« wirksamer Maßnahmen besonders kostengünstig zu erreichen wären. Der Rest könnte durch die Umstellung des fossilen Energiesystems auf erneuerbare Energien erreicht werden sowie eventuell auch durch Maßnahmen der CO2-Lagerung, sofern diese kostengünstig und sicher zu realisieren sind. Die Voraussetzungen für ein Umdenken hatte u.a. der Schock durch den Hurricane Katrina im Jahr 2005 geschaffen, der die US-Gesellschaft aufgerüttelt hat. Aber auch der Klimafilm von Al Gore, der unbequeme Wahrheiten ans Licht gebracht hat, das Bewusstsein über die fatale Abhängigkeit vom Erdöl sowie zahllose Aktivitäten in Kommunen, Unternehmen und Bundesstaaten haben Veränderungen bewirkt.

Nach der Wirtschaftkrise von 2008 ist jedoch ein gegenläufiger Trend erkennbar. Eine treibende Kraft bleibt dabei die Lobby aus US-Erdölkonzernen, Kohleindustrie und andere Industriezweigen, die von dem alten ressourcenintensiven System profitieren und lieber auf nachsorgende Konzepte wie »saubere Kohle« (clean coal), Kernenergie und Manipulation des Klimasystems durch Geoengineering setzen. In jüngsten Umfragen hat der Klimaschutz in der US-Bevölkerung unter der Obama-Administration an Priorität verloren. Nur noch knapp die Hälfte aller US-Bürger glaubt an den Klimawandel und dass dieser von Menschenhand verursacht wird – rund 20% weniger als zwei Jahre zuvor.2 Dies überrascht nur bedingt in einem Land, in dem große Teile der Bevölkerung die Evolutionstheorie in Zweifel ziehen und eine Antihaltung zur Wissenschaft zum guten Ton unter Konservativen gehört. Die Enthüllung der E-Mails von britischen Klimaforschern war Wasser auf die Mühlen der Klimaskeptiker, wobei die Substanz dieser E-Mails weniger eine Rolle spielte als vielmehr ihre Nutzbarmachung in einer ideologisch zugespitzten Debatte. Dies wird daran erkennbar, dass republikanische Kongressabgeordnete ankündigten, nach Kopenhagen zu reisen, um dem »wissenschaftlichen Faschismus« entgegen zu treten.3

Angesichts anhaltender Widerstände ist die Realität in der Energie- und Klimapolitik der USA deutlich hinter den Wahlkampfversprechungen Obamas zurückgeblieben. Bedeutsam ist die Erklärung der Umweltschutzbehörde EPA (Environmental Protection Agency), Treibhausgase seien eine Bedrohung für die öffentliche Gesundheit und die Umwelt, was es erlaubt, bestehende Gesetze anzuwenden. Bislang wurden einige staatliche Programme zum Umbau des Energiesystems aufgelegt, teilweise aus Extramitteln zur Belebung von Wirtschaft und Infrastruktur (»Stimulus Package«). Die EPA setzt in starkem Maße auf die Unterstützung freiwilliger Maßnahmen der Unternehmen, die im Umbau des Energiesystems einen Wachstumsmarkt der Zukunft erkennen. Hierzu gehören etwa die Programme »Climate Leaders«, »Energy Star« und »Clean Energy-Environment State Partnership«, mit der Energieeffizienz und -einsparung und saubere Energieerzeugung gefördert werden sollen. »WasteWise« ist ein freiwilliges Programm zur Reduzierung und Nutzung von Haushaltsabfällen, um klimaschädliche Methanemissionen aus Abfalldeponien zu vermeiden.

Unter den Gesetzes-Initiativen ist besonders das von den demokratischen Abgeordneten Henry A. Waxman (Kalifornien) und Edward J. Markey (Massachusetts) im Repräsentantenhaus vorgelegte »American Clean Energy and Security Act« (ACES, H.R. 2454) zu nennen, das am 26. Juni 2009 mit 219 gegen 212 Stimmen angenommen wurde. Damit hat erstmals eines der beiden Häuser im US-Kongress der Begrenzung von klimaschädlichen Treibhausgasen zugestimmt und einen rechtlichen Rahmen für die Schaffung eines Emissionshandelssystems vorgelegt. Um rechtlich verbindlich zu werden, bedarf der Entwurf jedoch der Zustimmung im US-Senat. Der von den Senatoren John Kerry (Massachussetts) und Barbara Boxer (Kalifornien) vorgelegte »Clean Energy Jobs and American Power Act« (Senate 1733) sieht die Verteilung von Emissionsrechten auf energieintensive Industriezweige vor, die ab 2012 gehandelt werden können, mit dem Ziel, die Treibhausgas-Emissionen im Zeitraum 2005 bis 2020 um 20% zu reduzieren (und nicht, wie im Kyoto-Protokoll vorgesehen im Zeitraum 1990 bis 2012). Die Kosten seien nach Schätzung der EPA moderat: Pro Haushalt werden zusätzliche Kosten von 80-111 US-Dollar pro Jahr erwartet, also rund 30 Cent pro Tag. Die Demokraten beabsichtigen, dieses Klimagesetz im Frühjahr 2010 im US-Senat durchzubringen, was angesichts der schwierigen Mehrheitsverhältnisse zu einem Kraftakt werden dürfte.

Während diese und andere Gesetzes-Initiativen in die richtige Richtung weisen, ist eine umfassende und integrierte Strategie, die die langfristig erforderlichen Klimaziele angehen würde, nicht erkennbar. Als Grund wird angeführt, dies sei im US-Kongress angesichts des anhaltenden Fundamentalwiderstandes der republikanischen Partei nicht durchsetzbar, ungeachtet einiger Stimmen, die sich zum Fürsprecher für den Klimaschutz gemacht haben wie der republikanische Gouverneur Kaliforniens, Arnold Schwarzenegger. Dementsprechend hat Präsident Obama der Klimapolitik auf nationaler Ebene bislang keine hohe Priorität gegeben und auch international wenig Engagement gezeigt. Die moderaten nationalen Ziele, die deutlich hinter den für eine internationale Vereinbarung notwendigen Zielen bleiben, müssen erst noch durchgesetzt werden.

Nach Ansicht von Naomi Klein reicht es nicht, das bisherige Versagen der US-Klimapolitik allein durch die Widerstände im US-Kongress zu erklären, denn die Regierung hätte durchaus Steuerungsmöglichkeiten gehabt, die sie aber nicht genutzt hat.4 Zu den verpassten Gelegenheiten gehöre das »Stimulus Package«, mit dem Obama die Chance hatte, Milliardensummen für den Ausbau des öffentlichen Transportsystems und die Schaffung intelligenter und dezentraler Elektrizitätsnetze auf Grundlage erneuerbarer Energien einzusetzen. Statt die Mittel für einen umfassenden Umbau des Energiesystems zu nutzen, machte er Zugeständnisse für Steuersenkungen, um die Unterstützung von Republikanern zu gewinnen, was diese jedoch eher als Schwäche auslegten und dazu nutzten, ihren Widerstand gegen Obama zu organisieren. Ebenso wenig nutzte er staatliche Hilfsprogramme für die danieder liegende Automobilindustrie, um diese zur Herstellung emissionsärmerer Fahrzeuge und Technologien zu veranlassen oder gar vom Auto weg zukommen. Und schließlich investierte die Regierung riesige Geldmittel in die Rettung von Banken, ohne dies etwa mit Auflagen zur Kreditvergabe für umweltfreundliche Unternehmen und Projekte zu verbinden.

Wenn der Staat die Wirtschaft retten muss, warum dann nicht auch zur Durchsetzung staatlicher Umweltziele? Wie Naomi Klein bemerkt, habe kein anderer US-Präsident seit Roosevelt so viele Gelegenheiten gehabt, „die USA in etwas zu transformieren, das die Stabilität des Lebens auf diesem Planeten nicht bedroht.“ Die Chancen für eine Transformation der Industriegesellschaft, für einen »Green New Deal«, seien verpasst worden.

Wäre Obama mit einer entsprechenden weitblickenden Agenda nach Kopenhagen gekommen, so hätte er die Führungsrolle für eine internationale Zusammenarbeit übernehmen können, die er in seinen Reden so gerne beansprucht. Ohne ein gemeinsames Vorgehen der Weltgemeinschaft besteht die Gefahr, dass sich die mit dem Klimawandel verbundenen Probleme und Risiken bestehende Konfliktlinien verschärfen und letztlich zu einem „Kampf aller gegen alle“ (Elinor Ostrom) führen.5 Obama selbst hatte in seiner Nobelpreisrede darauf hingewiesen: „Aus diesem Grund muss die Welt zusammen gegen den Klimawandel vorgehen. Es gibt wenig wissenschaftliche Zweifel daran, dass wir, wenn wir nichts tun, mehr Dürren, mehr Hunger, mehr Massenvertreibungen sehen werden – alles Entwicklungen, die noch jahrzehntelang weitere Konflikte verursachen werden. Aus diesem Grund fordern nicht nur Wissenschaftler und Umweltaktivisten schnelle und umfassende Maßnahmen – sondern auch militärische Befehlshaber in meinem Land und in anderen, die wissen, dass unsere gemeinsame Sicherheit auf dem Spiel steht.“ 6

Hier zeigt sich die Ambivalenz der Debatte über die sicherheitspolitischen Folgen des Klimawandels. Wenn das Kind (in diesem Falle die Welt) erst einmal in den Brunnen der Klimakatastrophe gefallen ist, dann könnte Politik zum Katastrophen- und Konfliktmanagement werden. Schon jetzt wird in den USA das Klimaproblem von Think Tanks und Politikern (wie jüngst von Joe Lieberman) als zukünftige Bedrohung der nationalen Sicherheit angesehen. Das dürfte nicht die Lösung des Klimaproblems sein, die Obama im Wahlkampf versprochen hat.

Anmerkungen

1) John Broder: Obama Affirms Climate Change Goals, New York Times vom 18. November 2008.

2) Obamas Problem: Klima ist für US-Bürger Nebensache, 07.12.2009, www.klimaktiv.de/article253_9266.html

3) Republikaner marschieren nach Kopenhagen gegen Obama, ZEIT Online vom 9. Dezember 2009.

4) Naomi Klein, For Obama, No Opportunity Too Big To Blow, http://www.commondreams.org/print/50882.

5) Interview mit Elinor Ostrom, SPIEGEL Online vom 17.12.2009, http://www.spiegel.de/wissenschaft/natur/0,1518,667497,00.html

6) Für eine deutsche Übersetzung siehe: http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/themen/Friedenspreise/obama.html

Prof. Dr. Jürgen Scheffran, Physiker, lehrt am Klima-Campus und Institut für Geographie der Universität Hamburg. Er ist Mitglied des W&F Redaktionsteams.